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Ein Zeitungsartikel war der Auslöser für O. Henrys 1906 erschienenes Buch 'Die Vier Millionen'. Darin wurde behauptet, dass es in ganz New York nur 400 Personen von Wichtigkeit gäbe, die es lohnen würde, zu kennen. Doch was ist mit den anderen 3,999,600, deren auf so vielen Hoffnungen basierendes Leben oft nicht einfach war und nicht selten dauerhaft in der Gosse endete? Aber auch diese Menschen sind Teil der Stadt, ohne die es sie überhaupt nicht gäbe. Nach dem großen Erfolg des ersten Werks erschien im Jahre 1906 das zweite Buch über die 'Vier Millionen' mit dem Titel 'Die getrimmte Lampe und andere Geschichten der Vier Millionen'. In diesem dritten Buch (von insgesamt vier der Serie) bringt O. Henry wieder neue Geschichten aus dem Leben in New York. War er beim zweiten schon von der ursprünglichen Linie abgewichen, wo auch ein Titel 'Geschichten aus NewYork' gepasst hätte, wird er hier, im dritten Buch, 'Die Stimme der Stadt - weitere Geschichten von den vier Millionen', nochmals allgemeiner. O. Henry bleibt seinem Stil treu und überfrachtet den Inhalt wieder mit Redewendungen, Metaphern und Vergleichen aller Art, die oft kaum oder gar nicht verständlich sind. Selbst literarisch geschulte Muttersprachler tun sich hier arg schwer, herauszufinden, was O. Henry eigentlich meint. Wie beim ersten und zweiten Buch auch, hat der Übersetzer, der selbst einige Zeit im 'Big Apple' gelebt und gearbeitet hat, versucht, mit zahlreichen Anmerkungen (hier auch Endnoten) möglichst viel Licht ins Dunkel zu werfen.
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Seitenzahl: 299
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Vorwort des Übersetzers
Die Stimme der Stadt
Das ganze Leben von John Hopkins
Ein anspruchsvolle Person
Doughertys Augenöffner
Ein kleiner Makel an der gesammelten Frucht
Der Vorbote des Frühlings
Während das Auto wartet
Eine Gummi-Kömödie
Eintausend Dollar
Die Niederlage der Stadt
Die Launen des Schicksals
Das plutonische Feuer
Nemesis und der Bonbonmann
Die Quadratur des Kreises
Rosen, Tricks und Romantik
Die Stadt der schrecklichen Nacht
Das Ostern der Seele
Der Narren-Killer
Durchreisende in Arkadien
Der Rat(h)skeller und die Rose
Der Ruf des Clairons
Herausgeholt aus Bohemia
Ein Philister in Bohemia
Jeder nach seinen Fähigkeiten
Das Andenken
Endnoten
In seinem ersten Buch der Serie 'Die Vier Millionen' (1906) befasst sich O. Henry mit dem Leben der Menschen in New York. Die 'Vier Millionen' beziehen sich auf die damalige Einwohnerzahl der Stadt. Ein Zeitungsartikel war der Auslöser. Darin wurde behauptet, dass es in ganz New York nur 400 Personen von Wichtigkeit gäbe und die es lohnen würden, sie zu kennen. Doch was ist mit den anderen 3,999,600? Das auf so viele Hoffnungen basierende Leben war meist nicht einfach, doch auch diese Menschen sind ein Teil der Stadt …
Nach dem großen Erfolg dieses ersten Werks erschien im Jahre 1907 ein zweites Buch über die 'Vier Millionen' mit dem Titel 'Die getrimmte Lampe und andere Geschichten der Vier Millionen'. Dies ist nun das dritte Buch (von insgesamt vier) mit dem Titel 'Die Stimme der Stadt – weitere Geschichten von den Vier Millionen (entstanden 1908), das mehr Geschichten von den 'Vier Millionen' enthält. Aber bereits im zweiten Buch weicht O. Henry von seiner Linie ab. Die Richtung geht nicht mehr so stark hin zu den einfachen Leuten, ihren Sorgen und Nöten am Rand der exklusiven Gesellschaft. War man da schon fast der Meinung, das Buch hätte auch allgemein 'Geschichten aus New York' heißen können, ist es in diesem dritten Band um so mehr der Fall. Was sich aber nicht verändert: Es geht wieder um das Leben im 'Big Apple'.
O. Henry bleibt seinem Stil treu und überfrachtet den Inhalt erneut mit Redewendungen, Metaphern und Vergleichen aller Art, die oft kaum oder gar nicht verständlich sind. Selbst literarisch geschulte Muttersprachler tun sich hier arg schwer, herauszufinden, was O. Henry eigentlich meint.
Einiges ist nur lokal (New York) oder aus zeitlicher Nähe zur Entstehung des Buchs zu verstehen. Zudem greift er tief in die obskurste Ecke der Zitatenkiste und kreiert Zusammenhänge, die oft arg hinken, kaum nachvollziehbar oder (selten) auch falsch sind. Wie beim ersten und zweiten Buch auch, hat der Übersetzer, der selbst einige Zeit im 'Big Apple' gelebt und gearbeitet hat, versucht, möglichst viel Licht ins Dunkel zu werfen. Dies geschah nun auch als Endnoten (Fußnoten haben ihre Tücken hinsichtlich der E-Book Variante). Kürzere Anmerkungen wurden im Text separat erklärt oder in direkt diesen eingearbeitet – wenn es kurz zu erklären war. Vielleicht findet der 'O. Henry-'Erforscher' dabei ja einige neue 'Erleuchtungen'.
Da wo es geboten und vertretbar war, wurde manches in den normalen Sprachgebrauch übertragen, gekürzt, neu formuliert oder nach Gutdünken ersetzt, besonders wenn es für die Geschichte ohnehin keine Bedeutung hat. Letzteres wurde aber möglichst selten angewandt.
Gelegentlich musste einiges doch der Fantasie des Lesers überlassen werden. Aber es wäre kein Buch von O. Henry, wenn es anders wäre.
