Die Töchter von Sankt Petersburg - Andreas Liebert - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Töchter von Sankt Petersburg E-Book

Andreas Liebert

0,0
5,99 €
1,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die letzte Blütezeit des Zarenreichs: Der opulente Historienroman »Die Töchter von Sankt Petersburg« von Andreas Liebert jetzt als eBook bei dotbooks. Zwischen Glanz und Untergang … Russland, Ende des 19. Jahrhunderts: Als ein Attentat auf den Zaren das Land in Aufruhr versetzt, scheinen die Schuldigen bald gefunden zu sein – doch dies führt zu schrecklichen Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung. Im letzten Moment kann die junge Sarah aus ihrem Heimatort fliehen. Nur der russische Offizier Gregor Nikolajewitsch steht auf ihrer Seite … oder verfolgt er eigene Interessen? Denn schließlich verfügt Sarah über eine besondere Heilergabe, die viele Leben retten könnte, sie aber bisher nur zur Zielscheibe für Aberglauben und Hass machte. Als sie an der Seite ihres neuen Vormunds in das prachtvolle Sankt Petersburg kommt, lernt Sarah die ebenso faszinierende wie geheimnisvolle Adlige Tatjana kennen. Aber welche Geheimnisse verbergen sie und Gregor vor ihr? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Die historische Saga »Die Töchter von Sankt Petersburg« von Andreas Liebert – bereits erschienen unter dem Titel »Die Handheilerin«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 719

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Zwischen Glanz und Untergang … Russland, Ende des 19. Jahrhunderts: Als ein Attentat auf den Zaren das Land in Aufruhr versetzt, scheinen die Schuldigen bald gefunden zu sein – doch dies führt zu schrecklichen Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung. Im letzten Moment kann die junge Sarah aus ihrem Heimatort fliehen. Nur der russische Offizier Gregor Nikolajewitsch steht auf ihrer Seite … oder verfolgt er eigene Interessen? Denn schließlich verfügt Sarah über eine besondere Heilergabe, die viele Leben retten könnte, sie aber bisher nur zur Zielscheibe für Aberglauben und Hass machte. Als sie an der Seite ihres neuen Vormunds in das prachtvolle Sankt Petersburg kommt, lernt Sarah die ebenso faszinierende wie geheimnisvolle Adlige Tatjana kennen. Aber welche Geheimnisse verbergen sie und Gregor vor ihr?

Über den Autor:

Andreas Liebert ist Kulturwissenschaftler mit dem Schwerpunkt 18. und 19. Jahrhundert. Seit Jahren arbeitet er als Schreibcoach für eine bundesweite Romanwerkstatt, gleichzeitig engagiert er sich als Lehrkraft im zweiten Bildungsweg.

Bei dotbooks veröffentlichte Andreas Liebert auch seinen Weinkrimi »Schwarze Reben« sowie seine historischen Romane »Die Pianistin von Paris«, »Das Blutholz«, »Die Töchter aus dem Elbflorenz«, »Corellis Geige«, »Die Tochter des Komponisten«, »Die Hexe von Rothenburg« und »Die Hexe von Tübingen«.

***

eBook-Neuausgabe Dezember 2013, Juli 2021

Dieses Buch erschien bereits unter dem Titel »Die Handheilerin« 2001 bei Droemer Knaur und 2013 bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 2001 Droemer Knaur, München

Copyright © der Neuausgaben 2013, 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von AdobeStock/ekaterina 1922, Synthetik messiah

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95520-454-9

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter.html (Versand zweimal im Monat – unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Die Töchter von Sankt Petersburg« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Andreas Liebert

Die Töchter von Sankt Petersburg

Roman

dotbooks.

Ein jegliches hat seine Zeit,

und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.

[…] Suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit.

[…] Weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit.

[…] Herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit.

[…] Lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit.

[…] Töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit.

Man mühe sich ab, wie man will,

so hat man keinen Gewinn davon.

Aus: Prediger Salomo, Kapitel 3

Prolog

Ohne länger nachzudenken fingerte Sarah das Buch aus der kotigen Schlammpfütze und wischte es mit dem Ärmel ihres neuen Kittels sauber. Für sie, die Jüdin, die selbstverständlichste Sache von der Welt. Denn ein Buch war grundsätzlich wertvoll und eines, das Kommentare zum Talmud enthielt, geradezu ein Kleinod.

Dieses hier gehörte Josua, dem jüngsten Sohn von Rabbi Jankovic. Mit zerdelltem Filzhut und klappernden Zähnen stand er vor ihr in der Pfütze, wobei ihm das Wasser vom Kaftan und den Schläfenlocken tropfte.

»Sie sind weg!«, rief Sarah ihm zu und schaute sich um. »Komm! Schnell! Sonst wirst du – Gott behüte – krank. Du musst sofort heißen Tee trinken, ein Schwitzbad machen und dann mit der Wärmflasche ins Bett gehen. Aber mit Strümpfen und vorher gurgeln und ganz viel essen.«

Sarah plapperte, wie es ihr in den Sinn kam, packte Josua am Ärmel und zog ihn aus der Pfütze. Mit seinen sechzehn Jahren bot Josua das Bild des studierten jüdischen Jungen schlechthin: lang aufgeschossen, blass, das Gesicht vom vielen Studieren aufgezehrt. Das Ebenbild des richtigen Juden. Wenig Muskeln, dafür mit dunkel schimmernden Augen, kantiger Nase, schlanken Gliedern und gesegnet mit einer Stimme, die schon fast so würdevoll klang wie die eines Propheten.

Aber, Jude bleibt Jude, befanden die stets gleichen zaristischen Kreise. Weswegen Josua auch Gewalt angetan worden war – Gewalt, die seit den Attentaten auf Zar Alexander II. in so ziemlich allen Städten an der Tagesordnung war. Jüdische Terroristen, hatten die Zeitungen geschrieben, hätten die Bombe gebaut. Was nur logisch sei: Erst mordeten sie Christus, jetzt den Zar.

Sarah wusste von dieser Propaganda. Trotzdem hatte sie keine Angst. Weshalb Gott sich ihrer gerade eben als Werkzeug bedient hatte.

Sie, die fünfzehnjährige Tochter des Schmuckmachers, Blechschmieds und Schusters Jankl, war rechtzeitig dazugekommen, als drei junge Burschen Josua wegen seines selbstvergessenen Gehens erst verspotteten, ihn dann ein paar mal um die eigene Achse drehten und schließlich in die Pfütze stießen. Josua platschte hinein wie betrunken, mit Gesicht und Buch voran. Doch damit nicht genug: Die Burschen machten sich den Spaß, ihm den Kaftan nach Strich und Faden durchzuweichen und hatten sogar den demütigenden Einfall, ihm mit einem Jagdmesser die Schläfenlocken absäbeln zu wollen. Doch dazu kamen sie nicht mehr, denn just in diesem Moment bog sie um die Ecke.

Sarah hatte sofort begriffen, was sie sah und gehandelt – und zwar, indem sie sich vom jüdischen Mädchen in eine orientalische Furie verwandelte. Im selben Ton wie die betrunkenen Njeschiner Vetteln, wenn sie den Juden Würmer in den Leib wünschten und ihnen den bösen Blick anhexten, beschimpfte sie Josuas Peiniger als räudige Rotte stinkender Hunde. Dabei schwang sie ihre Flasche mit dem gerade gekauften Lampenöl wie eine Keule, was die gerade mal zwölfjährigen Burschen so erschreckte, dass sie von Josua abließen und das Weite suchten.

Jetzt war alles vorbei.

»Sieh doch, Gott schickt uns ein Zeichen«, sagte Sarah wieder ruhig und selbstbeherrscht und zeigte in den aufleuchtenden Himmel, der sich nach dem Regenschauer plötzlich über ihnen auftat.

Josua blickte gen Himmel, doch dadurch fand er sein Gleichgewicht genauso wenig wieder wie eine vernünftige Antwort. Wenigstens schnaufte er anschließend nicht mehr so heftig. Erst als Sarah ihm sein Buch mit dem Talmud-Kommentar in die Hand drückte, beruhigte er sich. Sie spürte seinen dankbaren Blick und sah ein verlegenes Lächeln, das aber plötzlich einem höchst verwunderten, wenn nicht erschrockenen Gesichtsausdruck wich. Sarah seufzte nachsichtig. Derlei Reaktionen waren ihr alles andere als fremd. Längst hatte sie sich daran gewöhnt und maß ihnen keinerlei Bedeutung mehr bei. Josua reagierte wie jeder andere auch, der sie bewusst das erste Mal sprechen hörte.

Es lag an ihrer Stimme. Sie klang anders. Nicht so, wie man sie von einem fünfzehnjährigen Mädchen erwartete, sondern wie junge erwachsene und zuweilen vor allem reiche Frauen sie zuweilen besaßen: kräftig und voll, in sich ruhend, warm und sinnlich. Sarah selbst hörte sich gerne, und auch in der Familie und Verwandtschaft hatte sich jeder so ziemlich an ihre Stimme gewöhnt. Doch die meisten ihrer Freundinnen taten sich schwer damit, noch schwerer freilich deren Mütter und Väter. Was auch daran lag, dass sie ein Heißsporn war und sich von niemandem etwas sagen ließ. Irgendwie schien sie nie das rechte Maß zu finden. Wenn sie mit ihren Freundinnen Hochzeit spielte, artete dies schnell in ein wirres Durcheinander aus, in dessen Folge Schränke und Schubalden zerwühlt und irgendwann sämtliche Kleider, Pelze, Krinolinen und Hüte auf dem Boden lagen. Wobei Sarah ihre Freundinnen sogar dazu anstiftete, die Schmuckschächtelchen der Mütter und Tanten auszuleeren. Dann wurde getanzt und gesungen, bis es Sarah eines Tages einfiel, einen der jüngeren Brüder zu holen. Ihren Freundinnen befahl sie, beide ins Schlafzimmer zu führen. Zum Kindermachen, wie sie sagte.

