Die UnWillkommenen - Marina Jenkner - E-Book

Die UnWillkommenen E-Book

Marina Jenkner

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Beschreibung

Betty führt ein heiles Familienleben in einer deutschen Kleinstadt. Als sie im Sommer 2015 die syrische Flüchtlingsfamilie Ibrahim kennenlernt, ist plötzlich alles ganz nah: der Krieg, der Islam und die Politik. Während die Kinder viel Zeit mit den beiden syrischen Jungen verbringen, versuchen Betty und ihr Mann der Familie zu helfen. Eine Freundschaft entsteht, die jedoch immer wieder auf die Probe gestellt wird, da die Ibrahims oftmals auf Ablehnung stoßen. Ungerechtigkeit und Bürokratie zwingen die junge Mutter, sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen. Auch ihre Vorfahren waren Flüchtlinge, die während des 1. und 2. Weltkriegs aus Ostpreußen und Oberschlesien vertrieben wurden. Sie mussten ihre Heimat verlassen und sich anderswo eine neue aufbauen. Betty wird schmerzlich bewusst, dass es sowohl damals als auch heute Menschen in Deutschland gibt, die sich unwillkommen fühlen. Wie kann dieses Rad der Geschichte gebremst werden? Und wie kann Betty den Ibrahims helfen? Marina Jenkner stellt mit geradezu quälerischer Detailgenauigkeit die Xenophobie der Deutschen dar. Es sind Bilder, die jeden Abend die Wohnzimmer überfluten und Meinungen formen, aus denen sie ihre Ge-schichte spinnt. Dabei beweist sie, dass die Angst vor Fremden kein neues Phänomen in der Gesellschaft ist. Das Überwinden aber dieser Angst ist ein Lernprozess, der kühle Köpfe und mutige Herzen braucht. "Von dem Mosaik der Erlebnisse und Gedanken, die sich zu einem Ganzen fügen."

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Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buchin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage 2019

© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main, 2019

www.groessenwahn-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-95771-240-0

eISBN: 978-3-95771-241-7

Marina Jenkner

die unwillkommenen

Roman

IMPRESSUM

die unwillkommenen

Autorin

Marina Jenkner

Seitengestaltung

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schrift

Constantia

Covergestaltung

Marti O´Sigma

Coverbild

© Marina Jenkner: ›Christel mit Puppenwagen‹Familienfoto aus dem privaten Archiv

Lektorat

Thomas Pregel

Druck und Bindung

Print Group Sp. z. o. o. Szczecin (Stettin)

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Februar 2019

ISBN: 978-3-95771-240-0

eISBN: 978-3-95771-241-7

Für meine beiden Großmütter,die die Geschichten in mir säten –die lebendigen und die verborgenen.

Für unsere syrischen Freunde,deren Geschichte ich begleiten durfte und darf.

Und für alle, die fliehen müssenund deren Geschichten und Traumatain die nächsten Generationenbewusst und unbewussthineingetragen werden.