New York im Jahre 1900
O. Henry ist ein Pseudonym von William Sydney Porter, der am 11. September 1862 in Greensboro, North Carolina als Sohn eines Arztes geboren wurde. Er war in verschiedenen Berufen tätig – Schäfer, Verkäufer, Cowboy, Babysitter und schließlich Bankangestellter. Hier sah er erstmals Geld auf einem größeren Haufen, was er zugleich zur Unterschlagung nutzte.
Für schuldig befunden, verschwand er in Honduras. Dort schrieb er ein Buch, wo er den Begriff 'Bananenrepublik' für ein fiktives Land in dieser Region prägte (heute auch – gelegentlich – zu Recht für unser näheres Umfeld gebraucht). Die Krankheit seiner Frau ließ ihn zurückkommen, wo er dann eine langjährige Haftstrafe im Staatsgefängnis von Ohio antreten musste.
Am 24. Juli 1901 wurde er aus der Haft entlassen, wollte aber nicht in einer Apotheke tätig werden. Stattdessen trat er eine Stelle als Journalist der 'Houston Post' in Texas an und begann seine schriftstellerische Tätigkeit.
Bald danach gehörte er zu den bestbezahlten Schriftstellern in den USA und schrieb mehr als 300 Kurzgeschichten und zahlreiche Bücher. Intensiv studierte er das Leben in New York. Sein besonderer Witz wurde von den Lesern geliebt.
Gerne wird auch über die Entstehung seines Pseudonyms schwadroniert, wobei er selbst für Verwirrung gesorgt hat. Einmal soll es eine Katze namens 'Henry' gewesen sein, verbunden mit dem Ausruf 'O(h), Henry', wenn sie wieder mal was angestellt hatte. Ein anderes Mal soll er den Namen Ossian Henry in einem Apothekerhandbuch gefunden haben, während er sich im Gefängnis zum Apothekergehilfen weiterbildete. Oder, im gleichen Gefängnis, soll es der richtige Name eines Wärters gewesen sein (ausgeschrieben Orrin Henry), den er mit seinem Pseudonym verewigt hat.
Eine andere Version erzählt, dass er Proben seiner Arbeit verschicken wollte, und dafür einen Autorennamen suchte. Auf einer Liste für einen Ball blieb sein Freund beim Namen Henry hängen, den man vom Vornamen zum Nachnamen machte. Den Vornamen wollte man abkürzen und einfach halten. Das 'O', meinte man, sei am einfachsten zu schreiben und war auch schon in Oliver Henry enthalten, einem seiner vorherigen Pseudonyme, wie S.H. Peters, James L. Bliss, T.B. Dowd und Howard Clark.
Oder diese (ernst gemeinte) Hypothese hier: Der Autor verbüßte eine Strafe in Staatsgefängnis von Ohio, Ohio Penitentiary, aus dem er die Buchstaben entnommen haben soll.
1887 heiratete er Athos Estel, die bereits sehr krank war. Sie hatten einen Sohn, der im Jahre 1888, Stunden nach seiner Geburt, starb, und eine Tochter Margaret, die im Jahre 1889 geboren wurde.
Seine Frau verstarb 1897. Er selbst hatte bereits im Alter von drei Jahren seine Mutter verloren.
1901 wurde er wegen guter Führung entlassen, und seine Tochter zog wieder zu ihm. Sie hatte nie erfahren, wo er in den vorangegangenen drei Jahren gewesen war. 1907 heiratete er erneut, 1909 verließ ihn seine Frau. Er war zum Trinker geworden und starb 1910 an den Folgen. Dass er aber in der New Yorker Gosse gelandet sein soll, ist wohl zu hart ausgedrückt.
William Sydney Porter mit Frau Estel und Tochter Margaret, frühe 1890er Jahre
Die Stimme der Stadt
Vor fünfundzwanzig Jahren haben die Schulkinder ihre Lektionen gesungen. Die Art und Weise, wie sie diese vortrugen, war ein Singsang, der sich zwischen der Äußerung eines bischöflichen Geistlichen und dem Dröhnen eines müden Sägewerks bewegte. Ich will nicht unhöflich sein; wir brauchen unbedingt Holz und Sägemehl.
Ich erinnere mich an einen schönen und lehrreichen kleinen Text, der aus dem Physiologieunterricht stammte. Die markanteste Zeile davon war diese:
'Das Schienbein ist der längste Knochen im menschlichen Körper.'
Was für ein unschätzbarer Segen wäre es gewesen, wenn alle körperlichen und geistigen Tatsachen, die den Menschen betreffen, auf diese Weise klangvoll und logisch in unser jugendliches Gemüt eingepflanzt worden wären! Aber was wir an Anatomie, Musik und Philosophie gelernt haben, war dürftig.
Neulich war ich verwirrt. Ich brauchte einen Lichtblick. Ich dachte an diese Tage der Schulzeit zurück, um Hilfe zu finden. Aber in all den nasalen Harmonien, die wir von den harten Bänken herüber heulten, konnte ich mich an keine erinnern, die von der Stimme der geballten Menschheit handelte.
Mit anderen Worten, von der zusammengesetzten stimmlichen Botschaft der geballten Menschheit – mit anderen Worten, von der Stimme einer Großstadt.
Der individuellen Stimme fehlt es an nichts. Wir können das Lied des Dichters verstehen, das Plätschern des Baches, die Bedeutung der Aussage des Mannes, der bis nächsten Montag 5 Dollar haben will, die Inschriften auf den Gräbern der Pharaonen, die Sprache der Blumen, den 'zügigen Takt' des Dirigenten und den Auftakt der Milchkannen um 4 Uhr morgens. Einige Großohrige behaupten sogar, dass sie die Schwingungen des Trommelfells verstehen, die durch die Erschütterung der von Mr. H. James[1] ausgehenden Luft erzeugt werden. Aber wer kann schon den tieferen Sinn der Stimme der Stadt verstehen?
