Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Zur Jahreswende 1684 sammelt Sultan Mehmed der Siegreiche ein Heer vor Edirne. Wien hat er bereits erobert, nun will er ganz Mitteleuropa ins türkische Joch zwingen. Während der bankrotte deutsche Kaiser am Reichstag zu Regensburg verzweifelt nach Verbündeten und neuen Geldquellen sucht, macht sich zu ihm ein Mann mit dem verwegenen Plan auf den Weg, Wien im Handstreich zurückzugewinnen. Für Konrad von Breitenbrunn, der Familie und Freunde in den Türkenkriegen verloren hat, ist der Kampf gegen das Osmanische Reich zur Obsession geworden. In Eugen von Savoyen findet er einen kongenialen Partner für seine waghalsige Unternehmung. Doch zuerst soll er für den Kaiser einen Bauernaufstand im Land ober der Enns niederschlagen. Die Verfolgung eines großen Zieles, das Aufeinanderprallen zweier Weltreligionen, das Ringen orientalischer Despotie mit abendländischem Absolutismus um die Vorherrschaft in Europa, sind der Stoff dieses spannenden Romans aus dem alternate-history-Genre.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 539
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Alfred Stabel
Die Stadt des Kaisers
Alternativweltgeschichte
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Das Buch
Der Autor
Prolog
Edirne
Krems
Versailles
Reise nach Regensburg
Der Immerwährende Reichstag
Perspektiven
Venedig
Wien
Der Aufstand
Genua
Der Stadtkommandant
Unter Piraten
Die Wende
Flucht
Algier
Der König zu Preußen
Der lange Marsch
Das Attentat
Die Schlacht
Galeerensträfling
Impressum neobooks
Für Christen gilt das Jahr 1683 als annus horribilis. Ein Vierteljahrtausend nach Byzanz hat wieder ein Sultan Mehmed – diesmal Mehmed IV. - ein christliches Bollwerk erobert: Die schöne Stadt Wien im Herzen Europas. Von Wien aus will der Sultan sein Herrschaftsgebiet im nächsten Jahr nach Westen ausdehnen.
Es folgt der kälteste Winter seit Menschengedenken. Den Wienern gehen die Vorräte aus und der türkische Statthalter kann nicht geben, was er selbst nicht hat. Für die meisten Wiener überraschend bricht im März ein Aufstand los. Ein kaiserlicher Offizier hat ihn angezettelt und dabei auf Hilfe von außen nicht vergessen. Der junge Eugenio von Savoyen geht mit seinen Dragonern nachts über die Mauern. In blutigen Kämpfen wird dem Kaiser die Stadt zurückgewonnen. Doch der Feind schläft nicht und der Kaiser hat nichts unternommen, um den Erfolg der Unternehmung abzusichern.
Zentrale Figur des Romans ist der Offizier Konrad von Breitenbrunn, der Familie und Freunde in den Türkenkriegen verloren hat. Sein derbes Auftreten und die durchschimmernde freiheitliche Gesinnung prädestinieren ihn nicht zu einem Favoriten der durchlauchtigsten Majestät Leopold I. Ungeachtet der gefühlten Ablehnung verfolgt er seine Ziele mit Umsicht und Bravour. Bis sich das Blatt komplett gegen ihn wendet.
Alfred Stabel ist 1950 geboren und lebt mit seiner Familie in Wien. Die Stadt hat er unter anderem durch die Tätigkeit als Fremdenführer und später als Notarzt der Wiener Rettung in ganz unterschiedlicher Weise kennengelernt. Als lebendes Museum, Gedächtnisstätte, Spitalszentrum und moderne Weltstadt. Die Autorentätigkeit beginnt mit dem Schreiben eines Büchleins für die eigenen Kinder. Es wurde nicht veröffentlicht, doch die Freude am Verfassen kreativer Texte ermutigt ihn zu literarischer Tätigkeit.
2014 erschien im Kuebler Verlag die Alternativweltgeschichte: Der Goldene Apfel der Deutschen.
„Was bewegt sich am Morgen auf vier, mittags auf zwei und abends auf drei Beinen?“ Breitenbrunn erinnerte sich an das Rätsel aus dem Griechisch Unterricht. Die Sphinx hatte es Ödipus gestellt. „Nun?“ Da keines seiner Kinder die Antwort wusste, griff er zum Gehstock und ging ein paar Schritte durchs Zimmer.
„Unser Herr Vater“ riefen seine beiden Ältesten.
„Nicht bloß ich“ belehrte er sie. „Jeder Mensch, der alt genug wird, geht am Ende auf drei Beinen. Und jetzt wart ihr zwei Stunden hier! Ich bitte die jungen Herrschaften hinaus!“
Anstatt zu gehen stellten sie sich zum Schrank, wo seine Kriegsbeutestücke lagerten. Türkische und französische Fahnen, Waffen und Harnische.
„Hinaus, oder ich versohle euch die Hintern!“ drohte er und schob sie durch die Tür. Kinder waren Geschenke Gottes, gelegentlich Plagen des Teufels, die glaubten, den Vater für sich gepachtet zu haben!
Er setzte sich grummelnd auf den Stuhl, auf dem er Sommer und Winter viel Zeit verbrachte. Am Tisch lag ein Packen mit vergilbten Zeichnungen und Notizen, daneben das Manuskript zum zweiten Buch, dem noch der Prolog fehlte. „Schreibt etwas über Euch!“ hatte der Drucker geraten. „Der Leser möchte wissen, mit wem er es zu tun hat! Also keine falsche Bescheidenheit! Und bedenkt auch, welches Jahr wir haben!“ Energisch tauchte Breitenbrunn die Feder ins Tintenfass.
Geneigter Leser, erlaube mir, dieses Buch mit ein paar Worten über mich, den Verfasser, zu beginnen. Manch einer versucht sich als Dichter, ehe ihm der Bart sprießt. Ich griff erst im reifen Alter zur Feder, nachdem ich meinen Abschied aus der Armee genommen hatte, der, so viel will ich Dir verraten, nicht ganz freiwillig erfolgte. Ich hatte schwere Differenzen mit dem Kriegsminister Guido Schwarzenberg, der ein Hornochse auf zwei Beinen ist.
Vielleicht sollte er das nicht schreiben. Guido Schwarzenberg war ein einflussreicher und nachtragender Mann. Er strich die beiden letzten Zeilen.
Den Abschied nahm ich wegen meines zerschossenen Beins. Nicht meine schlimmste Verletzung, aber die erste, von der ich mich nicht restlos erholte. Ihre Majestät, Kaiser Joseph, machte mir zum Abschied ein Geschenk von fünftausend Talern, so dass ich diese Zeilen ohne Bitterkeit schreibe. Der Krieg ist eine Furie. Ich habe großes Glück, noch unter den Lebenden zu weilen.
1684 lenkte Josephs Vater, Kaiser Leopold von Habsburg, die Geschicke des deutschen Reiches. Stets bemüht, selten glücklich, weil ihm am Reichstag nur die Rolle eines Primus inter Pares zustand.
Als ich in Regensburg das erste Mal vor ihm kniete, litt er an der türkischen Auszehrung. Die Türken hatten ihm Wien und Niederösterreich weggenommen und jeder dachte, dass es noch schlimmer kommen würde. Ihm blieb gerade bis zum Frühjahr Zeit, eine neue Allianz gegen den Erbfeind aus dem Osten zu schmieden. Seine alten Verbündeten, der Herzog von Bayern und der polnische König Sobieski, waren tot und der mächtige Ludwig XIV. betrieb eine Politik, die dem Sultan in die Hände arbeitete. Die anderen europäischen Fürsten sympathisierten mit dem Kaiser und versprachen Abhilfe, wobei die reale Hilfe oft dem von Isaac Newton eben in diesem Jahr aufgestellten Gesetz folgte, wonach die Kraft der Anziehung mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt.Die sich unmittelbar von den Türken gefährdet sahen, gaben Geld und Soldaten, die anderen gute Worte.
Der gute Kaiser hatte also allen Grund, besorgt in die Zukunft zu blicken. Bei mir verhielt es sich anders. Ich hatte die Belagerung und Eroberung Wiens überlebt und war vom Hauptmann zum Oberst aufgestiegen. Persönliches Glück bescherte mir das Wiedersehen mit meinem Zwillingsbruder, den ein grausames Schicksal zu den Janitscharen verschlagen hatte. Diese Geschehnisse und mehr habe ich in meinen Buch, ´Der Goldene Apfel der Deutschen` niedergeschrieben.
Um mich zu bilden und Dir, geneigter Leser, einen tieferen Einblick in die folgenden Geschehnisse geben zu können, bin ich zu den Stätten gereist, wo entscheidende Politik gemacht wurde. Nicht selten setzte ich mich bei meinen Nachforschungen dem Verdacht der Spionage aus. In Paris hatte ich die Ehre, drei lange Wochen im französischen Staatsgefängnis zu verbringen. Obwohl Friede ist, wagte ich mich nicht nach Konstantinopel. Bei den Türken gelte ich immer noch als Rebell der übelsten Sorte.
So war es ein Glück, dass ich Jahre zuvor einen hohen türkischen Offizier Wochen lang verhörte, der dem Divan des Großwesirs angehörte, über ein ausgezeichnetes Gedächtnis verfügte und die Kunst des klugen Erzählens beherrschte. Ismail Pascha redete wie ein Buch, um seinen Kopf zu retten. Was ich von ihm Erstaunliches erfuhr, gebe ich an Dich, geneigter Leser, in diesem Buch ebenso weiter wie die Erlebnisse meines lieben Bruders, der auf einem Schiff seinem alten Leben davon fahren wollte und nordafrikanischen Piraten in die Hände fiel.
Am Ende ein Wort zu den Türken. Sie geben vorzügliche Soldaten ab. Auch habe ich bei ihnen Ansätze zur Ritterlichkeit festgestellt, wie sie sich bei Christen nicht oft finden. Trotzdem werde ich sie immer hassen, weil sie mir Vater und Mutter umgebracht haben.
So Gott mir die Kraft gibt, wird diesem Buch noch ein drittes folgen, das den Großen Türkenkrieg zu Ende erzählt.
