Die Töchter der Róza Bukovská - Zdenka Becker - E-Book

Die Töchter der Róza Bukovská E-Book

Zdenka Becker

5,0

Beschreibung

Die Geschichte einer slowakischen Familie als Paradigma eines Lebens in der Heimatlosigkeit. MIT SIEBZEHN HABEN ES TÖCHTER NIE LEICHT mit ihren Müttern: Die Leine ist immer zu kurz und in der Tschechoslowakei wohl noch ein Stückchen kürzer. Wenn die Leute sagen: "Ganz die Mama" freut sich die Mutter mehr als die Tochter. Jasmine Bukovská gibt ihrer Mutter Róza keinen Anlass zu dieser Freude, sie gleicht ihrer Tante: jener Frau, die ihr Vater liebte und immer noch liebt. Eine Ehe hatte die Familienräson vereitelt. Dann kam Róza, die jüngere Schwester, stillte mit dem verhinderten Schwager ihre Neugier aufs Leben, wurde schwanger und durfte geheiratet werden. Drei Töchter gingen aus dieser Ehe hervor und machten den Blumenstrauß komplett: Iris, Jasmine und Kamilla. Zu Hause wird es eng, in der Wohnung wie im Land. Der Frühling des Jahres 1968 ist die Zeit des großen Aufbruchs: Iris, die große Schwester, nutzt eine Lücke im Eisernen Vorhang und wandert nach Amerika aus, und auch für Jasmine wächst die Versuchung, Heim und Heimat hinter sich zu lassen ... Zdenka Becker ist zwischen den Ländern und in zwei Sprachen daheim. In einem fragenden, nicht eitel überformulierenden Ton erzählt sie vom Abhandenkommen alter Bindungen und der Suche nach einer neuen Identität.

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Zdenka Becker

Die Töchter derRóza Bukovská

Roman

Residenz Verlag

Der vorliegende Roman wurde durch Arbeitsstipendienvom Bundeskanzleramt und von der Kulturabteilungdes Amtes der Niederösterreichischen Landesregierunggefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2006 Residenz Verlag

im Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:

978-3-7017-4350-6

ISBN Printausgabe:

978-3-7017-1459-9

In Erinnerung an meine Großeltern

Prolog

Sie stand mit gesenktem Kopf an der Brüstung der Terrasse und hielt sich an der halbhohen Mauer fest. Ihre Augen, der Realität entrückt, suchten nach Halt. Auf dem Dach wehte der Wind durch die Antennen und Satellitenschüsseln, denen er ein schmerzvolles Ächzen und Knarren entlockte.

Dort, wo sie stand, ging es steil hinunter. Siebenundzwanzig Stockwerke unter ihr pulsierte in grauer Anonymität die Stadt und simulierte Lebendigkeit durch lautes Hupen und Rattern der Abgasrohre. Obwohl der Herbst laut Kalender noch nicht begonnen hatte, war der Wind besonders stark. Er riss an ihrem Kleid und zerzauste ihr Haar. Mit der linken Hand strich sie die Strähnen aus ihrem Gesicht, schob sie hinters Ohr und erhob den Kopf. Für einen kurzen Moment nahm sie die Welt rund um sich wahr. Vor ihr floss die Donau, die den Osten mit dem Westen verband. Der graue Fluss sieht wie eine Hautfalte aus, schoss es ihr durch den Kopf. Wie eine tiefe Narbe im Gesicht einer namenlosen Landschaft. Wir hier und die anderen dort. Die Tochter und die Schwester sind drüben, die Mutter und ich hier. Noch. Die älteste Schwester … mein Gott, wo ist sie eigentlich? Und Viktor … Der Gedanke an ihren verstorbenen Mann tat weh.