Ich ging hinaus, um es festzustellen.
Zuerst fragte ich Aurelia. Sie trug einen weißen Schweizer Hut mit Blumen darauf, und Bänder und Enden von irgendwelchen Dingen flatterten überall herum.
»Sag mir«, fragte ich stotternd, denn ich habe keine eigene Vorstellung von der Stimme, »was sagt diese große – äh – enorme – äh – kolossale Stadt? Sie muss doch irgendeine Stimme haben. Spricht sie jemals zu dir? Wie interpretierst du ihre Bedeutung? Sie ist eine gewaltige Masse, aber sie muss einen Schlüssel haben.«
»Wie ein Saratoga-Koffer?«, fragte Aurelia.
»Nein«, sagte ich. »Bitte beziehe dich nicht auf den Deckel. Ich habe die Vorstellung, dass jede Stadt eine Stimme hat. Jede hat demjenigen, der sie hören kann, etwas zu sagen. Was sagt die große Stadt zu dir?«
»Alle Städte«, sagte Aurelia recht förmlich, »sagen dasselbe. Wenn sie damit fertig sind, gibt es ein Echo aus Philadelphia[2]. Sie sind sich also einig.«
»Hier sind 4.000.000 Menschen«, sagte ich, »komprimiert auf einer Insel, die größtenteils aus Lämmern[3] und von Wall-Street Wasser umgeben ist. Die Zusammenführung so vieler Einheiten auf so engem Raum muss zu einer Identität führen – oder vielmehr zu einer Homogenität, die ihren mündlichen Ausdruck durch einen gemeinsamen Kanal findet.«
»Es ist, wie man sagen könnte, ein Konsens der Umwandlung, der sich in einer kristallisierten, allgemeinen Idee konzentriert, die sich in dem offenbart, was man als die Stimme der Stadt bezeichnen könnte. Kannst du mir sagen, was das ist?«
Aurelia lächelte auf ihre wundervolle Art. Sie saß auf der hohen Treppe. Ein frecher Efeubusch wippte gegen ihr rechtes Ohr. Ein Strahl des unverschämten Mondlichts flackerte auf ihrer Nase. Aber ich war unnachgiebig, gestählt.
»Ich muss gehen und herausfinden«, sagte ich, »was die Stimme dieser Stadt ist. Andere Städte haben Stimmen. Es ist ein Auftrag. Ich muss sie haben.«
»New York«, fuhr ich in steigendem Tonfall fort, »sollte mir nicht nur eine Zigarre in die Hand drücken und sagen: 'Alter Mann, ich kann mich nicht öffentlich äußern'. Keine andere Stadt verhält sich auf diese Weise.«
»Chicago sagt, ohne zu zögern: 'Ich werde es tun'.«
»Philadelphia sagt: 'Ich sollte es tun'.«
»New Orleans sagt: 'Früher habe ich das gemacht'.«
»Louisville sagt: 'Es ist mir egal, ob ich es tue'.«
»St. Louis sagt: 'Entschuldigen Sie mich'.«
»Pittsburg sagt: 'Verschwinden Sie, lösen Sie sich in Rauch auf.' Nun, New York … «
Aurelia lächelte nur.
»Nun gut«, sagte ich, »ich muss woanders hingehen und es herausfinden.«
Ich ging in einen Palast mit gefliestem Boden, Cherub-Decken und quitt mit dem Polizisten. Ich stellte meinen Fuß auf das Messing-Trittgeländer und sagte zu Billy Magnus, dem besten Barkeeper in der Diözese:
»Billy, du hast lange in New York gelebt – was für ein Liedchen und Tänzchen gibt dir diese alte Stadt? Ich meine, scheint sich das Geschwätz der Stadt nicht zu bündeln und zu dir über die Theke zu gleiten, in einer Art amalgamierter Spitze, die die Stadt in einer Art Epigramm mit einem Schuss Bitter und einer Scheibe – «
»Entschuldigen Sie mich einen Moment«, sagte Billy, »jemand drückt auf den Knopf an der Seitentür.«
Er ging weg, kam mit einem leeren Blecheimer zurück, verschwand wieder mit einem vollen Eimer, kam zurück und sagte zu mir: »Das war Mame. Sie klingelt immer zweimal. Sie trinkt gern ein Glas Bier zum Abendbrot – sie und das Kind. Wenn Sie jemals gesehen haben, wie sich mein kleiner Strolch in seinem Hochstuhl aufrichtet und sein Bier nimmt – «
»Aber sagen Sie, was wollten Sie eigentlich? Ich werde ganz aufgeregt, wenn ich das zweimalige Klingeln höre – war es der Baseball-Score oder Gin Fizz, den Sie wollten?«
»Ginger Ale«, antwortete ich.
Ich ging auf den Broadway zu. An der Ecke sah ich einen Polizisten. Die Polizisten heben Kinder auf, bringen Frauen rüber und Männer rein. Ich ging auf ihn zu.
»Wenn ich das Gesprächslimit nicht überschreite«, sagte ich, »darf ich Sie etwas fragen? Sie sehen New York während seiner stimmungsvollen Stunden. Es ist ihre Aufgabe und die ihrer Polizeikollegen, die Akustik der Stadt zu bewahren. Es muss eine bürgerliche Stimme geben, die für Sie verständlich ist. Nachts, auf Ihren einsamen Streifzügen, müssen Sie sie gehört haben. Was ist der Inbegriff ihres Aufruhrs und ihrer Schreie? Was sagt die Stadt zu Ihnen?«
»Freund«, sagte der Polizist und drehte seinen Knüppel, »ich sage nichts. Ich bekomme meine Befehle von dem Mann, der weiter oben steht, aber ich denke, Sie sind in Ordnung. Bleiben Sie ein paar Minuten hier stehen und halten Sie Ausschau nach dem Mann auf dem Rundgang.«
Der Polizist verschwand in der Dunkelheit der Seitenstraße. Nach zehn Minuten war er zurück.