Inhalt

Rami oder Die Flüchtlinge auf meinem Schreibtisch

Der Mantel mit dem fehlenden Ärmel

Kein Krieg im Esszimmer

Abgerissene Fäden in der Hand

Vater Abraham hat viele Kinder

Nachrichtenfluten

Syrischer Knigge

Von Marmortischen, Gewehren und Zwiebeln

Kleider und Heimaterde

Von Tretrollern, Tänzerinnen und Erinnerungen

Von Landschaften und Schranken

Flüchtlingscafé, Feldpost und Frost

Von Kälte, Ausnahmezuständen und Kampfflugzeugen

Vom Nikolaus, Politik und Dreschmaschinen

Fluchtgeschichten

Advent

Weihnachten und Feuerzauber

Silvester und der Wolf

Vom Hunger

Vom Abstandhalten, UmFs und Wolfskindern

Schwindelerregende Bürokratie und Selbstschutz

Hoffnung und Scherben

Grenzen

Heimatbegegnungen

Von Ostern und Opfern

Knirschen im Gebälk

Von Villen, weißen Kleidern und Gänsefedern

Sonne, Mond und Hölle

Barbarossa, Pfand und Heimatfilme

Gut Ding will Weile haben

Stadt, Land, Schluss

Von Attentaten, Spieli und Gerüchten

Von Beschwerden, Arbeitssuche und Fahnenflucht

Wellen, Graffiti und Weiterbewilligungsanträge

Vom Weitergehen trotz widriger Gedanken

Vom Anpassen, Frieden im Kleinen und einem Geschenk

Nachwort

Quellen

Danke

BIOGRAPHISCHES

Wenn man plötzlich das Gefühl hat, dass man an einen Punkt gekommen ist, an dem die Vergangenheit die Gegenwart berührt, sich Geschichte wiederholt und ein Kreis sich schließt, dann muss man anfangen zu erzählen, von damals und heute, von dem Mosaik der Erlebnisse und Gedanken, die sich zu einem Ganzen fügen.

Rami oder Die Flüchtlinge auf meinem Schreibtisch

Mama, in meiner Klasse ist ein Junge aus Syrien, und dort ist Krieg. Der kann noch nicht so gut Deutsch, aber er hat schon mutig vor der ganzen Klasse auf Deutsch gezählt. Da habe ich gestaunt!«

Das fröhliche Geplapper von Jonathan, der gerade eingeschult worden ist, trifft mich. Jetzt sind sie angekommen, jetzt sind sie hier, mitten in unserem Leben. Ich fühle mich, als sei ich gerade aus einem Traum gerissen worden. Die erste Hälfte des Jahres 2015 habe ich damit verbracht, ein altes Haus zu kaufen, zu renovieren und mit meiner Familie zu beziehen. Wir waren wie in Watte gepackt, es gab nur noch das Haus, Werkzeuge, Tapeten, Pinsel, Farben, Umzugskartons und die Visionen vom neuen Heim.

Im Sommer fing es an mit den Bildern. Ich tauchte aus dem Umzugschaos auf und direkt in die Nachrichtenbilder ein: Flüchtlingsströme, Turnhallen mit Feldbetten, überfüllte Boote, Rettungswesten am Strand.

Da war dieser Flyer, der mich irgendwann während unseres Umzugs per Post erreichte. Und dann auf meinem Schreibtisch lag. Ein tiefblaues Meer, ein langes Holzboot mit vielleicht hundertfünfzig dunkelhäutigen Menschen, sitzend, stehend, eng gedrängt, manche ließen ihre dünnen Beine über Bord baumeln, sie waren barfuß, eine Rettungsweste trug niemand, jemand hatte einen Regenschirm in Schwarz-Rot-Gold aufgespannt. Und darüber in blauen Versalien mit einem gelben Fragezeichen »WHY?«.

Mahnend schwammen die Flüchtlinge über meinen Schreibtisch, ich wollte mich irgendwann um sie kümmern, hatte so viel Ablage zu erledigen, und eines Tages fragte Jonathan: »Wieso sind da so viele Menschen in einem Boot?«

Ich zögerte. Gedanken über die Grenzpolitik Europas, über unser Wegsehen, über Waffenexporte und die leergefischten Küsten Westafrikas schwirrten in meinem Kopf. Die Menschen in dem Boot sahen mich vorwurfsvoll an.

»Die wollen nach Europa, weil sie arm sind oder in ihren Ländern Krieg ist. Und da gibt es Schlepper, die nehmen viel Geld von den Leuten und setzen sie dann in halbkaputte Boote, mit denen die Überfahrt nach Europa sehr gefährlich ist.«

»Warum?«, fragte Jonathan. Immer wieder betrachtete er dieses Bild, das in der Bearbeitungshierarchie auf meinem Schreibtisch nicht nach vorne zu rücken schien. Irgendwann verschwand es unter anderen Stapeln, inzwischen konnte ich es nicht mehr orten.

