Die Tote vom Galgenberg - Elisabeth Nesselrode - E-Book

Die Tote vom Galgenberg E-Book

Elisabeth Nesselrode

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Ein packender Kriminalroman, der zeigt, wozu Menschen fähig sind. Die Ermordung einer Jurastudentin versetzt Regensburg in Aufruhr. Doch schnell stellt sich heraus: Die Tote war eine Frau mit vielen Geheimnissen und einigen Widersachern. Dass alles aber ganz anders ist, als Kriminalkommissarin Ulrike Kork zunächst glaubte, offenbart sich, als eine weitere junge Frau tot aufgefunden wird. Inmitten einer rasanten Verfolgungsjagd, bei der es um Leben und Tod geht, entscheidet sich schließlich alles …

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Elisabeth Nesselrode, in der Nordeifel geboren und aufgewachsen, lebt seit zehn Jahren in Bayern, sieben davon in München, wo sie studierte und im Anschluss als Producerin und Jungredakteurin für unterschiedliche Filmproduktionsfirmen arbeitete. Nach einem Zweitstudium in russischer Philologie und Politikwissenschaft an der Universität Regensburg ist sie mittlerweile im Bereich der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit tätig. Elisabeth Nesselrode schreibt, seit sie schreiben kann, besonders gern Geschichten über die Dinge, die wir weder sehen noch verstehen können – über das, was im Schatten liegt.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Barbara McKinney/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Lothar Strüh

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-934-1

Oberpfalz Krimi

Originalausgabe

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Für meine Eltern

Prolog

Januar 1994

Es gibt diese Tage, goldene Tage, die kaum an Perfektion zu übertreffen sind, die in goldenem Licht erstrahlen, wenn alles schön ist, wenn all das, was es schwer macht und kompliziert, weit weg ist. Wenn man versteht, wie wunderschön die Welt, wie schön das Leben doch eigentlich ist. Dann ist da dieser süße Schmerz, diese bittere Gewissheit, irgendwo ganz tief vergraben, dass dies alles irgendwann vorbei sein wird. Es ist ein seltsames Gefühl, das plötzlich all diese Schönheit überlagert. Es ist Angst, Angst vor dem Ende, es ist die Angst vor dem Tod.

Jetzt sehe ich in deine Augen, und in diesem Moment, in dem alles vorbeigeht, in dem das Ende bevorsteht, in dem sich da draußen ein goldener Tag dem Ende entgegenneigt, würde ich dich gern so vieles fragen. Und auch wenn ich weiß, dass das nicht möglich ist, ich wüsste ja ohnehin nicht, wo ich anfangen sollte. Du hast mich nie angesehen, nie beachtet, immer so getan, als existierte ich nicht in deiner Welt, in deiner Realität, in der ich nichts weiter bin als ein Statist, ein Möbelstück, ein unbeachtetes, verschwommenes Detail in einem Bild. Wenn ich verschwunden wäre, wäre es dir nicht mal aufgefallen, du hättest dich nicht einmal gewundert oder nachgefragt. Ich bin unsichtbar für dich. Und das ist doch eigentlich ungerecht, das ist nicht fair. Denn in meiner Welt bist du sichtbar, in meiner Realität bist du da, immer.

Deine Augen sind krampfhaft verzerrt, werden gleichzeitig müde wie stechend. Jetzt siehst du mich an, beobachtest mich ganz genau, siehst mich so, wie ich dich sehe, vielleicht auch ein bisschen anders. So viele Dinge möchte ich dich fragen. Und doch verstehe ich, dass eigentlich alles völlig unerheblich ist.

Ein letztes Mal sagst du etwas. Deine Stimme ist ganz leise, flüsternd, gleichzeitig scharf, krächzend. »Du wirst mich niemals los. Nie.«

Ich weiß. Und doch ist das, was wirklich zählt in diesem Augenblick, dass du mich wahrnimmst. Du nimmst mich endlich wahr. So wie du hier liegst, vor mir auf dem harten Boden, so wirst du mich in Erinnerung behalten. Und das ist nur fair. Denn das, was du vorher nie sehen wolltest, ist das Letzte, was du siehst: mich.

Jetzt ist es vorbei, und ich gehe nach draußen. Ich atme und warte im Dunkeln auf die ersten Sonnenstrahlen. Ich warte auf den Anbruch eines neuen, eines goldenen Tages.

1

Das graublaue Flussfrachtschiff rangierte in der engen Schleusenkammer, ein Schiffsmann schlang die wuchtige Leine um den Poller am Beckenrand, das hintere Tor schloss sich. Noch bevor das Wasser aus der Kammer in die Unterwasserseite der Donau abfloss, schwebten hungrige Flussmöwen durch die Lüfte und ließen sich auf dem Geländer des vorderen Schleusentors nieder. Sobald der Wasserspiegel in der Kammer sank und das Wasser in die Unterwasserseite gepumpt wurde, begannen sie kreischend über dem sprudelnden Getöse zu segeln, schnappten nach kleinen Fischen, die durch den Unterdruck in die Höhe getrieben wurden, setzten immer wieder zum Sturz an, verharrten kurz über der Oberfläche und segelten wieder davon. Über fünf Meter sank das Schiff langsam nach unten, bevor der Lärm endete. Mechanisch dumpf öffnete sich das vordere Schleusentor, und das Schiff trieb dampfend flussaufwärts die Donau entlang.

Es regnete an diesem trüben Februarmorgen. Unaufhörlich tropfte das Wasser in langen Fäden auf die Kapuze ihrer dunkelblauen Regenjacke und bahnte sich einen Weg über ihren geraden Nasenrücken. Sie war völlig durchnässt. Doch erst als das Schiff unter der Brücke verschwunden war, steckte Ulrike sich die Kopfhörer zurück in die Ohren und ließ sich vom Bass der Musik und ihren regelmäßigen Laufschritten in die entgegengesetzte Richtung flussabwärts tragen.