Die Mütter waren entsetzt.

Woher das Kind denn so etwas wisse, klagten sie Sarahs Mutter an, die nichts anders darauf zu erwidern wusste, als ihre Tochter zu rufen und sie selbst zu fragen. Worauf Sarah unbekümmert sagte:

»Ich habe Bilder davon gesehen.«

»Bilder?« schrien die Mütter entsetzt und zogen sich voller Entrüstung alle gleichzeitig ihr Kopftuch vor die Augen.

»Ein Bild«, verbesserte sich Sarah. »Ein betrunkener Offizier hat es mir geschenkt. »Guck, so geht’s, hat er gesagt und sich dabei vor Lachen in die Hose gemacht.«

»Und wo ist das Bild?«

»Hier.«

Sarah griff unter ihre Schürze und holte eine Photographie heraus. Sie zeigte Eindeutiges in einem plüschigen Boudoir auf einem riesigen Bett. Sarah bekam eine Ohrfeige, dann machte das Photo die Runde. Kein Wort wurde dabei gesprochen. Tags darauf war das Photo verhökert und das Geld für neue Kerzen ausgegeben.

Dies war der eine, ungebärdige Wesenszug Sarahs.

Der andere war ihre Verstocktheit. Tagelang konnte sie schwermütig herumsitzen, ohne ein Wort zu sagen. Oft betrachtete sie dabei ihre Hände, spreizte die Finger oder ballte sie zu Fäusten. Dann wieder schnappte sie mit raubtierhaften Bewegungen in die Luft, als wolle sie irgendwelche Dämonen schlagen. Dabei hatte sie es am liebsten, wenn ihre Mutter ihr irgendwelche Reise-Märchen vorlas. Einmal war es vorgekommen, dass sie wie von der Tarantel gestochen auffuhr, Sessel und Stühle zusammenstellte und einen Zug daraus baute. Weil auch sie irgendwann fortreisen wollte, wie sie leidenschaftlich verkündete. Darauf weinte sie zwei Tage lang.

Die Familie machte sich Sorgen. War Sarah eine Besessene?

Nein. Bis sie wirklich Frau wäre, sollte die Familie all diese Eigenwilligkeiten ohne Gram akzeptieren, riet Rabbi Jankovic ihrem Vater anderntags im Dampfbad und tröstete ihn damit, dass Sarahs Stimme, für sich genommen, in wenigen Jahren ein Vorzug sei – wenn er wüsste, worauf er hinauswollte. Und ihr Vater begriff. Der Schadchen, der Ehevermittler, werde einst das, was viele jetzt als Makel betrachteten, als Vorzug preisen. Rabbi Jankovic hatte sehr geschmunzelt damals und dann in seinen Bart gemurmelt, strafen würde Gott allenfalls den Mann, der sich einst von so einer Stimme vom Thora-Studium ablenken ließe.

Wäre Josua nicht der Sohn von Rabbi Jankovic gewesen, Sarah hätte sich kaum an dessen Worte erinnert. Jetzt aber sah sie Rabbi Jankovic vor sich, wie er die Augen zusammenkniff und mit seiner ihm eigenen Singsang-Stimme ihren Vater tröstete, ihn zugleich aber auch ärgerte. Denn welcher Jude wollte schon gerne eine Tochter haben, der der Rabbi höchstselbst verführerische Eigenschaften prophezeite.

Sarah bekam Lust, Rabbi Jankovic eins auszuwischen. Wenn er in ihr schon eine halbe Lilith sah, sollte sein Sohn der Erste sein, der unter ihren Verführungskünsten litt. So sanft und schmelzend wie sie konnte, sagte sie Josua, dass sie ihn nach Haus begleiten werde, Gott habe sie schließlich nicht umsonst geschickt.

Josua, der immer mehr zu frieren begann, fühlte sich außerstande, Sarah zu widersprechen. Man würde sich die Mäuler zerreißen, Sarah und ihn als Paar betrachten, beide Familien in Zugzwang setzen. Schon tauchten die ersten Gesichter hinter den Fenstern auf. Ob Sarah dies beabsichtigte?

Nein, dazu war sie zu jung.

Oder wollte es etwa Gott, gepriesen sei er?

Josua spickte zur Seite, beschleunigte seine Schritte. In ein paar Jahren … Sarah war nicht hässlich. Nein, im Gegenteil. Obwohl sie nicht unbedingt dem Ideal jüdischen Liebreizes entsprach, war sie gut anzuschauen. Sie war schlank, statt aufgedunsen, die Augen feurig, fast wild, nicht bloß schwarz. Ihre sanft geschwungenen aber schrägen Augenbrauen verliehen ihrem Gesicht etwas Strenges. Doch das dichte, fast bläulich schimmernde Haar war engelgleich gelockt und die Lippen zum Reinbeißen schön. Josua blickte noch einmal in den Himmel, der sich jetzt über ihnen wölbte, als wäre er aus Gold. Wie ein Chuppa durchfuhr es ihn, ein kosmischer Traubaldachin.

Sarahs Blick folgte seinem. Ein nasser Tropf, dachte sie, doch einer mit viel Gefühl und Einbildungskraft. Spöttisch sah sie ihn von der Seite an. Josua wiederum glaubte sich verraten zu haben, sein Herz schlug aufgeregt. Mit aller Willenskraft bemühte er sich, das Peinliche seiner Empfindung beiseite zu schieben. Der Überfall schien so gut wie vergessen.

Um seiner Schamgefühle Herr zu werden, besann er sich auf das, was sein eigentliches Wesen war: Er begann einigermaßen klug daherzureden, weil er hoffte, dabei am schnellsten wieder zu sich selbst zu finden. Vielleicht ließ sich Sarah davon einschüchtern. Oder wenigstens ablenken. Von ihm aus sogar beeindrucken.

»Wenn du sagst, dass du mich begleitest, entspricht das ganz deinem Wesen und Namen«, altkluge Worte sprudelten aus seinem jungen Munde, als hätte jemand den Korken aus einem überreifen Wein gezogen. »Sarah«, er schluckte schnell, »heißt ja Gebieterin. Und Prophetin ist sie dazu, wie der Höchste Abraham deutlich gemacht hat, als er ihm nach dem Bund befahl, in Zukunft auf ihre Stimme zu achten.«

»Eben«, sagte Sarah unbeeindruckt.

Sie hielt spielend mit Josua Schritt, dem die Kaftanschöße schwer gegen die Waden klatschten, weil er ein schnelles Gehtempo eingeschlagen hatte. Eine Anstrengung, die ihn Kraft kostete, denn mit jedem Schritt mehr keuchte Josua ein Stück lauter.

Trotzdem gefiel er sich darin, alles in seinem Kopf zusammenzusuchen, was er über Sarah wusste. Und so erging er sich darin, dass im Midrasch stehe, gegenüber Sarahs Schönheit erscheine die anderer schöner Frauen wie die von Affen. Ein Seitenblick auf Sarah, die da ungerührt neben ihm Schritt hielt, gab ihm Recht. Diese hier, dieses eigentümliche Mädchen, strahlte von innen eine Kraft aus, die über die äußerliche, körperliche Schönheit hinausging: Es schien ein Leuchten gebündelter Energie zu sein, von der er in seinen Büchern noch nie etwas gelesen hatte. Zumindest bis jetzt noch nicht. Es verunsicherte ihn gewaltig und forderte ihn, wie er zugeben musste aber auch heraus. Um festen Boden für sein Selbstgefühl zu finden, konzentrierte er sich also schnell wieder auf sein Buchstabenwissen.

»Und über die Bedeutung ihrer 127 Lebensjahre heißt es«, fuhr er gewissenhaft fort, »dass sie mit 100 so schön war wie mit 20 und so unschuldig wie mit sieben.«

»Und was ist mit Lilith?« platzte Sarah dazwischen.

Wie kann sie so etwas fragen?, erschrak Josua. Doch bei seiner Eitelkeit gepackt, ging er auch auf diese Frage ein.

»Lilith verwüstet mit anderen Dämonen am letzten Tag die Welt«, belehrte er Sarah mit heißen Wangen. »Sie lebt in der Wüste, hat langes Haar und Flügel und ist die schöne und liederliche Verführerin schlechthin. Ich glaube, in der Kabbala steht, dass sie die Männer anfällt, die zu Hause allein schlafen. Sie bemächtigt sich ihres Samens und wird zur Mutter unzähliger Dämonen.«

Er räusperte sich. Gleichzeitig schämte er sich ob seiner unschicklichen Offenheit. Durfte er dermaßen Intimes an ein schlichtes Mädchen weitergeben? Was für eine verführerische Geisteskraft besaß diese Sarah, dass sie ihn so schrankenlos reden ließ?

Doch schon zerriss ihre fragende Stimme wieder den Strom seiner Bedenken.

»Steht dort auch etwas über ihre Stimme?« fragte Sarah gleichermaßen interessiert und belustigt.

»Ich, ich kann mich nicht erinnern«, stockte Josua ein wenig. »Aber wenn uns schon ein schmutziger Klezmer mit seiner Fiedel den Verstand nimmt, dann wird die Stimme der Lilith …«

Josua blieb abrupt stehen und schaute Sarah erschrocken an.

