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Originelle Krimikomödie mit niederbayerischem Charme. Im beschaulichen Bad Gögging wird bei Bauarbeiten für ein Wellnesshotel die Moorleiche eines römischen Legionärs entdeckt. Der Bauleiter will den Fund geheim halten, doch der Hotelier plant, den Römer als Attraktion im Foyer auszustellen. Als kurz darauf ein Mord geschieht, macht sich der pensionierte Kommissar Hans Moser auf Spurensuche und kommt dabei immer wieder der Polizei in die Quere. Kann er den Täter entlarven, bevor es einen weiteren Toten gibt?
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Seitenzahl: 380
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Tessy Haslauer, in Niederbayern geboren und aufgewachsen, lebt und arbeitet als Projektbetreuerin in Neustadt an der Donau. Neben dem Schreiben, Lesen und der Naturfotografie wandert sie in ihrer Freizeit am liebsten gemeinsam mit Ehemann und Hund durch den Bayerischen Wald, dem sie seit ihrer Kindheit eng verbunden ist.
Peter Barth, Jahrgang 1955, ist in Bad Gögging aufgewachsen. Er war als LVS-Sachgebietsleiter im Flugzeugbau tätig und als Hobbymusiker im In- und Ausland unterwegs. Seit seinem Ruhestand vertreibt er sich die Zeit mit Musikspielen, Krippenbau, Holzschnitzen und Malen. Er ist verheiratet und wird von seinen Kindern und Enkeln zu vielen Krimi-Ideen inspiriert.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/Dmitry Naumov
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-139-3
Niederbayern Krimi
Originalausgabe
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Meinen ersten Krimi widme ich meiner Frau Erikaund meinen Kindern, die ich von Herzen liebe.
Peter Barth
Für Ha-Jü. Er weiß, warum.
Tessy Haslauer
Qui fodit foveam, incidet in eam.Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.
Die Bibel, Sprüche, Kap. 26, Vers 27
Im Herbst Anno Domini 85
»Die ad pugnam!« Die herrische Stimme des Centurios Gaius Stultus schallte über feuchte Wiesen hinweg, wurde allerdings von dicken Nebelschwaden gedämpft, die von den westlich gelegenen Donauauen heranwaberten.
Viele der fast hundert Mann starken Einheit hatten den Ruf ihres Chefs nicht mal ansatzweise gehört, und diejenigen, die ihn vernommen hatten, tippten sich an die behelmte Stirn.
»Ein Tag zum Kämpfen!«, kam ein leises Knurren aus den Reihen. »Der spinnt wohl! Sollen wir uns gegenseitig abstechen in dieser Nebelsuppe? Bisher ist uns noch kein einziger Germane über den Weg gelaufen! Außerdem wird es schon dunkel, da zieh ich mich lieber ins Lager zurück, solang ich noch etwas Orientierung habe!«
Zustimmendes Gemurmel aus der Nähe verstärkte den Entschluss des einfachen Soldaten, der in ausgelatschten Sandalen, Kettenhemd und einer Tunika, die ihm nicht mal bis zu den Kniekehlen reichte, vor Kälte schlotterte.
»Das Maul stopfen sollte man dem Deppen!«, erklang es beipflichtend neben ihm. »Scheucht uns durch die Gegend wegen nichts und wieder nichts. Hauen wir ab, solang der Stultus da vorne herumplärrt und nichts davon mitbekommt.«
Sogleich wurde dieser Vorschlag flüsternd weitergetragen, es erfolgte ein ziemlich ungeordneter Rückzug, die Legionäre stolperten mehr über den moorigen Untergrund, als dass sie aufrechten, stolzen Fußes dahingeschritten wären.
Ihr Lager, das die Vorhut auf ihrem Weg von Regensburg nach Günzburg bereits errichtet hatte, lag nicht weit entfernt. Die Aussicht auf ein wärmendes Feuer und Essen trieb die Mannen von dannen.
Ihr Anführer Gaius Stultus indes war keineswegs so siegessicher, wie sein lautes Gebrüll vermuten ließ. Ihm war bewusst, dass ihre römische Linie auf verlorenem Posten stand. Die Germanen erwiesen sich als zäher, als er erwartet hatte, auch wenn sie sich am heutigen Tag noch nicht hatten blicken lassen.
Trotzdem, er musste ein Vorbild sein, schmetterte weiterhin seine Kampftiraden und stapfte dabei durch die beginnende Dunkelheit vorwärts, ohne eigentlich zu wissen, in welche Richtung er gehen musste. Dieser verdammte Nebel, diese verhasste Donau! Alles hier in der römischen Provinz Raetia (darin war das heutzutage Niederbayern genannte Gebiet inbegriffen) war ihm zuwider, doch er durfte nicht aufgeben, er hatte einen Ruf zu verlieren. Der Kaiser verließ sich schließlich auf ihn! Eine Beförderung zum Decurio würde er jedenfalls nicht abschlagen, dann hätte er zumindest ein Pferd unter dem Hintern, das sich in diesem Moment sicher besser zurechtfinden würde als er.
Erneut blieb er im Morast stecken. Beim Versuch, den rechten Fuß freizubekommen, verlor er das Gleichgewicht und fiel kopfüber in eine tiefe Sumpfgrube. Lauthals schrie er um Hilfe, gleich darauf vernahm er näher kommende Stimmen.
»Hierher, so helft mir doch endlich!«, röchelte er, wobei er durch sein Herumstrampeln noch tiefer versank.
Im Nebel zeichneten sich dunkle Schatten ab. »Abisus abisum invocat«, sagte der eine, ein zweiter Mann lachte. »Genau! Ein Abgrund ruft nach dem anderen, und unser guter Gaius hat ihn anscheinend gefunden!«
»Was? Was?«, gurgelte Gaius, den Kopf, vom verzierten Bronzehelm beschwert, schon beinahe unter Wasser. Mehrere Hände bemächtigten sich seiner, doch er wurde nicht nach oben gezogen, wie er gehofft hatte. Im Gegenteil, das stinkende, modrige Wasser blubberte gleich darauf in seiner Nase und in seinen Ohren, schlug über seinem Helm zusammen. Er öffnete den Mund zu einem Schrei, der zugleich im Morast und ihm im Hals stecken blieb. Ein wenig Zappeln, ein wenig Um-sich-Schlagen, dann war er still.
»Wie heißt das so schön? Alea iacta est! Ja, mein Freund, die Würfel sind wohl auch für dich gefallen!« Lautes Lachen entfernte sich, doch davon bekam Gaius nichts mehr mit. Aus war’s mit ihm, der gestrenge römische Feldherr hatte seinen letzten Schnaufer getan. Er blieb, wo er war, keiner suchte nach ihm, niemand fand ihn und nahm seine Leiche mit nach Rom, um ihn in allen Ehren bestatten zu können. Versunken und vergessen lag Gaius Stultus für lange Zeit, so um die zweitausend Jahre, in einem moorigen, anonymen Grab …
Dienstag, 30. Mai 2023
Die große, von den gröbsten Unebenheiten befreite Fläche war mit Nivelliergeräten vermaßt und akribisch ausgesteckt worden. Die Vermessungsleute waren endlich fertig und hatten das Baugebiet der Firma WGM überlassen, sprich der Hoch- und Tiefbau Walter Geldmacher GmbH, sesshaft in Minzing.