Es war etwa halb acht Uhr morgens. Aus dem Augenwinkel nahm sie die anderen, ihr entgegenkommenden unerschütterlichen Läufer wahr und blickte währenddessen auf den vorbeirauschenden Fluss neben ihr, der sich in braunen Wellen durch die Stadt grub. Das dunkle Wasser, die Schiffe, die Schleuse zogen sie fast magisch an, erinnerten sie zwischen all dem provinziellen, historisch angestaubten Charme des Welterbes an die unermessliche Bedeutung dieser Wasserstraße, der die Stadt ihren Ruhm verdankte und die sie mit dem Rest der Welt zu verbinden schien.

Thorsten, ihr Ex-Mann, hatte immer davon geträumt, die Donau einmal von hier bis zum Schwarzen Meer zu befahren. Wie sie so gedankenverloren am Ufer entlanglief, stellte sie sich vor, wie er ihr auf einem kleinen Fischerboot entgegenkommen würde, mit der albernen Kapitänsmütze auf dem Kopf, die stets an seinem Garderobenhaken hing wie eine permanente Erinnerung an diesen ungelebten Traum. Unter der Oberpfalzbrücke am Dultplatz angekommen, dröhnte Ulrike der Klingelton ihres Handys in die Ohren.

Sie betätigte den Knopf an den Bluetooth-Kopfhörern und nahm das Gespräch atemlos entgegen. »Ulrike?«, hörte sie ihre Kollegin Franka Brandl sagen.

»Was gibt’s?«

»Du klingst so komisch, alles in Ordnung?«

»Ich bin laufen«, antwortete sie kurz, blieb stehen und stützte die Arme auf den Knien ab. »Was gibt’s?«, wiederholte sie.

»Eine Frauenleiche an der Uni. Ich bin schon auf dem Weg nach oben, wann kannst du da sein?«

Ulrike beobachtete einen Spaziergänger und dessen Golden Retriever, der die Pause unter der Brücke dazu nutzte, sein nasses Fell auszuschütteln. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Gib mir eine Stunde, dann bin ich oben.« Sie beendete das Gespräch, atmete pustend aus, überquerte den Dultplatz und rannte über den Pfaffensteiner Steg weiter in Richtung Innenstadt.

Als Ulrike ihren Oldtimer vor der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Regensburger Universität abstellte und an der Fassade des Gebäudes nach oben blickte, schien sich der graue, nasse Beton nur um einige Nuancen von dem dunklen Himmel abzuheben. Sie zog die Kapuze ihrer Jacke über die Ohren und lief durch den Regen schnellen Schrittes auf einen der Eingänge zu. Es war halb zehn, das Gebäude war abgeriegelt, die Eingänge von Streifenpolizisten umstellt. Einer von ihnen ging vor ihr her und führte sie in ein riesiges Treppenhaus. Auch hier schien der dreckige Beton überall, formte die Stufen, türmte sich zu Säulen und Balustraden auf.

Breite Treppen führten auf offenen Ebenen von oben nach unten, eine Fensterfront aus gläsernen schwarz umränderten Rechtecken tauchte das Innere in dumpfes Licht. Jeder Fußtritt, jedes Husten hallte in dem großen Raum wider.

Zwischen zwei nach oben führenden Treppen, in deren Stufen blaue und grüne Sitzbänke eingelassen waren, direkt vor zwei doppelglasigen Türen, lag sie mitten auf dem glatt gelaufenen Kopfsteinpflaster. Ein Sichtschutz war vor ihr aufgebaut, um sie notgedrungen vor neugierigen Blicken zu bewahren. Zwischen den Beamten und Kriminaltechnikern erkannte Ulrike schließlich Franka, die sich zur Leiche gekniet hatte und das Gesicht der jungen Frau beinah ehrfürchtig zu betrachten schien. Ulrike musterte die grau-schmutzigen Wände, die Betonelemente und blickte durch das Fenster auf den Außenbereich des Campus. Hinter den roten, schweren Türen verbargen sich die Hörsäle, alle verwaist an diesem verregneten Donnerstag. Sie ließ den Blick durch die Halle schweifen und erspähte auf einer Balustrade einen jungen Mann, der ein Handy in der Hand hielt.

»Hey!«, brüllte sie ihm ungehalten zu. »Kommen Sie sofort da runter.« Der Mann rannte fluchend davon. »Verdammte Gaffer!«, raunte sie Franka statt einer Begrüßung verärgert zu, die sich mittlerweile aufgerichtet hatte.

»Beinah alle Fakultäten sind unterirdisch miteinander verbunden, kaum möglich, jeden Zugang abzusperren«, sagte sie schulterzuckend und richtete den Blick dann wieder auf die Leiche, deren blondes Haar sich wie ein Fächer über dem dunklen Kopfsteinpflaster ausgebreitet hatte. Die vollen Lippen waren geöffnet, die grünen Augen starrten ins Leere. Die Ermordete trug eine dunkle Jeans, helle Sneaker und einen grünen, eng anliegenden hochgeschlossenen Pullover unter einem beigen Parka, der die dunklen, violett verfärbten Male kaum verbergen konnte.

»Erwürgt also«, bemerkte Ulrike und beugte sich nun ebenfalls zu dem Opfer hinunter.

»Ja. Ein Hausmeister hat sie heut früh gefunden, kurz nachdem er das Gebäude aufgeschlossen hatte«, berichtete Franka. »Da drüben«, fügte sie hinzu und wies auf einen blassen, in sich gesunkenen Mann auf der Treppe. »Er ist ziemlich durch den Wind, hat kaum was gesagt. Ich habe seine Personalien schon aufgenommen.«

Ulrike nickte. »Wissen wir schon, wer sie ist?«

»Bis auf das da haben wir nichts bei ihr gefunden.« Franka wies auf die quadratische Buchhüllentasche, in die unverkennbar ein BGB eingeschlossen war. »Kein Portemonnaie, kein Handy, kein Notebook. Aber der hier steckte in ihrer Jackentasche. Sie heißt Annabelle Dorsten. Wir haben schon weitere Informationen aus der Studentenkanzlei angefordert.«

Ulrike streifte sich Handschuhe über und nahm den Studierendenausweis entgegen. Eine bildhübsche junge Frau strahlte ihr vom Passfoto entgegen. »Scheiße«, wisperte sie.