»Rami.« Jonathan reißt mich aus meinen Gedanken. »Der Junge aus meiner Klasse heißt Rami.«

Rami, der Name klingt noch durch den Raum, als Jonathan schon längst zurück ins Kinderzimmer gelaufen ist. Oben höre ich ihn und den dreijährigen Jasper mit Lego spielen, aber hier unten haben die Nachrichtenbilder der letzten Wochen für mich einen Namen bekommen.

Flüchtlingsströme zogen über den Bildschirm meines Computers, Nachrichten überfluteten die Mattscheibe, Monitor-Menschen starrten in mein Zimmer, und ich konnte meinen Blick nicht von ihnen lassen.

Gerade war ich mit dem Hauskauf so sesshaft geworden, wie ich es für mein Leben eigentlich gar nicht geplant hatte. Und jetzt plötzlich diese Bilder von den Menschen, die nur noch das besaßen, was sie am Leib trugen, die viele Hundert Kilometer liefen und bald bei uns ankommen würden. Berichte hatte ich gelesen, Bilder in mich aufgesogen, manchmal habe ich vor meinem Computer gesessen und geweint.

Ich kannte ähnliche Aufnahmen mit flüchtenden Menschen. Aber die Bilder, die ich kannte, waren schwarz-weiß, dort gab es stehende Züge und Menschenkolonnen, die sich über zugeschneite Straßen schoben. Frauen mit langen Wintermänteln, um den Kopf gebundenen Tüchern und starren Gesichtern, ihre Kinder und überfüllte Handwagen hinter sich herziehend. Der Weg über das Eis, jeder Schritt ein Wagnis, die Tiefe unter ihnen, Kinder schützend auf den Arm genommen, der Tod am Wegesrand und die vielen Pferdewagen, die in das zugefrorene Haff einbrachen.

An einem Morgen Anfang September sitze ich mit Jonathan und Jasper im Bus. Jonathan trägt seinen Schulranzen auch im Sitzen noch auf dem Rücken und in seinem Gesicht ist die Aufregung eines frischen Erstklässlers zu lesen. Jasper hockt etwas verhaltener mit seinem Kindergartenrucksack auf meinem Schoß. Ich selbst bin müde, und ohne die Kinder wäre ich vielleicht wie die anderen erwachsenen Fahrgäste darauf bedacht, aus dem Fenster zu schauen oder zumindest niemand anderen direkt anzugucken. Ein paar Schüler rutschen auf ihren Sitzen hin und her oder unterhalten sich. Der Monitor vorne zeigt die nächste Haltestelle an, der Bus bremst. Menschen steigen ein und schieben sich an uns vorbei in den hinteren Teil des Busses.

Plötzlich ruft Jonathan: »Rami!«

Ein schwarzhaariger Junge dreht sich um und grüßt, hinter ihm offensichtlich sein Bruder und sein Vater. Sie setzen sich auf den Sitz uns gegenüber. Rami ist nicht besonders groß, aber in seinen Gesichtszügen schon sehr ernst. Der Bruder etwas zarter mit einem offenen, sein Gegenüber suchenden Blick und einem kleinen Kindergartenrucksack in der Hand. Und der Vater mit kurzen dunklen Haaren, die sich aus der Stirn schon sehr zurückgezogen haben, markanten Augenbrauen und darunter einem leicht fragenden, etwas unsicheren und doch freundlichen Blick.

»Jonathan und Rami gehen in dieselbe Klasse«, versuche ich zu erklären.

»Bei Frau Lohmeyer?«

Ich nicke. »Ja, genau.«

»Gute Lehrerin.«

»Ja, das ist eine gute Lehrerin. Die Kinder haben Glück.«

»Rami erst drei Monate in Deutschland. Aber Lehrerin ihm sehr hilft. Ich seit eine Jahr in Deutschland.«

»Sie sprechen schon gut Deutsch«, sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt.