Gegeben im Jahr des Herrn 1705
Feldzeugmeister Konrad von Breitenbrunn.
Er las das Geschriebene durch und war zufrieden. Vor dem Fenster trieben dicke Schneeflocken und der Wind heulte im Kamin. Er stand auf und legte Scheite ins Feuer. Früher hatte er sich bei jedem Wetter draußen herumgetrieben, jetzt hockte er gern in der warmen Stube.
Leise, um die Kinder nicht anzulocken, stimmte er ein Lied an, das seine Soldaten im Winter gerne gesungen hatten.
Der Reif und auch der kalte Schnee
die tun den armen Landsknecht weh
wie soll´n sie sich ernähren?
Wenn sie die Straß nicht reiten mög´n
was soll´n sie dann verzehren?
Ein Tag so klar, dass Sultan Mehmeds scharfe Augen die Schnee bedeckten Gipfel der Rhodopen in der Ferne ausmachen konnten. In seiner Vorstellung hauste der Winterdort oben das ganze Jahr und wartete, dass seine größte Feindin, die Sonne, ihre Kraft verlor. Dann kam er herabgestiegen und eroberte die Täler und Ebenen mit Eis und Schnee. In Ostthrakien allerdings machten die feuchten Winde vom Weißen Meer seine Waffen stumpf. Die Flüsse froren nicht und der Schnee verschwand nach einigen Tagen. Wegen dieses klimatischen Vorteils sammelten die osmanischen Sultane von alters her ihre Armeen vor Edirne, bevor sie gegen die ungläubigen Völker des Westens zogen. So hatten es Mehmed der Eroberer und Süleyman der Prächtige gehalten, und ihre Söhne und Enkel, soweit sie kriegerischer Natur waren.
Mehmed IV. hielt die Hand schützend über die Augen und musterte die Zeltstadt außerhalb der Stadtmauern. Sechzigtausend Soldaten warteten auf den Beginn des nächsten Kriegszuges gegen den deutschen Kaiser. Sie mussten sich in Geduld üben, bis der Winter Pässe und Gebirgstäler freigab.
Es war der zwölfte Tag des Monats Muharram im Jahre 1095 der Hedschra und der letzte Tag des Jahres 1683 im gregorianischen Kalender. Von der Zeitzählung der Christen besaß Sultan Mehmed nur eine vage Vorstellung, vermutlich war sie so unsinnig und verblendet wie alles, was die Gottesleugner erdachten. Sie bestritten die Existenz Allahs, des einen wahren Gottes, des Schöpfers und Herrn aller Dinge und würden in der feurigen Grube Dschahannam brennen, während die Rechtgläubigen nach ihrem Hinscheiden die Segnungen des Paradieses genossen. Wer nach dem Koran lebte, der irrte nicht, wer Allah willfahrte, erfreute sich seiner Gunst! So neuerdings er selbst. Mit Allahs Hilfe hatten seine Soldaten im letzten Jahr große Siege errungen und ihn im fünfunddreißigsten Jahr seiner Regentschaft zum Großen Sultan gemacht. Zu Mehmed dem Siegreichen!
Übermannt vom Gefühl seiner Herrlichkeit zog Sultan Mehmed eine Kinderfaust große Nachbildung der Turmbekrönung von Wiens Kathedrale aus der Tasche und drückte seine Lippen darauf. Großwesir Kara Mustafa hatte ihm das Kleinod als Glücksbringer und Symbol seines Sieges über die Ungläubigen verehrt. (Allah musste seinen grimmigen Verstand erleuchtet haben, als er es in Auftrag gab!) Freundlich blinkte ihn die runde Sonne an, während sechszackiger Stern und Mondsichel sich in matter Zurückhaltung übten, bis das Licht des Himmelsmondes auf sie fiel. ´Mondenstein` nannte Mehmed die kostbare Miniatur und kam damit dem Namen, dem die Wiener dem Original gegeben hatten – Mondschein – sehr nahe. Nach einem zweiten Kuss wanderte das Kleinod in den Brustbausch seines seidenen Mantels zurück.
Neben dem Sultan saß Großwesir Kara Mustafa zu Pferd. Männer und Pferde warfen in der frühen Morgensonne lange Schatten nach Westen. Sie waren ein höchst ungleiches Paar. Unberechenbar und sprunghaft der Sultan, beständig und pragmatisch der Mann, der das Reich für ihn mit fester Hand regierte. Gemeinsam hatten sie große Erfolge gefeiert, freundschaftlich verbunden waren sie einander nicht.
Kara Mustafa hatte dem Ritual belustigt zugesehen. Welcher erwachsene Mann schmuste ein Ding aus Metall ab? Mehmed blieb ein jämmerlicher Tropf, obwohl er im letzten Jahr an Statur gewonnen hatte. Er saß aufrecht im Sattel, seit ein persischer Arzt den Bruchsack zurück gedrückt hatte, seine Augen rollten nicht mehr wie die eines Dschinn, er gab sich leutselig, bestieg nur mehr seine Hauptfrauen und mischte sich neuerdings in die Staatsgeschäfte ein. Kara Mustafa, der seinen Werdegang vom ängstlichen Kindersultan zum tollpatschigen Jüngling, gleichgültigen Herrscher, notorischen Geizhals und Wüstling und schließlich zum Eroberer mitgemacht hatte, beeindruckte das nicht. Mehmed war derselbe verderbte Mann in einem neuen Kleid.
„Mustafa, Mustafa Pascha!“ Mehmed ließ seine Schimmelstute tänzeln. "Fünf Beutel Gold, dass ich als Erster bei den Zelten bin!"
Ohne auf Antwort zu warten, sprengte der Sultan lachend davon. Ein fester Druck in die Flanken und Kara Mustafas großer Rappe, der den Namen des griechischen Gottes der Winde trug, nahm mit einem gewaltigen Satz die Verfolgung auf. Die Köpfe über die Hälse ihrer Pferde gebeugt, fegten sie über die große Pferdeweide und mitten durch den Paradeplatz, wo sich Soldaten für die Musterung sammelten. Die für den Krieg abgerichteten Pferde scheuten nicht vor den zur Seite springenden Soldaten. Als die Zeltburg nur mehr drei Steinwürfe weit entfernt war, rammte Mehmeds Schimmel einen Mann zur Seite. Nun liefen die Pferde Kopf an Kopf, bis der Sultan in einer letzten Anstrengung sein Pferd zum Sprung zwang und mit einer halben Länge siegte.
"Du schuldest mir fünf Beutel Gold!" rief er beim Absteigen laut genug, dass es die Hofgesellschaft hören konnte. "Oder du gibst mir deinen Hengst!"
Wie viele Türken ritt der Sultan lieber Stuten, aber der Rappe des Großwesirs war etwas Besonderes. Kara Mustafa verstand den Wink mit dem Zaunpfahl.
"Nimm meinen Aiolos, siegreicher Herr!"
Von den Tribünen kam mitfühlendes Gemurmel, als der Großwesir dem Pferd, das er in der Schlacht bei Wien geritten hatte, zum Abschied einen Kuss auf die schweißnasse Stirn drückte.
„Schmuse den Hengst nicht ab wie ein Weib!“ lästerte Mehmed. „Er gehört jetzt mir!“
Auf seinen Wink wurde der widerstrebende Aiolos von Pferdeknechten weggeführt. Scheinbar geknickt stieg Kara Mustafa hinter seinem Herrn die Stufen hinauf und nahm, nachdem Mehmed sich in die bequemen Kissen eines Sofas gelehnt hatte, den Platz zu seinen Füssen ein. Rechts von ihm saß mit unbewegtem Gesicht der Statthalter von Rumelien Ali Pascha, genannt der Scheichsohn, links putzte Janitscharengeneral Mustafa Aga seine rote Nase, die ihm zu Unrecht – niemand hatte ihn je Alkohol trinken sehen - den Namen Bekir - Trunkenbold - eingebracht hatte. Zur Unterscheidung der vielen Mustafas, Mehmeds und Alis wurden gerne Merkmale ihrer Herkunft oder ihres Aussehens dem Namen vorangestellt. Häufig Kara (Schwarz) für dunkle Männer, oder Sary für Blonde. Bekir Mustafa legte Kara Mustafa mitfühlend die Hand auf die Schulter.
"Warum hast du Aiolos nicht auch springen lassen?"
"Weil Aiolos klug ist!"
"So wie sein Reiter" sagte der General. "Aber weshalb hast du ihn dem Sultan überlassen? Er ist mehr wert als fünf Beutel Gold."
"Weil sich ein kluges treues Pferd von keinem andren reiten lässt!“
Es dauerte eine Weile bis der General begriff. „Du meinst, du bekommst ihn bald zurück, weil er sich dem Sultan verweigert? Ha!“
"Bei Allah, es ist nur gerecht. Mehmed quält mich jeden Tag mit seinen Flausen!"
Beide lachten so laut, dass der Sultan auf sie aufmerksam wurde. Was sie miteinander schwatzten, hatte er nicht verstanden, weil die Höflinge immer noch lautstark seinen Sieg beim Rennen bejubelten, aber ihre Unbeschwertheit ärgerte ihn. Vor kurzem hatte sich ihm eine neue schreckliche Kraft offenbart. Er legte seine mit Gold und Edelsteinen beringte rechte Hand auf die Schulter seines Großwesirs.
"Spürst du die Kraft, die von mir ausgeht, schwarzer Mustafa?"
"Das tue ich, mächtiger Herr" versicherte der Berührte und setzte eine ängstliche Miene auf, die eher komisch wirkte bei einem so furchteinflößenden Gesicht. Eine gekrümmte Nase ragte aus einem dunkel bärtigen Antlitz mit Beryllium farbenen Augen, die drohend unter buschigen Brauen glühten. Mehmed beugte sich vor und musterte ihn von der Seite.
"Wie spürst du sie?"