»Kennst du sie?«

Ulrike schüttelte den Kopf. »Nein, aber ihren Vater, wenn er das ist. Dr. Roland Dorsten. Strafverteidiger, ich hatte mit ihm in der Vergangenheit zu tun.«

Franka runzelte fragend die Stirn.

»Vor deiner Zeit«, murmelte Ulrike.

Franka, mit der Ulrike vor knapp einem Jahr in einem anderen Fall im benachbarten Landkreis zu tun gehabt hatte, war erst im letzten Herbst zur Kriminalpolizeiinspektion nach Regensburg gewechselt, noch immer hatte sie sich nicht vollständig in dem neuen Arbeitsbereich zurechtgefunden, brachte Zuständigkeiten und Personen durcheinander, was ihr kaum zu verdenken war. Die junge Frau erledigte ihre Arbeit trotzdem gewissenhaft und gründlich.

Ulrike reichte Franka den Ausweis zurück und betrachtete erneut die vor ihr liegende junge Frau. Die Beine waren leicht angewinkelt, die Arme vom Körper gestreckt, die Finger mit den rot lackierten Nägeln verkrümmt. Sie sah aus, als habe man sie drapiert. Nicht nur die künstliche, unnatürliche Position, auch das milchige Gesicht, die strahlenden blonden Haare, die glänzenden grünen Augen, all das machte beinah den Eindruck, als habe jemand eine Puppe hier abgelegt. Je länger Ulrike die schöne, starre Frau betrachtete, desto stärker stellten sich ihre Armhärchen auf. Sie drehte der Toten den Rücken zu und ging zu dem kleinen Mann, der in sich versunken auf den Treppenstufen kauerte. Sein schütteres graues Haar war durcheinandergeraten, die Augen waren in dunklen Höhlen versunken, trotzdem legte sich ein freundliches, wenn auch müdes Lächeln auf seine Lippen, als Ulrike sich ihm näherte.

»Kripo Regensburg, Kork«, stellte sie sich vor und setzte sich neben ihn auf die kühlen Stufen.

Er schenkte ihr einen beiläufigen Blick. »Dvalitsa, Alexej«, gab er kurz zurück und reichte ihr die Hand. Seine Stimme hatte einen weichen Klang, sein Akzent ließ wie sein Name eine osteuropäische Herkunft vermuten.

»Sie haben sie gefunden?«

Er nickte. »Kurz nach sieben, da hab ich hier aufgesperrt.« Er wies mit einem Nicken auf die rote Doppeltür. »Ich habe sie gesehen, kurz nachgeschaut, ob sie noch lebt, und dann die Polizei gerufen.«

»Und Sie sind Hausmeister hier?«

»Ja. Seit etwa zwanzig Jahren.«

»Kennen Sie die Frau?«

Er sah sie irritiert an. »Dreißigtausend studieren hier. Ich kenne sie nicht.«

»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, irgendwelche Personen hier oder draußen?«

Er überlegte kurz. »Nein, niemand. Ich war alleine hier. Um diese Uhrzeit ist hier noch nicht viel los.« Er legte den Kopf in die Hände und rieb seine Augen.

»Und diese Tür war abgeschlossen? Wie ist es mit den anderen?«

»Alles zu.« Er seufzte schwer. »Ich habe eine Tochter, die studiert auch hier.«

Ulrike nickte verständnisvoll.

Der drahtige kleine Mann blickte zur Leiche, schüttelte schwach den Kopf.

»Können Sie uns helfen zu verstehen, wo genau wir uns hier befinden?«, fragte sie.

Zwischen den dunklen Gängen hatte Ulrike bald schon die Orientierung verloren. Zahlreiche Türen führten nach draußen, weitere Gänge zu neuen Arealen, die wiederum unter- und oberirdisch miteinander verknüpft waren. Überall begegneten sie verwirrten Studierenden, die sich in Trauben innen wie außen abseits der Fundstelle aufhielten und ehrfürchtig aufblickten oder besorgt flüsterten, als Ulrike und Franka ihnen entgegenkamen.

Ulrike wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, doch der Gang durch das Innere des betonierten Campus hatte nichts zutage gebracht außer der Gewissheit, dass es praktisch unmöglich sein würde, die Wege des Täters zu rekonstruieren. Irgendwann stoppten sie an einem Lageplan des Campus. Der Mann in dem graublauen Overall wies darauf, zeichnete mit seinem Finger Wege nach und erklärte in leisen Worten wo die unter- und oberirdischen Verbindungen lagen. Die Universität glich einem labyrinthartigen Bunker, weitläufig und unübersichtlich. Als alle ersten Fragen geklärt zu sein schienen, verabschiedeten sie sich von ihm und beobachteten, wie er mit hängenden Schultern im Regen verschwand.

Sie standen vor dem Gebäude auf einem großen Hof, der durch eine lange Außentreppe geteilt war, und blickten auf den weißgrauen Betonklotz auf der gegenüberliegenden Seite, der einer Festung nahekam. Ein Absperrband trennte die Studierenden von der Vielzahl der Polizeiwagen und den Fahrzeugen der KTU, die sich vor dem Eingang des Zentralen Hörsaalgebäudes gesammelt hatten. Eine eigentümliche Spannung lag in der Luft, als würde etwas vibrieren, als sei etwas Unsichtbares in Bewegung. Ohne miteinander zu sprechen, beobachteten Franka und Ulrike die umstehenden Studierenden, als könnten sie in der verschwommen wirkenden Masse plötzlich etwas erkennen, eine Figur, ein Gesicht, einen Hinweis.