»Sie hat letzten Dienstag geheiratet«, sagte er geistesabwesend und halb schroff, ohne auf meine Frage einzugehen. »Sie wissen ja, wie die sind. Sie kommt jeden Abend um neun Uhr an diese Ecke, um 'Hallo' zu sagen! Ich schaffe es meistens, hier zu sein.«
»Sagen Sie, was haben Sie mich vorhin gefragt, was in der Stadt los ist? Oh, ein oder zwei Dachgärten haben gerade eröffnet, zwölf Blocks weiter.«
Ich überquerte ein Kreuz von Straßenbahnschienen und ging am Rande eines düsteren Parks entlang. Eine künstliche Diana [4], vergoldet, heroisch, balancierend, windgeleitet, auf dem Turm, schimmerte im klaren Licht ihrer Namensvetterin am Himmel.
Da kam mein Dichter, eilig, mit Hut, volles Haar, und murmelte 'Daktylen', 'Spondeen und Dactylis' vor sich hin [O. Henry macht sich über Versformen lustig, Daktylen und Spondeen sind solche, Dactylis ist eine Art Knäuelgras].
+-»Bill«, sagte ich (in der Zeitschrift heißt er Cleon), »nehmen Sie mich mit. Ich habe den Auftrag, die Stimme der Stadt herauszufinden. Sie sehen, es ist ein besonderer Auftrag.«
»Normalerweise würde ein Symposium mit den Ansichten von Henry Clews [Finanzier], John L. Sullivan [Boxer], Edwin Markham [Poet], May Irwin [Sängerin und Schauspielerin] und Charles Schwab [Industrieller] ausreichen. Aber dies ist eine andere Sache. Wir wollen eine breit angelegte, poetische, mystische Vokalisierung der Seele und Bedeutung der Stadt. Sie sind genau der richtige Mann, um mir einen Hinweis zu geben.«
»Vor einigen Jahren kam ein Mann zu den Niagarafällen und gab uns die Tonhöhe an. Die Note lag etwa zwei Fuß unter dem tiefsten G auf dem Klavier. Nun, man kann New York nicht in eine Note packen, es sei denn, sie ist besser unterstrichen. Aber geben Sie mir eine Vorstellung davon, was die Stadt sagen würde, wenn sie sprechen könnte.«
»Es wird bestimmt eine mächtige und weitreichende Äußerung sein. Um zu ihr zu gelangen, müssen wir das gewaltige Krachen der Akkorde des Tagesverkehrs betrachten, das Lachen und die Musik der Nacht, die feierlichen Töne von Dr. Parkhurst[5], den Rag-Time [Vorläufer des Jazz], das Weinen, das verstohlene Brummen der Droschkenräder, den Schrei des Zeitungsjungen, das Plätschern der Brunnen auf den Dachgärten, das Tohuwabohu der Erdbeerverkäufer und die Titelseiten von Everybody's Magazine, das Flüstern der Verliebten in den Parks – all diese Klänge müssen in die Stimme einfließen – nicht kombiniert, sondern gemischt.
Aus der Mischung wird eine Essenz gemacht, und aus der Essenz ein Extrakt – ein hörbarer Extrakt, von dem ein Tropfen von dem herunterfallen sollte, was wir suchen.«
»Erinnern Sie sich«, fragte der Dichter kichernd, »an das kalifornische Mädchen, das wir letzte Woche in Stivers Studio getroffen haben? Nun, ich bin auf dem Weg zu ihr. Sie hat mein Gedicht 'Der Tribut des Frühlings' Wort für Wort wiederholt. Sie ist im Moment das klügste Angebot in dieser Stadt. Sag Sie mir, wie sieht denn diese verflixte Krawatte aus? Ich habe vier ruiniert, bevor ich eine richtig hingekriegt habe.«
»Und die Stimme, nach der ich Sie gefragt habe?« erkundigte ich mich.
»Oh, sie singt nicht«, sagte Cleon. »Aber Sie sollten mal hören, wie sie meinen 'Engel des Küstenwindes' rezitiert.«
Ich ging weiter. Ich drängte einen Zeitungsjungen in die Enge. Er zeigte mir prophetische rosafarbene Zeitungen, die den Nachrichten um zwei Umdrehungen des längsten Zeigers der Uhr voraus waren.
»Mein Sohn«, sagte ich, während ich so tat, als würde ich in meiner Hosentasche nach Münzen suchen, »kommt es dir nicht auch manchmal so vor, als sollte die Stadt sprechen können? All diese Höhen und Tiefen und komischen Geschäfte und seltsamen Dinge, die jeden Tag passieren – was würde sie wohl sagen, wenn sie sprechen könnte?«
»Hören Sie auf zu scherzen«, sagte der Junge. »Was für eine Zeitung wollen Sie denn? Ich habe keine Zeit zu verlieren. Mag hat Geburtstag, und ich brauche dreißig Cents, um ihr ein Geschenk zu kaufen.«
Hier konnte ich keinen Dolmetscher für das Sprachrohr der Stadt finden. Ich kaufte eine Zeitung und entsorgte ihre undeklarierten Verträge, ihre vorsätzlichen Morde und unausgetragenen Schlachten in eine Aschetonne. Wieder ging ich in den Park und setzte mich in den Schatten des Mondes. Ich dachte und dachte und fragte mich, warum mir niemand sagen konnte, wonach ich fragte.
Und dann, so schnell wie das Licht eines Fixsterns, kam die Antwort zu mir. Ich stand auf und eilte – eilte, wie es so viele Denker tun müssen - zurück in meinen Kreis. Ich kannte die Antwort und drückte sie an meine Brust, während ich flog, weil ich fürchtete, jemand würde mich aufhalten und mir mein Geheimnis entlocken.
Aurelia war immer noch auf der Treppe. Der Mond stand höher und die Schatten des Efeus waren tiefer. Ich setzte mich an ihre Seite, und wir sahen zu, wie eine kleine Wolke sich an den treibenden Mond schmiegte und ganz blass und unbehaglich auseinanderging.