Was hatte er da gerade alles von sich gegeben? Sein Gesicht begann zu glühen vor Verlegenheit, jetzt, endlich, wurde ihm schwindelig. Er hatte vergessen, wo er war, mit wem er sprach und was sich geziemt. Sie hat mich bezaubert, fuhr es ihm durch den Kopf. Oder war etwa ein böser Geist über ihn gekommen, diese Sarah mit ihrer seltsamen Stimme etwa Lilith? Hatte sie ihn gerettet, nur um ihn in der nächsten Nacht zu verderben? Nein, nein, Unsinn. Josua zwang sich zu klarem Denken. Jeder kannte vom Hörensagen diesen Makel. Und hatte sein Vater, möge er ewig leben, nicht sogar im Dampfbad gesagt … Die Fragen überstürzten sich. Josua spürte statt Kälte auf einmal nur noch sein rasendes Herz. Und dann war da plötzlich auch noch dieses seltsam süße Gefühl.

»Lass mich! Lass mich!« rief er schließlich hilflos und rannte los, rannte, als ob der Teufel hinter ihm her wäre.

Sarah schüttelte den Kopf und sah ihm nach. Obwohl sie nicht genau zu sagen gewusst hätte, warum, war sie sehr zufrieden mit sich.

»Er ist zwar der Sohn vom Rebben. Aber schon jetzt meschugge vom Studieren. Die ihn einmal heiratet, wird nach sieben Tagen keinen Tropfen Kraft mehr in ihrem Leib haben.«

Die alte Frau, die das neben ihr mit krächziger Stimme murmelte, sah Sarah schräg von unten an. Missmutig und lauernd. Josua hetzte auf der Straße weiter, die rettende Straßenbiegung zwischen den Häusern vor Augen. Sarah wusste im Moment nicht, wem sie länger hinterhersehen sollte: ihm, der sie durch Buchstabenwissen zu beeindrucken versucht hatte, oder der grummelnden Alten, die sich ein paar Schritte entfernt hatte.

Ein plötzlicher Hieb auf ihren Hintern, riss Sarah aus ihren Gedanken. Die Alte war zurückgetrippelt, hatte jedoch ihren knotigen Stock schon längst wieder in den Morast der Straße gesenkt und schlurfte, von einer Welle fackelnden Zornes getragen, davon.

Herr, was bedeutet das alles?, fragte sich Sarah und sah gen Himmel.

Dieser leuchtete noch goldener als zuvor, aber inzwischen beschmutzten ihn schwarze Wolken.

Ehen werden im Himmel geschlossen. Daran hielt Rabbi Jankovic genauso fest wie alle anderen Juden. Weshalb er dem Schadchen, wenn der ihn wieder von einer bevorstehenden Hochzeit unterrichtete, stets ins Gewissen redete: Moische, wenn ein Kind geboren wird, hat Gott – einzig ist er – für es auch immer schon die Braut oder den Bräutigam ausgesucht. Vergiss dies nicht schon wieder. Du sollst Huhn und Hahn zusammenbringen. Nicht Rindvieh und Karpfen, nur weil der eine dasselbe säuft, worin der andere schwimmt.

Moische spülte Rabbi Jankovics Sätze gewöhnlich mit einem Glas Schnaps herunter, bevor er sein speckiges Büchlein aus der Tasche holte und dem Rabbi daraus vorlas. Darin stand alles, was er als Ehevermittler wissen musste – zum Beispiel, wie dick oder dünn, wie schön oder hässlich, wie arm oder reich dieses und jenes zu verheiratende Mädchen war, vor allem aber, wieviel Mitgift es bringen würde. Denn auch, wenn der Rabbi recht hatte, er, Moische, war der Ansicht, dass er so viel wie möglich dabei zu helfen hatte, die von Gott beschlossene Paarung unter dessen Himmel zustande zu bringen. Deshalb war er der Schadchen, dick und glubschäugig, ein bisschen lärmig und im entscheidenden Moment drängeling. Seine Ziele erreichte er immer. Zum Wohl der Brauteltern und, so sah es Moische, damit auch nach Gottes Willen. Weshalb er den Ruf hatte, selbst zwei Mauern zusammenbringen zu können.

Heute saß er beim Rabbi und alles war anders. Moische hatte schon das dritte Glas Schnaps getrunken, obwohl es keinen einzigen Satz herunterzuspülen gab. Denn Rabbi Jankovic hatte nur zugehört und nicht einen Ton gesagt. Stattdessen hatte er immer wieder mürrisch von seiner Frau, der Rebbezen, zu seinem Sohn Josua hinüber- und wieder zurück geguckt.

Moische kratzte sich, räusperte sich, stand schließlich auf.

»Moische, du bist der Schadchen«, sagte Rabbi Jankovic endlich. »Aber leider ein ungehobelter Mensch. Trinkst Schnaps wie ein Goj und frisst zuviel. Dein Verstand schrumpft. Du bildest dir ein, die Gesetze zu kennen, furzt aber in der Synagoge so laut, dass die Blöden lachen, die Frommen hingegen erschrecken. Und selbst hast du kein Weib, weil du schon zwei unter die Erde gebracht hast und nicht fähig warst, mit ihnen wenigstens eine einzige Tochter zu zeugen.«

»Ja, ja Rabbi«, seufzte Moische schuldbewusst, schaute aber trotzdem nicht sonderlich beeindruckt vor sich hin. »Jetzt hast du Tacheles mit mir geredet. Darf ich gehen?«

Rabbi Jankovic nickte und musterte trübsinnig seinen Sohn, der Geschichten von Wunderrabbis las, weil er für gelehrte Schriften seit Tagen keinen Kopf mehr hatte. Woran allein Gott – gelobt sei er – Schuld hatte. Weil es ihm eingefallen war, Josua diese, diese …

Die Rebbezen leitete Moische aus dem Zimmer. Um ihn zu versöhnen, holte sie schnell ein Stück Honigkuchen aus der Küche, das sie ihm mit beschwörendem Blick reichte. Moische brummte zufrieden. Honigkuchen war sein Lieblingsgebäck. Er konnte kaum genug davon bekommen. Deshalb war er auch so dick und hatte den Durst eines Ochsen.

Moische hatte bereits die Türklinke in der Hand, da rief Rabbi Jankovic ihm nach, er solle Jankl, den Schmuckmacher, zu ihm schicken. Er wisse doch, oder? Den Vater von Sarah, dem Mädchen mit der Schicksenstimme. Moische lachte laut auf, aber dann wurde er blass. Denn Rabbi Jankovic schrie, dass er ihm Dämonen auf den Hals hetzen würde, sollte Moische irgendjemand in der Stadt etwas von diesem Auftrag erzählen.

»So wahr ich der Rabbi bin: Ich mach einen Dibbuk aus dir«, war das Letzte, was Moische hörte.

Vor Schreck fiel ihm ein Bröckchen Honigkuchen aus dem Mund. Denn er dachte sofort an seine beiden verstorbenen Frauen, bei denen er sich vorstellen konnte, dass ihr Geist liebend gerne von ihm Besitz ergriffen hätte, um ihn für den Rest seiner Tage als Besessenen herumlaufen zu lassen.

Was bloß in ihn gefahren sei, wollte die Rebbezen wissen, womit sie ihren Mann meinte, obwohl sie ihren Sohn ansah. Sie nötigte Josua, doch wenigstens jetzt ein Stück Honigkuchen zu essen, aber der schlug dies genauso aus wie heute mittag die Piroggen, gestern den Borschtsch oder vorgestern, am Schabbat, die Suppe, den Fisch und die geschabten Kalbsfüße. Josua aß immer anständig, wofür die Rebbezen heftig beneidet wurde. Denn schließlich sah er nicht nach dem aus, was er verzehrte. Und das war ideal. Ein Himmelsgeschenk. Denn andere Söhne, die auch studierten und aßen, sahen immer so aus, als wäre ihnen der Bauch wichtiger als die heiligen Schriften.

»Was in ihn gefahren ist?« brauste Rabbi Jankovic auf. »Das fragst du, eine Frau und seine Mutter? Hast du, wenn schon keinen Kopf, nicht mal Herz?«

Rabbi Jankovic war ganz der Vater von Josua. Hager, mit einem schütteren grauen Bart und tiefliegenden mystischen Augen, die in seinen leidenden Gesichtszügen jetzt zornig funkelten. Seine langen Finger trommelten wütend auf die Lehne seines Sessels, sein Körper unter dem weißen Rabbinerkragen und dem matt schimmernden schwarzen Seidenkaftan vibrierte vor Erregung.

»Nein, ich meinte, was in dich gefahren ist«, sagte die Rebbezen, ging vor Josua in die Hocke und schaute ihren einzigen Sohn mitleidig an. Er war ihr Juwel, ihr zweites Herz. Dass er sich verliebt hatte, hatte sie im selben Moment begriffen, als er von Sarahs mutigem Gezeter gesprochen hatte.

Die Antwort seiner Frau brachte Rabbi Jankovic außer Fassung. Erst im letzten Moment beherrschte er sich, denn Zorn war ein übles Laster. Stattdessen verfiel er in moralisches Lamentieren und malte seiner Frau aus, welch große Sünde es sei, das Studium von Thora und Talmud wegen irdischer Nichtigkeiten zu unterbrechen. Die Rebbezzen musste sich anhören, was im Talmud und bei den weisesten Rabbis deswegen für Strafen vorgesehen waren. Tod und nochmals Tod stand darauf – und dies schon dann, wenn einer beim Studium der heiligen Worte seine Augen erhebt, einen Baum oder ein Feld sieht und dabei spricht, wie schön dieser Baum oder dieses Feld seien. Weshalb es Heilige gegeben habe, die ihre Füße beim Lernen in kaltes Wasser hielten oder sich gleich ganz die Augen hatten ausstechen lassen.