»Was meinst du?«, fragte Franka nach einer Weile. »Könnte es einer von denen gewesen sein? Ein Student?«

Ulrike zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.« Sie atmete tief durch. »Auf den ersten Blick kein Sexualverbrechen. Die Tasche fehlt. Ein Überfall, der schiefgegangen, außer Kontrolle geraten ist?«

»Möglich«, gab Franka zurück. »Die Uni ist eigentlich immer geöffnet. Man kann zu jeder Zeit rein und raus. Es könnte jeder gewesen sein.«

»Dann sollten wir jetzt schnellstmöglich den Kreis einschränken. Ich denke, wir schauen als Erstes bei den Eltern vorbei.«

Franka nickte zustimmend, beide drehten sich um und wandten sich zum Gehen, da bemerkte Ulrike aus dem Augenwinkel eine Gestalt, die wie ein geölter Blitz das Absperrband hinter ihnen in die Höhe riss und auf die Tür zum Zentralen Hörsaalgebäude zulief.

Ulrike drehte sich ruckartig um und hielt die braunhaarige Frau am Arm fest. »Hey, was soll das? Bleiben Sie stehen! Das ist ein Tatort.«

Die junge Frau ließ sich kaum davon abbringen, an der Tür zu rütteln, hielt dann aber doch inne. Ihre Haare waren kurz, sie trug lange hölzerne, in sich verschlungene Ohrringe und ein hellbraunes Latzkleid. »Das ist Annabelle, oder?«, rief sie und starrte Ulrike verzweifelt aus blaugrünen, aufgerissenen Augen an.

Ulrike antwortete nicht sofort, was das Mädchen dazu rührte, sich die Hand vor den Mund zu schlagen und einen erstickten Schrei herauszupressen, bevor sie sich am Türrahmen auf die Knie fallen ließ.

2

Ich bin heut Morgen aufgewacht und habe gleich ein komisches Gefühl gehabt, so als würde etwas nicht stimmen. Im Moment regnet es die ganze Zeit. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal die Sonne gesehen habe. Dunkler Februar. Ich habe erst geglaubt, dass es vielleicht daher kommt, dieses komische Gefühl. Vom grauen Wetter. Lex war schon in der Arbeit, da hat Sonja mir eine Nachricht geschickt. An der Uni ist eine Frauenleiche gefunden worden. Ich habe sofort Daria angerufen, und als ich ihre Stimme am anderen Ende der Leitung gehört habe, da sind mir tausend Steine vom Herzen gefallen. Ich bin trotzdem das komische Gefühl nicht losgeworden, und jetzt begleitet es mich schon den ganzen Tag.

Alles Mögliche wird spekuliert, wer sie war, warum sie sterben musste. Sonja konnte mir gleich drei Theorien auftischen. Aber niemand weiß Genaueres. Man weiß nur, dass sie sehr jung war. Jung und hübsch. Einfach aus dem Leben gerissen. Hat mich plötzlich wieder an Rita erinnert, an früher, an ihr Schicksal. Das ist doch schrecklich. Wie es ihren Eltern wohl geht? Wie sich das anfühlen muss, ein Kind zu verlieren? Kaum vorstellbar, unbeschreiblich. Ich kann es nur ahnen.

Bela ist zwar nicht tot, aber den habe ich ja irgendwie auch verloren. Jetzt ist das alles so ewig her. Vielleicht sollte ich ihn mal wieder anrufen? Was ist, wenn es auch zu spät ist, wenn es keine Möglichkeit mehr gibt, all das wieder in Ordnung zu bringen? Lex sagt, es ist besser so. Besser für alle. Dass er es so entschieden hat. Ich weiß, dass er recht hat. Ich weiß es ja. Aber trotzdem fehlt mir Bela. Ach, was soll ich bloß tun? So ein grauer Tag. So graue Gedanken.

4. Februar A.D.

***

Ein wackliges Handyvideo flimmerte über das Display, Ulrike erkannte Annabelle auf dem Boden hinter dem Sichtschutz liegend, sie hörte sich selbst rufen. Das gepresste Fluchen des Handyhalters drang gedämpft aus den Lautsprechern des Smartphones, dann brach das Bild ab. Sie schüttelte verärgert den Kopf.

Die junge Frau, die ihr das Handy hingehalten hatte, presste die Lippen aufeinander. »Sehen Sie, das ist sie doch?«

»Woher haben Sie das?«

»Hat heute früh die Runde gemacht.« Sie zitterte am ganzen Leib.

Schneller als Lichtgeschwindigkeit, dachte Ulrike verbittert.

»Verdammt, sagen Sie doch was!«, brüllte die Frau.

Kleine Grüppchen von Studierenden hatten sich gebildet, standen flüsternd herum und begafften die drei Frauen an der Tür, als wären sie Tiere im Zoo.

»Kommen Sie bitte mit«, raunte Ulrike und bugsierte die junge Frau durch die rote Tür ins Innere des Gebäudes. Ein Seminarraum gleich neben dem Eingang stand offen. Sie wies sie an einzutreten und schloss dann die Tür hinter sich.

Die Frau, die sich als Bianca Trost vorstellte, kauerte sich auf den Boden an den Heizkörper, der unter der Fensterfront in dem verlassenen Zimmer montiert war. Ulrike hatte sich auf die Kante eines der vorderen Tische im Raum gelehnt, Franka stand im Türrahmen.

Die Brünette starrte auf die geschlossene Tür. Ihre großen Augen füllten sich erneut mit Tränen, die in durchsichtigen Perlen das Unterlid schwemmten und über ihre Wangen kullerten. »Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte sie irgendwann mit dünner, heiserer Stimme.

»Es ist noch zu früh, das sagen zu können«, gab Ulrike zurück. »Sie beide standen sich nahe?«

»Sie ist meine beste Freundin.« Die junge Frau schauderte. »War«, fügte sie hinzu, zog die Beine an und ließ den Kopf auf die angewinkelten Knie sinken.