Und dann, welch ein Wunder und welch eine Wonne, berührten sich unsere Hände irgendwie, und unsere Finger schlossen sich und trennten sich nicht mehr.
Nach einer halben Stunde sagte Aurelia mit ihrem Lächeln:
»Weißt du, du hast kein einziges Wort gesprochen, seit du zurückgekommen bist!«
»Das«, sagte ich und nickte weise, »ist die Stimme der Stadt.«
Es gibt ein Sprichwort, das besagt, dass kein Mensch den vollen Geschmack des Lebens kosten konnte, bevor er nicht Armut, Liebe und Krieg erlebt hat. Die Berechtigung dieser Überlegung wird dem Liebhaber der kondensierten Philosophie empfohlen. Diese drei Bedingungen umfassen so ziemlich alles, was es im Leben zu wissen gibt. Ein oberflächlicher Denker könnte meinen, dass auch Reichtum in die Liste aufgenommen werden sollte. Dem ist nicht so.
Wenn ein armer Mann einen lange versteckten Vierteldollar findet, der durch einen Riss im Futter seiner Weste geschlüpft ist, ruft er die Freude am Leben stärker heraus, als es ein Millionär je hoffen könnte.
Es scheint, dass die weise exekutive Kraft, die das Leben regiert, es für das Beste gehalten hat, den Menschen in diesen drei Bedingungen zu drillen; und niemand kann allen drei entkommen. In ländlichen Gegenden bedeuten die Begriffe nicht so viel. Die Armut ist weniger drückend; die Liebe ist gemäßigt; der Krieg schrumpft auf Streitigkeiten über Grenzlinien und die Hühner der Nachbar.
In den Städten aber gewinnt unser Epigramm an Wahrheit und Kraft; und es blieb einem John Hopkins überlassen, die Erfahrung in einen recht kleinen Zeitraum zu pressen.
Die Wohnung von Hopkins war wie tausend andere auch. In dem einen Fenster stand eine Gummipflanze, in dem anderen saß ein von Flöhen zerfressener Terrier und fragte sich, wann er Beachtung finden würde.
John Hopkins war auch wie tausend andere. Er arbeitete für 20 Dollar pro Woche in einem neunstöckigen, roten Backsteingebäude entweder in den Bereichen Versicherungen, Buckle's Hebemaschinen, Fußpflege, Kredite, Flaschenzüge, Boas Renovierungen, Walzer – garantiert in fünf Lektionen oder künstliche Gliedmaßen, doch es ist nicht an uns, den Beruf von Mr. Hopkin aus diesen äußeren Zeichen zu erschließen.
Und auch Mrs. Hopkins war wie tausend andere. Der Goldzahn, die sitzende Veranlagung, das Sonntagnachmittägliche Fernweh, der Zug zum Feinkostladen für hausgemachte Köstlichkeiten, die Aufregung bei Ausverkäufen im Kaufhaus, das Gefühl der Überlegenheit gegenüber der Dame im dritten Stock, die echte Straußenfederspitzen trug und zwei Namen über ihrer Klingel hatte, die klebrigen Stunden, in denen sie am Fensterbrett haftete, die wachsame Vermeidung des Raten-Eintreibers, die unermüdliche Bevormundung der Akustik des Speise-Aufzugs – all diese Attribute der Bewohnerin einer Wohnung in Gotham [Spitzname für New York] gehörten zu ihr.
Verharren wir nur in einen einzigen Moment der Rührseligkeit, und die Geschichte geht weiter.
In der Großstadt passieren große Dinge – und oft ganz plötzlich. Du kommst um eine Ecke und stößt den Rand deines Regenschirms in das Auge deines alten Freundes aus Kootenai Falls [Wasserfall in Montana].
Du schlenderst hinaus, um im Park eine Sweet William [Bartnelke] zu pflücken – und siehe da, Banditen überfallen dich – du wirst mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht – du heiratest deine Krankenschwester – wirst geschieden – gerätst unter Druck mit Börsenspekulationen[6] – stehst in der Schlange für Brot – heiratest eine reiche Erbin, bringst deine Wäsche raus und bezahlst deine Clubbeiträge – scheinbar alles in einem Wimpernschlag.
Du gehst durch die Straßen, und ein Finger winkt dir zu, ein Taschentuch wird für dich fallen gelassen, ein Ziegelstein fällt auf dich, das Aufzugskabel oder deine Bank geht kaputt, ein Table d'hôte[7] oder deine Frau ist nicht einer Meinung mit dir, und das Schicksal wirft dich umher wie Korkenkrümel im Wein, den ein unzufriedener Kellner geöffnet hat.
Die Stadt ist ein aufgewecktes Kind, und du bist ein roter Fleck auf ihrem Spielzeug, den sie abschleckt.
John Hopkins saß nach einem komprimierten Abendessen in seiner eng anliegenden Wohnung mit gerader Front. Er hockte auf einer Hornblende-Couch und betrachtete mit gesättigten Augen die Kunst, die in Form von 'Der Sturm' an die Wand geheftet war.
Mrs. Hopkins redete dröhnend über die Essensgerüche aus der Wohnung gegenüber. Der von Flöhen geplagte Terrier warf Hopkins einen angewiderten Blick zu und zeigte seine menschenhassenden Zähne.
Hier gab es weder Armut, noch Liebe, noch Krieg; doch auch auf solch karge Stämme können die wesentlichen Elemente eines vollständigen Lebens aufgepfropft werden.
John Hopkins versuchte, ein paar Rosinen der Konversation in den geschmacklosen Teig der Existenz zu streuen.
»Bauen einen neuer Aufzug ein«, sagte er, wobei er den Nominativ wegwarf, »und der Chef hat sich den Schnurrbart abrasiert.«
»Das ist nicht dein Ernst!«, kommentierte Mrs. Hopkins.