»Aber, was glaubst du, wird dein Sohn erst erleiden müssen, wenn der böse Trieb ihn an eine Frau denken läßt?« ereiferte sich Rabbi Jankovic weiter. »Im Höllenfeuer wird er braten, wo das kleinste Feuer sechzig Mal heißer als das heißeste Feuer auf Erden ist und das Geschrei der Sünder noch einmal so grauenhaft schmerzt!«

»Bestimmt – aber was willst du damit sagen?« fragte die Rebezzen auf einmal misstrauisch geworden.

Rabbi Jankovic seufzte auf. Alle Empörung war verschwunden. Fromme Ergebung malte sich auf seinem Gesicht. Er senkte die Augen und verzog resigniert den Mund.

»Was«, bohrte die Rebbezen nach, »willst du damit sagen?«

»Warum haben wir Juden keine Klöster?«, flüsterte Rabbi Jankovic zurück und gab sich selbst die Antwort. »Weil wir uns unsere Reinheit bewahren, indem wir uns gegen den bösen Trieb feien und heiraten.«

Die Rebbezen heulte auf.

»Erbarmen für mein Juwel! Barmherzigkeit für mein Kind!«

Sie rang die Hände, schluchzte. Doch urplötzlich schlug sie sich die Hand vor den Mund und schaute mit zusammengekniffenen Augen ihrem Mann zu. Der hatte die Augen geschlossen und wiegte sich leicht hin und her. Demnach meditierte er über eine heilige Stelle. Es wäre eine Todsünde gewesen, ihn zu stören.

Der Rebbezen aber war dies gleichgültig. Sie stürzte sich auf ihren Mann und riss ihm ein Haar aus dem Bart. Dabei schnaubte sie abwechselnd Schande, Schickse, heilige Einfalt, Schwindel und dergleichen mehr. Rabbi Jankovic guckte seinen Sohn vorwurfsvoll an, der sich mit hochgezogenen Schultern hinter seinem Legendenbuch versteckte. Aber auch er bekam sein Fett weg. Die Rebbezen schlug es ihm aus der Hand und packte ihn bei den Schläfenlocken. Doch so gerne sie in ihrer Wut auch daran gerissen hätte, nach einem verzweifelten Seufzer ließ sie von Josua ab und sank mit tränenfeuchten Augen auf einen Stuhl.

Minutenlang herrschte Schweigen. Die Rebbezen saß gramgebeugt da, Josua dagegen starrte beleidigt vor sich hin. Rabbi Jankovic richtete seine geschlossenen Augen an die Zimmerdecke.

»Eisele, überleg doch einmal«, begann er schließlich bedächtig zu seiner Frau zu reden, »vom Bild her sind sie ein schönes Paar, vom Geld her haben sie mehr als wir, und was er im Kopf hat, hat sie an Courage. Glaube mir, Jankl wird sich seines Jochs durch eine goldene Mitgift entledigen.«

»Aber sie ist nur Tochter eines Handwerkers, noch dazu mit einer Stimme – Gott behüte uns alle – wie Lilith. Und eine, die eine solche Courage gegenüber den Gojims hat, kann niemals auch liebende Mutter sein.«

»Eisele, deine Geschwätzigkeit ist groß, dein Verstand klein«, sagte Rabbi Jankovic herablassend. »Denn erstens geht es darum, dass Josua – Gott helfe ihm – wieder den Talmud studiert, zweitens werden Ehen sowieso im Himmel geschlossen und drittens begreift Moische dann wenigstens einmal, wie es gemeint ist, das Huhn und Hahn zusammenfinden sollen und nicht Rindviech und Karpfen.«

Rabbi Jankovic stand auf, strich durch seinen Bart und zupfte sich die Schläfenlocken zurecht. Dann setzte er seine satinschimmernde Schabbes-Jarmulke auf, und stellte sich feierlich vor Josua in Positur.

»Masel-tow, Josua. Du bist Bräutigam.«

Josua strahlte und warf seiner Mutter einen glücklichen Blick zu.

»Aber ihre Eltern. Sie wissen doch gar nichts«, sagte die Rebbezen schwach.

»Deshalb habe ich Moische geschickt«, sagte Rabbi Jankovic. »Glaube mir, du wirst vielleicht noch heute den Rest deines Honigkuchens los und soviel Schmeicheleien hören, dass wir – Gott rette uns – darin ertrinken.«

Rabbi Jankovic lag mit seiner Prophezeiung nur wenig daneben.

Sarahs Tante Rebekka bürstete gerade Hosen aus, als Moische die Türklinke niederdrückte.

»Scholem alejchem.«

Moische trat ein, ohne anzuklopfen, so wie er es immer machte und es für rechtschaffene Juden üblich war. Denn niemand sollte vor dem anderen Geheimnisse haben oder gar wissentlich etwas verbergen. Auf einen Klatsch bei einem Glas Tee oder einem Gläschen Schnaps hatte man immer Zeit. Darin machten die Männer keine Ausnahme. Nur wer es eilig hatte und ganz besonders neugierig war, fragte gleich den Nachbarn. Der gab bereitwillig Auskunft, indem er seine Bemerkungen mit den Worten einleitete, es gehe ihn ja eigentlich nichts an, aber seiner Meinung nach ….

Moische rieb sich voller Vorfreude die Hände. Wenn er erst die Katze aus dem Sack ließ, warum er hergekommen sei und wer ihn gar geschickt habe – diese Gesichter wollte er sehen. Das gäbe Erzählstoff für Monate und brachte Extrarationen an Schnaps und Honigkuchen. Und in der Tat: Sein Erscheinen schien wirklich völlig unerwartet zu sein. Noch nie nämlich hatte Rebekka vergessen, einen Gruß zu erwidern.

»Rifke, der Schadchen ist da!«, rief sie enthusiastisch. »Der Schadchen! Denk doch, Moische ist gekommen.«

Rifke, Sarahs Mutter, klatschte glücklich in die Hände und rief Moische zu, er solle sich wie zu Hause fühlen. Sie war gerade dabei, in den Grüften des Wohnzimmerschranks nach Ungeziefer zu suchen und sich durch einen Haufen abgetragener Kinderkleidung zu wurschteln, doch nun sie ließ alles stehen und liegen wie es war und eilte in die Werkstatt, um Jankl, ihren Mann zu holen. Also war es endlich soweit: Sarahs Zeit war gekommen. Die Wochen der Verhandlungen und Vorbesprechungen begannen, an deren Ende Antrauung und Verlobung stand und ein Jahr darauf die Hochzeit.

Rebekka war es, die Moische in die Stube nötigte. Sie eilte in die Küche und holte Brot und Butter, Konfitüre, Honigkuchen, Schnaps und zwei Gläser. Dann rannte sie ihrer Schwester hinterher.

Rifke fand Jankl bei der »groben Arbeit«, was bedeutete, dass er entweder mit Blech arbeitete oder »an den Schuhen hing«. Grobe Arbeit war die, die weniger Kopf erforderte als »feine Arbeit«. Und die tat Jankl, wenn er Schmuck machte. Zum Beispiel Perlenketten neu aufzog, Ringe weitete oder Ketten, Armreifen und Broschen aus Silberdraht herstellte. Denn dafür, so sagte er gerne, brauche er für tausend Pfund Kopf, hingegen nur zu zehn Pfund seine Hände. Arbeite er als Blecher und Schuster, sei es dagegen umgekehrt.

Gerade dengelte er an verdellten Kochtöpfen, was solchen Krach machte, dass er Rifke erst bemerkte, als sie ihm ins Licht trat.

»Gott, sein Name sei gepriesen! Der Schadchen ist da. Moische. Komm!«

»Moische?«

Jankl legte den Hammer beiseite und griff zu einem Tuch, um sich die Hände abzuwischen. Seine Augen leuchteten auf und um seinen Mund spielte ein zufriedenes Lächeln. Große Erleichterung überkam ihn. Das Gespräch mit Rabbi Jankovic im Dampfbad hatte ihn zwar eine Weile getröstet, aber in den letzten Tagen waren die Sorgen wieder zurückgekehrt, dass Sarah ihrer seltsamen Stimme wegen das Los einer »Farsessenen«, einer Sitzengebliebenen, beschieden sein würde. Jetzt gab es neue Hoffnung, Sarah doch noch rechtzeitig in Freuden wegzugeben. Wen Moische wohl ins Gespräch bringen würde? Jankl nahm sich vor, während er hinter Rifke und Rebekka in die Stube trat, es nicht an der Mitgift scheitern zu lassen. Schulden allerdings kamen nicht in Frage.

Jankl und Moische begrüßten sich und klagten erst einmal einmütig über die ständigen Repressalien gegen die Juden.

»Alle Zeichen deuten auf Auswandern«, sagte Jankl. »Beim geringsten Pogrom hier werden wir alles verkaufen und die Koffer packen.«

»Jankl, ihr fahrt nach Amerika?« fragte Moische neugierig.

»Gott wird entscheiden«, sagte Jankl mit einem Seitenblick auf seine Frau und seine Schwägerin. »Aber nun sag, warum bist du gekommen?«

Moische wartete, bis die Frauen die Stube verlassen hatten, und sagte dann erst einmal lange nichts.