Walter war dieses Logo mit den drei großen Buchstaben, in auffallend grellen Lettern auf einem Schild präsentiert, eines Nachts im Traum erschienen. Seine Initialen plus Wohnort, das würde doch unbedingt modern und nach etwas Größerem klingen, als seine Baufirma tatsächlich hermachte. Immerhin, »Geschäftsführer und Bauleiter Walter Geldmacher« klang in seinen Ohren damals ganz prima.
Und ebenjener Bauunternehmer sah sich jetzt zufrieden um. Ein Bagger und ein Kieskutscher, also ein Lkw mit Muldenauflieger, standen noch da, doch auch diese Leute würden bald Feierabend machen wollen. Walter hatte nichts dagegen, der Tag war lang und hektisch gewesen, und ab morgen würde es noch stressiger werden. Alle Unterlagen zur Freigabe des Neubaus eines zweiten Wellnesshotels, das die Besitztümer von Hotelier Konrad Blattl immens vergrößern würde, lagen säuberlich geordnet in seinem Containerbüro, dem Aushub der Baugrube stand endlich nichts mehr im Wege.
Er hob die Hand und winkte dem Baggerfahrer zu. Es war Manfred Schuster, ein langjähriger Freund und Wegbegleiter. »He, Mani, Schluss für heut!«
Der Arbeiter lehnte sich aus dem Fenster des Fahrzeugs. »Ist doch no hell, Walter! Lass mich wenigstens anfangen und die ersten Reihen Humus abtragen, dann können die andern morgen früh glei weitermachen!«
Der Fahrer des Muldenkippers zog rückwärts eine Kurve und parkte passend zur erwarteten Schneise des Baggers. Walter fand es durchaus erfreulich, so motivierte Mitarbeiter zu haben. Mit schnellen Schritten stapfte er hinüber zu seinem Freund Mani.
»Von mir aus, dann mach noch ein paar Reihen, bis der Laster voll ist und Sepp zum Lager fahren kann. Aber dann machst Schluss! Mit den Nachbarn haben wir eh Probleme genug, die wollen uns am liebsten hier gar ned sehen. Das sind halt die Nachteile bei einem so heiklen Projekt, ohne Lärm und Dreck geht’s ned.«
Walter wies mit einer ausholenden Handbewegung auf die Wohnhäuser neben dem Baugebiet. »Und die Einwände, dass der Neubau den Anwohnern viel Sonne nehmen und mehr Verkehr bringen wird, haben uns für die Genehmigung lang genug aufgehalten. Jetzt dürfen wir endlich loslegen, aber wir sollten trotzdem versuchen, so rücksichtsvoll wie möglich zu sein. Zumindest in der Nacht muss Ruh sein, kapiert?«
»Kein Problem, Chef, bevor’s zu dunkel wird, hören wir eh auf.«
Walter Geldmacher nickte zustimmend, drehte sich um und ging zurück zu seinem Bürocontainer. Schnaufend öffnete er die Tür, die ein wenig klemmte, mit einem heftigen Ruck. Mal wieder eine Diät würde ihm nicht schaden, dachte er dabei, zwar waren hundertdreißig Kilo auf eine Größe von hundertfünfundneunzig Zentimetern verteilt, was seiner Fitness trotzdem, oder gerade deshalb, nicht förderlich war.
Am Schreibtisch sitzend grübelte er vor sich hin. Die Abendsonne blinzelte durch das kleine Fenster herein, warf rötliche Schatten über die Bauzeichnungen, die an den Innenwänden des Blechcontainers mit Klebestreifen befestigt waren.
Wenn das Wetter so schön bliebe, würden sie mit dem Erdaushub besser vorankommen als gedacht. Er überlegte, welche Schwierigkeiten bei dieser Baustelle wohl auf ihn zukommen könnten. Dass es nicht ohne ablaufen würde, war klar, das war er ja von früheren Arbeiten gewohnt. Seine langjährige Erfahrung hatte ihn aber meistens für alle Probleme eine Lösung finden lassen, auch wenn diese vielleicht nicht immer als ganz astrein anzuschauen waren.
Von draußen hörte er das Brummen des Baggers, der von Mani Schuster gekonnt bedient wurde. An den Geräuschen konnte Walter unterscheiden, ob eine volle Schaufel Erde im Laster landete oder ob gerade die Zähne der Baggerschaufel den Boden mit brachialer Gewalt aufrissen. Fleißig waren sie, seine Mitarbeiter, kein Zweifel.
Zufrieden schwang er den Drehstuhl herum und nahm einen dicken Aktenordner aus dem Regal hinter ihm, schlug ihn auf und vertiefte sich einmal mehr in die Vorgaben dieses Großprojektes.
»Neubau eines Hotelgebäudes mit dreißig Schlaf- und Badezimmern sowie Spa-Bereich«, war die Überschrift.
Der Bauherr Konrad Blattl besaß bereits ein sehr florierendes Hotel in der Nähe, keinen Kilometer Luftlinie von der neuen Baugrube entfernt. Doch der Platz dort reichte für den Zulauf anscheinend nicht mehr aus, die plötzlich frei gewordene und zum Verkauf stehende Fläche hatte sich daher angeboten, das bestehende Hotel zu erweitern.
Ein dicker Auftrag war Walter Geldmacher damit ins Netz gegangen, das konnte er nicht leugnen. Geld verdienen war seine Devise, egal, wie und zu welchem Preis.
Zu seinem Glück waren irgendwann die Römer in dieser Gegend gewesen. Sie hatten hier ihren Grenzwall Limes aufgebaut, dabei Zeltstädte und Lager errichtet und sich das vorgefundene Thermalwasser zur Reinigung und Entspannung zunutze gemacht. Davon zeugte das Museum mit den römischen Badeanlagen unter der alten Kirche.
Genau diese Thermalquellen, zum Teil mit natürlichem Schwefel angereichert, sicherten bis heute dem aufstrebenden Kurort Bad Gögging seine Einnahmen. Einige findige Leute hatten früh das Potenzial erkannt, bauten in den zwanziger Jahren Kurhäuser. In den Fünfzigern und später kamen, dem Stil bekannter Orte wie Baden-Baden nacheifernd, Kurhotels und Rehakliniken hinzu. Danach boomte das neue Schlagwort »Wellness«, die Nachfrage nach dauerhaften Wohnungen, vor allem für die Arbeitskräfte, ebenso. Die Bauanträge wurden immer mehr, und Walter hängte sich mit seiner Firma voll in die Eisen, kalkulierte knapp, biederte sich an. Ein Bauprojekt nach dem anderen, besser konnte es nicht laufen. Einige konnte er ergattern, andere leider nicht. Aber nun diese Hotelvergrößerung war ein weiterer Schritt, dem hoffentlich noch viele folgen würden.
Baggerfahrer Mani Schuster hatte schon ein breites Stück des markierten Areals abgegraben und kam bei dieser monotonen Arbeit ins Träumen. Das Baugelände ist wirklich ein schönes Fleckerl Erde, dachte er sich, direkt neben einem kleinen Wäldchen mit hohen Föhren und Eichen, die von vielen Vogelstimmen erfüllt sind und bei Wind säuseln und rauschen, als würden sie sich unterhalten. Hier könnt ich mir mit meiner Hilde einen ausgedehnten Wellnessurlaub auch gut vorstellen, allerdings, bei meinem mickrigen Lohn als Baggerfahrer wird das wohl ein Traum bleiben. Einen Lottogewinn würd’s brauchen, ach, was soll’s, sinnierte er weiter, eigentlich war und bin ich mit meinem Leben zufrieden.