»Mr. Whipples«, fuhr John fort, »trug heute seinen neuen Frühjahrsanzug. Er gefällt mir sehr gut. Es ist ein grauer Anzug mit – «
Er hielt inne, plötzlich ergriffen von einem Bedürfnis, das sich ihm aufdrängte. »Ich glaube, ich gehe runter zur Ecke und hole mir eine Fünf-Cent-Zigarre«, schloss er.
John Hopkins nahm seinen Hut und schlenderte durch die muffigen Gänge und Treppen des Appartementhauses.
Die Abendluft war mild, und die Straßen schrill vom sorglosen Geschrei der Kinder, deren Spiele von geheimnisvollen Rhythmen und Worten begleitet wurden.
Die Älteren unter ihnen hielten die Türen und Stufen mit gemütlichem Pfeifen und Tratschen besetzt. Paradoxerweise beherbergten die Feuertreppen verliebte Paare, die keinen Versuch unternahmen die wachsende Feuersbrunst, die sie dabei waren, anzufachen, zu vertreiben.
Der Zigarrenladen an der Ecke, auf den es John Hopkins abgesehen hatte, wurde von einem Mann namens Freshmayer geführt, der auf den Boden blickte, wie auf ein unfruchtbares Vorgebirge. Hopkins, den man im Laden nicht kannte, betrat das Geschäft und rief freundlich nach seinem 'Spinatbündel' in 'Fahrgeldqualiät' [billige gerollte Tabaksblätter]. Diese Unterstellung vertiefte den Pessimismus Freshmayers, aber er legte eine Marke hin, die der Bestellung gefährlich nahekam.
Hopkins biss das Ende seines Einkaufs ab und zündete ihn an der biegsamen Gasdüse an. Als er in seinen Taschen nach dem Geld suchte, fand er keinen einzigen Penny.
»Hören Sie, mein Freund«, erklärte er offen, »ich bin ohne Kleingeld aus dem Haus gegangen. Ich gebe Ihnen den Nickel [5 Cents], das nächste Mal, wenn ich vorbeikomme.«
In Freshmayers Herz machte sich zuerst Freude breit. Hier wurde seine Überzeugung bestätigt, dass die Welt verdorben und der Mensch ein umherstreifendes Übel war. Ohne ein Wort zu sagen, umrundete er das Ende seines Ladentischs und startete eine ernsthafte Attacke auf seinen Kunden.
Hopkins war kein Mann, der als Sandsack für einen pessimistischen Tabakwarenhändler dienen würde. Er schenkte Freshmayer kurzerhand einen 'Colorado-Maduro-Blick' in seinen Augen [in der Farbe einer Colorado-Maduro Zigarre] als Gegenleistung für den glühenden Tritt, den er von diesem Händler erhielt, der nur gegen Bargeld verkauft.
Die Wucht des feindlichen Angriffs zwang die Hopkins-Linie zurück auf den Bürgersteig. Dort tobte der Kampf; der friedfertige Holzindianer mit seinem geschnitzten Lächeln wurde umgestoßen, und diejenigen auf der Straße, die sich am Gemetzel erfreuten, drängten sich, um den eifrigen Zweikampf zu sehen, doch dann kamen der unvermeidliche Polizist und die drohenden Unannehmlichkeiten, sowohl für den Angreifer als auch für den Angegriffenen.
John Hopkins war ein friedlicher Bürger, der abends in einer Wohnung an Rebussen [Bilderrätsel] arbeitete, aber er war nicht ohne den grundlegenden Widerstandsgeist, der mit der Kampfeswut einhergeht. Er stieß den Polizisten in die Warenauslage eines Lebensmittelhändlers und versetzte Freshmayer einen Schlag, der ihn vorübergehend bedauern ließ, dass er es sich nicht zur Regel gemacht hatte, bestimmten Kunden einen Kredit von fünf Cent zu gewähren.
Dann machte sich Hopkins beherzt auf den Weg, dicht gefolgt von dem Zigarrenhändler und dem Polizisten, dessen Uniform den Grund für das Schild des Lebensmittelhändlers verriet, auf dem stand 'Eier billiger als anderswo in der Stadt'.
Während Hopkins rannte, wurde er auf ein großes, niedriges, rotes Rennauto aufmerksam, das ihn auf der Straße überholte. Dieses Auto lenkte auf die Seite des Bürgersteigs, und der Mann, der es fuhr, gab Hopkins ein Zeichen, in das Auto zu springen.
Er tat dies, ohne sein Tempo zu drosseln, und ließ sich auf den türkisrot gepolsterten Sitz neben dem Chauffeur fallen. Mit einem dumpfen Husten flog die große Maschine wie ein Albatros die Allee hinunter, in die die Straße mündete.
Der Fahrer des Wagens beschleunigte seine Maschine, ohne ein Wort zu sagen. Er war unübersehbar mit der Brille und dem diabolischen Gewand des Chauffeurs maskiert.
»Vielen Dank, alter Mann«, rief Hopkins. »Ich schätze, Sie haben wirklich sportliches Blut in sich und bewundern nicht den Anblick von zwei Männern, die versuchen, einen zu vermöbeln. Es hat nicht viel gefehlt, und ich wäre dran gewesen.«
Der Chauffeur gab kein Zeichen, dass er es gehört hatte.
Hopkins zuckte mit den Schultern und kaute auf seiner Zigarre, an der seine Zähne während des ganzen Tumultes grimmig hängen geblieben waren.
Nach zehn Minuten bog das Auto in die offene Einfahrt eines noblen Herrenhauses aus braunem Stein ein und blieb stehen.
Der Chauffeur sprang heraus und sagte:
»Kommen Sie schnell. Die Dame wird Ihnen alles erklären. Es wird eine große Ehre für Sie sein, Monsieur. Ach, 'Mylady' konnte sich bei dieser Sache auf mich, Armand, verlassen! Aber nein, ich bin nur ein Chauffeur.«
Mit energischen Gesten geleitete der Chauffeur Hopkins in das Haus. Dort wurde er in ein kleines, aber luxuriöses Empfangszimmer geleitet.