Die Caféteria und die Dachterrasse im letzten Stock, die ihr früher Unbehagen bereitet hatten, waren zu ihrem Lieblingsplatz geworden. Hier fühlte sie sich auf einmal wohl und frei. Wann immer sie ein bisschen Zeit hatte, stieg sie in den Aufzug, drückte den Knopf mit der Zahl 27 und fuhr ganz hinauf. Und noch etwas tat sie neuerdings, was sie zuvor dreißig Jahre lang nicht getan hatte: Sie kaufte sich Zigaretten und rauchte. Damals, als sie noch jung gewesen war, hatte sie es probiert, wie es alle probierten, aber die »Spartas«, die alle rauchten, waren zu rau und stanken ihr zu viel, so hörte sie damit auf. Später konnte sie sich bessere Marken leisten und rauchte Marlborough, Camel, Dunhill und Benson & Hedges, die ihr endlich das gaben, wonach sie suchte: Entspannung und Vergessen.

Sie griff in ihre Handtasche, die an ihrer rechten Schulter hing, und zog ein Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug heraus. Mit zitternder Hand versuchte sie sich die letzte Zigarette, die sie fand, anzuzünden, beim dritten Versuch gelang es ihr. Gierig zog sie den Rauch in sich hinein. Dann legte sie die leere Schachtel auf die Mauer vor ihr. Der Wind griff sofort nach der blauen Packung und begann damit zu spielen. Er schob sie vor sich her, drehte und rollte und dann, fast unerwartet, hob er sie und riss sie an sich.

In den Armen des Windes war das Rascheln des Papiers nicht zu hören. Die Schachtel schwebte beinah schwerelos nach unten. Kamila beugte sich nach vorn und sah ihr nach. Wie einfach es ist, dachte sie.

»Frau Kováčová«, riss sie eine Stimme aus ihren Gedanken. »Sie sollten hinein gehen. Es ist kalt, Sie werden sich noch verkühlen.« Die Frau aus der Caféteria stand dicht hinter ihr, und als ob sie wirkliche Angst um sie hätte, nahm sie sie um die Schulter, zog sie an sich und wärmte sie mit ihrem runden Körper.

»Sie haben recht«, sagte Kamila und schritt, von der Frau begleitet, ins Hausinnere.

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte die Frau.»Ja, bitte.«

Sie gingen gemeinsam in die Caféteria. Kamila dämpfte ihre Zigarette in einem der Aschenbecher aus, die auf den Tischen standen, und setzte sich. Die Serviererin brachte ihr einen Espresso. »Vielleicht einen Kuchen?«, fragte sie. »Wir haben einen frischen mit Heidelbeeren.«

Kamila antwortete nicht. Sie saß mit dem Blick zur Terrassentür und starrte, beobachtet von den Frauen aus der Küche, die nicht verstehen konnten, warum sie da war, vor sich hin. Dann stand sie, wie von einer magischen Kraft angezogen auf und ging entschieden zurück auf die Terrasse. Sie trat an die Brüstung und streckte ihr Gesicht der Septembersonne entgegen. Sie lehnte sich an die kalte Mauer an und ließ den Wind noch einmal mit ihrem Haar spielen. Dann kletterte sie auf die Brüstung und sprang in die Tiefe.

1.

Noch bevor Mária Frau wurde, einige Monate bevor sie ihre erste Blutung bekam, heiratete sie als Sechzehnjährige Ján Koren und gebar ihm im Laufe von sieben Jahren fünf Kinder. Ján, Pavol, Erna, Jozefa. Als Letzte kam Róza, Kamilas Mutter, zur Welt – drei Monate nachdem ihr Vater mit einigen Männern aus dem Dorf nach Argentinien aufgebrochen war. Man schrieb das Jahr 1923. Die Weltwirtschaftskrise machte sich bis in die kleinsten Winkel der Slowakei bemerkbar. Männer im besten Alter, Familienväter, fuhren mit Lastschiffen nach Südamerika, einer ungewissen Zukunft entgegen.

Viele kamen noch im ersten Jahr zurück, weil sie keine »richtige« Arbeit gefunden hatten, andere brachen den Kontakt zu ihrer Familie ab und bauten sich in Südamerika eine neue Existenz auf. Ján Koren arbeitete in einem Sägewerk, verdiente für slowakische Verhältnisse viel und schickte alle paar Monate ein paar Banknoten nach Hause. Trotz der finanziellen Hilfe, auf die sie angewiesen war, wollte Mária ihn bei sich und den Kindern haben.