Konzentriert nahm er seine Arbeit wieder auf. Schaufel um Schaufel landete der abgetragene Humus im Kipper, der bald darauf voll war und von Sepp, dem Fahrer, nun zum Lagerplatz außerhalb des Ortes gebracht wurde. Sepp winkte Mani noch kurz zum Abschied zu und machte sich auf den Weg. Morgen konnten sie dann an den steinigeren Untergrund gehen, nur noch ein paar Meter Humus hatte Mani vor sich, die er zu einem Haufen auf der Seite zu schieben gedachte, dann musste er aufhören, das hatte er seinem Chef Walter ja versprochen.
Im Containerbüro musste Walter Geldmacher inzwischen eine kleine Schreibtischlampe anknipsen, um die Akten besser lesen zu können. Er war müde, wollte aber unbedingt abwarten, ob seine Leute wirklich pünktlich Schluss machten, daher zapfte er sich an der Kaffeemaschine eine Tasse Espresso, drei Löffel Zucker, ansonsten schwarz wie die Nacht, so mochte er ihn am liebsten.
Plötzlich hämmerte es mit Wucht an die Tür des Containers.
Jäh aus seinen Gedanken gerissen, entkam ihm erschrocken nur ein kurzes: »Herein, verdammt!«
Mani riss die Tür auf, aufgeregt und völlig außer Atem von dem Spurt, den er quer über die Baustelle hingelegt hatte, japste er: »Chef, Chef, du musst sofort mitkommen! Du glaubst ned, was ich grad ausgebuddelt hab! Des musst dir anschaun! Da drüben beim Waldrand, wo mein Bagger steht!«
So aufgelöst kannte Walter seinen Freund gar nicht, irgendwas musste passiert sein, und ohne lang nachzufragen, folgte der groß gewachsene stämmige Bauunternehmer dem um einiges kleineren, dafür jedoch um vieles flinkeren Baggerfahrer.
Im Laufen berichtete dieser hektisch: »Ich dacht ja zuerst, da läge ein Blechdeckel von einer Konservendose, als ich eine der letzten Schaufeln Humus ausg’hoben hab, aber beim zweiten Hub kam dann etwas Rundes in der Form von einem verbeulten Eimer zum Vorschein. Irgendwie kam mir des spanisch vor, deswegen hab ich vorsichtshalber abg’stellt, mir a Sandschaufel g’schnappt und bin zu dem Loch, um mir des näher anzuschauen.«
Zwischenzeitlich an der gut einen halben Meter tiefen Grube angekommen, beugten sich beide gleichzeitig nach vorn. Mit zitternden Fingern deutete Mani nach unten, wo die achtlos zur Seite geworfene Schaufel neben einem länglichen, unförmigen dunklen Etwas lag. Klar zu erkennen war jedoch ein Helm, der im letzten Abendlicht stellenweise matt schimmerte. Ein römischer Helm, eindeutig.
Mani stöhnte: »Mein Gott, Walter, da unten liegt a Leich! A tote Leich! Ich hab mich so erschrocken, dass ich mir fast in die Hosen gepieselt hätt! Was mach ma denn jetzt bloß?«
Walter Geldmacher hatte schon vieles gesehen auf den Baustellen, aber beim Anblick dieses schaurigen Dings überkam ihn Panik. Es hätte schon gereicht, einen römischen Helm auszugraben, musste da jetzt auch noch der dazugehörige Mensch dranhängen?
Kurz entschlossen richtete er sich auf. »Mani, hol mir ein paar Handschuhe und eine Taschenlampe, das will ich mir genauer anschauen!«
Während der andere zurück zum Baucontainer hastete, ließ sich Walter hinunter in die Grube gleiten, sorgfältig darauf bedacht, ganz am Rand zu bleiben. Dem alten Römer aus Versehen auf ein Körperteil zu treten hätte ihm gerade noch gefehlt.
Gleich darauf reichte ihm Mani die Lampe und die Handschuhe nach. »Da. Und, was siehst jetzt?«
Der Lichtkegel machte das ganze Dilemma deutlich sichtbar. Vorsichtig ging Walter in die Hocke und begann, mit den behandschuhten Händen die verbliebene, zum Teil ziemlich harte Erde abzukratzen. Langsam bekam der Tote Form, ein stumpf glänzender Brustpanzer kam zum Vorschein, dann dünne Arme, an denen noch zerfledderte Lederreste hingen, zum Schluss die angezogenen Beine, die in ebenfalls metallisch blinkenden, kurzen Schienbeinschonern steckten. Dunkel und leicht verschrumpelt war die Haut, aber eindeutig gut erhalten für jemand, der seit zwei Jahrtausenden hier gelegen haben musste.
»Ja verreck, des is ja a Moorleich!« Mani staunte nicht schlecht.
Stumm nickte Walter und grub behutsam weiter. Als er den runzligen Körper so weit frei hatte, drehte er, zwar mit Grausen, aber es musste sein, den Toten vorsichtig um.
Der Baggerfahrer hatte anscheinend den ersten Schock überwunden, interessiert beugte er sich näher. »Greißlich, gell? Irgendwie erinnert mich der an den Ötzi, weißt scho, die Gletschermumie. Die wachslederne, faltige Haut, die leeren Augenhöhlen, als ob der uns eiskalt anschaut! Hat fast Ähnlichkeit mit meiner Schwiegermutter, wenn sie grantig ist. Das Kinn und die Hakennase san geradezu identisch, vielleicht ist es sogar ein Vorfahre von ihr.«
Ärgerlich sah Walter zu ihm auf und wischte sich mit dem Unterarm über die tropfnasse Stirn. »Hör mir bloß mit dem Schmarrn auf, Mani!«, fuhr er seinen Freund leise an. »Du weißt schon, dass wir jetzt ein riesiges Problem ham, oder? Wenn bekannt wird, dass der da rumliegt, dann stellen sie uns die Baustelle ein! Bis die Archäologen alles ausgebuddelt ham, was sie finden wollen, wird’s Weihnachten, und unser Zeitplan wäre völlig im Arsch!«
Es trieb ihm eiskalte Schauer über den Körper, wenn er an die Konsequenzen dachte. Er hatte schließlich mit dem Hotelier und Bauherrn Konrad Blattl einen Vertrag, den es zu erfüllen galt. Außerdem konnte er keinesfalls so lange auf den kalkulierten und bereits verplanten Verdienst warten.
»Ja, hast scho recht«, gab Mani nach, gleich darauf aber seinen Senf dazu: »Aber du, der da ist doch einen Haufen Geld wert, oder? Der Helm, die Rüstung, und schau, dahinten sieht man sogar no das Schwert rausschauen, des ist doch alles wertvoll, meinst ned? Von dem Schwiegermutter-Verschnitt gar ned zu reden, mit dem könnten wir uns doch dumm und dämlich verdienen!«
»Wir bestimmt nicht, Mani, der Grund gehört doch dem Blattl, dann wird der depperte Römer auch dem Blattl gehören.«
»Dann frag doch den, was ma damit machen sollen«, schlug der Baggerfahrer angesäuert vor.