»Mama, wir müssen aussteigen!« Jonathan steht auf. Ich stelle Jasper in den Gang, auch Ramis Familie greift nach Schulranzen und Taschen. Der Bus fährt in die Haltestellenbucht, stoppt, und wir steigen aus. Draußen setzen wir in einem Strom von Schulkindern mit bunten Ranzen auf dem Rücken unser Gespräch fort.

Ich frage, aus welcher Stadt er kommt. Die Familie hat in der Nähe von Damaskus gewohnt, er war dort Rechtsanwalt. Jetzt möchte er gerne schnell Deutsch lernen und eine Möglichkeit finden, hier zu arbeiten. Der kleine Bruder geht in den katholischen Kindergarten ganz in der Nähe.

»Das ist ein guter Kindergarten«, sage ich, »die sind sehr engagiert.«

Der Vater nickt. Sein kleiner Sohn habe schon Freunde gefunden und freue sich jeden Tag auf den Kindergarten. Dann erzählt er, dass sie eine Wohnung an der großen Kreuzung haben – zentral im Stadtteil und nur zwei Straßen von unserem Haus entfernt. So nah wohnen wir beieinander, unsere Kinder haben den gleichen Schulweg, der Vater spricht schon so gut Deutsch, dass man sich unterhalten kann – Visionen von Freundschaft bauen sich in mir auf, auch wenn ich die drei erst seit zehn Minuten kenne.

Wir sind viel zu schnell am Schultor, verabschieden uns von unseren Großen, dann gehe ich mit meinem Kindergartenkind in die eine und er mit seinem Kindergartenkind in die andere Richtung.

Alles ging so schnell, gerne hätte ich mich noch länger mit Ramis Vater unterhalten. Ich habe noch viele Fragen.

»Wir müssen die Familie unbedingt mal zu uns einladen«, sage ich am Abend zu Tobias.

Ein kleiner Junge am Strand an der türkischen Küste, in rotem T-Shirt und blauer Hose, die dunklen nassen Haare kleben am Kopf, bäuchlings mit dem Gesicht im Sand, drei Jahre alt wie Jasper und tot. Ein Foto, das mich schlucken lässt. So alt wie Jasper. Und dazu die vielen Namenlosen, die das Meer verschlungen hat. Wasserleichen an Badestränden. Urlaubsparadiese werden zu Meeresfriedhöfen. Szenenwechsel.

Das imposante Gebäude mit Rundbogenfenstern, Säulen, Statuen, Fresken, Wandmalereien, einer eleganten, reich verzierten Eingangshalle. Ein historischer Kopfbahnhof im Stil der Neorenaissance, der manchen fast eklektizistisch anmuten mag. Im Eklektizismus sind verschiedene Stile und Kunstformen zusammengewürfelt, so wie die bunten Zelte, Rucksäcke und Isomatten, die jetzt in der Bahnhofshalle ausharren. Verzweifelte Flüchtlinge, die hier gestrandet sind, Züge, die stillstehen, Polizisten, Endstation Budapest.

Szenenwechsel.

Züge, die stillstehen. Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Flugzeuge am Himmel. Fliegerangriff. Flüchtlinge, die sich ins Gebüsch werfen, in die Felder. Und wenn alles vorbei ist, fährt der Zug vielleicht wieder ein Stück weiter. Nach Westen. Denn der Krieg darf sie nicht einholen.

Szenenwechsel.

Menschen auf der Autobahn. Lange Gruppen von Geflüchteten. Die laufen einfach. Zu Fuß, Rucksäcke und Isomatten auf dem Rücken, Kinder an der Hand, Babys auf dem Arm. Sie laufen, wie es schon die Israeliten beim Auszug aus Ägypten taten. Nur diesmal über die Autobahn.

Bilder, die mir durch den Kopf schwirren, als ich an einem Freitagmorgen Anfang September mit Jonathan und Jasper im Bus sitze. Als Rami mit Vater und Bruder an der nächsten Haltestelle einsteigt, verlassen meine Gedanken die Balkanroute und sind ganz schnell im Hier und Jetzt. Die drei setzen sich zu uns.