»Moische«, begann Jankl von neuem und schenkte ihm ein Glas Schnaps ein, »spann mich nicht länger auf die Folter. Hast du ernste Angebote, oder wolltest du – nicht dass es so aussieht – bloß ein bisschen den Schnorrer spielen?«

»Schnorrer? Ich? Jankl, wo so viele sagen, dass ich höchstens mit den Lippen sündige, aber nie mit dem Bauch? Du selbst weißt doch, was mir, Moische dem Schadchen, angedichtet wird. Trotzdem, hast du nicht zwei Töchter, leben sollen sie, wovon es für die eine an der Zeit ist?«

»Moische, rede Tacheles«, sagte Jankl ungeduldig und genehmigte sich wie Moische ein weiteres Glas Schnaps. »Red Tacheles, du hast jetzt schon soviel Schnaps im Blut wie eine Sippschaft nach einer Beschneidung.«

Moische brummte halb belustigt, halb zustimmend. Aber um Jankl noch ein wenig zu ärgern, griff er sich ein Stück Honigkuchen, das er gemächlich fingernageldick mit Butter bestrich.

Jankl stöhnte auf und setzte voller Verdruss die Flasche an den Mund. Was sollte er machen? Gastfreundschaft war das eine, die Geschäfte des Schadchens das andere.

»Vergnügen und Gesundheit findet man zwischen den Backen« sagte Moische mit vollem Mund. »So sagte schon die Urgroßmutter von Rothschild …«

»Tacheles!« rief Jankl. »Sauf von mir aus die Flasche aus, aber …«

»… und so wahr ich Moische, der Schadchen bin, Rifkes Honigkuchen ist nicht schlechter als der von Eisele, unseres Rabbi Weib. Gott mache beide glücklich.«

Jankl sprang vom Stuhl auf und kam um den Tisch herum. Er konnte sich nicht mehr beherrschen.

»Du Luftmensch! Stolpern sollst du, dass dir die Zähne nacheinander abbrechen!«

Moische ließ sich nicht einschüchtern, sondern zog vielmehr das Schälchen mit der Konfitüre zu sich. Löffelweise bekleckste er sein Brot und schob es sich dann mit geschlossenen Augen und wohligem Grunzen in den Mund.

»Ruf Rifke, dein Weib«, sagte er. »Mit dir allein kann man nicht reden.«

Jankl hätte Moische am liebsten in der Luft zerrissen. Doch weil er spürte, dass sein Verstand vom vielen Schnaps tatsächlich bereits angeschlagen war, öffnete er das Fenster und brüllte seine Frau herbei.

Rifke kam nicht ohne Rebekka. Die Schwestern trugen weiße im Nacken verknotete Kopftücher und schwere sackleinene Arbeitskittel. Sie hatten gleichermaßen Ähnlichkeit mit Nonnen wie Bäuerinnen. Beiden klebte Komposterde an den Schuhen, und Rebekka hatte noch ihre Pflanzschaufel in der Hand. Vor Neugier hatten sie dicke Hälse. Rifke klapperte sogar mit den Zähnen, so voller Erwartung steckte sie.

Moische erhob sich und schaute triumphierend in die Runde. Darauf hatte er gewartet. Zwar schwankte er mehr, als er geahnt hatte und ihm lieb war, aber seinen Verstand, da war er sich gewiss, den hatte er noch allemal beisammen. Was er darum eigentlich noch schnell mit einem allerletzten Schnäpschen begießen könnte. Moische beugte sich zur Flasche, schenkte sein Gläschen voll, wobei er mehr verschüttete, als es fasste und stellte sich dann in Positur wie ein Husar in der Operette.

»Masel-tow, Jankl!« rief er. »Deine Tochter Sarah, gesund soll sie bleiben und sechsunddreißig gerechte Kinder bekommen, ist so gut wie Braut.«

Es wurde Moische zum Verhängnis, dass er den Schnaps in sich reinschütten wollte wie die russischen Offiziere, wenn sie unter sich waren und mit Dirnen feierten. Er kam ins Straucheln. Das Schnapsglas zerklirrte auf den Dielen, seine Arme ruderten in der Luft. Hätte er nicht einen Schritt nach hinten gemacht, hätte er sich noch an der Tischkante festhalten können, aber so stürzte er über seinen Stuhl und bekam nur noch einen Zipfel des Tischtuches zu fassen.

Brotkorb, Holzbrett, Besteck, Honigkuchen und Konfitürenschälchen wurden mitgerissen. Das Holzbrett traf Moische an der Stirn. Alles schrie. Am lautesten Jankl, der Moische sämtliche Dämonen des Talmud an den Hals wünschte. Genau in diesem Moment stürzten Sarah und ihre Schwester Lea mit ihren Cousins Scholem und Samuel in die Stube. Kurz darauf folgte David, Rebekkas Mann. Sie alle sahen, wie Jankl Moische an den Schultern packte und ihn aufgebracht anblaffte, er sei ein Unglücksmensch und Narr und ein weit schlimmerer Trunkenbold als ein gojischer Fuhrknecht.

Moische stöhnte kläglich und betastete sich seine Stirn. Was er erfühlte war keine Beule, sondern ein Bluterguß. Auf die Beine wollte er nicht mehr. Rebekka holte ein Kissen, Sarah Tuch und kaltes Wasser. Behutsam tupfte sie Moische die Beule, während Rebekka und Rifke erzählten, warum er gekommen und wie das Malheur passiert sei.

Jankl stand hinter Moische und fixierte ihn, als könne er ihm sein Geheimnis von der Stirn ablesen.

»Und das alles wegen dir«, brummte Moische und lächelte Sarah an. »Denk dir, unser Rabbi hat mich hergeschickt.«

»Und das ist alles?« fragte Jankl. »Deshalb …«

»Das ist alles?«, äffte Moische Jankl ächzend nach. »Du sollst Sarahs wegen zum Rabbi. Denn bin ich nun der Schadchen, he? Was glaubst du, wer sonst hier die Katzen übers Wasser kriegt?«

»Masel-tow, Jankl«, sagte David in die darauf plötzlich eingetretene Stille. »Ist das eine Partie, wie?«

Den Abend darauf war der Ehekontrakt zwischen Rabbi Jankovic und dem Schmuckmacher, Blecher und Schuster Jankl ausgehandelt. Denn wer den Sohn eines Rabbis zum Schwiegersohn bekommen konnte, stellte keine Bedingungen. Er ging auf alle Forderungen ein, solange sie nicht die Existenz der übrigen Familie gefährdete.

»Morgen ist Aufzeichnung!« platzte Jankl mit der frohen Botschaft in die Stube, wo die Familie schon am Abendbrot-Tisch saß und zu essen begonnen hatte. »So ein Masel, was?«

»Tanzen müsstest du, Sarah, bei diesem Werk des Himmels«, sagte David, und Rebekka, seine Frau, schaute direkt ein wenig neidisch.

Zwar hatte sie die Söhne und ihre Schwester nur die Töchter, aber so eine Partie im umgekehrten Sinne einmal für einen ihrer Söhne zu machen, dies wäre in etwa so, als würden Scholem oder Samuel die Tochter eines Industriellen heirateten. Was sehr unwahrscheinlich war. Denn das große Geld paart sich gewöhnlich mit großem Verstand, was heißt: Die Tochter eines Industriellen heiratet den Sohn eines Rebben und die Tochter eines Rebben heiratet den Sohn eines Industriellen.

»Wir werden euch eine Hochzeit ausrichten, die niemand so leicht vergisst«, sagte Jankl und zog Sarah an sich. »Auch wenn wir nicht zu den Reichen zählen, du wirst dich deiner Familie nicht schämen müssen.«

Er streichelte ihr über das Haar und küsste sie auf den Kopf. Feierliche Stille war im Raum, die Gesichter waren verklärt. Einzig Lea, Sarahs Schwester, schaute zweifelnd und auch ein wenig verkrampft drein: Sie würde eine solche Partie nicht machen. Das würde Gott – gelobt sei er – ihrer Familie bestimmt kein zweites Mal gönnen.

Sarah indes saß schweigsam am Tisch und kaute gedankenverloren auf einem Stück Brot herum. Sie verzog keine Miene. Aber sie konnte das Gerede um ihre gute Partie nicht mehr hören. Seit gestern Abend überboten sich ihre Mutter und ihre Tante mit Schilderungen ihres künftigen »Königinnendaseins«. Ihre Münder quasselten mit der Behändigkeit von wuselnden Mäusen auf einem Speicher. Ach, was für ein schöner Bräutigam, dieser Josua. Seine Augen, seine Stimme, sein Kopf! Edel wie eine Thora-Rolle. Wie schön die Kinder aussehen würden. Wie stolz sie sein würde und wie beneidet. Und vor allem, wie geliebt! Wo Josua sie doch jetzt schon begehre, geradezu krank sei vor Sehnsucht nach ihr, wie Moische angedeutet habe.

Jetzt waren Rebekka und Rifke erschöpft. Sie hatten Muskelkater in der Zunge und ihre Hälse waren trocken, als hätten sie mit Kalk gegurgelt.

Sarah kaute. Dabei wurden ihre Augen immer mehr zu Schlitzen. Auf einmal begannen ihre Lippen zu beben. Sie schob den Stuhl nach hinten, stand auf und warf ihr Haar nach hinten. Wie eine leidende Königin sah sie auf ihre Familie herab und sagte:

»Ich mag ihn doch gar nicht, den Josua. Wie kann ich ihn dann heiraten?«

Ihre Augen füllte sich mit Tränen.

Alles guckte überrascht. Leise äffte Lea die Bemerkung ihrer Schwester nach. Da begann erst David zu glucksen, dann Sarahs Vater, schließlich fielen deren Frauen ein. Selbst Scholem und Samuel ließen sich anstecken.

»Masel-tow, hat sie einen Humor, unsere Sarah!«, rief David und schüttelt den Kopf. »Ich aber auch. Kennt ihr den? Schmules Rochel ist unterwegs. Wird von ihrer Nachbarin gefragt: Warum so eilig Rochele? Ich muss zum Arzt, ruft sie. Mein Mann gefällt mir irgendwie nicht. Sagt die Nachbarin: Ach ja! Dann laufe ich gleich mit dir. Meiner gefällt mir nämlich auch nicht.«

Kein Auge blieb nach diesem Witz mehr trocken.