„Wie einen Strahl eiskalten Wassers an einem heißen Sommertag, oh Herr!“
Mehmed war das zu wenig. Er legte auch seine linke Hand auf. „Und nun?“
Kara Mustafa konnte keine Antwort geben. Ein Schauer durchlief seinen Leib und die Glieder gerieten ins Zucken. Solche Anfälle hatte Mehmed beim schwarzen Eunuchen seines Harems gesehen, der an Fallsucht litt. Rasch zog er die Hände zurück, weil sich mit einem ohnmächtigen Großwesir nichts anfangen ließ. Zu spät! Kara Mustafa war bereits zusammen gesunken und General Bekir Mustafa stützte seinen Kopf.
Mehmed unterzog seine Hände einer intensiven Betrachtung. Unverändert sahen sie aus und besaßen doch die Gaben seines großen Vorfahren, Sultan Süleyman des Prächtigen, der ein Seher und Zauberer gewesen war. Seine Kraft wuchs, die seiner Gegner schwand. Das deutsche Kaiserlein war nach Westen geflüchtet, sein Heer und das der Bayern und Polen vernichtet. Deutschland bot sich ihm wie eine hitzige Stute dar, die genommen werden wollte!
„Sieh nur, Herr, was du mit ihm angestellt hast!“ jammerte der Janitscharengeneral. „Er atmet kaum!“
Mehmed überging gnädig den respektlosen Ton.
„Sieh nur wie er mit den Augen zwinkert! Der wird wieder!“
Und tatsächlich, ein paar Atemzüge später, richtete Kara Mustafa sich verwirrt auf. Dumm und hilflos wie ein Hühnchen in den Händen des Schlachters, sah er aus. Mehmeds Hand tastete nach dem Griff seines langen Messers. Was, wenn er Kara Mustafa die Kehle durchtrennte? Sein mächtiger Großwesir würde aufspringen, noch ein paar Schritte laufen und auf den Stufen zusammenbrechen. Würden die Hofleute jubeln? Viele hassten ihn, weil sie ihn fürchteten.
Musik vertrieb die blutige Phantasie. Seine Kapelle rückte an. Der klingelnde Schellenbaum des Mehterbaschi gab Trommlern, Paukern und Bläsern den Takt vor. Wer niemals eine Janitscharenkapelle in der Schlacht spielen gehört hatte, besaß keine Vorstellung von der Kraft ihrer Musik! Zum Klang der Instrumente gesellte sich rhythmischer Gesang, als die Kapelle sich vor der Tribüne aufstellte.
„Kommt, kommt ihr rechtgläubigen Krieger! Aus den Wäldern, aus den Steppen, aus den fruchtbaren Ebenen kommt! Die Berge hinunter steigt, über die Meere segelt! Schließt euch zusammen unter dem Banner des Padischah, unsres siegreichen Herrn!“
Begeistert hieb Mehmed seinen silbernen Streitkolben im Takt ins splitternde Holz der Tribüne. Nebenbei bemerkte er, dass sein Großwesir wieder aufrecht saß und die anrückenden Truppen musterte. Ihn redete er jetzt lieber nicht an! Kara Mustafa war nachtragend wie ein Kamel und die kleine Abreibung mochte ihn erzürnt haben. Die ersten vorbei paradierenden Soldaten waren Veteranen des letzten Feldzugs. Manche Gesichter erkannte Mehmed wieder. In den Hülsen ihrer Filzkappen steckten Federn und Verdienstabzeichen als Beweis ihrer Tapferkeit. Den alten Regimentern folgten neue in frischen Uniformen und nagelneuen Waffen. Mehmed wandte sich an den Janitscharengeneral.
„Sieh nur, welch prächtige Burschen wir da haben! Du achtest mir darauf, dass es ihnen an nichts mangelt! Füttere sie wie Ochsen, damit sie kräftig bleiben!“
„Ich werde sie bestens versorgen, hoher Herr!“ Der General teilte nicht die Begeisterung des Sultans für die Rekruten. Viele entstammten dem städtischen Gesindel. Aufsässigkeit und Mordlust standen ihnen ins Gesicht geschrieben. Bis die Stöcke der Zuchtmeister ihnen Disziplin eingebläut hatten, würden Monde vergehen und bis dahin hieß es: Wehe der Stadt oder dem Marktflecken, der diesen Räubern und Mördern in die Hände fiel!
„Wo steckt eigentlich Kara Mehmed Pascha?“ fragte Mehmed. „Sag es mir, Bekir Mustafa!“
„In Buda, Herr.“
Wesir Kara Mehmed, Sieger über König Sobieski in der Schlacht bei Raab, war nach dem Tode von Wesir Ibrahim zum Statthalter der ungarisch-serbischen Provinz Budin erhoben worden und dort unabkömmlich, solange es Krieg mit dem Kaiser gab. Mehmed hätte dies eigentlich wissen sollen. Er hatte es selbst angeordnet.
„Und Abaza Hüseyin Pascha?“
„Weilt als Avusturyas Statthalter in Wien, großmächtiger Herr.“
„Das weiß ich doch! Ich möchte wissen, warum er nicht zum Kriegsrat erscheint. Und warum Kara Mehmed fehlt. Hat Kara Mustafa die beiden nicht her befohlen?“
Was für eine unsinnige Frage! Die Anreise war lang und beschwerlich, im Winter sogar abenteuerlich. Der alte Hüseyin hätte die Reise nicht lebend überstanden. Kara Mustafa, der mitgehört hatte, drehte sich zu Mehmed um.
„Sie sind zutiefst betrübt, dein strahlendes Antlitz nicht aus der Nähe sehen zu dürfen, siegreicher Herr. Doch ist der Feind auch im Winter nicht untätig und wer könnte besser deine neuen Ländereien schützen als diese beiden?“
„Zwei alte bequeme Esel sind das, die man bestrafen sollte!“ grummelte der Sultan. „Und sag mir bloß nicht, dass die Ungläubigen auch im Winter Krieg führen!“
„Das tun sie aber. Liebend gerne sogar. Sie spüren nicht die Kälte wie wir.“
Sultan Mehmed dachte an die Männer, die auf der letzten Treibjagd in den Bergen erfroren waren. Waren das nicht Christen gewesen?
„Wehe dir, wenn du mir Unsinn auftischt, schwarzer Mustafa!“
„Allah strafe mich mit den Qualen der Hölle, wenn ich das tue!“ antwortete der Großwesir, der seinen Herrn öfters belog, als ein Huhn Eier legte, ungerührt und war doch froh, als des Sultans Aufmerksamkeit sich den herangaloppierenden Bogenreitern zuwandte. An ihrer Bewaffnung und Taktik hatte sich in hunderten Jahren nichts verändert. Sie griffen blitzschnell an, schossen ihre Pfeile in vollem Galopp ab und zogen sich ebenso schnell wieder zurück. Ihre Treffsicherheit war groß. Binnen kurzem waren die aufgestellten Strohpuppen mit Pfeilen gespickt.
„Bei Allah, kein einziger Pfeil vorbei!“ jubelte Mehmed, der selbst geschickt mit dem Reflexbogen umging. Auf die leichte Reiterei folgten gepanzerte Sipahis (Lehensritter) und besoldete Gardereiter auf großen Streitrössern, anatolische und rumelische Artilleristen mit aufgepfropften Feldgeschützen und der Train der Kanoniere und Büchsenmeister in grünen Gewändern und Mützen. Den Schluss bildeten Pioniere und Versorgungstruppen.
„Ein unbezwingbares Heer, siegreicher Sultan“ fasste Hofmeister Yusuf Efendi, der eine Stufe unter den Wesiren saß und vom Militärischen so viel verstand, wie ein Schafhirte vom Fischen, schmeichlerisch zusammen. "Will der siegreiche Herr nun die Hinrichtungen befehlen?"
Mehmed, der am Ende einer Truppenschau stets die Henker in Aktion treten ließ, nickte huldvoll. Der Geruch von Blut sollte die Rekruten aufstacheln und ihm verschaffte es Vergnügen, christlichen Soldaten beim Sterben zuzusehen. Da in den letzten Wochen keine eingebracht worden waren, hatte man welche von den Galeeren geholt. Sie waren gewaschen, von Bart- und Kopfhaaren befreit und in frische Kleider gesteckt worden. Auch warme Mahlzeiten hatte man ihnen gegeben. Aber all diese Bemühungen hatten die ausgemergelten Gestalten nicht in die grimmigen Streiter zurückverwandelt, die sie vielleicht einmal gewesen waren. Apathisch schlurften sie in Ketten auf den mit Sand bestreuten Richtplatz und stellten sich stumm im Kreis auf. Keiner wehrte sich oder flehte um sein Leben. Mehmed fühlte sich um sein Vergnügen geprellt.
„Die Ungläubigen sollen zu ihrem Gott singen!“ befahl er. Das wenigstens mussten sie für ihn tun, bevor sie ihr miserables Leben aushauchten!
Viele, die dem Sultan dienten, hatten christliche Mütter. Des Sultans Befehl wurde sofort in mehreren Sprachen mit der Anmerkung weitergegeben, dass den Gefangenen mit dem Absingen eines Psalms oder Te Deums eine Gnade erwiesen werden sollte. Nur zaghaft öffneten sich die Münder, Mehmed hörte fast nichts.
"Sagt ihnen, sie werden ausgepeitscht, wenn sie nicht laut singen!“
Wieder wurde übersetzt. Der nun laute Gesang aus deutschen, ungarischen und polnischen Kehlen löste bei den Zuhörern Gelächter aus, weil die Töne nicht zusammenpassen wollten.
"Aufhören mit der Katzenmusik!" rief Mehmed erbost und zeigte auf einen Beliebigen. "Beginnt mit ihm!"
