Die Stunde da wir nichts voneinander wussten - Peter Handke - E-Book

Die Stunde da wir nichts voneinander wussten E-Book

Peter Handke

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Beschreibung

Im Jahre 1969 schrieb Peter Handke ein Stück mit dem Titel Das Mündel will Vormund sein, ein Stück ohne Worte. Mehr als zwanzig Jahre später knüpft der Autor an diese Form an. Der Hauptakteur des neuen Stücks ist ein Platz, und Leser und Betrachter erleben ihn als den Ort eines Schau-Spiels im wörtlichen Sinn. Schauend erleben sie, wie auf diesem Platz, der realen Charakter hat, zugleich aber ein beliebiger Platz irgendwo sein könnte, etwa zwölf Akteure die alltäglichsten Dinge und das Besondere spielen. Jedermann ist hier zu sehen in seinem typischen Verhalten, aber auch in seinen besonderen Merkmalen. Die Begegnungen zwischen den einzelnen intensivieren sich, sie nehmen teilweise burleske Züge an - teilweise hat es für den Schauenden den Anschein, als ob sie zu einem Volk zusammenwachsen.

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Seitenzahl: 46

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Peter Handke

Die Stunde da wir nichts voneinander wußten

Ein Schauspiel

Suhrkamp Verlag

für S.

(und zum Beispiel den Platz vor dem Centre Commercial du Mail auf dem Plateau von Vélizy)

»Was du gesehen hast, verrat es nicht; bleib in dem Bild.«

Aus den Sprüchen des Orakels von Dodona

EIN DUTZEND SCHAUSPIELER UND LIEBHABER

Die Bühne ist ein freier Platz im hellen Licht.

Es beginnt damit, daß einer schnell über ihn wegläuft.

Dann aus der anderen Richtung noch einer, ebenso.

Dann kreuzen zwei einander, ebenso, ein jeder in kurzem, gleichbleibendem Abstand gefolgt von einem dritten und vierten, in der Diagonale.

Pause.

Einer kommt über den Platz gegangen, im Hintergrund.

Indem er für sich dahingeht, öffnet und spreizt er in einem fort alle seine Finger, streckt und hebt zugleich langsam die Arme, bis er damit einen Bogen geschlossen hat über dem Scheitel, und senkt sie wieder, ebenso gemächlich, wie er über den Platz schlendert.

Bevor er hinten in der Gasse verschwindet, macht er noch Wind mit seinem Gehen, fächelt sich diesen zu mit vollen Händen, legt entsprechend den Kopf in den Nacken, das Gesicht nach oben, und kurvt zuletzt ab.

Als er, in dem gleichen Rhythmus, im Handumdrehn wieder auftaucht, kommt im Platzmittelgrund ihm ein andrer entgegen, der sich unterwegs einen lautlosen Takt schlägt, erst mit der einen Hand, dann im Verein mit der zweiten, und schließlich, beim Abbiegen seinerseits von dem Platz in noch eine Gasse, ist dem sein ganzer Körper gefolgt, hat auch die Gangart sich den Takt eingeübt.

Während er, wie sein Vorgänger ‒ der im übrigen hinten im Gleichmaß auf- und abtretend, sich weiter Wind und Licht zu machen versucht ‒, auf den Fersen umkehrt, von neuem, und dann wieder von neuem, den Platz durchmißt und sich seinen Takt vorgibt, laufen im Vordergrund, von links, von rechts, von oben, von einer unsichtbaren Brüstung oder Brücke gesprungen, von unten, aus einem Graben oder einem Gassenloch, geschwungen, vier, fünf, sechs, sieben andere ein, eine ganze Mannschaft.

Auch sie halten auf dem Platz nicht inne, schwärmen da aus, verlassen ihn, sind schon wieder zurück, jeder für sich, und ein jeder dabei, in seinem »Sich-Einspielen«, in einem fort jäh die Gestalten und Figuren wechselnd, chimärenhaft: vom Sprung aus dem Stand gleich der Übergang, bei im übrigen eher unbewegten Mienen, ins Hakenschlagen, Schuheabklopfen, Armeausbreiten, Sich die Augen Beschirmen, Am Stock Gehen, Leisetreten, Hutabnehmen, Sichkämmen, ein Messer Ziehen, Luftboxen, über die Schulter Blicken, Regenschirmaufspannen, Schlafwandeln, zu Boden Stürzen, Ausspucken, auf der Linie Balancieren, Stolpern, Tänzeln, unterwegs sich einmal im Kreis Drehen, Summen, Aufstöhnen, sich mit der Faust auf den Kopf und ins Gesicht Schlagen, sich die Schuhe Zubinden, eine kurze Spanne auf dem Boden Hinrollen, in die Luft Schreiben, das alles durcheinander, nicht ausgeführt, nur im Ansatz.