Die meisten Tränen aber vergoss Sarah.

Kapitel 1

Gregor Nikolajewitsch sah im gleichen Maße gut aus, wie sein Charakter schlecht war. Wären nicht die schiefgelatschten Soldatenstiefel und der zerschlissene Armeemantel mit den Unteroffiziers-Epauletten gewesen – man hätte ihn mit seinem kantigen Gesicht, dem Schnauzer und seidig glänzenden Haar für einen ungarischen Edelmann halten können, der gerade die Dreißig erreicht hatte.

Er saß im Zug und schlief, auf den Lippen ein seliges Lächeln. Doch auch, wenn er mit wachen Augen in die vorüberziehende Landschaft blickte, strahlte sein Wesen nichts Böses oder Gefährliches aus. Selbst seine Hände, die bekanntlich viel über den Charakter eines Menschen verraten, waren anziehend: wenig behaart, kräftig aber schlank, mit makelloser Haut und blitzsauber.

Andächtig gefaltet lagen sie in seinem Schoss, während der Zug sich dem Bahnsteig näherte. Es war die letzte Station vor dem ukrainischen Provinz-Städtchen Njeschin, dem Ziel von Gregors Reise. Vor knapp zwei Stunden war er in Kiew in den Zug gestiegen, zusammen mit einem Dutzend anderer, die ebenfalls das Pogrom mitmachen wollten.

Mit ohrenbetäubendem Kreischen und einem heftigen Ruck kam der Zug zum Stehen. Gregor Nikolajewitsch war sofort hellwach, schien nicht das geringste bisschen benommen. Weder gähnte er, noch streckte er die Glieder, nur sein Lächeln war verschwunden. Ein abschätziger Ausdruck spielte um seinen Mund, und die gerade noch gefalteten Hände verwandelten sich in kampfbereite Pranken, die das verrußte Abteilfenster wütend herunterrissen.

Die Menge der Menschen, die in die Dritte-Klasse-Wagen stiegen, entstellte sein schönes Gesicht zu einer üblen Grimasse.

»Hat mich denn Gott auserwählt, der Hund zu sein?«, schnauzte er auf den Bahnsteig. Seine blauen Augen funkelten und seine Stimme war heiser vor Hass. »Man glaubt’s nicht! Als ob es gegen Odessa geht! Wir sind zu viel! Beißen uns nachher wie die Ratten tot! Begreift das doch! Njeschin reicht nicht für alle!«

Gregor Nikolajewitsch wünschte alle zur Hölle und riss das Fenster wieder hoch. Er sank auf die Lederbank seines Zweite-Klasse-Abteils und strich sich fahrig seinen Schnauzer. Wäre er nicht allein im Abteil gewesen, er hätte sich kaum anders benommen. Er war selbstbewusst. Denn so zerschlissen sein Uniformmantel und so alt seine Soldatenstiefel auch waren: er gehörte zu den Helden des Russisch-Türkischen Krieges. 1877, vor vier Jahren, war er beim Sturm auf die Türkenfestung Plewna dabeigewesen. Die Generäle wollten sie Zar Alexander zum Geburtstag schenken, ohne Rücksicht auf Verluste. Fünfzehntausend Tote und unzählige Krüppel hatte der Angriff gekostet. Er, Gregor Nikolajewitsch gehörte zu den wenigen, die Glück gehabt hatten. Außer ein paar Granatsplittern im Bauch, einem aufgerissenen Oberschenkel und dem Verlust seiner Zeugungsfähigkeit hatte er keine schlimmeren Blessuren davongetragen. Die waren jetzt sein Kapital. Zar Alexander nämlich hatte allen Invaliden dieses Geburtstagsangiffs eine lebenslange Rente ausgesetzt. Und die war immerhin so hoch, dass man mit nur einem viertel Jahr zusätzlicher Arbeit bereits sein Leben meistern konnte.

Da kamen Gregor Nikolajewitsch die Judenpogrome gerade recht. Sie brachten dieses Jahr das fehlende Geld. Was er bei ihnen bislang erbeutet und verkauft hatte, war mehr, als er beim Eisenbahnbau hätte verdienen können.

Der Zug rollte wieder an, niemand war ins Abteil gekommen. Gregor Nikolajewitsch entspannte sich. Er schlug die Beine übereinander, seufzte zufrieden auf. Mit dem Verebben der Wut kehrte eine aristokratische Überlegenheit zurück, ein anderer Wesenszug, der ohne genealogische Wurzeln war und dennoch für ihn einnahm, so natürlich wirkte diese ihm eigene elegant-gleichmütige Haltung. Sie war, und das wussten nur wenige, die ihn kannten, eine besondere Facette, wohl die schönste seiner vielschichtigen Persönlichkeit.

Mit der zerlumpten Bahnsteigmeute, die jetzt bei den Krawallmachern im letzten Wagen war, hatte er nichts gemein. Und auch wenn er dasselbe Ziel und das gleiche vorhatte wie sie: mit ihnen in einem Atemzug genannt zu werden, hätte er bei aller Berechtigung als eine Beleidigung empfunden. Denn die Krawallniki in der dritten Klasse stanken sauer, waren allesamt Analphabeten und trieben es mit Weibern, die nichts dabei fanden, im Stehen zu urinieren.

»So, nun bist du auch das letzte Stück noch allein, Nitschko«, sagte er leise zu sich selbst.

Stirnrunzelnd schaute er auf seine Fingerspitzen und griff dann in die Manteltasche. Der Schluck Wodka, den er sich genehmigte, war nicht groß. Aber er wurde mit Kennermiene genossen.

»Njeschin also.«

Die wievielte Aktion war es? Gregor Nikolajewitsch zählte in Gedanken die Städte auf, in denen er vor Jahren dabei war: Ananajew, Smjela, Pernislaw, Jelisawetgrad und Odessa am Schwarzen Meer. Noch einmal griff er zur Zeitung und las den entsprechenden Aufruf mit demselben Behagen, wie die Intelligenzija Gedichte Puschkins.

Stadtverwaltung und Kirche hatten zum Njeschiner Pogrom gewissermaßen »eingeladen«. Beamte wie Popen waren zur Überzeugung gekommen, auch in ihrem Gouvernement müsse endlich wieder »etwas getan« werden, die Zeit sei reif. Sie argumentierten, die »nicht unüblen« Erfahrungen, die die Nachbargouvernements Cherson, Kiew und Podolien einst mit den Pogromen gemacht hätten, kämen gewissermaßen einer Verpflichtung gleich, diesen »Vorbildern« zu folgen. Njeschin werde für das Gouvernement Tschernigow daher die Vorreiterrolle übernehmen. Wozu allerdings die Hilfe der Nachbarstädte nötig sei. Denn die Anzahl der einheimischen »Judenfresser« reiche nicht aus, um die Plagegeister Russlands wirklich zu beeindrucken.

An allen Aktionen gegen die Juden hatte Gregor Nikolajewitsch bislang verdient. Als »Reisender in Sachen Pogrom« stellte er sich dem Zugpersonal vor, das angewiesen war, jeden Bürger der unteren Klassen zu registrieren, der die Gouvernementsgrenzen überschritt. Eine Anordnung der Ochrana, der russischen Geheimpolizei, die damit Nihilisten ausfindig machen wollte. Denn die hatten unter Beteiligung jüdischer Terroristen, wie jeder wusste, einst Zar Alexander ermordet. Deshalb die Pogrome. Die Regierung hatte ihre Sündenböcke und konnte damit von der politischen Unzufriedenheit und der wirtschaftlichen Not der verarmten Massen ablenken.

»Na, mein Schätzchen«, flüsterte Gregor Nikolajewitsch, während er mit seinem Krummdolch das ohnehin Weiße seiner Fingernägel zusätzlich bleichte. »Ob du wohl wieder was Properes herauslockst für mich? Ein, zwei Seidenkaftane vielleicht? Ein paar Ellen Tuch, eh? Oder vielleicht eine Perlenkette, oder welche von diese schejne silberne Schabbesleuchter? Oh waj! Oh waj!«

Gregor Nikolajewitschs Stimme, zunehmend getönt von der Gier nach kostbarem Gut, überschlug sich vor Vergnügen. Kaum etwas konnte er so gut imitieren wie die Entsetzensrufe der Juden. Übermütig stach er ein paarmal in die Luft und bleckte die Zähne.

»Ob du das jemals vergessen kannst, Nitschko? Odessa? Wo du in der Moldavanka in den Keller bist? Und dort das Niesen gehört hast?«

Gedankenverloren strich er mit der Klinge über seinen Schnauzer, den Mund verführerisch geöffnet, als erwarte er einen Kuss. Zu gerne erinnerte er sich an das Haus mit dem leeren, frisch gekalkten Keller. Unter einer Schütte Stroh verborgen lag eine Bastmatte, die den Zugang zu Odessas Katakomben verdeckte. Die Familie eines Rebben hatte sich dort versteckt. Ihr Unglück war, dass ihnen auf der Flucht die Petroleumfunzel ausgegangen war. Aus Angst, sich in dem Höhlenlabyrinth zu verirren, waren sie nur bis zur nächstbesten Vorratshöhle gelaufen, kauerten zwischen Säcken mit Nüssen, Getreide und zahllosen Gemüsekörben.