Das erste Opfer malte mit dem Fuß ein Kreuz in den Sand, bevor es niederkniete. Ein Scherge entblößte seinen Nacken, zwei hielten seine Arme gepackt, der Pfortenmarschall, der sich stets den ersten vorknöpfte, trat mit dem schweren Säbel hinter ihn, nahm kurz Maß und trennte mit einem sauberen Hieb den Kopf vom Rumpf. Den nächsten Delinquenten übernahm der Hauptmann der Garde und den dritten wieder der Marschall, weil es nicht viele gab, die sich vor den gestrengen Augen des Sultans an die Kunst des vollendeten Köpfens wagten. Drei weitere Exekutionen folgten, ohne dass ein Gefangener sich gesträubt oder um sein Leben gebettelt hätte. Mehmed wartete, bis der Marschall mit einem prächtigen Hieb sein viertes Opfer niedergestreckt hatte, dann befahl er abzubrechen. Genug Zeit mit diesen Memmen verplempert! Seine Stimmung war am Boden. Gereizt verscheuchte er den Leibprediger Vani Effendi, der zum Nachmittagsgebet rufen wollte. Mächtig legten sich die Hofleute ins Zeug, um die Laune ihres Herren gerade zu biegen. Hofmeister Yusuf Efendi fand die richtigen Worte: „Herr, diese Ungläubigen waren gelähmt von deiner Kraft und Herrlichkeit! Gelobt sei Allah, dass er dich mit solchen Gaben versehen hat!“
„Ja, bei Allah, so ist es!“ stimmte der Sultan zu. „Hast du alles bestens für den Kriegsrat vorbereitet, mein lieber Yusuf Efendi?“
„Jawohl, siegreicher Herr.“
„Dann steh nicht müßig herum! Lass meine Pauke schlagen und sieh zu, dass keiner trödelt!"
Rasch hatte Yusuf die Ratsmitglieder zum Defilee geordnet. Unter dem Gedröhn der großen Sultanspauke durchschritten sie paarweise die mannshohe Öffnung im Palisadenzaun der Zeltburg. Als sie bei den Rossschweifen vorbeigingen, entdeckte der Großwesir zwei Männer, die im Kriegsrat nichts verloren hatten. Er zog den vor ihm gehenden Hofmeister am Gürtel.
„Was haben der Tatar und der Ungar hier verloren?“
„Sie sind Gesandte am Hofe unseres Padischah“ erklärte der Hofmeister salbungsvoll.
„Dummkopf, das weiß ich auch!“ zischte Kara Mustafa. „Weshalb sie hier sind, will ich wissen!“
„Ihre Namen standen auf der Liste, die mir unser Herr zu überreichen geruhte, weiser Wesir.“
„Und du bist nicht zu mir gekommen und hast es gemeldet!“
Kara Mustafas Hand zog so fest an Yusufs Gürtel, dass er stehen bleiben musste.
„Unser erhabener Herr wollte es als Überraschung aufsparen."
"Nichtsnutziger!" zischte Kara Mustafa. „Du weißt, dass ich keine Überraschungen mag! Da auf dich kein Verlass ist, rechne ich dich ab heute zu meinen Feinden und du weißt, was das bedeutet!“
Yusuf erschauerte. Feinde Kara Mustafas verschwanden spurlos. Wie Wesir Ibrahim Pascha, Kaimakam (Stellvertreter des Großwesirs) Kemal Mustafa und Oberstallmeister Sary Süleyman. Zuletzt vor Wien gesehen und danach nie wieder. Yusuf konnte nur hoffen, dass die Sache mit der Drohung und ein paar festen Ohrfeigen abgetan sein würde.
„Nimm meine zerknirschte Entschuldigung entgegen, weiser Wesir. Ich bitte dich!“
„Winsele du nur fleißig!“ höhnte Kara Mustafa, „aber trage dein Gewinsel nicht zu unserem Herrn, weil ansonsten“ - die furchtbaren Augen stachen Yusuf wie Messerspitzen ins Gesicht - „Blut vergossen wird!“
Im Diwanzelt erwartete Yusuf weiteres Ungemach. Witzbolde unter den scherzhaft als Steigbügelagas bezeichneten minderen Mitgliedern des Kriegsrates hatten sich in die vorderen Reihen gesetzt, die den höchsten Offizieren, Beamten und Geistlichen zustanden. Unwirsch scheuchte Yusuf die Narren auf ihre angestammten Stehplätze zwischen den acht Säulen zurück, die das als Baldachin zugeschnittene Zeltdach trugen. Die Ordnung war hergestellt, als der Sultan würdevoll die Stufen zum Thron aus Ebenholz und Elfenbein erklomm. Sobald er sich gesetzt hatte, rief er den Vani Efendi nach vorne. „Beginne du!“
„Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes“ begann der Imam seine Ansprache, die Zeilen aus dem Koran mit eigenen Worten verwebte.
„Lob sei Allah, dem Herrn der Welten, dem Barmherzigen und Gnädigen, der am Tag des Gerichts regiert! Allmächtiger Gott, Dich preisen wir und Dich bitten wir: Segne die Waffen des siegreichen Padischah, der unser geliebter Herr ist und als Dein Schatten auf Erden wandelt. Schütze ihn, der die heiligen Stätten des Islam beschützt und schenke ihm ein langes glückliches Leben!“
An dieser Stelle brachen die Anwesenden in blumige Lobpreisungen für den Sultan aus, die erst endeten, als Mehmed gebietend seinen Finger auf die Lippen legte.
„Allah, wir loben und wir preisen Dich!“ fuhr der Imam fort. „Stärke die Arme der Gläubigen, auf dass sie im Kampf gegen die Feinde unseres Glaubens nicht ermüden. Und ihr, die ihr hier versammelt seid: Tut, was der Koran befiehlt. Vernichtet die Ungläubigen! Tötet sie, wo immer ihr sie findet, ergreift sie, umzingelt sie! Wenn sie sich aber bekehren und das Gebet verrichten, dann lasst sie ihrer Wege ziehen!“
„Allahu akbar!“ riefen alle wie aus einem Munde. Zum Ärger des Predigers erachtete Mehmed das Nachmittagsgebet nach der ´herrlichen Predigt` für überflüssig und verlangte nach Erfrischungen. Bei Gebäck, Kaffee und Rauchwerk kam eine gedämpfte Unterhaltung in Gang. Kara Mustafa schwatzte mit den Statthaltern der asiatischen Provinzen, als ihn Mehmed zu sich winkte.
„Allah, der Allmächtige, hat meinen Verstand erleuchtet, schwarzer Mustafa. Nicht du wirst den Kriegsrat leiten, sondern ich! Hörst du? Ich!“
„Ich höre, oh Herr und ich frohlocke“ antwortete der Wesir. „Aber ist es klug, dass ein Tatar und ein Ungar mithören?“
„Ich habe sie eingeladen.“
„Dann nenne mir bitte den Grund für die Einladung, weiser Herr, weil dein bescheidener Diener errät ihn nicht. “
„Mein Sohn Mustafa hat Gründe angegeben.“
„Wie aufmerksam von deinem ältesten Sohn – Allah schenke ihm ein langes glückliches Leben. Aber Vasallen haben beim Kriegsrat nichts verloren! Es genügt, dass du ihnen Befehle erteilst! Der Tatarenkhan wird mit seiner Streitmacht im Frühling wiederkommen, weil es ihn nach Beute gelüstet und das ungarische Königlein, weil es den Zorn des Kaisers fürchtet. Mehr braucht es nicht! Und bedenke den Schaden, wenn sie das Gehörte an unsere Feinde weitergeben! Ungarn und Tataren haben lose Zungen!“
Mehmeds Augen suchten die beiden Gesandten. Sie standen mit Yusuf Efendi und zwei Offizieren plaudernd in einer Zeltecke. Das erregte sein Misstrauen.
„Bei Allah, du hast Recht! Komplimentiere die Schwätzer hinaus, bevor die Beratung beginnt!“
Yusuf zuckte zusammen, als er den Großwesir auf sich zukommen sah. Kara Mustafa ignorierte ihn und pflanzte sich vor den Gesandten auf. „Der Sultan will euch verabschieden. Es war ein Versehen, dass ihr eingeladen wurdet!"
„Oh, wie bedauerlich“ sagte der Ungar in schlechtem Türkisch. „Wird die Gnade gewährt, den Mantel des Sultan küssen zu dürfen?“
„Sie wird“ antwortete Kara Mustafa knapp und die beiden machten sich auf den Weg.
Yusuf, der ihnen folgen wollte, wurde der Weg versperrt. Kara Mustafa wartete, bis der Sultan mit den Gesandten beschäftigt war, dann schlug er mit der flachen Hand zu. Obwohl Yusufs Wangen brannten, fühlte er sich erleichtert.
Mehmed hatte die Misshandlung seines obersten Hofmeisters nicht mitbekommen. Er nickte Kara Mustafa freundlich zu, als er bei seinen Füßen Platz nahm.
„Bevor wir beraten, soll gehört werden, was Kara Mustafa Pascha von den dunklen Machenschaften unserer Feinde weiß. Rede Großwesir!“
„Es scheint“ begann Kara Mustafa, „dass die kläglichen Niederlagen und der bittere Frost unsere Feinde gelähmt haben. Die Garnisonen von Raab (ungarisch: Györ) und Komorn (Grenzfestungen östlich von Wien, die noch dem Kaiser gehörten) unternehmen nichts und die kleine Streitmacht in Graz wärmt sich die Hintern am Feuer. Einzig am nördlichen Donauufer nahe bei Wien kommt es hin und wieder zu Gefechten. Dort befiehlt ein junger Capitan, der unserem Vasallen Imre Tököly Sorgen bereitet. Sobald der Schnee schmilzt, wird Kara Mehmed Pascha über die Donau gehen und dem Spuk ein Ende bereiten.“
„Und wo haust dieser schreckliche Capitan?“ unterbrach Ali Pascha.
In einem Städtchen an der ersten Donaubrücke nach Wien. Es trägt den wunderlichen Namen“ - Kara Mustafa verzog den Mund wie bei starken Zahnschmerzen - „Krems. Die Ungläubigen müssen aus Krems vertrieben werden!“
„Das hätte der Tatarenkhan schon im letzten Jahr tun sollen“ schimpfte Ali Pascha.
„Wahr sprichst du, Scheichsohn“ sagte Kara Mustafa, „deshalb hat er seinem tüchtigeren Sohn Platz gemacht.“ Jene, die wussten, wie es dabei zugegangen war, grinsten.