Der Bauunternehmer ließ sich von Mani aus der Grube helfen und zog die Handschuhe aus. »Ja, das werde ich wohl müssen. Du besorgst uns in der Zwischenzeit ein paar Planen oder Plastiksäcke, der Römer muss auf jeden Fall da weg, bevor ihn irgendjemand anderes findet. Ich ruf den Blattl an.«
Mit dem Smartphone in der Hand trat Walter einige Schritte zur Seite und tippte auf die Nummer in der Kontaktliste.
Murrend machte sich Mani ein weiteres Mal auf den Rückweg, diesmal zum Container, der als Materiallager diente.
Mir bleibt wirklich nix erspart! Ich Depp, warum bloß musst ich noch als Einziger weiterarbeiten! Aber hilft ja jetzt alles nix, das Kind ist bereits in den Brunnen g’fallen beziehungsweis der Römer ins Loch.
Trotz allem musste Mani grinsen. Ein Abenteuer war das Ganze ja schon, und er war gespannt, wie sich sein Chef diesmal wieder aus dem Schlamassel herauswinden würde …
***
Der Auftraggeber und Bauherr Konrad Blattl saß mit seiner Ehefrau beim Abendessen, als sein Smartphone vibrierte und das Display Walters Anruf verkündete. Entschuldigend warf er Hedwig einen Blick zu, ignorierte ihre steile Stirnfalte und wischte mit der Serviette über den Mund, bevor er aufstand und an sein Handy ging. »Walter? Wir sind grad beim Essen! Was ist denn?«
»Ja, entschuldige schon, aber es ist ein Problem auf der Baustelle aufgetaucht, im wahrsten Sinne des Wortes. Du musst unbedingt rüberkommen, sofort bitte!«
»Was ist denn so dringend, dass es ned bis morgen früh warten kann?«
»Das will ich dir am Telefon nicht sagen, Konrad. Aber vor allem muss ich dir was zeigen, Herrschaft, es ist wirklich wichtig!«
»Darf ich wenigstens noch zu Ende essen?«
»Nix da, hock dich in dein Auto und komm, es pressiert!«
Als Konrad Blattl mit seinem schweren Geländewagen bei der Baustelle eintraf, erwartete ihn Walter Geldmacher schon an der Einfahrt und lotste ihn seitwärts an den Bürocontainer. Der gut sechzigjährige Hotelier kletterte etwas umständlich aus dem großen Auto. »Servus, Walter. Um Gottes willen, was ist denn passiert?«
»Komm erst mal rein«, entgegnete Walter Geldmacher sichtlich aufgeregt, bot ihm einen Stuhl an und hockte sich ihm gegenüber am Schreibtisch nieder. »Ich bin fix und fertig, Konrad. Stell dir vor, einer meiner Arbeiter hat beim Abgraben vom Humus hinten am Waldrand eine Leiche g’funden. Genauer g’sagt eine Moorleiche, dem Ausschauen nach. Da war doch ganz früher, bevor der Grundwasserpegel wegen der Thermalbrunnen abgesenkt wurde, dieses Moorgebiet, das sogenannte Heiligenstädter Moos, stimmt’s?«
Blattl nickte, kam aber nicht zu Wort, denn Walter setzte stotternd hinzu: »Was wir g’funden haben, ist, also, es ist … keine normale Leich, sondern eine … äh, eine mit Helm, Schwert und, und … was halt sonst noch alles zu einem alten Römer dazug’hört.«
»Was sagst? Ihr habt einen Römer ausgebaggert?« Der Hotelbesitzer war bei Walters Eröffnung zuerst blass geworden, nun zeigten sich schnell hektische rote Flecken in seinem Gesicht. »Ja, gibt’s des, ha? Ich glaub’s wirklich ned, du verarschst mich doch!«
»Ich wollt, das wäre so, Konrad. Aber es stimmt schon. Und die Frage ist jetzt, was wir mit dem Kerl machen? Wenn wir die Polizei oder das Landratsamt verständigen, dann ist’s aus mit unseren Plänen!«
Die Tür ging auf, und Baggerfahrer Mani Schuster kam abgekämpft herein. »Habe die Ehre, Herr Blattl! Jetzt ham wir den Dreck im Schachterl, oder was sagen Sie dazu? Bis jetzt ist’s ja nur eine Leich, und hoffentlich bleibt’s auch so, ned dass von dem noch die ganze Verwandtschaft auftaucht. Noch mehr Aufregung könnt i nimmer verkraften!«
Konrad Blattl schüttelte ungläubig den Kopf. »Ja, da legst dich nieder. Ein echter Römer. Es ist doch ein echter, oder, Walter? Ned dass der Tote bloß vom letzten Römerfest übrig geblieben ist und nur so angezogen war!«
Mani klopfte ihm respektlos von hinten beruhigend auf die Schulter. »Keine Sorge, Herr Blattl, der is garantiert echt. So gut erhalten kann man nur sein, wenn man mindestens zweitausend Jahr in a Moorpackung eing’legt war.«
An Walter gewandt sagte er: »Ich hab ihn und seine Kriegsausrüstung in zwei Plastiksäcke verstaut und derweil unter einer Plane in der oberen Baubude versteckt.«
Nach Luft ringend stand Blattl auf. »Das kann doch ned wahr sein! Ich will den Römer sehen, den muss ich mir unbedingt mit eigenen Augen anschauen!«
»Okay, dann bitte mitkommen.« Mani sprang aus dem Bürocontainer und hielt zuvorkommend Konrad Blattl und Walter die Tür auf. »In der Baubude haben wir wenigstens Licht, und von außen sehen kann uns dadrin auch niemand.«
Gleich darauf stiegen die drei in besagten Bauwagen, der eigentlich den Arbeitern als Pausenraum diente. Mani knipste die Beleuchtung an, während Konrad Blattl und Walter Geldmacher sich suchend umsahen, doch von einer Moorleiche oder deren Verpackung war nichts zu sehen.
Rechts der Tür stand neben einem hüfthohen Kühlschrank ein Schränkchen, mit Gaskochplatte und einer Mikrowelle darauf, ein kleines Spülbecken mit Wasserhahn schloss sich ums Eck herum an. In der Mitte des Raumes lud eine einfache Bierbank zum Sitzen ein, quer dahinter versperrte eine meterhohe Spanplattenwand den Einblick zum hinteren Ende. Üblicherweise verstauten die Arbeiter dort ihre privaten Dinge, dementsprechend stapelten sich viele Beutel, Kleidungsstücke und Schuhe hinter der Absperrung. Von ganz unten, nachdem Mani die Spanplatte beiseitegehoben und ein wenig gekramt hatte, kamen die hellblauen Abfalltüten unter einer schwarzen Folie, die er zur Seite schob, zum Vorschein. Ein Ruck, und er hatte die beiden Säcke neben der Bierbank ins Licht gezogen.
Andächtig schweigend standen die drei darum herum. Schließlich stieß Walter seinen Freund mit dem Ellbogen an. »Mani, pack endlich aus, der Konrad will schließlich was sehen!«
Gesagt, getan, gleich darauf zeigten sich der verschrumpelte Römer mit Brustpanzer und Beinschutz von der einen, seine Kampfutensilien Helm und Schwert aus der anderen Tüte befreit in voller Pracht.
»Ein echter Römer, ich glaub’s ned.« Ehrfürchtig beugte sich Blattl über den Toten, zauderte und zog die Hand zurück, mit der er ihn eigentlich hatte berühren wollen.