»Oh waj, oh waj? Solche Angst?«

Das Gesicht der Rebbezen, der Frau des Rebben, war tränenüberströmt, der Rebbe dagegen bewegte sich ruckartig vor und zurück und murmelte Gebete. Gregor Nikolajewitsch wusste, je heftiger das Schaukeln war, desto dringender die Bitte. Aber wer hatte geniest? Ein Mädchen von vielleicht sieben Jahren. Ihr älterer Bruder drückte ihr die Hand vors Gesicht, so kräftig, dass ihm der Rotz seiner Schwester zwischen den Fingern herausquoll.

»Ich tue euch nichts! Gebt mir etwas Schönes in meinen Sack, dann geh ich wieder.«

Die Rebbezen zeigte auf die Lebensmittel und riss sich ihren schwarzen Seidenumhang von den Schultern. Er hatte ihn mit beifälligem Brummen in seinen Sack gestopft und darauf nichts weiter machen müssen, als bloß zu gucken: erstaunt, enttäuscht, fordernd. Also griff die Rebbezen in die Schürze und wühlte Münzen hervor. Schon viel besser. Trotzdem: »Mehr nicht?«

Gregor Nikolajewitsch hatte seinen zynischen Tonfall genau im Ohr und schloss die Augen. Bedächtig erzählte er sich den Schluss seiner Erpressung.

»Da hast du dein Schätzchen gezogen, dem Söhnchen die Klinge an den Hals gesetzt und wieder gefragt. Und da begann die Rebbezen zu buddeln. Mit bloßen Händen. Wie ein Hund nach dem Kacken. So eine schejne Schabbesleuchter!«

Voller Inbrunst beschwor er jenen »schejnen Schabbesleuchter« und sah für eine kurze Weile nach draußen. Schließlich hauchte er auf den Ebenholzgriff seines »Schätzchens«, in dessen Schwarz ein Halbmond aus Perlmutt schimmerte. Der Dolch war seit Odessa sein Talisman und seine Klinge so scharf, dass er sich mit ihr rasieren konnte.

Gregor Nikolajewitsch hätte sich gerne weiter dieser Art von Tagträumen überlassen, doch auf einmal drängte sich ihm ein anderes Bild auf. Dazu hörte er die matte Stimme einer sterbenden Frau. Verdrossen steckte er seinen Dolch weg. Seine Augen blieben an den Stiefelspitzen hängen, verloren ihren Glanz, wurden stumpf. Auf den Tag genau vor einer Woche saß er in ähnlicher Haltung am Totenbett von »Matuška mamaša«, »Mütterchen Mama«, seiner Stiefmutter. Der Frau, die ihm in den Kindesjahren die leibliche Mutter genommen hatte, noch während diese blutspuckend an der Schwindsucht dahingesiecht war.

Für ihn war ihr Tod eigentlich ein schöner Tag, der ihm große innere Genugtuung bereitete. Denn seine Stiefmutter war alles andere gewesen als ein »Mütterchen Mama«. Sie hatte ihn gequält und ausgenutzt. Und das allein deshalb, weil sie seinem Vater nicht einmal ein Töchterchen hatte schenken können, wie sie ihm letzte Woche auf dem Totenbett gestand. Nächtelang hatte er mit ihr »Dame« und »Sechsundsechzig« spielen müssen, denn »Mütterchen Mama« litt fortwährend unter Schlaflosigkeit. Tagsüber rauchte sie Opium, das sie vom Juden kaufte. Um sich zu entspannen, wie sie sagte. Rauchte sie, war sie friedlich. Ihre Lust, zu demütigen und zu quälen nahm mit nachlassender Wirkung des Rauschgiftes zu. Und die Nächte, im nüchternen, unzufriedenen Zustande, dienten allein dem Hochgefühl, einen Heranwachsenden vom Schlafe fern zu halten. Und dann war da noch etwas, das ihm die Qual des nächtlichen Kartenspiels aufzwängte: Er musste spielen - spielen um sein seelisches Heil zu retten. Die hässlichen Hände seiner Stiefmutter hatten schon bald begonnen, Schenkel und Pobacken zu umkreisen, seinen Nacken wie Krebsscheren zu umklemmen und sein Geschlechtsteil bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus stechenden Augenschlitzen heraus anzulüstern. Es war eklig, und ihm wurde mehr als einmal übel davon. Doch er schwieg. Jahrelang.

Hätte er nachts nicht gespielt, hätte er Dinge tun müssen, die nichts als bedrohlich und widerwärtig gewesen wären. So fügte er sich lieber ins Zweitschlimmste. Alles andere hätte sein Vater ihm ohnehin nicht geglaubt, denn »Matuška mamaša« war teuflisch verlogen und hätte die ganze Geschichte einfach umgedreht - was ja bekanntermaßen viel glaubhafter gewesen wäre. Ein paar Andeutungen nur hätten da genügt, und sein Vater hätte ihn bewusstlos geprügelt.

Warum aber hatte seine Stiefmutter begonnen, Opium zu rauchen? Um sich besser zu entspannen, wie sie behauptete.

»Damit mein Bauch seinen Widerstand aufgibt und endlich ein Kind in ihm wächst.«

Aber »Matuška mamaša« rauchte immer mehr Opium, suchte immer länger Trost im Rausch. Und weil der Vater, ein Eisenbahnbauer, oft wochenlang von zu Haus weg blieb, wurde das Geld knapp. Der Haushalt blieb liegen, es gab kaum etwas zu essen. »Mütterchen Mama« aber war zum Anschreiben lassen zu stolz, das Geld kassierte der Jude fürs Opium. Seinen Vater beeindruckte dies angeblich ordentliche Wirtschaften. Denn er war geizig wie im Sprichwort. Und weil »Matuška mamaša«, wenn er wieder zu Hause war, nichts lieber machte, als für ihn die Beine breit, war er glücklich mit seiner zweiten Frau.

Irgendwann begriff Gregor, dass er der geistbenebelnden Droge dankbar sein musste. Sie brachte seiner Stiefmutter Frieden und ihm schließlich den ersehnten Schlaf. Und so ebbte sein Hass gegen die Juden allmählich ab. Bei den Pogromen im Jahr 81 verging er sich an ihnen ohne direkte körperliche Gewalt, gleichwohl betrachtete er es als sein gutes Recht, ein klein wenig Rache an ihnen zu nehmen. Er nahm ihnen ja nur wieder weg, was seine Stiefmutter ihnen zuviel bezahlt hatte. Und schüchterte sie ein für den Hunger, den er damals gelitten hatte.

»Nitschko, du darfst sie hassen«, beschwor ihn auch »Matuška mamaša«, als sie sich schon längst mit dem Sterben abgefunden hatte. »Aber nie mehr mit deinen Händen. Versprich es! Versprich das deinem Mütterchen Mama, der alles Leid tut. Schwör es.«

Gregor Nikolajewitsch klang der flehentliche Ton nicht weniger deutlich im Ohr, wie das Angstgeschrei der Juden.

Brav hatte er zur Bekräftigung seines Schwurs »Mütterchen Mamas« Christus-Ikone geküsst – doch dies brachte ihn jetzt in Bedrängnis. Denn Gott schon nach einer Woche zu hintergehen: so etwas wagte ein guter Russe nicht. Erst Recht nicht, wenn man Plewna überlebt hatte und dem Gottessohn eine Rente verdankte. Was bedeutete, dass es diesmal beim Zuschauen bleiben musste – wobei immer noch genügend abfallen konnte. Die aus den Fenstern geschmissenen Bettdecken und Bücher zum Beispiel würden auf jeden Fall soviel Geld bringen, dass dies den Preis der Zugfahrkarte wieder hereinbrachte. »Mütterchen Mama« und Christus würden dann beide ein Auge zudrücken. Schließlich, so beruhigte sich Gregor Nikolajewitsch, ging es nur gegen die Juden.

Trotzdem packte ihn der Ekel, als er sich vorstellte, wie er sich mit dem gemeinen Mob um ein paar Bettdecken zankte.

Voller Abscheu spuckte er auf den Boden des Abteils und griff wieder nach seinem Dolch, um sich damit über den Schnauzer zu streichen. Seinem »Aristokraten-Gesicht«, wie »Mütterchen Mama« einmal im Opium-Rausch gefaselt hatte, stehe dieser Schnauzer so gut wie einer Prinzessin das Diadem. Ihm selbst war jedes Härchen so kostbar wie eine Kopeke. Er fühlte sich mit seinem Schnauzer als Weltmann, hingegen andere Russen ihre Würde mit Bärten demonstrierten, in die man hätte Säuglinge wickeln können.

Manchmal stellte er sich tatsächlich vor, er wäre von Adel: Mit deinem Charisma könntest du bei den reichen Töchtern Russlands Karriere machen, sagte er gerne, wenn er in den Spiegel guckte. Zuweilen blickte ihm daraus auch ein verblasstes Mädchengesicht aus frühen Tagen entgegen. Ein fröhliches Gesicht, herausfordernd und stolz zugleich.

Tatjana!

Sie war seine erste und noch immer einzige wirkliche Liebe. Wenn sie ihm in den Sinn kam, empfand er sekundenlang Wärme um sein Herz. Aber natürlich ging das Leben weiter. Die Frauen wechselten sich ab. Bislang konnte ihn keine lange halten.

Wer wohl die nächste sein würde?

Gregor verzog geringschätzig den Mund. Bislang hatte ihm sein aristokratisches Gesicht nichts genutzt.

»Wenn du außerdem noch etwas anzubieten hättest, du würdest dein Glück schon machen, Nitschko. Nur, was? Was?«

Gregor Nikolajewitsch rief dieses »Was« so ohnmächtig in sein Abteil, als bekäme er vom Gutsbesitzer die Knute.

Wenige Minuten später fuhr der Zug in Njeschin ein.