„Schreiben wir dieses Krems auf die Liste unserer Kriegsziele“ sagte der Sultan. „Was weißt du noch?“
„Dass es die christlichen Herrscher mit dem Kaiser halten und sich gegen unseren Verbündeten Ludwig XIV. von Frankreich stellen.“
„Woher weißt du das?“
„Ich weiß es vom englischen Gesandten und vom niederländischen. Beide haben das Gleiche gesagt, siegreicher Herr.“
„Gesandte lügen.“
„Sie lügen, weiser Sultan, wenn es ihnen zum politischen Vorteil gereicht. Doch in diesem Fall reden sie die Wahrheit. Der französische König steht alleine da und muss fürchten, dass der oberste Hüter der Ungläubigen, den sie Papst nennen, ihn verstößt.“
„Wie kann der ihn verstoßen?“
„Von der Prozedur verstehe ich nichts, Herr, aber es ist in der Vergangenheit geschehen.“
„Und wenn er vom Papst verstoßen wird, ist er kein Christ mehr? Und wenn er kein Christ ist, was ist er dann? Ein Gottloser?“
"Fragen wir Mavrocordatos" schlug Kara Mustafa vor. Mehmed winkte den griechischen Arzt, der dem Großwesir als Dolmetsch und diplomatischer Berater diente, nach vorne.
"Sag, kann der Papst einem Christen den Glauben verbieten?"
Bevor der Grieche antworten konnte, wurde er vom Vani Efendi, der das Wort Papst einmal zu viel gehört hatte, zur Seite gestoßen. „Er soll schweigen, Herr! Was kümmert uns der Irrgläubige in Rom? Allahs Zorn trifft jene, die sich mit Irrlehren beschäftigen!“
„Lass ihn reden, Prediger!“ gebot Mehmed, „die Sache macht mich neugierig. Rede Grieche!“
„Mächtiger Herr, diese Prozedur nennt sich Exkommunikation. Der Bestrafte bleibt durch die empfangene Taufe Christ, ist aber vom Empfang der Sakramente ausgeschlossen, was bedeutet, er würde im Zustand der Sünde leben und sterben. Eine schreckliche Vorstellung für Christen.“
„Dann wird König Ludwig also dem Papst nachgeben und sich mit dem Kaiser gegen mich zusammenschließen?“ fragte der Sultan.
„Vielleicht“ antwortete Mavrocordatos. „Er könnte aber auch seine eigene Kirche gründen wie es vor lange Zeit ein englischer König getan hat.“
„Bei Allah, ich hoffe, das wird er tun!“
„Für König Ludwig steht noch ein weiterer Weg offen “ fuhr Mavrocordatos fort. „Er könnte die französischen Bischöfen einen Gegenpapst wählen lassen, der ihm gewogen ist. Auch das gab es bereits.“
„Und der jetzige Papst“ fragte der Janitscharengeneral.
„Würde auch im Amt bleiben. Es gäbe dann zwei Päpste.“
„Die sich bekriegen würden?“
„Ja, mit Worten.“
„Ha, bloß mit Worten, wollen sie sich bekriegen“ lachte der Sultan. „Was für Memmen! Ich werde ein Schreiben an meinen französischen Bruder aufsetzen lassen“ - der Sultan sprach nun in gönnerhaften Ton - „und ihm zum einzigen wahren Glauben raten. Er soll Muslim werden!“
Mavrocordatos und jene im Rat, die politisch und praktisch dachten, rissen erstaunt die Augen auf. „Als Muslim kann sich Ludwig über die Anfeindungen des Papstes hinwegsetzen“ dozierte Mehmed „Liebt er die Frauen, Mavrocordatos?“
„Nicht weniger als ihr, hoher Herr.“
"Aber er besitzt nur eine Gattin?"
"Besaß, erhabener Herr. Sie starb im letzten Sommer."
„Dann soll in dem Schreiben auch stehen, dass er fortan mehrere Gattinnen nehmen darf. Und weiter, dass ich ihm eine Teilung des Reiches der Deutschen vorschlage. So!" Wuchtig schlug der Sultan mit seinem silbernen Streitkolben auf ein abgestelltes Kaffeetablett, das in zwei Teile zersprang. "Ich nehme mir die östlichen Provinzen der Deutschen, er die im Westen, nach denen es ihn schon lange gelüstet! Bei Allah, so soll es geschehen!"
„Gott will es!“ rief Vani Efendi, „preiset unseren Sultan!“
Kara Mustafa, der die Außenpolitik des Reiches leitete, lief es kalt über den Rücken. Mit Frankreich bestand ein mündlicher und sehr geheimer Vertrag mit dem Inhalt, ihrem gemeinsamen Feind, dem Kaiser, zu schaden. Direkte Waffenhilfe war nicht vereinbart. Im Herbst war ein Schreiben Mehmeds, adressiert an ´den geliebten Bruder Ludwig, König in Frankreich` in Österreich abgefangen und in alle Welt hinausposaunt worden. Wegen der Indiskretion hatte sich der französische Botschafter bitter beklagt und Konsequenzen angedroht, falls die unerwünschte Korrespondenz sich wiederholte.
„Großwesir, Mustafa! “ rief Mehmed. „Wie viele Soldaten bringst du bis zum Frühjahr zusammen?“
„Einhunderttausend, oh Herr, so Allah will, hundertzwanzigtausend.“
„Zu wenige, zu wenige für meine Ziele! Zweihunderttausend sollen es sein!“
„Herr, dann muss Allah Goldstücke in die Kriegskasse regnen lassen!“
„Unsinn! Ich werde die Kriegskasse aus den Truhen meiner Schatzkammer füllen. Ich werde den Ungläubigen ihre Städte wegnehmen, ihre Schlösser, ihre Weiber und Kinder, wie es Allahs Wille ist!“
Eine Stunde später ging der Kriegsrat nach einer Brandrede des Sultans in euphorischer Stimmung zu Ende und Kara Mustafa zog sich mit Mavrocordatos, dem Janitscharengeneral, seinem Schwager Köprülü Mustafa, der zum vierten Wesir aufgestiegen war und Wesir Ali Pascha von Rumelien, der einem Rang über ihm stand, für eine Nachlese in sein Zelt zurück. Bedauerlicherweise nicht dabei: Sein verlässlicher Freund Kara Mehmed und der umtriebige Selim, ein venezianischer Überläufer, dem Allah den Verstand und die Einfallskraft von fünf Männern gegeben hatte. Selim hatte er zum Präfekt von Wien erhoben, was er nachträglich bedauerte.
Die vier, die mit ihm saßen, hatten die Verblüffung über die Ankündigung des Sultans, hunderttausend Soldaten aus seinem Privatschatz zu bezahlen, noch nicht abgelegt. Sultan Mehmed war immer für eine Überraschung gut, dass der notorische Geizkragen aber sein Privatvermögen opferte, überstieg alle Erwartungen. Und so wurde die Frage - „glaubst du wirklich, er tut es?“ - mehrmals gestellt, ohne dass die fünf zu einer anderen Antwort als - "er wird es tun, wenn es Allahs Wille ist" - gekommen wären. Kara Mustafa hätte das zusätzliche Geld gerne für die Erneuerung der Kriegsflotte verwendet. Die alte dümpelte vermorscht in diversen Häfen und konnte einer modernen christlichen Flotte nicht Paroli bieten. Die Venezianer verhielten sich feindselig, obwohl ihnen die Rückgabe einiger ägäischer Inseln im Austausch gegen eine Handvoll Kriegs- und Transportschiffe in Aussicht gestellt worden war. Schiffe brauchte das Reich dringender als Brot.
„Nun, Bekir Mustafa, was weißt du zu sagen?" wandte Kara Mustafa sich an den Janitscharengeneral.
"Dass wir auf die Bündnistreue der Franzosen nicht bauen dürfen, weiser Wesir, dass wir aber andererseits mit zweihunderttausend Soldaten die Franzosen gar nicht brauchen, um uns den Westen zu unterwerfen."
Der Großwesir nickte nachdenklich. "Und wie sollen wir vorgehen?“
„Als erstes müssen die Kaiserlichen aus Raab und Komorn vertrieben werden! Das wird hart, aber fünfzigtausend sollten reichen. Das Hauptheer kann gegen die Länder vorgehen, die bei den Deutschen Bavaria (Bayern)und Bohemia (Böhmen) heißen.“
„Und an Venedig denkst du nicht?“
"Allah wird unsren Verstand leiten, sobald Raab und Komorn erobert sind. Das sind zwei harte Brocken."
„Sagtest du schon. Was meinst du, Ali Pascha?“
"Venedig liegt abseits des deutschen Kriegsschauplatzes! Mache Wien zum Ausgangspunkt deiner Feldzüge!“ sagte der vierte Wesir, „und tue es rasch! Bring alles was du für die Feldzüge brauchst von Belgrad die Donau aufwärts. Beginne damit, sobald der Fluss befahrbar ist."
"Gut gesprochen, Ali. Und was rätst du, Mavrocordatos? Du schaust drein, als wäre deine Mutter verstorben!"
Das Gesicht des friedliebenden und stets vorsichtigen Dolmetsch trug wie immer, wenn über Kriegspläne geredet wurde, einen sauertöpfischen Ausdruck. Seiner Meinung nach hatte das Reich seine natürlichen Ressourcen aufgebraucht und durfte nicht noch größer werden. Dass es noch existierte, verdankte es der Schwäche seiner Feinde und der Willfährigkeit seiner Vasallen, die es wie ein Moloch auszehrte, bis die sich eines Tages gemeinsam gegen ihre Peiniger erhoben! Aber wie wollte man siegestrunkenen Türken klar machen, dass die Gefahr mit jeder Eroberung stieg?
"Ich stimme dem General und dem Statthalter von Rumelien zu, weiser Wesir. Erst müssen die Festungen des Kaisers östlich von Wien fallen, bevor du dich in neue Abenteuer stürzt! Und habe Acht, dass sich die Kaiserlichen Wien nicht zurückholen, bevor der Winter zu Ende ist."