Ulrike fiel es auf einmal schwer, sich vorzustellen, dass diese beiden Frauen, die so grundverschieden wirkten, tatsächlich so eng befreundet gewesen sein sollten. Sie rief sich das ebenmäßige Gesicht der toten Annabelle in Erinnerung, die gepflegte elegante Kleidung, das blonde glänzende Haar, die makellos rot lackierten Fingernägel, und musterte dann Bianca. Die kurzen Haare standen ihr vom Kopf ab, um ihren Hals war ein dunkelblaues, ausgewaschenes Musselintuch gewickelt, das ein paar Fäden gezogen hatte, und an ihren Füßen trug sie klobige schwarze Schnürstiefel. Sie war ohne Frage attraktiv, auf ihre eigene Weise besonders und einprägsam, und doch machte sie gleichzeitig den Eindruck, etwas plump zu sein, als ginge ihr das Erwachsenwerden nicht ganz so leicht von der Hand.

Ulrike konnte sich noch gut an dieses Gefühl erinnern, daran, zwanzig zu sein, gerade noch ein Kind und doch schon erwachsen. Jeder schien erwartet zu haben, dass sie einen Plan hatte, eine Idee, ein ganz grundsätzliches Verständnis davon, was es bedeutete, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Auch in Biancas Wesen schien ein Rest dieser jugendlichen Überforderung mitzuschwingen, die Art, wie sie die Hände aufstützte, wie sie mit einer Mischung aus Verunsicherung und Trotz zwischen den Kommissarinnen hin und her blickte. Ihre kindlichen Gesichtszüge spiegelten eine ganze Bandbreite von Empfindungen und Gedanken, die sich unkontrolliert von einem Augenblick zum nächsten abzuwechseln schienen.

»Wann haben Sie Annabelle das letzte Mal gesehen?«, fragte Ulrike sie und beobachtete, wie Bianca sich die Haare raufte, als müsse sie die Erinnerung heraufbeschwören.

»Gestern. Wir waren noch gemeinsam in der Abendmensa, dann bin ich nach Hause. Sie ist noch in die Bib gegangen. Gerade ist Klausurenphase. Ich habe ihr noch geschrieben, so gegen elf, aber sie hat nicht geantwortet.« Bianca hatte den Kopf wieder gegen den Heizkörper gelehnt. Sie wirkte auf einmal seltsam ernüchtert. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf.

»Hatten Sie davor noch einmal Kontakt? Bevor Sie um elf geschrieben haben?«

»Nein. Sie hat sich nicht mehr gemeldet.«

»Hat sie gesagt, wie lang sie bleiben wollte? Was sie noch vorhatte am Abend? War sie verabredet?«

»Nein«, wieder schüttelte Bianca den Kopf. »Vielleicht wollte sie noch zu Elias. Das ist ihr Freund. Aber das weiß ich nicht. Sie wollte eine Nachtschicht einlegen. Ich war den ganzen Abend bei meinem Bruder zu Hause.«

»Können Sie uns den vollen Namen von ihrem Freund nennen? Haben Sie eine Nummer?«

Bianca nickte und kramte mit zitternden Fingern ihr Handy aus der Tasche ihres Latzkleids. »Elias Badenburg«, sagte sie, während sie auf dem Bildschirm herumtippte. Dann reichte sie Franka, die sich neben sie gestellt hatte, das Handy.

Ulrike sah durch das Fenster des Seminarraums nach draußen auf die große Wiese und die weiter entfernt liegenden Betonbauten. Noch immer regnete es leicht, und trotzdem erkannte Ulrike zwischen den herunterlaufenden Tropfen auf der Scheibe die kleinen Grüppchen von Studierenden, die versucht beiläufig unter den Dächern der umliegenden Gebäude verharrten oder am Fenster vorbeiliefen. Wieder zückte einer ein Handy. Es wurde Zeit, Annabelle von hier fortzubringen.

Als hätte Bianca ihre Gedanken erraten, richtete sie sich mühsam auf und sah sie hoffnungsvoll an. »Darf ich sie sehen?«

Ulrike verschränkte die Arme. »Tut mir leid, das geht nicht. Nicht, bevor wir wissen, was passiert ist.«

»Sie ist ermordet worden, oder?« Die Frau, deren Stimme eine unverhohlene Klangfarbe angenommen hatte, blickte ihr starr entgegen.

Franka sah auf, runzelte die Stirn.

»Das können wir noch nicht sagen, Bianca«, gab Ulrike ruhig zurück. »Und Sie sollten auch keine Gerüchte streuen oder Spekulationen anstellen.« Ulrike legte ihr behutsam eine Hand auf die Schulter. »Lassen Sie uns unsere Arbeit machen«, fügte sie versöhnlich hinzu.

Bianca zuckte zurück, ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Unterlippe zitterte. Blitzartig riss sie sich los, lief an den Kommissarinnen vorbei auf die Tür zu.

»Verdammte Scheiße!« Ulrike schüttelte verärgert den Kopf und folgte Bianca, die über die kleine Treppe auf die Zwischenebene rannte, bis sie sich hinter den Sichtschutz an die Fundstelle vorgearbeitet hatte. Dann stand sie einfach so da, vor dem leblosen Körper. Den Kopf hatte sie in die Seite gelegt, die Hände zu Fäusten geballt.

Ulrike griff nach ihrem Unterarm, zog sie zurück. »Können wir jemanden anrufen, jemanden, der Sie abholt? Der Sie nach Hause bringt? Ihre Mutter, Ihren Vater? Eine Freundin?«

Wieder veränderte sich der Gesichtsausdruck der jungen Frau. Ulrike musterte sie, sah die Spannung auf ihren Lippen, den markant hervortretenden Kieferknochen und den seltsamen, kaum deutbaren Blick in ihren Augen. Dann drehte Bianca sich um und verließ wortlos das Gebäude.