Und schon sind sie, die vorn, der in der Platzmitte, der ganz hinten, wieder verschwunden.

Pause.

Einer überquert den Platz, ohne Augen für diesen, als Angler, auf dem Hinweg.

Ebenso dann gleich eine als dickvermummte ältere Frau, einen Einkaufskarren hinter sich herziehend.

Sie ist noch nicht ganz aus dem Blickfeld, als zwei mit den Helmen von Feuerwehrleuten über den Platz gestürmt kommen, Schläuche und Löscher im Arm, eher bei einer Übung als einem Ernstfall?

Ihnen folgt auf dem Fuß, mit dem Gang eines Traumverlorenen, der Anhänger einer Fußballelf, unterwegs nach Hause, wohin es noch weit ist, unter der Achsel eine verkohlte Fahne, die ihm beim Gehen allmählich auseinanderfällt, wiederum gefolgt von jemand Unbestimmten, mit einer Leiter, an welche dann eine, die nach ihm auftritt als Schönheit auf hohen Absätzen, im Überholen anstreift, ohne daß beide es beachten.

Pause.

Ein Rollschuhläufer flitzt über die Szene, ist schon vorbei.

Einer als Teppichhändler, den Teppichstapel offen auf der Schulter, tiefgebückt, zwischendurch einhaltend, mit geknickten Knien, quert hinter ihm den Platz auf seinem Kundenweg.

Er schleppt sich noch dahin, als er gekreuzt wird von einem, der, als Cowboy oder Treiber, bei jedem dritten Schritt die Peitsche schnalzt, dabei wie der andre für sich seines Weges gehend.

Ebenso geht inzwischen schon eine Barfüßige, stockend, die Hände vorm Gesicht, weiter hinten über den Platz, läßt mittendrin die Arme fallen und schlurft, einen Finger im Mund, mit einem großen Grinsen im Kreis weiter, als Schwachsinnige, welche vielleicht gerade noch als Schönheit vorbeidefiliert ist, während weiter vorn auf dem Platz, an sie anschließend, zwei junge Mädchen, bei ihrem Auftritt ineinander eingehängt, für eine Strecke plötzlich zu einem Paar von Radschlägern werden, einen Augenblick danach schon wieder verduftet.

Einer, als episodischer Platzwart, streut hinterher, im Zickzack über die Szene kurvend, aus einem Kübel Handvoll um Handvoll Asche aus, als Gefolge einen vereinzelten Fastgreis, der auf dem hocherhobenen Haupt, mit beiden Fäusten sie haltend, eine mächtige Wiege, samt entsprechendem Wappen, trägt, vorsichtigen Schritts, wie auf einem gespannten Seil, schließlich sein Ding ganz loslassend und es frei auf seinem Scheitel balancierend, dabei mehr und mehr ins Tänzeln geratend, aus dem zuletzt ein sicheres Spiel wird.

Fast zugleich mit ihm eilt auch schon einer als örtlicher Geschäftsmann vorbei, welcher im Queren des Platzes seinen einen Schlüsselbund, den vom Auto?, einsteckt und den andern, den größeren, von Haus und Laden?, herauszieht, darinnen im Gehen den passenden fingert und mit ihm beim Abgang in Richtung seines Objekts zielt.

Und unmittelbar danach kommt jemand Unbestimmbarer wie hinter ihm hergelaufen, stockt mitten auf dem Platz und kehrt langsam wieder um.

Pause.

Der freie Platz im hellen Licht.

Ein Flugzeug hoch über ihm, zwei, drei Momente lang; der Flugzeugschatten?

Dann wieder der frühere Zustand.

Eine Staubwolke; eine Rauchschwade.