"Wie ein ängstliches Weib redest du, Grieche!" rügte der Wesir. " Es ist unsinnig eine Stadt im Winter zu belagern!“
Mavrocordatos zuckte mit den Schultern. "Vom Krieg verstehst du mehr als ich, siegreicher Wesir. Mir kam nur der Gedanke, dass es gerade deswegen versucht werden könnte, weil es unmöglich erscheint. Credo quia absurdum est.“
„Weißt du keinen besseren Rat, Mavros? Soll ich dem Kaiser Wien zurückgeben und ihn um Vergebung bitten?“
Mavrocordatos ignorierte den Sarkasmus. „Jedenfalls würde ich keinen Piaster auf die Franzosen setzen, weiser Wesir. König und Kaiser sind Glaubensbrüder. Und über ihre Mütter verwandt. Eine Aussöhnung ist nicht ausgeschlossen und dann stehen einhundert und fünfzigtausend französische Soldaten gegen uns.“
„Einhundert und fünfzigtausend“ sinnierte Ali Pascha. „Allah möge verhindern, dass es dazu kommt!“
„Nun lass dich nicht vom Gejammer des Griechen anstecken, Ali!“ rügte Kara Mustafa. Gehen wir davon aus, dass der Sultan sein Versprechen hält und im Sommer ein zweites Heer nachrückt. Der Sultan verlangt eine schöne reiche Stadt für sein Gold. Welche wollen wir ihm geben?“
„Prag würde ihm gefallen“ sagte Köprülü Mustafa , der wie viele andere seit Wochen die Landkarten studierte. „Die Stadt ist ein Bollwerk gegen Norden und Westen und im Vogelflug von Wien nicht weiter entfernt als Buda. Bei Bedarf können wir die Heere zusammenlegen.“
„Gut gesprochen, Schwager! Arbeite einen Plan aus! Suche nach Männern, denen Stadt und Umland vertraut sind! Aber was ist mit Venedig? Venedig ist stark zur See und schwach zu Lande. Sollen wir es nicht am Landweg angreifen?“
„Hat dir das der kleine venezianische Renegat ins Ohr geflüstert?“ fragte Bekir Mustafa. „Dieser Selim, der seine alte Heimat so hasst?“
„Die Venezianer wollen keinen Krieg“ unterbrach Mavrocordatos. „Sie würden einen hohen Tribut zahlen, wenn man sie in Ruhe lässt. Nimm ihr Geld und du ersparst dir einen Kriegszug mit ungewissem Ausgang.“
„Ich will nicht ihr Geld, ich will ihre Schiffe!“
Kara Mustafa stand auf und streckte sich wie ein Kater. „Prag oder Venedig also. Falls der Sultan Wort hält. Allah möge uns viele Siege schenken! Ihr seid entlassen!“
In Krems an der Donau erwachte am Neujahrstag im Gasthof ´Zum Pfennigfuchser` ein Mann, dessen Hass auf die Türken so groß war, dass selten ein Tag verstrich, ohne dass er über Mittel und Wege nachgedacht hätte, ihnen Schaden zuzufügen. Von dieser Obsession abgesehen, gab es nichts Auffälliges an ihm. Er führte einen gewöhnlichen deutschen Namen – Konrad von Breitenbrunn - war groß gewachsen und kräftig, ohne riesig zu wirken. Er mochte Frauen und diente dem Kaiser wie viele andere Männer auf Sold und Ehre. Im letzten Jahr war er auf der Karriereleiter zwei Sprossen nach oben gestiegen und hatte es zum Kommandeur eines Bataillons gebracht. Das Bataillon war in Wien vor die Hunde gegangen, genauer gesagt, mit Wien vor die Hunde gegangen. Nach der Explosion des Pulverturms waren sie gegen die türkischen Belagerer auf verlorenem Posten gestanden, hatten sich so gut es ging gewehrt, bis das Ende kam. Gewisse Verdienste, die der gewesene Stadtkommandant Starhemberg in seinem Offizierspatient festgehalten hatte, machten Breitenbrunn Hoffnung auf ein neues Kommando, sobald der Kaiser neue Regimenter aufstellte. Zunächst aber beschäftigte ihn an diesem Morgen die banale Frage, ob er sich eine Uhr zulegen sollte, eines dieser modischen Chronometer nämlich, die so klein waren, dass sie in den Brustbausch passten und einhundert Gulden oder mehr kosteten. Abends am Offizierstisch hatte ihn ein Major spöttisch angesehen, weil er nach der Uhrzeit fragte. Mon Dieu, ein Obrist ohne Uhr? Incroyable! Ein dummes Wort und er hätte dem blasierten Pimpf aufs Maul gehauen! Teure Uhren waren Luxus, solange die Sonne gratis vom Himmel schien. Das Gleiche galt für teure Kleider, Duftwasser, Schmuck und Perücken. Man brauchte sie nicht wirklich! Mit dieser Meinung hielt er meist hinter den Berg, weil sie den Argwohn der parfümierten Kavaliere und geistlosen Schwätzer erregt hätte. Es gab da nämlich ein diskretes Detail, das der Welt verborgen bleiben musste. Einen ´von Breitenbrunn` gab es erst, seit ihm die Brandenburger aus Gefälligkeit einen Freiherrentitel ins Offizierspatent geschrieben hatten, um ihm den Übertritt ins kaiserliche Heer möglich zu machen. Dort hatten ihn dann alle gleich als Baron angeredet und er den Irrtum nicht korrigiert. Wozu auch? Als Baron lebte es sich höchst angenehm. Seine ungeschliffene Art und derbe Sprache ein wenig abzumildern und sich eine passende Biographie zurechtzulegen, war kein großes Ding gewesen. Und dass er knapp bei Kasse war, fiel bei der Armee, wo es von mittellosen adligen Offizieren wimmelte, nicht auf. Bloß sein enger Freund Joachim Beck, der schlaue Kerl, wäre ihm beinahe auf die Schliche gekommen. Weil er wie ein Bär focht und derbe Lektüre wie den `Simplizius Simplizissimus` oder die `Landstörtzerin` bevorzugte.
Konrad Breitenbrunner, so lautete sein richtiger Name, wickelte sich die Decke um den Leib und öffnete das mit Eisblumen verkrustete Fenster. Der Sonne nach musste es neun oder ein Viertel darüber sein. Mit der kalten Luft drang das verzweifelte Gackern von Hühnern, vermischt mit dem dumpfen Gebrumme der Milchkühe ins Zimmer. Die wackeren Kremser vernachlässigten nach der Silvestersauferei ihr Vieh und begingen damit ein Unrecht! Er selbst hatte sich nach drei Gläsern Wein auf den ganzen Abend verteilt, in heiterer, aber nicht angeheiterter Stimmung zum Schreiben und Zeichnen zurückgezogen. Eine seiner Lebensweisheiten besagte, dass Glück und Wohlbefinden eines Mannes unter anderem davon abhingen, wie er am Abend zu Bette ging. Er sollte weder Hunger noch Durst verspüren, Aufregungen meiden, nicht ins Grübeln verfallen und - wenn ihm das Einschlafen nicht leicht fiel - zuvor einer erbaulichen Tätigkeit nachgehen, die seine Sorgen verblies. In der Kindheit hatten sie mit dem Vater in der Schlafkammer Luthers Nachtgebet gesprochen. Auch jetzt noch hatte er den tönenden Bass des Vaters, den brechenden Sopran des halbwüchsigen Bruders und das Gezwitscher der kleinen Schwester im Ohr. An den Klang der eigenen Stimme erinnerte er sich nicht, wohl aber an das wonnige Gefühl im warmen Nest zu liegen und sich auf das frohe Erwachen am nächsten Morgen zu freuen.
Breitenbrunner zog das knielange Leinenhemd durch die Unterhosen und schlüpfte in das wollene Unterkleid. Dann setzte er sich an das Tischlein und betrachtete seine letzte Zeichnung, einen Esel, der mit hängenden Ohren verlassen in einer verschneiten Landschaft stand. ´Asinus Breitenbrunnensis` - Esel Breitenbrunn` stand daneben. Esel deswegen, weil er seinen Bruder hatte ziehen lassen und jetzt wieder alleine dastand.
„Ein glücklich Neujahr, wünsch ich dir Bruder Michael“ sagte er halblaut „und auch dir liebe Grete!“ Die Grete hatte sich Michael vor Wien am Sklavenmarkt gekauft, als er noch bei den Türken diente. Von Fleischeslust getrieben war er hingegangen, ohne zu ahnen, was daraus werden würde. Nach ein paar Tagen war er so verschossen in Grete gewesen, dass er sie für immer behalten wollte. Ihn hatte das nicht gewundert, weil Grete ebenso hübsch und aufgeweckt war wie seine Ursula, die ihm die Türken geraubt hatten. Gerne hätte er gewusst, wo Michael und Grete sich gerade aufhielten und was sie anstellten. Was die Ursula gerade tat, oder tun musste, wollte er lieber nicht wissen.
Während er sich die knielangen Strümpfe anzog, fasste er den Entschluss, die Einladung des Savoyer Prinzen zum gemeinsamen Besuch der Neujahrsmesse um elf sausen zu lassen. Er hatte nicht gebetet, seit eine türkische Bande sein Dorf überfallen hatte. Wozu einen Gott anreden, der sich um die Seinen nicht kümmerte? „Gott hat sich wohl um dich gekümmert, Konrad“ hatte ihn der Verwandte in Würzburg, zu dem er sich geflüchtet hatte, belehrt, „sonst stündest du nicht neben mir.“ Er hatte ihn ausgebessert: "Wenn Gott seine Pflicht getan hätte, Onkel, wären sie alle noch am Leben und ich müsste nicht bei dir sein!" Dafür hatte er eine Tracht Prügel bezogen. Auch die geistlichen Herren im Gymnasium konnten seine Zweifel an der Liebe Gottes nicht ausräumen. Vom Katecheten mehrmals der Gottesleugnung überführt, hatte er viele Tage im Karzer verbracht mit keiner anderen Speise als der öfters aufgetischten Prügelsuppe. Sie nährte seine Liebe zur Kirche nicht. In einem verbotenen Buch - solche gab es gut versteckt im Kloster - fand er Abbildungen von kopulierenden Hexen und Zauberern. Gerne wäre er mit denen zum Sabbat geflogen, allein die Inquisition hatte die Hexerei in Würzburg ausgerottet und die selbst hergestellten Hexensalben drehten statt des Geists den Magen um. Mit siebzehn nahm er nach Spanien Reißaus, um Soldat zu werden. Auf Spaniens Thron saß Carlos II., von seinen Untertanen später ´der Verhexte` genannt. Sie gaben ihm die Schuld an Spaniens Unglück. Doch in Wahrheit hatte das unselige Wirken der übermächtigen Kirche den Niedergang des riesigen Reiches verschuldet. Diese Erkenntnis kam dem jungen Breitenbrunn, als er bei einem Autodafé auf der Plaza Mayor in Madrid Wache stand. Die Sonne glühte vom wolkenlosen Himmel, aber Fünfzigtausend waren zur Urteilsverkündung gekommen. In der Menge Denunzianten, damit die Gefängniszellen der Inquisition nicht leer wurden. Das Urteil lautete: Tod durch Verbrennen! Unter den Delinquenten zwei Kinder! Die verrohte Menge jubelte und der Inquisitor verneigte sich wie ein Schauspieler vor seinem Publikum, während eine kleine Schar Männer, die protestiert hatten, abgeführt wurden. Mit gleichgültigen Mienen hatten die in drei Reihen stehenden Soldaten das Geschehen verfolgt. Sie standen als reiner Aufputz dort. Vom Volk ging keine Gefahr für die Herrschaft aus, die Inquisition hielt Spanien im eisernen Griff. Nein, er würde nicht mit Eugenio den Gottesdienst besuchen!