Franka stellte sich neben Ulrike. »Sorry, ich hab zu spät geschaltet. Ich hätte sie festhalten sollen.«

»Das hättest du wahrscheinlich nicht geschafft. Sie wirkt, als sei sie kaum berechenbar.«

»Ich habe ein komisches Gefühl bei ihr.«

»Verlass dich bloß nicht auf ein Gefühl«, gab Ulrike zurück. »Wir sollten so schnell wie möglich zu den Eltern, bevor sie auf welchem Wege auch immer das Video zu Gesicht bekommen.«

Sie steckte die Hände in die Jackentasche, ließ den Blick durch die grauen Hallen schweifen, zu den dunklen Gängen und Ecken. Die gedämpften Geräusche, die aus den entlegensten Winkeln zu ihnen hallten, riefen plötzlich eine weit entfernte Erinnerung wach.

Sie und ihre Schwester Silke waren noch kleine Mädchen gewesen, als ihre Eltern mit ihnen einen Ausflug in die Nordeifel unternommen hatten. Mitten in einem Wald befand sich unter einer erhöhten Erdschicht ein Kanal, ein Überrest der römischen Wasserleitung, kaum einen Meter hoch und Dutzende Meter lang. Sie und Silke waren hindurchgekrochen, schon nach wenigen Metern hatten sie die Hand vor Augen nicht mehr sehen können, die feuchte, kalte Luft im Inneren, die pechschwarze Dunkelheit schienen sie vollständig zu umschließen. Silke bewegte sich vor ihr durch den engen Kanal, sie war bloß wenige Meter entfernt, doch ihre gedämpfte Stimme hallte im Inneren wider, als sei sie ganz nah und gleichzeitig weit weg, als sei sie überall. »Ich verrat dir mal was«, hatte sie gesagt und dann laut gebrüllt. Damals hatte Ulrike Angst bekommen und doch keinen Ton von sich gegeben. Sie war weitergekrochen, bis sie endlich am Ende des Tunnels Tageslicht gesehen hatte. Fast meinte sie, den feuchten, modrigen Geruch wieder wahrzunehmen, während sie ihren Blick durch das Innere des Gebäudes schweifen ließ. Es schien überall Augen und Ohren zu haben. Sie schauderte.

»Bringt sie hier raus«, wies sie ihre Kollegen von der Kriminaltechnik an und beobachtete wenige Augenblicke später, wie Annabelles schneeweißes, makelloses Gesicht vom schwarzen Plastik des Leichensacks umschlossen wurde. Sie dachte an Bianca, an den seltsamen Ausdruck in ihrem Gesicht, an Frankas Worte und ermahnte sich selbst auf die gleiche Weise. Denn auch sie hatte ein komisches Gefühl gehabt.

3

Es war kurz nach zwölf, als Ulrike und Franka sich schließlich auf den Weg zu dem Wohnhaus der Familie Dorsten machten. Der Rechtsmediziner hatte noch am Tatort bestätigt, was ohnehin augenscheinlich gewesen war. Die junge Frau war durch Strangulation zu Tode gekommen, die Verfärbung der Druckspuren am Hals und die ausgeprägte Leichenstarre ließen auf einen Todeszeitpunkt schließen, der etwa zehn bis fünfzehn Stunden zurücklag. Sie musste auf dem Heimweg gewesen sein, als sie von dem Täter überrascht worden war. Ihre Tasche, ihr Geldbeutel und ihr Handy fehlten. Von wo war sie gekommen, welchen Weg hatte sie genommen, wo hatte sie hingewollt? All diese Fragen galt es zu beantworten, um ihre letzten Stunden rekonstruieren zu können.

Der Regen hatte etwas nachgelassen, doch noch immer war der Himmel von dichten Wolken bedeckt, die sich wie schmutzige Watte drohend über die Stadt gelegt hatten. Ulrike lenkte ihren Wagen über die Frankenstraße und nahm aus dem Augenwinkel die Oberpfalz-Brücke wahr, unter der sie am Morgen noch hindurchgelaufen war. Franka seufzte schwer. Durch den leichten Nebel konnten sie zu ihrer Linken die Villen und Wohnhäuser des Stadtbezirks Steinweg-Pfaffenstein erkennen, die sich an den Höhenzug oberhalb des Flusses klammerten. Nur wenige Minuten später hatten sie ihr Ziel erreicht.

Das Wohnhaus der Familie Dorsten am Pfaffensteiner Hang verbarg sich hinter Hecken und Mauern. Die weiß verputzte Außenfassade war von einem ebenfalls weißen Zwiebeltürmchen geschmückt, die Doppelfenster von grünen Laden gerahmt. Neben dem Eingangstor war eine Überwachungskamera montiert, ein paar Stufen führten von hier nach unten in den Innenhof und zur Eingangstür.

Ulrike parkte den Wagen vor dem Gebäude. Von hier aus war der Blick auf die Altstadt, den Dom und die Donau nur von der geschäftigen Autobahn getrübt, die in unmittelbarer Nähe über dem Fluss vorbeirauschte.

»Ich kann auch alleine rein«, sagte sie leise.

Franka schüttelte den Kopf und öffnete wortlos die Beifahrertür. Es gab wohl kaum etwas, das ihren Job so schwer machte wie dieser Moment, in dem man Eltern die schlimmste aller Nachrichten überbringen musste.

Ulrike schlug die Autotür zu, näherte sich dem Hauseingang und wollte gerade die Klingel neben dem Eingangstor betätigen, da hörte sie eine Stimme hinter sich.

»Hallo, Sie wollen zu uns?« In lässigem Laufschritt kam eine attraktive, schlanke Frau in den Fünfzigern auf sie zu. Sie trug Sportklamotten, eine eng anliegende Trainingshose, grüne Sportschuhe und ein schwarzes Thermooberteil. Hinter dem roten Stirnband waren die dunkelbraunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie lächelte freundlich und zog ihren Schlüssel hervor. »Sie sind …?«

Ulrike räusperte sich umständlich. »Kork, Ulrike. Das ist meine Kollegin Franka Brandl. Kripo Regensburg.«

Diese Auskunft schien die Frau kaum zu beunruhigen, sie lachte auf. »Ach, die Polizei! Sie wollen sicher zu meinem Mann, da haben Sie Glück. Er müsste noch zu Hause sein. Kommen Sie.« Leichtfüßig sprang sie die Stufen nach unten auf die Eingangstür zu und öffnete sie. In einer schnellen Bewegung ließ sie beim Eintreten die Sportschuhe in einer Ecke verschwinden, legte den Kopf in den Nacken und streckte die Arme hinter dem Rücken aus. »Roland, hier ist Besuch«, rief sie in die Wohnung.