Eine junge Dame, die die Schönheit von Visionen besaß, erhob sich von einem Stuhl. In ihren Augen glühte ein heraufkommender Zorn. Ihre hochgewölbten, fadenartigen Brauen waren zu einem herrlichen Stirnrunzeln gekräuselt.
»Mylady«, sagte der Chauffeur und verbeugte sich tief, »ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass ich zum Haus von Monsieur Long gegangen bin, ihn dort aber nicht vorgefunden habe.«
»Auf dem Rückweg sah ich diesen Herrn im Kampf gegen – wie sagen sie noch – die größte Übermacht. Er kämpft mit fünf, zehn, dreißig Mann, auch Gendarmen.«
»Ja, Mylady, er ist einer, den sie einen Schläger nennen würden – drei – acht Polizeibeamte waren es. Wenn dieser Monsieur Long fort ist, sage ich zu mir, dann wird dieser Gentlemen Mylady genauso gut dienen, und ich habe ihn hierher gebracht.«
»Sehr gut, Armand«, sagte die Dame, »Sie können gehen.«
Dann wandte sie sich an Hopkins.
»Ich hatte meinen Chauffeur geschickt«, sagte sie, »um meinen Cousin Walter Long zu holen. Es gibt einen Mann in diesem Haus, der mich beleidigt und beschimpft hat. Ich habe mich bei meiner Tante beschwert, doch sie lacht mich aus. Armand sagt, Sie seien mutig. In diesen prosaischen Tagen gibt es nur wenige Männer, die sowohl mutig als auch ritterlich sind. Darf ich auf Ihre Hilfe zählen?«
John Hopkins steckte die Reste seiner Zigarre in seine Manteltasche.
Er blickte auf dieses gewinnende Geschöpf und spürte den ersten Schauer der Romantik. Es war eine ritterliche Liebe, und sie enthielt keine Untreue gegenüber der Wohnung mit dem flohgebissenen Terrier und der Dame seiner Wahl.
Er hatte seine Frau nach einem Picknick der 'Lady Label Stickers' Union, Loge No. 2', geheiratet [Vereinigung der Lady Schildchen-Aufkleber, Loge Nr. 2], bei einer Herausforderung und Wette mit seinem Freund Billy McManus, umringt von neuen Hüten und Fischsuppe.
Aber dieser Engel, der ihn anflehte, ihr zu Hilfe zu kommen, war zu himmlisch für Fischsuppe und was die Hüte anging – goldene, juwelenbesetzte Kronen waren besser geeignet für sie!
»Schauen Sie«, sagte John Hopkins, »zeigen Sie mir einfach den Kerl, auf den Sie es abgesehen haben. Ich habe meine Talente als Raufbold bisher vernachlässigt, aber heute gibt es wohl eine arbeitsreiche Nacht.«
»Er ist da drin«, sagte die Lady und zeigte auf eine geschlossene Tür. »Kommen Sie. Sind Sie sicher, dass Sie nicht zögern oder Angst haben werden?«
»Ich?«, sagte John Hopkins. »Geben Sie mir einfach eine der Rosen aus dem Strauß, den Sie tragen, ja?«
Die Dame gab ihm eine rote, sehr rote Rose. John Hopkins küsste sie, steckte sie in seine Westentasche, öffnete die Tür und betrat den Raum. Es war eine hübsche Bibliothek, sanft aber hell beleuchtet. Ein junger Mann saß dort und las.
»Bücher über Etikette sind das, was du studieren solltest«, sagte John Hopkins abrupt. »Steh auf und komm her, und ich gebe dir einige Lektionen. Unhöflich zu einer Lady sein, willst du das?«
Der junge Mann sah leicht überrascht aus. Dann erhob er sich träge, ergriff geschickt die Arme von John Hopkins und führte ihn unwiderstehlich zur Eingangstür des Hauses.
»Hüte dich davor, Ralph Branscombe«, rief die Lady, die ihm gefolgt war, »dem galanten Mann etwas anzutun, der versucht hat, mich zu schützen.«
Doch der junge Mann schob John Hopkins sanft zur Tür hinaus und schloss sie dann.
»Bess«, sagte er ruhig, »ich wünschte, du würdest aufhören, historische Romane zu lesen. Wie um alles in der Welt ist dieser Kerl hier hereingekommen?«
»Armand hat ihn mitgebracht«, sagte die junge Lady. »Ich finde es furchtbar gemein, dass du mir diesen Bernhardiner-Hund nicht überlässt. Ich hatte Armand nach Walter geschickt. Ich war so wütend auf dich.«
»Sei vernünftig, Bess«, sagte der junge Mann und nahm ihren Arm. »Dieser Hund ist nicht sicher. Er hat zwei oder drei Menschen in der Umgebung des Zwingers gebissen. Komm jetzt, lass uns der Tante sagen, dass wir wieder gute Laune haben.«
Arm in Arm zogen sie davon.
John Hopkins ging zu seiner Wohnung. Die fünfjährige Tochter des Hausmeisters spielte auf der Treppe. Hopkins schenkte ihr eine schöne, rote Rose und ging die Treppe hinauf.
Mrs. Hopkins flirtete gerade mit ihren Lockenwicklern.
»Hast du deine Zigarre bekommen?«, fragte sie eher desinteressiert.
»Sicher«, sagte Hopkins, »und ich habe mich draußen noch ein wenig herumgetrieben. Es ist eine schöne Nacht.«
Er setzte sich auf das Hornblende-Sofa, zog den Stummel seiner Zigarre heraus, zündete ihn an und betrachtete die anmutigen Figuren in dem Bild 'Der Sturm' an der gegenüberliegenden Wand.