Plötzlich kam von ihm ein verträumter Seufzer. »Caligula …«
»Hä?«, wandte sich Walter verständnislos an den Bauherrn.
Blattl blinzelte. »Caligula, ein römischer Feldherr und späterer Kaiser! Mei, ein bisserl mehr Bildung hätt ich von dir schon erwartet, Walter.«
»Woher willst jetzt du wissen, dass das ausgerechnet der … na, der Caligula ist?«, wandte der Bauunternehmer scharf ein.
Blattl zuckte die Schultern. »Ist doch völlig wurscht, ob er das wirklich ist oder nicht. Sollte mir doch irgendjemand das Gegenteil beweisen! Jedenfalls wird er sich, hinter Glas freilich, im Foyer vom neuen Hotelbau gut ausmachen, so mit voller Montur und Schwert und allem. Stellts euch vor, eine berühmte Moorleiche, noch dazu ein Römer, und grade bei uns in Bad Gögging!«
Vor Aufregung musste der nicht gerade schlanke Blattl laut schnaufen und knöpfte sogar seinen Hemdkragen auf, ehe er hinzufügte: »Das hebt doch unser Prädikat UNESCO-Welterbe DONAULIMES noch mehr hervor! Ich seh schon die ganzen Schlagzeilen vor mir, das Fernsehen wird kommen, mit Kameras und Reportern, und ich werde haufenweise Interviews geben müssen. Was für eine unbezahlbare Werbung für mein neues Hotel! Und für unseren Kurort allgemein freilich auch!«
Die linke Hand auf die Brust gelegt, blickte er dabei mit einem verklärten Blick wie Erzengel Gabriel persönlich nach oben. »Herrlich wird das, ganz einfach gigantisch! Alle anderen Hotels werden weinen vor Neid, das sag ich euch!«
Walter musste trocken schlucken. »Dann kannst genauso gut gleich eine Pressemeldung rausgeben, dass wir den Römer gefunden haben. Konrad, spinnst du jetzt komplett? Was meinst du, was dann los ist? Wahrscheinlich hätten wir den Fund gesetzlich an Ort und Stelle lassen und das Landratsamt verständigen müssen, aber so … das kannst du echt nicht bringen, Konrad!«
»Muss ja keiner wissen, dass wir den Calli jetzt schon haben.« Blattls Stimme klang beinahe zärtlich, als er dem alten Römer bereits einen Spitznamen verpasste.
Walter stöhnte innerlich.
»Du baust einfach weiter«, fuhr der Hotelier ungerührt fort, »und irgendwann lassen wir den Caligula dann auftauchen, durch Zufall frisch ausgegraben, das wird die Sensation! Und bis dahin müssts ihr«, fast drohend schaute er zwischen Walter und Mani hin und her, »ihn einfach verschwinden lassen. Irgendwo, wo bestimmt keiner hinkommt, gut verstecken.«
»Du redest dich leicht, Konrad!« Walter raufte sich die blonden Haare. »Wie sollen wir das denn anstellen?«
Blattl wischte sich mit einem Ärmel seiner Trachtenweste den Schweiß von der Stirn, denn im Bauwagen war es außerordentlich warm. »Ihr machts das schon. Hierbleiben kann er jedenfalls ned, viel zu heiß hier drin, der verkommt uns sonst! Und dass den Calli jemand anderes findet, können wir auch ned riskieren.«
Mit einem letzten Blick auf die verkrümmte, halb unter dem metallenen Brustpanzer verborgene Moorleiche, einem allerletzten auf den matt schimmernden Helm und das Schwert, drehte er sich um.
»Ich will, dass der im neuen Hotel ausgestellt wird, und zwar genau so, wie er jetzt da vor uns liegt!«
Mit dem Zeigefinger stieß er Walter heftig vor die Brust. »Du hast den ausgegraben und damit gegen das Gesetz verstoßen! Dann sorg auch dafür, dass wir was davon haben! Euer Schaden soll’s ned sein«, er rieb Daumen und Zeigefinger bedeutungsvoll aneinander, »also, überlegt euch was! Ich verlass mich auf dich, Walter!«
Mit diesen nachdrücklichen Worten machte er die Tür auf, stieg die kleine Treppe hinab und eilte zurück zum Geländewagen.
Kopfschüttelnd blieben Walter und Mani zurück.
»Der spinnt doch komplett!«, wiederholte Walter und kratzte sich am Kopf. »Ich weiß ned, Mani, wohl ist mir bei der Sache gar ned! Wenn was rauskommt, wandern wir alle vielleicht in den Knast!« Zweifelnd schaute der Geschäftsführer von WGM zu Mani hinüber, der nachdenklich nickte.
»Ja, wenn … Ich denk, wir sollten es trotzdem probieren, Chef. Wer zahlt, schafft an, oder? Denk doch mal an die Kohle nebenbei, das Geld könnt ich schon gut gebrauchen.«
Ein beinahe gieriges Flackern schlich sich in Manis Augen. Der ersehnte Lottogewinn, da wäre er, zwar in anderer Form, aber immerhin! Und von Walter wollte er sich diese Gelegenheit bestimmt nicht kaputtmachen lassen!
Schweigend wartete Mani auf eine Antwort seines Chefs.
Nach einer Weile stimmte Walter widerwillig zu. »Okay, von mir aus.« Er sah auf seinen Spezl hinunter. »Jetzt brauchen wir also einen Plan.«
Aufgedreht schlug Mani vor: »Wie wäre es, wenn ich die Säcke mit dem Gulla – nein, wie hod der Blattl g’sagt? – die Säcke mit dem Caligula in Eining im Römerkastell deponiere? Ich kenn das Gelände von den Römerfesten ziemlich genau, hab dort sogar beim Auf- und Abbau manchmal ausg’holfen. Und superguad trifft’s z’samm, dass es heuer keines gibt, weil es nur alle zwei Jahr stattfindet! Du, Walter, dort gibt’s eine Zisterne mit Deckel, da wäre der alte Römer fürs Erste gut aufgehoben. Führungen im Kastell sind wegen Krankheit eh grad keine, hab ich in der Zeitung g’lesen. Was meinst du?«
»Wann willst du denn Caligulas«, er ahmte Manis eifrige Stimme übertrieben nach, »nein, wie hod der Blattl g’sagt? Wann willst den Umzug vom Calli denn machen?«
Mani grinste. »Ist mir doch völlig wurscht, wie der hoaßt. Caligula oder Calli, ist doch g’hupft wie g’hechtelt. Aber auf jeden Fall heut Nacht noch, und du brauchst mir gar ned dagegenreden, Walter. Du bist zwar mein Chef, aber bei der Sache, da hob ich genauso viel mitzuschnobeln wie du. Wir machen des, was der Blattl uns ang’schafft hod, einverstanden?«
Und nach kurzem Zögern gab Walter sein Einverständnis, nicht ahnend, was damit alles auf ihn zukam …
***
Zuerst fühlte sich Hotelier Konrad Blattl noch euphorisch, als er von der Baustelle zurück nach Hause fuhr. Im Geiste sah er bereits die Ausstellungsvitrine im Foyer des neuen Hotels vor sich, mit rotem Samt ausgelegt, darauf der Caligula in voller Kampfmontur, die nach einer gründlichen Reinigung bestimmt glänzen würde wie die goldene Dachkugel des Hundertwasser-Turms von Abensberg. Freilich, eine Entlüftung und Kühlung müsste auch eingebaut werden, und es müsste Glas mit UV-Schutz sein, das war klar. Oder müsste etwa die Vitrine komplett luftdicht sein? Nun, der anfallende Bedarf für Callis Wohlbefinden würde sich zu gegebener Zeit klären lassen.