Der offene Wohn-Ess-Bereich war modern und freundlich eingerichtet, eine große Blumenvase schmückte den Holztresen, die Wohnzimmerwände waren von Bücherregalen bedeckt, und die breite Fensterfront gab den Blick auf Regensburg und den Europakanal frei, der gerade von einem grauen Frachtschiff befahren wurde. Auf dem Küchentisch stand ein Obstkorb, Ulrike bemerkte die grün verfärbte Stelle einer Orange am Boden der Schale, der vergorene, leicht süßliche Geruch trat ihr in die Nase. Es fiel ihr schwer, den Blick von der verfaulten Frucht zu nehmen.

»Er kommt sicher gleich«, sagte die Frau dann und ging in die Küche, um sich ein Wasser einzuschenken. »Möchten Sie auch etwas? Kaffee, Tee?«

»Frau Dorsten«, begann Ulrike und löste den Blick von der Obstschale, »am besten, Sie holen Ihren Mann jetzt sofort.«

Kaum hatte Ulrike diese Worte ausgesprochen, kam Roland Dorsten die Treppe herunter. Er trug einen Anzug und eine rot gemusterte Krawatte. Sein blondgraues Haar war ordentlich zur Seite gekämmt, die dunklen Augen blitzten freundlich hinter einer dunklen Hornbrille. Ulrike war dem Strafverteidiger schon einige Male begegnet und hatte erst kürzlich mit ihm in der Untersuchung eines Drogendelikts zu tun gehabt.

»Ach, Frau Kork«, begrüßte er sie, als seien sie alte Bekannte. »Sagen Sie bloß, wir waren verabredet.« Auch er schien völlig unbedarft, wenig beeindruckt von der Anwesenheit der zwei Kriminalpolizistinnen.

Ulrike räusperte sich. »Nein, das ist es nicht. Es geht um Ihre Tochter. Es geht um Annabelle.«

Roland Dorsten zuckte zusammen und griff instinktiv nach der Hand seiner Frau, die neben ihm stand.

Ulrike atmete tief durch. »Es tut mir wahnsinnig leid. Annabelle ist tot, ihre Leiche wurde heute früh in der Universität aufgefunden. Und ich muss Ihnen außerdem sagen, dass wir nach dem derzeitigen Erkenntnisstand in einem Mordfall ermitteln werden.«

Der gellende Schrei, der Annabelles Mutter auf Ulrikes Nachricht entwichen war, hallte noch immer in ihr wider. Roland Dorsten hatte bloß die Augen geschlossen und seine Frau gestützt, die neben ihm in die Knie gegangen war. Es war, als würde man ein Foto betrachten. Die Eheleute im Wohnzimmer ihrer kleinen Villa stehend, an einem gewöhnlichen Donnerstag. Seine Tasche stand schon im Flur, in den nächsten Minuten hätte er sich auf den Weg in die Kanzlei gemacht. Es war, als würde ein Riss durch dieses Foto gehen, in ebenjenem Moment.

Ulrike stand am Fenster von Annabelles Zimmer. Von hier aus sah sie auf die Autobahnbrücke, auf den dichten Verkehr, der sich wie ein Strom über die Straße zog. Der Alltag ging dort draußen weiter, und hinter diesen Mauern endete er. Mittlerweile war auch die polizeiliche Seelsorge eingetroffen. Ulrike kannte den glatzköpfigen Mann und hatte stets sein ruhiges Gemüt und seine Beherrschung bewundert.

Die Eltern waren kaum vernehmungsfähig gewesen, hatten ausschließlich ausgesagt, ihre Tochter seit zwei Tagen nicht gesehen zu haben. »Sie ist ja alt genug«, hatte ihr Vater mit bebender Stimme hervorgebracht, als müsse er sich dafür rechtfertigen, den Aufenthaltsort seiner Tochter in den letzten zwei Tagen nicht gekannt zu haben. Ulrike und Franka hatten darum gebeten, sich in Annabelles Zimmer umsehen zu dürfen, vielleicht hatte sie ihr Notebook vergessen oder ihr Handy, vielleicht gab es irgendetwas, das in diesem frühen Stadium der Ermittlung einen Aufschluss darüber geben konnte, ob Annabelle bloß am falschen Ort zur falschen Zeit gewesen war oder ob mehr dahintersteckte.

Annabelle, die nie aus dem Elternhaus ausgezogen war, hatte wohl das schönste und größte Zimmer im Haus bewohnt. Der Ostblick auf die vor ihr liegende Stadt und den Fluss musste majestätisch sein, wenn morgens die Sonne aufging. Heute war alles grau und trüb, beinah schwarz-weiß. Das Zimmer war modern eingerichtet. Ein dunkles Holzbett stand in der Mitte, darüber hatte Annabelle Bilder in unterschiedlichen Größen und Rahmen gehängt, die minimalistische Aquarellzeichnung einer Frauensilhouette in der Mitte, daneben weitere Bilder und Zeichnungen, wie man sie im Onlinehandel bestellen konnte. Auf einem war ein Schriftzug verewigt. »Man muss das Leben tanzen«.