»Bevor ich wegging, hatte ich dir gerade von Mr. Whipples Anzug erzählt«, sagte er. »Er ist grau, mit einem unsichtbaren Karo, und er sieht gut aus.«
Es gab 3.000 Mädchen im 'Biggest Store'. Masie war eines von ihnen. Sie war achtzehn und Verkäuferin in der Abteilung für Herrenhandschuhe.
Hier lernte sie zwei Sorten von Menschen kennen – die Art von Herren, die ihre Handschuhe in Kaufhäusern kaufen, und die Art von Frauen, die Handschuhe für unglückliche Herren kaufen.
Neben dieser umfassenden Kenntnis der menschlichen Spezies hatte Masie noch weitere Informationen erworben. Sie hatte den verkündeten Weisheiten der anderen 2.999 Mädchen zugehört und sie in einem Gehirn gespeichert, das so geheimnisvoll und wachsam war wie das einer Malteserkatze.
Vielleicht hatte die Natur, da sie voraussah, dass es ihr an weisen Ratgebern mangeln würde, ihrer Schönheit die rettende Zutat der Klugheit beigemischt, so wie sie den Silberfuchs mit dem kostbaren Fell ausstattet, besser als bei den anderen Tieren listigen Tieren.
Masie war schön. Sie war tief-gefärbt blond und hatte die ruhige Haltung einer Lady, die in einem Fenster Butterkuchen backt.
Sie stand täglich hinter ihrer Theke im Biggest Store, und wenn man die Hand über dem Maßband für die Handschuhe schließt, denkt man an Hebe [Göttin der Jugend], und wenn man noch einmal hingesehen hat, fragt man sich, wie sie an den Augen von Minerva [Göttin des taktischen Verteidigungskriegs] vorbeigekommen war. [Na, ja, wenn die eine Göttin eine griechische ist und die andere eine römische, konntzen sie sich wohl kaum treffen].
Wenn der Abteilungsleiter nicht hinsah, kaute Masie Tutti Frutti [eine Süßspeise aus verschiedenen Obstsorten]; und wenn er hinsah, blickte sie hinauf wie zu den Wolken und lächelte wehmütig.
Das ist das Lächeln der Verkäuferin, und ich rate Ihnen, es zu meiden, es sei denn, Sie sind gut gestärkt mit Herzensgüte, Karamellbonbons und einer Vorliebe für Amors Kapriolen.
Dieses Lächeln gehörte zu Masies Freizeit und nicht in den Laden; aber der Abteilungsleiter muss sein eigenes haben. Er ist der Shylock [Bösewicht in einer Shakespeare-Komödie] der Läden. Wenn er herumschnüffelt, wird sein Nasenrücken zu einer Mautbrücke. Wenn er ein hübsches Mädchen ansieht, macht er Kulleraugen oder benimmt sich wie ein Idiot.
Natürlich sind nicht alle Abteilungsleiter so. Erst vor ein paar Tagen konnte man in den Zeitungen etwas über einen achtzigjährigen Abteilungsleiter lesen.
Eines Tages betrat Irving Carter, Maler, Millionär, Reisender, Dichter und Automobilist, zufällig den Biggest Store. Es steht ihm zu, dass man hinzufügt, dass sein Besuch nicht freiwillig war. Die Pflicht des Kindes packte ihn am Kragen und zerrte ihn hinein, während seine Mutter zwischen den Bronze- und Terrakottastatuetten herumschwirrte.
Carter schlenderte zur Theke für Handschuhe hinüber, um sich noch etwas auf Jagd zu gehen. Er brauchte wirklich Handschuhe, denn er hatte vergessen, ein Paar mitzunehmen. Aber sein Handeln bedarf kaum einer Entschuldigung, denn er hatte noch nie etwas von Flirts über die Handschuh-Theke hinweg gehört.
Als er sich dem Umfeld seines Schicksals näherte, zögerte er, denn er wurde sich plötzlich dieser unbekannten Phase der weniger rühmlicher Beschäftigung von Amor bewusst.
Drei oder vier drittklassige Kerle in schillernden Gewändern beugten sich über die Theken und rangen mit den mittelmäßigen Handabdeckungen, während kichernde Mädchen muntere Sekunden nach den Vorgaben dieser Burschen auf den schrillen Saiten der Koketterie spielten.
Carter hätte sich zurückgezogen, aber er war schon zu weit gegangen.
Masie stellte sich ihm hinter ihrer Theke mit einem fragenden Blick in Augen entgegen, die so kalt, schön und warm-blau waren wie das Glitzern der Sommersonne auf einem Eisberg, der in der südlichen See treibt.
Und dann spürte Irving Carter, Maler, Millionär usw., wie eine warme Röte in sein aristokratisch blasses Gesicht stieg. Aber nicht aus Schüchternheit. Die Röte war intellektuellen Ursprungs. In einem Augenblick wusste er, dass er in einer Reihe mit den einfachen jungen Männern stand, die die kichernden Mädchen an den anderen Theken umwarben.
Er selbst lehnte sich an den eichgetäfelten Verabredungsplatz eines verweichlichten Amors, mit der Sehnsucht nach einer Handschuhverkäuferin in seinem Herzen.
Er war jetzt nicht mehr als Bill und Jack und Mickey. Und dann fühlte er plötzlich Toleranz für sie und eine beglückende, mutige Verachtung für die Konventionen, von denen er sich ernährt hatte, und die unbedingte Entschlossenheit, dieses perfekte Geschöpf für sich zu haben.
Als die Handschuhe bezahlt und eingepackt waren, verweilte Carter noch einen Moment. Die Grübchen in den Mundwinkeln von Masies glänzendem Mund vertieften sich. Alle Herren, die Handschuhe kauften, verweilten auf diese Weise. Sie winkelte einen Arm an, der wie der von Psyche[8] durch den Ärmel ihrer Hemdtaille schaute, und stützte einen Ellbogen auf den Rand der Vitrine.
Carter war noch nie in eine Situation geraten, die er nicht perfekt gemeistert hätte. Aber jetzt war er noch viel ungeschickter als Bill, Jack oder Mickey.