"Herein!" rief Breitenbrunn, weil es an der Tür klopfte.
Ein junges Mädchen trat ein. Es erschrak wegen des halbbekleideten Mannes am Tisch. In der Mägdekammer war am Morgen über diesen Herrn getuschelt worden. Er wäre ein kaiserlicher Obrist und als einziger, der Katastrophe in Wien entkommen. Einen Obristen hatte sie sich als Alten mit Bart und Bauch vorgestellt. Der hier war jung und stattlich. Das Gesicht zwar ein bißl streng mit einer dunklen Narbe auf der Wange. Aber die dunkelblauen oder grauen Augen darunter schauten sie freundlich an. „Gesegnet Neujahr, Jungfer!“ rief er ihr zu. "Gesegnet Neujahr, der liebe Herr!" grüßte sie zurück und hantierte nervös am Ofen. Mutter hatte ihr strikt verboten, sich mit so einem einzulassen. Höflich grüßen sollte sie und nicht mehr! „Fein, dass mein erster Mensch am Neujahrstag eine hübsche Jungfer ist!“ sagte er und stand auf. "Willst mir einheizen? Das ist brav!" Sie tat, als ob sie nichts gehört hätte und schaufelte mit der Kelle Asche in den mitgebrachten Eimer. Im Wirtshaus wurde viel über die Offiziere geredet, die hier verkehrten. Wie gefährlich sie für Weiberleute waren und dass man es sich dreimal überlegen sollte, zu antworten, wenn sie einen anredeten. Allerdings hatte die alte Vroni von ihm geschwärmt. „Ein Bild von einem Mann, würd für ihn die Beine breit machen, wenn ich eine Junge wär.“ Und er hatte ihr ein Trinkgeld gegeben! Vielleicht würde sie auch eins kriegen, wenn sie freundlich war. Betatschen würde sie sich aber nicht lassen.
"Ist auch bitterkalt draußen" sagte sie und drehte sich um. "Heute sind schon welche übers Eis gegangen.“
Er nahm an, dass sie die zufrierende Donau meinte. „Aber nein, doch nicht über den Fluss!“ Sie kicherte nach Art der Halbwüchsigen, wenn sie einen großen Unsinn hören. „Über unseren Fischteich sind sie gegangen.“
„Wie alt seid Ihr Jungfer?“
´Ihr` sagte er und ´Jungfer`! Sie musste wieder kichern.
„Dreizehn der Herr!“
„Oh!“ Er schien das Interesse an ihr verloren zu haben, denn er setzte sich wieder an den Tisch und fuhr mit einem Stift übers Papier, dass es knirschte. Ein wenig enttäuscht arbeitete sie am Ofen weiter.
"Bittschön, der Herr, der Ofen zieht, fertig bin ich" sagte sie fünf Minuten später.
"Weißt du, ob Durchlaucht schon aufgestanden ist?"
"Durchlaucht?"
"Der kleine Prinz mit der großen Perücke."
"Nein."
"Aber ob es bald Frühstück gibt, weißt du vielleicht?"
"In knapp einer Viertelstund´, bitt´schön der Herr."
Er stand auf und drückte ihr eine Münze in die Hand. Nachdem sie gegangen war, stellte er sich mit dem Rücken zum Ofen und dachte über seine Reise nach. Nach Linz würden er und der Prinz im Schlitten fahren, den der Savoyer requiriert hatte. Aber über Linz hinaus? Sein türkisches Halbblut würde in der Kälte draufgehen. Am liebsten hätte er es an Ort und Stelle verkauft, aber im Winter kaufte keiner Pferde. Es musste in einem Stall untergestellt werden. Als die Viertelstunde vorbei war, ging er in die Wirtsstube hinunter. Aus der Küche kamen das Klappern von Kellern und der Geruch von Schweinefleisch. Gegen das Essen im ´Pfennigfuchser` ließ sich nichts sagen. Es war beinahe so gut wie im ´Schwarzen Elephanten` in Scheibbs (Stadt in den niederösterreichischen Voralpen), wo er die letzten Wochen gespeist und das Bett mit der verwitweten Wirtsfrau geteilt hatte. Geliebt hatte er sie nicht, aber ihren Leib mit der gebotenen Zärtlichkeit genossen. Im ´Pfennigfuchser` war die Wirtin hässlich und das Essen teuer. Wegen der knappen Lebensmittel, behauptete der Wirt. Und überhaupt sollten die Offiziere froh sein, dass er das Wirtshaus noch offen hielt. Schließlich konnten jederzeit die Türken über Krems herfallen. Jetzt kam er beflissen mit einem Becher heißen Wein und wies ihn zu einem Tisch beim Kachelofen.
„Bring mir statt des Weins warme Milch! Was gibt’s zum Frühstück?“
„Saurüssel, der Herr Obrist! Mit Linsen.“
„Saurüssel ist klar am Neujahrstag, aber weshalb Linsen statt Knödel?“
„Weil Linsen Geld ins Neue Jahr bringen.“
„Dann bring mir eine doppelte Portion! Ist Ihre Durchlaucht schon aufgestanden?“
„Schon vor Tagesanbruch. Hat für den Herrn Nachricht hinterlassen. Hole sie gleich!“
Er kam mit zwei versiegelten dünnen Papierrollen zurück und wischte mit einem Tuch über den ohnehin sauberen Tisch. "Fort ist er ohne Bezahlen! Wenn ihn die Türken erschlagen, schau ich durch die Finger!"
Die Bemerkung ärgerte Breitenbrunner. Weil aber Neujahr war und der Wirt gut bediente, öffnete er kommentarlos die Rolle mit seinem Namen. Sie war in hastiger Schrift auf Französisch verfasst, einer Sprache, die er ebenso mangelhaft beherrschte wie der Prinz das Deutsche. Nach hartem Nachdenken meinte er, den Sinn begriffen zu haben. Eugenio war eilends wegen einer Ansammlung feindlicher Truppen beim Markt Mistelbach nach Osten geritten. Colonel Breitenbrunn sollte entweder in Krems seine Rückkehr erwarten - wann das sein würde, war ungewiss - oder besser sofort nach Linz reisen und beim Kriegsminister Hermann von Baden vorstellig werden. Dabei würde ihm das beiliegende Schreiben helfen. Spätestens in sechs Wochen sollte er zurück sein und ihn, Eugenio, gegen die aufständischen Ungarn und ihre türkischen Helfer mit einem Regiment Infanterie unterstützen. Das war neu. Sie hatten sich auf acht Wochen geeinigt, weil Breitenbrunn erst in die Schwäbische Alp wollte.
Der Wirt kam mit einem dampfenden Teller und der Milch.
"Schlechte Nachrichten, der Herr?"
"Nein. Aber ich muss stante pede nach Linz."
"Jesus, jetzt bis Linz! Dorthin fährt keiner in einem Stück. Aber der Hilffinger kann Euch bis Melk mitnehmen. Sein Schlitten steht im Hof. Der Knecht spannt schon die Pferde ein. Sputet Euch!“
Liebenswürdiger Weise wartete Herr Hilffinger, ein Weinhändler, bis Breitenbrunner fertig gegessen, seine Truhe gepackt, die Rechnung bezahlt und einen Stall für sein Pferd gefunden hatte. Seine Begleitung war ihm wegen der Unsicherheit auf den Straßen sehr willkommen. Während der Schlitten unter blauem Himmel wie ein Blitz über die einsame Straße sauste, schwatzte der Weinhändler von Räuberbanden, aufmüpfigen Bauern und einem Rebellen, der Stefan Fadinger geheißen hatte. "Wenn jetzt einer wie der Fadinger lebte, würden Schlösser und Klöster brennen! Sind ein eigensinniges und dumpfes Volk, die Bauern. Aber wehe Gott, es ist ein Gescheiter unter ihnen, der ihre mörderische Wut steuert!" Breitenbrunner fiel ein Vorfall beim Markt Lunz im letzten Oktober ein. Bewaffnete Bauern hatten den Flüchtenden die Brücke blockiert und Weggeld gefordert. Ein glatter Fall von Landfriedensbruch! Wäre der Anführer nicht ein aufgeblasener feiger Kerl gewesen, hätte es übel geendet.
„Wer war dieser Fadinger?“
„Ein Kind des Teufels“ antwortete der Weinhändler. „Protestant natürlich und kriegserfahren. Konnte reden, planen und Ordnung unter den Seinen halten. Vor sechzig Jahren hat er Linz mit einem Bauernheer belagert. Nach seinem Tod war im Großen und Ganzen Ruhe. Bis jetzt! Seid auf der Hut vor den Bauern! Wohin soll die Reise gehen?“
„In die Schwäbische Alp.“
„Und welche dringenden Geschäfte rufen Euch dorthin?“
„Keine Geschäfte, sondern ein Versprechen! Ich muss den Schwestern eines toten Freundes die Erbschaft auszahlen.“
In einem Felleisen am Boden seiner Truhe befanden sich Geld, Schmuck, allerlei Krimskrams und ein großer Brocken Weihrauch. Ein kleiner Schatz, den sein guter Freund Joachim Beck beim Hasardieren gewonnen hatte. Joachim war ein geriebener Falschspieler gewesen, der seinen Opfer das letzte Hemd auszog. Wie er an den kostbaren Weihrauch gekommen war, blieb ein Rätsel. Der Brocken reichte für hundert Kirchen. Mindestens.