Doch je länger er darüber nachdachte, umso unsicherer wurde er. War der Römer denn tatsächlich sein Eigentum, bloß weil er auf seinem Grundstück gefunden worden war? Von der rechtlichen Seite dieser Geschichte hatte Konrad keinen blassen Schimmer.
Normalerweise hätte er sich mit solchen Problemen an seinen Sohn Klaus gewandt, der war so gescheit, und was Klaus nicht wusste, recherchierte er einfach im Internet, oder er kannte jemand, bei dem er sich erkundigen konnte. Doch in diesem Fall würde sich Konrad lieber die Zunge abbeißen, als Klaus um Rat zu fragen.
Noch zu präsent war der Streit, der zwischen ihnen beiden wegen des Neubaus entbrannt war. Klaus hätte nämlich andere Pläne mit dem Grundstück gehabt. Er hätte anstelle des Hotels viel lieber einen großen Supermarkt ins Auge gefasst. So etwas fehlte ehrlicherweise tatsächlich in Bad Gögging, damit hatte sein Sohn nicht ganz unrecht. Doch aus sicherer Quelle wusste Konrad, dass bereits anderweitige Planungen dafür liefen, auf dem Gelände eines der anderen großen Hotels, und deshalb wollte sich Konrad diesbezüglich keinen Konkurrenten zulegen. Bekanntlich hackte eine Krähe der anderen kein Auge aus, auch andere Hoteliers sollten schließlich von etwas leben können.
Klaus hatte diese Meinung nicht geteilt, er stand eher für das Motto »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«. Wären die Blattls mit dem Verbrauchermarkt früher dran gewesen, hätte der andere Unternehmer eben das Nachsehen gehabt.
Und so kam, was kommen musste, wenn zwei Dickschädel aufeinanderprallten: ein handfester Streit, bei dem die Fetzen richtig geflogen waren. Zuletzt hatten Vater und Sohn sich dermaßen angebrüllt, dass man es bis vor die Bürotür gehört hatte. Einige Mitarbeiter in der Nähe konnten wegen der Lautstärke natürlich jedes Wort mitbekommen.
»Kommst mir jetzt schon wieder mit dem Supermarkt? Ja, bist du denn ganz deppert!« Dass der Seniorchef so laut wurde, war ziemlich ungewöhnlich. Deshalb hatten die Angestellten, die zufällig Zeugen des Streits wurden, ihre Lauscher besonders hoch aufgestellt. »Zum allerletzten Mal und jetzt ganz deutlich, damit sogar du es kapierst: Das kommt überhaupt nicht in Frage! Du weißt genau, deine Mutter und ich haben fertige Pläne für dieses Grundstück! Es wird die Erweiterung unseres Hotels, ein noch exklusiveres Angebot für Wellness und Spa, und sonst nix anderes! Basta!«
»Zum Teufel noch mal! Jedes Argument, und sei es noch so gut, wird sofort von dir im Keim erstickt, wenn es dir nicht in den Kram passt! Egal, was ich dir vorschlage, du akzeptierst nicht ein einziges Mal meine Meinung! Nur das, was du sagst, ist immer richtig!«, hatte Klaus zurückgeschrien.
Konrad hatte die Arme verschränkt, sein Blick unter buschigen Augenbrauen wirkte beinahe angsteinflößend.
Mit erzwungener Ruhe sagte er: »Merk dir eins, mein Junge, das alles hier hab ich aufgebaut, und das Geld kommt auch von mir. Wenn ich mal nimmer bin und du selbst was erreicht hast, kannst du tun und lassen, was du willst. Aber bis dahin … Ende der Debatte! Jetzt lass mich weiterarbeiten, ich hab keine Zeit für diesen Schmarrn. Schleich dich!« Konrad hatte mit einer abwertenden Handbewegung seinem Sohn den Rücken zugedreht.
»Manchmal könnte ich dich glatt umbringen!« Damit war Klaus wutentbrannt aus dem Zimmer gestürmt und hatte die Tür hinter sich zugeschmissen, dass die Wände wackelten.
Oh mei, da waren schon harte Worte gefallen, gestand sich Konrad ein. Beide hatten sich zwei Tage später entschuldigt, doch ihr sonst so vertrautes Verhältnis hatte einen gehörigen Knacks bekommen.
Und genau deshalb musste Konrad nun sein Calli-Problem allein in den Griff kriegen. Aber dazu war ja noch Zeit, denn der Bauunternehmer Walter Geldmacher und dessen Freund Mani würden mit ihrer Versteck-Aktion hoffentlich einen erheblichen Aufschub erwirken.
Zurück am alten Kurhotel stieg Konrad aus. Die frühsommerlich warme Luft hatte sich nur wenig abgekühlt, eine leichte Brise strich von dem vorbeifließenden schmalen Fluss Abens herüber. Und mit ihr kamen Horden von Mücken. Dieses Problem war seit Jahren bekannt, die geografische Nähe zu Donau und Abens sorgte regelmäßig für eine Plage dieser Insekten.
Um den Gästen im Restaurant, Biergarten und Hotel dieses sommerliche Übel zu erleichtern, hatten sich die Blattls einige sündteure Mückenfallen zugelegt, die großzügig im gesamten Areal verteilt standen. Sie halfen immerhin ein bisschen, doch sobald die CO2-Behälter oder die Lockstoffpatronen leer waren, verloren sie ihre Wirkung. Konrad hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Abend vor dem Schlafengehen eine Runde zu drehen und alle Fallen zu prüfen. Diese nächtlichen Spaziergänge halfen ihm zudem, mit dem Stress und Ärger des Tages abschließen zu können, diese halbe Stunde Bewegung an der frischen Luft tat ihm gut und ließ ihn meistens zufrieden und müde ins Bett fallen. Die leeren Behälter würde er sich merken, noch in der Nacht Nachschub holen und anschließend eine Extrarunde drehen, um sie auszutauschen.
Da es eh schon auf Mitternacht zuging und er bald ins Bett wollte, machte er sich umgehend an die Arbeit.
Mittwoch, 31. Mai 2023
Warm und sonnig sollte es laut Wetterbericht werden, was Hans Moser, seines Zeichens Kriminalhauptkommissar a. D., nicht anzweifelte. Zumindest zeigte sich kein Zwicken und Stechen in seinen zahlreichen arthritischen Gelenken, ein gutes Zeichen für einen schönen Tag. Immerhin zählte er schon zweiundsiebzig Lenze, da gehörten kleine, manchmal auch größere Zipperlein dazu.
Heute jedoch war alles perfekt, er war früh aufgewacht, die Morgendämmerung tauchte seine kleine Einbauküche in hellgraue Schatten. Schnell ließ er eine Tasse Kaffee aus der Maschine. Die brauchte er immer, bevor er sich bereit fühlte, dem Tag gegenüberzutreten. Und selbstverständlich musste er einen Blick in die Zeitung werfen, besser gesagt in mehrere Zeitungen.