Samuel und Scholem, die beiden Söhne des Stellmachers Reb Wichnitzer, waren die ersten, die aus dem düsteren Chejder-Schulzimmer herausstürmten.

»Volle Sabbattische wünsch ich allen!« rief Scholem laut, um seinem Melamed eins auszuwischen. Das ging am einfachsten, indem man den Lehrer dort packte, wo er am verwundbarsten war: am Geld. Von dem konnte ein Melamed nämlich höchstens träumen. Das, was er für seinen Unterricht bekam, war meist so wenig, dass es am Sabbat oft nur für Brot und Fisch reichte, nicht mehr für Fleisch und Wein und den in Njeschin üblichen Rosinenkuchen

Wenn mal wieder solch ein Sabbat vor der Tür stand, war der Melamed besonders grob. Dann schlug er so schnell zu, als seien die Schüler lästige Fliegen. Scholem hatte Ohrfeigen bekommen, sein Bruder Samuel sogar die siebenschwänzige Katze. Der eine, weil er im Faikro, Moses drittem Buch, die verschiedenen Strafen der fünf Flüche Gottes nur stockend herbeten konnte, der andere, weil er unzweideutig geSpaßt hatte, dem Melamed eine seiner fetttriefenden Schläfenlocken abzuschneiden.

Doch für diese Woche war der Chejder aus und damit alle Schläge so gut wie vergessen. Scholem und Samuel winkten ihren Freunden zu und rannten los – aber nicht, wie gestern, zum Tümpel, wo sie den Kaulquappen zugeschaut hatten, sondern nach Hause. Dort wartete Besseres auf sie. Großvater nämlich hatte gestern Abend einen Stallhasen mitgebracht, der jetzt gefüttert werden sollte. Ein richtiges Schmusetier, das Scholem und Samuel genauso leidenschaftlich in ihr Herz geschlossen hatten, wie Lea und Sarah, ihre älteren Cousinen. Letzte Nacht hatten die Jungen den Käfig mit ans Bett nehmen dürfen, heute waren die Mädchen an der Reihe. Immer abwechselnd, wie der Großvater lächelnd bestimmt hatte - so lange, bis das »Jossele« eben an seinen Ort käme.

»Jossele! Jossele!«

Scholem hatte seinen jüngeren Bruder abgehängt und war völlig außer Atem, als er durch die düster-modrige Gasse rannte, die zum Garten führte. Er konnte nicht anders: er musste einfach der erste sein, der das Jossele auf den Arm nahm. Nur noch ein paar Schnaufer, dann war es soweit. Scholem schlitterte um die Hausecke, sprang über das Kartoffel- und Rübenbeet und war zwei Sätze später vor Josseles Stall, einem an die Hauswand genagelten Brettkasten mit dicker Strohschütte.

Das Jossele aber saß da nicht drin.

Die Enttäuschung und der Seelenschmerz waren so groß, dass Scholem glaubte, in seinem Bauch explodiere glühende Kohle. Verzweifelt brüllte er nach der Mama. Samuel kam herangestürmt. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er in den leeren Käfig, begann ein paar mal zu schlucken und brach dann in Tränen aus.

»Jossele! Mama!«

»Samuel! Scholem! Die Mama ist noch nicht aus der Mikwe zurück. Ja? Kommt aber gleich. Nicht weinen.«

Die Stimme kam aus dem oberen Stock eines der beiden dreigeschossigen Steinhäuser, zwischen die das schmale Fachwerkhaus von Scholems und Samuels Familie eingequetscht war. Rahel, die korpulente Frau des Wein- und Wollwarenhändlers Jizchak, wrang gerade einen Lappen aus: Schabbesputz. Die Frauen des Schtetls fuhrwerkten mit aufgekrempelten Ärmeln und Kopftuch umeinander, schrubbten Fußböden, wischten Möbel ab und wechselten Handtücher und Bettwäsche. Oder sie waren beim Backen der zweizopfigen Challe-Brote, kneteten Nudelteig, schuppten Fische, nahmen Hühner aus, putzten Gemüse.

Scholems und Samuels Mutter hatte sich noch Zeit für die Mikwe genommen, das rituelle Untertauchen im heiligen Wasser, sieben Tage nach dem Ende der Regel. Als gute Mama hatte sie das Geschrei ihrer Söhne vorausgesehen und Rahel darum gebeten, ihre Söhne ein wenig zu trösten.

»Ja, aber das Jossele!« rief Scholem trotzig.

»Das Jossele! Sarah und Lea haben es doch auch lieb.«

Die Miene der Jungen änderte sich blitzartig. Auflehnung und Wut malte sich auf ihren Gesichtern, Scholem ballte die Fäuste.

»Wir tun sie kitzeln, bis sie blau werden!«, stieß er hervor und schaute seinen Bruder herausfordernd an. »Ich die Sarah und du die Lea.«

Samuel nickte. Mit gesenkten Köpfen und vorgeschobener Unterlippe trabten die Brüder los. Wohin? Erst einmal zur Mikwe. Denn wahrscheinlich wollten Sarah und Lea ihre Tante dort abholen.

»Da sind sie!«

Samuels Stimme überschlug sich. Sein Finger flog so heftig nach vorne, als könne er damit schießen. Und tatsächlich: die Cousinen steckten mitten drin im Gedränge von Lumpensammlern, Handkarren, Kindern, gebückten Bäuerinnen, schwarzen Kaftanen und Frauen mit Kopftüchern aller Farben. Die von hinten einfallende Sonne ließ Sarahs weißes Baumwollkleid hell aufleuchten, hob sie wie einen Engel aus der Menge. Lea, ihre kleinere und jüngere Schwester, schleppte eine Schütte, in der sich irgendwelches Grünzeug türmte. Sie gingen nebeneinander, und es war ein kleines Wunder, dass jeder den beiden Mädchen auswich. Lea lief mit zur Seite gedrehtem Kopf, Sarah hielt den ihren nach unten gedrückt. Sie hatte sich das Jossele an die Brust gekuschelt, schnoberte über sein Fell und versuchte, die Löffel des Tiers mit der Stirn zu streicheln.

Scholem und Samuel kannten kein Halten mehr. Ohne länger nachzudenken, rissen sie sich die Sandalen von den Füßen und stürzten los. Sie hörten und sahen nichts mehr, hatten nur noch ihr Jossele im Kopf. Es war ihnen egal, dass der Sand unter ihren Fußsohlen feucht von Hunde- und Pferdepisse war und in den milchigen Pfützen, in die sie traten, Fischschuppen schwammen. Sie hatten auch keine Nase für den süßen Duft der Challe-Brote, oder die gebratenen Hühner, die die Mägen aller jüdischen Schnorrer heute besonders laut knurren ließ. Selbst die ungewöhnlich vielen fremden Männer, die vorne aus der Bahnhofsstraße kamen, waren ihnen keinen Blick wert. Dass einer von ihnen seine leere Branntweinflasche in ein Schaufenster warf, hinter denen der Vater eines ihrer Freunde sein Tuchgeschäft hatte: es war nichts Ungewöhnliches. So etwas erzählte man sich alle paar Wochen immer mal wieder, schließlich war man Jude.

Wichtig für Scholem und Samuel war einzig: die Cousinen waren auf dem Weg zur Mikwe. Und zu der war es nicht mehr weit. Nur noch diese Straße hinunter, dann an der Kreuzung, wo das Kaffeehaus lag und Feiwel, der Delikatessenhändler sein Geschäft hatte, ein kleines Stück rechts.

»Jossele!«

Hätte Samuel nicht gerufen, die Cousinen hätten nichts gehört. Ohne sich umzublicken, begannen sie zu laufen. Die Mikwe war nur noch wenige Schritte entfernt. Wenn nur die Holzpantinen leichter wären und nicht so schlupfen würden! Lea begann zu jammern, Sarah wies sie zurecht. Doch auch sie wünschte sich andere Schuhe und einen anderen Kittel. Ob sie damit wirklich bis zur Hochzeit würde warten müssen? Sarah entschied, dass ihre neuen Schuh zum Schnüren sein müssten und der Kittel auch kein Kittel sondern ein Kleid. So eins, wie die Damen es in den großen Städten trugen. Mit einer großen Perlenkette. Dazu das Haar hochgesteckt und einen Sonnenschirm in der Hand, die Lippen rot geschminkt, eingehüllt in den Duft eines edlen Parfums.

Derweil verlor Lea immer mehr von Josseles Löwenzahnblättern. Sarah sah sich um, spürte die stampfenden Füße der Jungen. Scholem und Samuel waren neun und zehn, sie noch fünfzehn, Lea zwei Jahre jünger.

»Wovor fürchten wir uns eigentlich?« rief sie und drückte das Jossele so fest an sich, dass Lea Angst bekam, ihre Schwester könnte es erdrücken.

Sarah blieb mitten auf der Kreuzung stehen und schleuderte mit einer heftigen Bewegung des Kopfs ihr langes pechschwarzes Haar nach hinten. Lea aber zog sie am Kittel, wobei ihr die Schütte gegen das Schienbein schlug. Sie strauchelte, rempelte gegen ihre Schwester und stieß sie damit Gregor Nikolajewitsch vor die Füße.

»Es gehört uns!«, hörte Sarah Scholems atemlose Stimme. »Es ist meins!«

»Aber meins auch!«

Das war Samuel.

»Von wegen. Mir gehört das Viech!«

Eine solch höhnische Stimme hatte Sarah noch nie gehört, und noch bevor sie ihr Gleichgewicht wiederfand, packte die Hand zu und riss ihr das Jossele von der Brust weg.

»Klaut ihr Juden die Karnickel, um sie zu essen oder zu quälen?«