„Die Damen werden Euch hochhalten“ versprach Hilffinger.
„Das will ich auch gehofft haben!“ Wie die Magier aus dem Morgenland würde er in der schwäbischen Alp mit Gold und Weihrauch auffahren! Joachim hatte seine Schwestern als hübsch und liebreizend beschrieben. Leider hatte er ihm beim Seelenheil der Mutter schwören müssen, sie nicht anzurühren.
„Seht Ihr die zwei Gestalten am Waldrand?“ rief Hilffinger aufgeregt. „Drücken sich zwischen den Büschen herum und beobachten uns!“ Hilffinger griff nach seiner Flinte.
Breitenbrunn spannte pflichtschuldig seine Pistolen, obwohl er die Männer für Holzsammler hielt. Und selbst wenn es sich um Räuber handelte - um dem Schlitten den Weg abzuschneiden, hätten ihnen Flügel wachsen müssen!
Sie erreichten Melk unbeschadet vor der Dunkelheit. Der Weinhändler bot ihm Quartier für die Nacht. Natürlich mit dem Hintergedanken, dass der Gast an der Tafel Gattin und Töchter mit Erzählungen aus dem Krieg unterhalten würde. Bei Breitenbrunn hatte er sich geschnitten. "Als Weinhändler kennt ihr das Sprichwort vom Fass und vom Spund“ sagte der Gast nach den ersten zwei Fragen. Wilffinger kannte es. Ist der Spund einmal heraußen, hört das Fass nicht auf zu laufen. Proteste halfen nicht. Breitenbrunn hatte keine Lust, Zivilisten mit Kriegserlebnissen zu unterhalten. Bevor er sich zum Zeichnen und Reimen zurückzog, präsentierte er der Frau des Hauses als Trost ein Ringlein mit einer kleinen Perle. Den Beckschwestern würde der Ring nicht abgehen. In der warmen Kammer, die sie ihm überlassen hatten, blätterte er in seiner Mappe. Die meisten Zeichnungen waren unter dem Eindruck der blutigen Kämpfe entstanden. Musquetiere kämpften gegen Soldaten mit Turbanen und Pickelhauben, eine hochgehende Mine riss Männer in den Tod, Starhemberg winkte frische Kräfte nach vorne. Es war eine Chronik des Untergangs. Am Ende wehte der türkische Halbmond vom Turm St. Stefans wie eine Freibeuterfahne vom Mast eines gekaperten Schiffs
Auch an Portraits hatte er sich versucht. Ein Kunst sinniger Mensch hätte über die verschmierten Kohlezeichnungen die Nase gerümpft. Aber darauf kam es nicht an. Er würde weiter zeichnen. Die Arbeit saugte den Schmerz auf wie ein Schwamm. Nachdem er eine weitere Zeichnung beendet hatte, versank er friedlich in Hypnos Armen.
„Mit anderen Worten, Sire, wir haben auf dem Kontinent keine Verbündeten mehr!“ Charles Colbert Marquis de Croissy, seit fünf Jahren Außenminister Frankreichs und Vater der infamen Reunionspolitik war zum Ende seines Referats gekommen. Seit der deutsche Kaiser von den Türken schwer aufs Haupt geschlagen und König Ludwig als der Hauptschuldige ausgemacht worden war, wehte seinen Diplomaten kalter Wind ins Gesicht. Auf den Straßen wurden sie angepöbelt, ihre Kutschen von den Straßen gedrängt, ihre Bitten um Audienz, von den fürstlichen Hofmeistern abgewiesen. Der Albtraum jeden Außenministers, an dem ihm aber, wie er sich selbst ziemlich erfolgreich eingeredet hatte, die geringste Schuld traf. Kriegsminister Louvois und der König selbst hatten Frankreich kompromittiert mit ihrem Angriff auf die Spanischen Niederlande und gegen den hatte er sich klar ausgesprochen.
Mit dem zufriedenen Gesichtsausdrucks eines Mannes, dem späte Genugtuung widerfährt, nachdem seine Ratschläge in den Wind geschlagen worden waren, lehnte Colbert sich herausfordernd im Sessel zurück. Es war Viertel nach zehn. Wie immer hatte die Ministersitzung Punkt zehn begonnen. Ludwig XIV. hatte seinen Ministern mit einem Tag Verspätung ein gutes Neues Jahr gewünscht, im Gegenzug ihre Glückwünsche entgegen genommen und dann gleich als Tagesthema die Außenpolitik vorgegeben.
Den König ärgerte die selbstzufriedene Haltung seines Ministers. Die brillante Idee, die Türken gegen den Kaiser aufzuhetzen, war auf seinem Mist gewachsen. „Freut Euch das womöglich, Monsieur Colbert? “
„Es freut mich keinesfalls, Sire, keinesfalls! Mein Herz schlägt für Frankreich und seinen König. Ich wollte nur die prekäre Lage unserer Außenpolitik eindringlich beschreiben."
„Mit einer Trauerrede, Monsieur Colbert, mit einer Trauerrede" murrte Kriegsminister Louvois. „So schlimm steht es um Frankreich nicht! Wir haben Euer Gejammer satt!“
Mit Wir meinte Louvois in erster Linie sich, des weiteren den König, seinen zweiundzwanzigjährigen Sohn, den Dauphin, den greisen Kanzler Michel Le Tellier, der Louvois Vater war, den Finanzminister Claude le Peletier und Jean-Baptiste Colbert, dem Jüngeren, der das Amt des Marineministers bekleidete. Am Tisch saßen also zweimal Vater mit Sohn und ein Onkel mit einem Neffen. Finanzminister Le Peletier, der ohne physischen Verwandten am Tisch saß, sympathisierte mit Louvois und dessen Vater. Diese drei traten manchmal geschlossen gegen die beiden Colberts auf, was den König gemäß Anlass und Laune amüsierte oder auch irritierte. Der Dauphin pflegte still wie ein Geist im Rat zu sitzen, aus Angst, seinem Vater zu missfallen. Er enthielt sich auch jetzt jeder Äußerung, während die Colberts diskret protestierten und Louvois Vater und Le Peletier andeutungsweise in die Hände klatschten.
„Lösungen wollen wir hören!“ fuhr Louvois fort. „Keine Grabgesänge.“
Charles Colberts glaubte bereits eine Lösung gefunden zu haben, wollte sie aber später und sicherlich nicht auf Druck Louvois vortragen. Mit gewichtiger Miene legte er ein Gold besticktes seidenes Täschchen auf den Tisch. So fremd und fein sah es aus, dass sich sofort alle Augen darauf richteten. „Das kam gestern aus Marseille, Sire.“
„Ich hoffe, es ist nicht das, wofür ich es halte!“ sagte der König. „Wer ist der Absender?“
„Der Osmanische Großwesir Mustafa Pascha. Die Türken nennen ihn Kara Mustafa, weil er dunkel wie ein Kaffer ist.“
Ärgerliches Staunen. Vergangenes Jahr war ein Schreiben Sultan Mehmeds an Ludwig XIV. von den Österreichern abgefangen und übersetzt worden. Seither dienten diverse Textstellen in Journalen und Druckschriften als stärkstes Mittel antifranzösischer Propaganda. Besonders populär war die vom Sultan gewählte Anrede ´An meinen geliebten Bruder Ludwig, König zu Frankreich und Deutschland.` Wer es nicht glaubte, konnte das Original am Reichstag besichtigen.
„Diesmal haben sich die Türken für ihre Post eines unserer Kriegsschiffe bedient“ sagte Colbert beschwichtigend.
Ludwig nahm das Täschchen an sich. „In welcher Sprache ist das Schreiben abgefasst?“
„In Osmanisch und Latein.“
„Wir werden es lesen und den Herren im nächsten Ministerrat vortragen“ versprach der König.
„Sire!“ protestierte Louvois, „Colbert hat es gelesen, da bin ich sicher und ich will es auch lesen und die anderen Minister ebenfalls.“
„Geduldet Euch, Louvois! Wir fahren mit unserem Thema fort! Wir haben unsere Verbündeten auf dem Kontinent verloren, Unsere Diplomatie ist zum Stillstand gekommen. Wie können wir wieder zum Status quo kommen?“
„Sire“ sagte Colbert, „Es bedarf eines Schwenks in der Politik. Weg von den Türken und hin zum Deutschen Reich!“
„Eure Ansichten sind uns bekannt, Colbert.“
„Sehr wohl, Sire. Aber hört mich bitte weiter an. Ihr habt mir gestattet, meine diplomatischen Fühler auszustrecken. Das habe ich getan. Und mit einigem Erfolg.“
Colbert zog ein Taschentuch heraus und putzte sich umständlich die Nase, was, wie jeder am Tisch wusste, sein probates Mittel war, ihre volle Aufmerksamkeit zu haben. Dieses Mal brauchte es besonders lange, bis das Tuch wieder in seiner Weste verschwand.
„In London“ fuhr Colbert fort, „hat es vergangene Woche ein heimliches Treffen unseres Gesandten mit dem kaiserlichen Diplomaten Graf Caprara gegeben.“
„Steigt die heilige römische Majestät etwa vom hohen Ross herunter?“ witzelte Louvois.
Colbert ignorierte ihn. „Alberto Caprara ist ein hochrangiger Diplomat. Vor zwei Jahren hat er in Konstantinopel die Verhandlungen geführt.“
„Und ist dabei gescheitert“ grinste Louvois.
„Schweigt jetzt!“ wies ihn der König zurecht. „Habt Ihr dieses Treffen eingefädelt, Colbert?“
„Jawohl, Sire.“
„Und wer weiß davon?“