Sein Sohn hatte ihm beim Umzug nach Bad Gögging zum Glück ein Tablet aufgeschwatzt, denn mit dem Online-Zugang konnte er sämtliche Medien abrufen, die ihn interessierten. Am Anfang natürlich die FLZ, die Fränkische Landeszeitung, so konnte er die Nachrichten aus seiner alten Heimat erhalten. Der Münchner Merkur stand ebenfalls für das allgemeine Weltgeschehen auf seiner Liste und zum Schluss die Mittelbayerische, die örtliche Tageszeitung, um sich über die aktuellen Themen rund um seine neue Heimat, im Speziellen Bad Gögging, auf dem Laufenden zu halten. Er vermisste zwar seitdem das Knistern des Papiers zwischen den Fingern, doch das Tablet hatte den Vorteil, dass er die Schrift mit einem Zwei-Finger-Wischer vergrößern konnte. Bei der Papierzeitung früher ging das nicht …
Nach der ersten Tasse Kaffee und dem Überfliegen aller Schlagzeilen war Hans der Meinung, ein Spaziergang vor dem eigentlichen Frühstück wäre eine hervorragende Idee.
Wie oft waren er und Emilie, seine verstorbene Frau, früher schon losgewandert, noch ehe der kleine Kurort Bad Gögging aus seiner Verschlafenheit aufgetaucht und es lebendig auf den Straßen geworden war. Dreißig Jahre lang waren sie regelmäßig im Sommer aus Franken angereist, hatten jedes Mal die gleiche Pension bewohnt, ließen sich zwei Wochen lang von den Strapazen des Alltags und den Belastungen seines Berufes ablenken.
»Warum gerade immer wieder Bad Gögging?«, hatte Emilie ihn einmal spaßeshalber gefragt, das mochte vielleicht nach dem zwölften oder fünfzehnten Jahr gewesen sein, das sie hier verbracht hatten.
Hans hatte schmunzeln müssen. »Abgesehen von den wohltuenden Rheumabädern und Massagen? Keine Ahnung, sag du’s mir.«
Sie hatte überlegt und dann die Schultern gezuckt. »Auch keine Ahnung. Aber, abgesehen davon, dass dir die Bäder und Massagen wohltun«, ein Augenzwinkern folgte, »bist du hier einfach wieder Mensch, Hans, lässt all die schlimmen Sachen als Polizist hinter dir und kannst entspannen. Weißt du noch, damals unser Urlaub in Österreich? Da hast du gesagt, die Berge erdrücken dich und die vielen Menschen dort auch. Aber hier in der Hallertau bist du immer ausgeglichen und kannst dich gut erholen. Und ich auch, weil kein Meckern von dir kommt. Also, hier hast du deine Gründe für Bad Gögging.«
Hans hatte noch breiter gegrinst. »Muss wohl am Hopfen liegen. Der beruhigt die Nerven, heißt es ja.«
Auch Emilie hatte gelacht. »Genau deswegen gehen wir hier so gern zu Fuß, mein Lieber. Es gibt ja nicht gerade wenige Gastwirtschaften, wo man einkehren kann, und der Hopfensaft kann es ganz schön in sich haben!«
Hans’ Blick wanderte hinüber zum Bücherbord über dem Flachbildfernseher, auf dem ein Foto seiner Frau stand. Sie hatte ja so recht gehabt.
Nachdem Emilie vor gut einem Jahr ganz plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben war, stand er vor der Frage: Was machst du mit dem Rest deines Lebens, Hans? Zu Hause in Ansbach hatten sie eine kleine Stadtwohnung und einen noch kleineren Hinterhofgarten besessen. Unter Emilies Hand war der allerdings sehr aufgeblüht, nun aber verkümmerten alle Pflanzen, denn Hans hatte dafür einfach zwei linke grüne Daumen.
Er hatte sich an die schönen gemeinsamen Zeiten in Bad Gögging erinnert – und eben genau an ihre Worte: »Hier bist du einfach wieder Mensch, Hans.«
Die Wohnung samt Garten wurde kurzerhand verkauft, und seit zwei Monaten hatte er nun ein Zwei-Zimmer-Apartment in einer der neu gebauten Wohnanlagen bezogen (wohlgemerkt betreutes Wohnen, falls es erforderlich werden würde). Hier in Bad Gögging waren Emilie und er so glücklich gewesen, nun wollte er versuchen, es auch ohne sie zu schaffen.
Ja, Emilie würde es an einem solch schönen Morgen ebenfalls nach draußen ziehen, daher machte sich Hans schnell im Bad fertig. Als er sich im Schlafzimmer angezogen hatte, prüfte er vor dem Schrankspiegel mit einem flüchtigen Blick sein Erscheinungsbild.
Sein Name war Programm, dem bekannten österreichischen Schauspieler Hans Moser war er tatsächlich ziemlich ähnlich, zumindest in Aussehen und Figur: klein und rundlich. Charakterlich unterschied er sich aber deutlich, soweit es die meist hektisch agierende Filmfigur Moser betraf. Denn dieser Hans Moser war eher introvertiert, ruhig und gemütlich. Vielmehr ein guter Beobachter und Zuhörer als ein wortstarker Gschaftlhuber.
Die aufgehende Sonne färbte die Wolken im Osten rötlich, langsam wurde es hell zwischen den Baumwipfeln, als Hans zu einer ausgedehnten Runde um Bad Gögging aufbrach.
Mit flotten Schritten marschierte er Richtung Dorfmitte, dann kürzte er über die Waldstraße ab, um zum westlichen Ortsausgang mit Blick auf Neustadt zu kommen. Linker Hand konnte er zwischen den Häuserlücken erkennen, dass hinter den alten Bestandsbauten anscheinend eine neue Baustelle errichtet worden war, mehrere Bauwagen, Containerbuden und ein Bagger standen dort, der erste Erdaushub schien bereits stattgefunden zu haben.
Ganz früher, konnte sich Hans erinnern, als Emilie und er die ersten Male in Bad Gögging Urlaub machten, war an dieser Stelle eine Baufirma beheimatet gewesen, doch nachdem diese ohne Führung gewesen war, hatten die Erben anscheinend die Lagergebäude abgerissen und die frei gewordene Fläche verkauft. Was hier nun gebaut werden sollte, wusste Hans jedoch nicht. Neue Wohnblöcke, Rehakliniken und auch Hotels waren die letzten Jahrzehnte wie Pilze aus dem Boden geschossen, vermutlich kam etwas in dieser Richtung erneut hinzu.
Er überquerte die Staatsstraße und spazierte ein Stück auf dem befestigten Damm neben dem Flüsschen Abens weiter, ehe er rechts abbog, an der gepflegten Gartenanlage eines großen Hotels vorbeikam und kurz an der kleinen Kapelle Rast machte, die der Hotelbesitzer vor Jahren hier hatte errichten lassen. Dann folgte er dem schmalen Fußweg, der zu einem etwa zweihundert Meter entfernten Tretbecken führte. Bald schon stieg ihm ein unangenehmer Duft in die Nase, verfaulten Eiern recht ähnlich, ein Geruch, der an vielen Stellen Bad Göggings auffiel, zeugte er doch von den gesundheitsfördernden Schwefelwasserquellen.
Auf einem Schild vor dem kleinen Häuschen, in dem man sich aus einem schmalen Rohr dieses Schwefelwasser abfüllen konnte, stand geschrieben:
Bereits der Römer kam zur Stelle,
wo aus der Erde fließt die Quelle.
Trinkt, Leute … und sie soll euch geben
Gesundheit und ein langes Leben.