Ján war schon seit sechs Jahren in Argentinien, hatte sich an die Menschen dort und an das Klima gewöhnt, beherrschte die Sprache und konnte sich vorstellen, für immer in Buenos Aires zu bleiben. Irgendwann schrieb er Mária: »Verkaufe das Haus und die Felder, packe die Kinder zusammen und kommt zu mir.«

Das passte Mária überhaupt nicht. Sie sollte ihr Dorf verlassen? Das Haus und die schmalen Feldstreifen, auf denen sie Tag für Tag ihren jungen Körper geschunden hatte, verkaufen? Sie sollte in der Fremde leben? Ohne Familie, ohne Wurzeln, ohne die Sprache, die für sie so wichtig war? Das alles hatte sie Ján geschrieben und ihn aufgefordert, so bald wie möglich nach Hause zu kommen. »Es wird Zeit, wir brauchen dich.« Aber statt eine Schiffskarte zu kaufen, meldete sich Ján Koren nicht mehr. Er antwortete nicht auf Márias vorwurfsvolle Briefe. Weitere vier Jahre vergingen.

Róza war inzwischen zehn Jahre alt geworden und kannte ihren Vater nur aus Erzählungen. Und von Fotos, die er in den ersten Jahren geschickt hatte. Und dann kam der Tag, der ihr bis heute unvergessen blieb. Sie war gerade mit der Mutter und ihren Geschwistern auf dem Feld Kartoffeln klauben, da kam Mišo aus ihrer Klasse angerannt und schrie wie besessen: »Euer Vater ist da! Euer Vater ist da!« Alle hoben den Kopf und schauten Mišo ungläubig an. Mária wischte sich den Schweiß von der Stirn und griff nach ihrem schmerzenden Kreuz. »Rede keinen Unsinn«, sagte sie seufzend. »Unser Vater kommt nicht zurück.« – »Er ist da! Er ist da!«, schrie Mišo. »Und mit ihm auch der Herceg und der Polanský. Und auch Zigula ist da. Sie sind im Wirtshaus an der Bushaltestelle.«

Der Bub rannte zurück ins Dorf. Róza lief mit. »Du bleibst da«, schrie ihr die Mutter nach, was Róza aber nicht mehr hörte. Besessen von dem Gedanken, endlich ihren Vater zu sehen, hatte sie nur ein Ziel: das Wirtshaus an der Bushaltestelle. Als sie es keuchend erreichte und die Tür öffnete, erkannte sie ihn sofort. Er stand an der Theke in einem hellen Anzug und mit Strohhut und prostete seinen Kameraden zu. Er sah genauso aus wie auf den Fotos, die er aus Buenos Aires geschickt hatte – groß, schlank, für einen Bauern viel zu elegant, mit einem Oberlippenbärtchen wie ein Schauspieler. Oder ein Minister. Róza lief auf ihn zu und blieb kurz vor ihm stehen. Sie starrte ihn aus ihren weit geöffneten Augen an, bis Ján Koren sie auch bemerkte. Er beugte sich zu ihr und sagte: »Du kannst nur Róza sein.« Ab dem Zeitpunkt konnte Róza nichts mehr halten. Sie umarmte ihn um die Mitte und drückte ihn so fest an sich, wie sie nur konnte. Der Vater hob sie in die Höhe und küsste sie auf die Stirn. »Mein kleines Mädchen ist schon so groß geworden«, murmelte er ihr ins Ohr. Sein seit ein paar Tagen unrasiertes Gesicht rieb er an ihren Wangen, und sie genoss das kratzende Gefühl und seinen Geruch der Ferne.

Damit sie ihren Vater kennen lernen konnte, gab ihr die Lehrerin eine Woche schulfrei, was die beiden zu ausgiebigen Besuchen bei den Verwandten nutzten. Jáns Erzählungen hörten alle gebannt zu. Róza war überglücklich. Endlich war er da. Ihr Vater gefiel ihr. Vor allem seine Art und Persönlichkeit, aber auch seine revolutionären Ideen, neue Ideale und die Fähigkeit, andere zu begeistern.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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