Ulrike schluckte. Auf dem Schreibtisch hing ein loses Kabel neben einigen schweren Büchern. Gegenüber vom Bett befand sich eine Kleiderstange, an der Annabelles Garderobe hing: elegant, aufgebügelt, kostspielig. Wieder kam Ulrike das hellbraune abgetragene Latzkleid von Bianca Trost in den Sinn. Fast ärgerte sie sich über ihre Oberflächlichkeit und wusste doch, dass sie diesen Gedanken nicht ganz abschütteln konnte, die Frage, was diese beiden ungleichen Frauen verband. Sie streifte sich Handschuhe über und nahm ein gerahmtes Foto in die Hand, das auf dem Schreibtisch stand. Annabelle, die sich lachend an die Schulter eines gut aussehenden jungen Manns schmiegte. Sie trug ein dunkelblaues gestricktes Stirnband über den seidigen blonden Haaren und roten Lippenstift, ihr Begleiter hatte braune Haare, die ordentlich nach hinten gekämmt waren, ein einnehmendes Lächeln auf dem Gesicht. Elias, dachte Ulrike und stellte das Foto wieder zurück.

»Hübsches Paar«, bemerkte Franka beiläufig, als auch sie das Bild bemerkte. Bis zu diesem Augenblick hatte sie nichts gesagt, seit sie das Haus der Familie betreten hatten.

Ulrike hatte gemerkt, wie nah die Situation ihr ging und wie sehr sie versuchte, sich dies nicht anmerken zu lassen. Ganz gleich, wie häufig man solche Nachrichten überbringen musste, einfacher würde es nie werden. Vielleicht wurde man nur besser darin, sich zu verstellen, Distanz zu wahren und alles sofort von sich wegzuschieben, sobald man den Raum verließ.

Franka bemühte sich, eben das zu tun, doch ihre Hände zitterten immer noch ein wenig, als sie den Inhalt von Annabelles Nachttischschublade vorsichtig in Augenschein nahm. »Und was denkst du? Hatte es jemand gerade auf sie abgesehen?«, fragte sie irgendwann.

»Schwer zu sagen. Wer weiß, was da abends für dubiose Gestalten unterwegs sind. Ein Überfall wäre möglich, wenn auch schwer erklärbar. An der Stelle gibt es so viele Türen und Gänge, also immer einen Weg, um schnell davonzukommen. Um diese Uhrzeit scheint ja ohnehin fast niemand unterwegs zu sein. Noch dazu die Art, wie sie getötet wurde. Jemanden zu erwürgen, bis zum Schluss, bis alles vorbei ist. Das dauert. Hat was Persönliches, dazu gehört schon ein Wille.«

Franka nickte nachdenklich. »Und ihr Vater? Was ist das für einer?«

Ulrike öffnete die oberste Schreibtischschublade. »Ich hatte ein paarmal mit ihm zu tun, jetzt zuletzt wegen dieses Kleindealers aus Nittenau, den er verteidigt hat. Er ist professionell, ein fähiger Anwalt, kein schlechter Kerl, glaub ich. Aber ich kenne ihn nicht gut genug, um wirklich etwas über ihn sagen zu können.«

Ulrike öffnete die zweite Schublade. Neben einigen Textmarkern und anderen Schreibutensilien entdeckte sie in der hintersten Ecke ein kleines silbernes Klapphandy. Sie zog es hervor und klappte es auf.

»Ach, so eins hatte ich auch mal«, sagte Franka, die sich neben sie gestellt hatte.

Ulrike drückte lange auf den roten Knopf, auf dem das Einschaltsymbol abgebildet war, und wartete. »Es funktioniert noch.« Das Display blinkte blau, das Emblem des Netzanbieters flackerte körnig auf. »Kein PIN«, bemerkte sie, als der Startbildschirm aufleuchtete.

»Vermutlich ohne SIM-Karte, könnte einfach ein altes Handy von ihr sein. Würde mich nicht wundern, wenn sie den Akku das letzte Mal 2007 aufgeladen hat und der immer noch hält«, gab Franka zurück und wandte sich wieder der Nachttischschublade zu.

Ulrike öffnete die Anruferliste, dann die zuletzt eingegangenen Textnachrichten. Augenblicklich zog sie die Augenbrauen nach oben.

»Kommt mir eher so vor, als wäre das Gerät noch in Gebrauch.«

Sie reichte Franka das Handy, die ebenso überrascht die Luft ausstieß, als sie die Nachrichten überflog.

4

Es war schon dunkel geworden, als Ulrike sich von der Kriminalpolizeiinspektion in der Bajuwarenstraße auf den Heimweg machte. Die vorbeirauschenden Lichter der entgegenkommenden Wagen und der Straßenlaternen am Wegrand bereiteten ihr Kopfschmerzen und machten es ihr schwer, sich auf einen klaren Gedanken zu konzentrieren. Immer wieder erschien vor ihrem inneren Auge das Foto, das sie an diesem Mittag auf dem Schreibtisch von Annabelle Dorsten entdeckt hatte. Mühelose, beinah makellose Schönheit, das unbeschwerte Lächeln, die wachen Augen. Ulrike versuchte sich vorzustellen, mit was für einem Menschen sie es zu tun hatte, welche Geheimnisse sich hinter der Oberfläche verbargen, welche mutmaßlichen Abgründe sie in Einklang mit ebenjener Oberfläche bringen mussten.

Annabelle, Jahrgang 1998, hatte seit vier Jahren Jura an der Universität Regensburg studiert. Sie war Einzelkind gewesen, hatte ein gutes Verhältnis zu den Eltern gehabt, in einer Beziehung gelebt, laut den Eltern einen guten Ruf gepflegt. Doch hinter dieser scheinbar perfekten Fassade verbarg sich offenbar ein Geheimnis.

Die Nummer ihrer Prepaidkarte in dem vorsintflutlichen Klapphandy schien nur einer einzigen Person bekannt gewesen zu sein. Der Absender der zahllosen Textnachrichten und eingegangenen Anrufe war nicht eingespeichert und der Anschlussinhaber in den Registern nicht auffindbar. Auch diese zweite Person verbarg sich hinter der Anonymität einer Prepaidkarte. Der Inhalt der Nachrichten allerdings war offenkundig. Annabelle hatte ein Verhältnis gehabt. Die Kommunikation hatte vor acht Monaten begonnen, mit einem simplen »Juhu«, mit dieser ersten von Hunderten Nachrichten.

Kann es kaum erwarten, dich zu sehen.

Ich denke schon den ganzen Tag an dich.