Dass dies aber nicht immer galt, stellte Hans gleich darauf fest. Neben dem Tretbecken befand sich, auf einem runden Sockel stehend, eine steinerne ovale Wanne, mit stinkendem Schwefelwasser gefüllt, wohl dafür gedacht, hier heilende Armbäder nehmen zu können.
Über dem Rand dieses kleinen Beckens lag eine Person, die Füße auf dem Boden stehend, die Arme seitlich über die Breitseiten hängend, der Kopf befand sich, mit dem Gesicht nach unten, halb im Wasser.
»Na, Sie nehmen’s aber sehr genau mit der Trinkwasserkur!«, sprach Hans ihn beim Näherkommen an.
Erst dann bemerkte er, dass sich der Mann kein bisschen bewegte, rannte die letzten Schritte auf ihn zu und blieb abrupt stehen. Dass er vor einem Toten stand, musste niemand dem pensionierten Kommissar erklären, er erkannte es auf den ersten Blick. Und so was um sechs Uhr morgens auf fast nüchternen Magen!
Hans’ Herzschlag ging schneller, vorsichtig streckte er eine Hand aus und befühlte das rechte Handgelenk des Mannes. Eiskalt waren die Gliedmaßen, ein Puls nicht mehr zu spüren.
Seufzend trat Hans einen Schritt zurück, sah sich um, ob er von herannahenden weiteren Spaziergängern Hilfe erhoffen konnte, doch er stand ganz allein unter den Bäumen, lediglich Vogelgezwitscher leistete ihm Gesellschaft.
Unterhalb seines Standortes, von einer großen Wiese abgegrenzt, lag das Hotel. Sollte er dorthin gehen und Hilfe holen? Doch Hilfe für was, für wen? Dem armen Mann war nicht mehr zu helfen, und Hans wusste schließlich selbst ganz genau, was zu tun war.
Er holte das Handy aus der Tasche seiner leichten Sommerjacke und wählte 110. Die Leitstelle meldete sich umgehend, und so sachlich wie möglich nannte Hans seinen Namen, wobei er geflissentlich erwähnte, dass er Kriminalhauptkommissar gewesen war, beschrieb die vorgefundene Situation und seinen ersten Eindruck.
»Ich weiß schon, dass Sie einen Sanka und einen Notarzt schicken müssen, auch wenn ich denke, dass das nix mehr bringt. Aber Sie sollten, meiner Meinung nach, zusätzlich noch die Kripo verständigen.«
»Das müssen Sie schon uns überlassen, Herr Moser. Ich gebe jedenfalls sofort die Meldung an die Rettungskräfte raus und informiere die Kollegen aus der Inspektion Kelheim. Bitte fassen Sie nichts an, bis die da sind, und versuchen Sie auch bitte, andere Leute von der Stelle fernzuhalten.« Die Stimme am Telefon klang kühl und bestimmend – und ziemlich jung. Hans musste sich ein Grinsen verkneifen. Als ob so ein Frischling ihm erklären müsste, wie er sich zu verhalten hätte!
»Sie können sich darauf verlassen. Ich bleibe hier und warte.«
»Sehr gut, danke schön. Ihre Mobilnummer habe ich notiert. Falls es Probleme gibt, melde ich mich nochmals bei Ihnen. Auf Wiederhören.«
»Ja, servus.« Auch Hans legte auf.
Prüfend warf er erneut einen Blick in die Runde, doch weitere Personen waren um diese Zeit tatsächlich nicht unterwegs. Daraufhin drehte er sich zu dem Toten um. »So, und was machen wir zwei jetzt?«
Verständlicherweise kam keine Antwort.
Behutsam trat Hans näher heran, beugte sich vor und musterte die Leiche von unten nach oben.
Die Beine bekleidete eine dunkelblaue Jeans, den Oberkörper, der so breit war, dass er gerade noch in der Wanne Platz fand, eine beige Trachtenstrickjacke, wie Hans an den Hirschhornknöpfen am Ärmel erkennen konnte. Das ehemals wohl dichte, jetzt mehr lichte graue Haar wallte im Wasser sanft um den Kopf, der so weit vorn am schmäleren Wannenrand lag, dass die Stirn an der steinernen Einfassung zwangsläufig anschlagen musste.
Am Kopf des Toten sah Hans genauer hin. Bei einer Stelle am Hinterkopf schimmerte es rötlich durch, eine Platzwunde war erkennbar, die jedoch anscheinend nicht so stark geblutet hatte, dass sich das Wasser oder der Wannenrand erkennbar verfärbt hätten. Nochmals blickte er prüfend hinunter zu den Füßen, die in leichten braunen Halbschuhen steckten.
War es möglich, dass der Mann ausgerutscht war, sich den Kopf angeschlagen hatte und dann im Becken ertrunken war?
Dagegen sprach, dass beide Füße offenbar fest mit ganzer Sohle auf dem gepflasterten Sockel standen. Wäre er ausgerutscht und gestrauchelt, würden die Beine in einem anderen Winkel herabhängen. Zudem befand sich die sichtbare Verletzung am Hinterkopf, was ebenfalls nicht dazu passte.
Also kein natürlicher Tod, stellte Hans für sich fest. Eigentlich ging es ihn ja nichts an, schließlich war er im Ruhestand, aber es kribbelte ihn in den Fingerspitzen, den Mann umzudrehen, damit er das Gesicht erkennen konnte. Vielleicht war er ihm ja bekannt?
Natürlich tat er es nicht, sondern wartete geduldig ab, bis sich einige Minuten später, mit Blaulicht und Martinshorn, der Krankenwagen und dahinter der BMW des Notarztes näherten. Sie kannten sich anscheinend aus, parkten oberhalb des Tatortes an einer Straße, die zu einem Neubaugebiet gehörte, und liefen, bepackt mit den Notfallkoffern, über die leicht abschüssige Grasfläche hinunter zu Hans.
»Guten Morgen«, erwiderte er den schnellen Gruß der Rettungskräfte und trat zur Seite, um Platz zu machen. Einer der Sanitäter griff, wie Hans zuvor, ans Handgelenk des Toten, um ebenso schnell festzustellen, dass wohl keine Hilfe nötig war. Mit einem Kopfschütteln blickte er zum Notarzt. »Kein Puls und schon eiskalt.«
Der Doktor befühlte vorsichtig den herabhängenden Arm, versuchte, die Finger des Toten zu beugen, was sich als fast nicht möglich erwies. »Rigor Mortis im ausgeprägten Stadium«, murmelte er. Dann beugte er sich über die Wanne, besah sich den Körper genauer und entdeckte schließlich die Wunde am Hinterkopf. Als er sich aufrichtete, streifte sein Blick hinüber zu Hans. »Sie haben ihn so gefunden? Haben Sie ihn bewegt?«
»Bestimmt nicht.« Mit einem Nicken in Richtung der Leiche fügte er ruhig hinzu: »Bis zur Pensionierung war ich Kriminalkommissar. Als ich ihn gefunden hab, war mir schon klar, dass hier am Tatort nix verändert werden darf.«
Der Arzt nickte. »Ganz recht. Das hier ist eindeutig ein Fall für die Rechtsmedizin. Jungs«, meinte er an die Krankenwagenbesatzung gewandt, »ihr könnt zurückfahren. Ich muss allerdings warten, bis die Polizei da ist, ich melde mich dann bei euch. Also vorerst bitte keine vermeidbaren Einsätze für mich, okay?«