Auf dem Weg zur Schule erzählt Ramis Vater mir, dass sein Sohn es ohne Deutschkenntnisse in der Schule schwer habe, deshalb hätten sie mit der Lehrerin besprochen, dass Rami für einige Zeit in die Integrationsklasse gehen dürfe. Die sei eigentlich nicht für Erstklässler gedacht, weil das Schulministerium meine, dass alle Kinder zur Einschulung bei Null starteten, und die Integrationsklassen deshalb erst für Kinder höherer Klassen finanziere. Aber Rami könne schließlich noch kein Deutsch, deshalb werde er ab nächster Woche inoffiziell in die Integrationsklasse gehen dürfen. Es dauert etwas, bis ich die Zusammenhänge verstehe, die Ramis Vater mir erklären will. Nur durch den persönlichen Einsatz der Lehrer darf Rami drei Monate in der Integrationsklasse Deutsch lernen, bevor er zurück ins kalte Wasser der ersten Klasse geworfen wird.

Wir erreichen wieder viel zu schnell das Schultor und verabschieden uns von Jonathan und Rami, die zusammen auf den Schulhof rennen. Ramis Vater blickt den beiden Jungen hinterher. »In Syrien viele Kinder haben Angst vor Schule«, erzählt er. »Lehrer dürfen Kinder schlagen. Hier besser.«

Ich nicke, schlucke und drücke ihm dann einen vorbereiteten Zettel in die Hand. »Mein Mann und ich möchten dich und deine Familie gerne zu uns einladen. Am Sonntagnachmittag. Die Kinder könnten spielen und wir reden. Unsere Adresse steht auf dem Zettel.«

Ramis Vater bedankt sich, am Sonntag hätten sie noch nichts vor, aber er wolle erst mit seiner Frau sprechen. Dann ziehen uns unsere Kindergartenkinder in unterschiedliche Richtungen. »Bis Sonntag!«, rufe ich noch hinter Ramis Vater und Bruder her.

Der Mantel mit dem fehlenden Ärmel

Da kamen so viele Flüchtlinge, man wusste gar nicht, wo man die alle unterbringen sollte. Die hatten nichts mehr, sie hatten alles verloren. Das war schrecklich, als die ankamen.«

Ich saß auf dem weichen Wohnzimmersofa meiner Oma Grete mit seinen kühlen braunen Lederarmlehnen und lauschte ihren Bauernhofgeschichten. Vor mir der runde, dunkelbraune Holztisch, der die Muster der aufwändigen Häkeldecke gut zur Geltung kommen ließ, das Ölgemälde mit den Ährenleserinnen gegenüber an der Wand, darunter das kleine Rauchtischchen mit der glänzenden Messingplatte und daneben in dem breiten Sessel meine Oma mit ihren naturweißen Haaren, Dauerwelle, Brille und einer bunten Bluse über ihrem weiblich-runden Oberkörper. Meiner Oma Grete gingen die Geschichten nie aus, und wenn doch, bohrten meine Schwester und ich so lange nach, bis ihr wieder welche einfielen. Geschichten von dem kleinen Bauernhof zwischen den sanften Hügeln meiner Heimat, von der schweren Arbeit auf dem Feld, den Tieren, dem Dorfschullehrer, der Sommerfrische ihrer Tante auf der anderen Straßenseite, wo Gäste aus der Großstadt ihre Ferien verbrachten, und von ihren tief protestantischen Eltern, die vier Töchter, aber keinen Hoferben bekamen. Selbst der Krieg war in ihren Erzählungen kindgerecht.

»Erzähl weiter von den Flüchtlingen«, bat ich.

Meine Oma fragte mit ihrer wunderbar vertrauten Stimme: »Interessiert dich das alte Zeug denn wirklich?«

Wenn ich dann heftig nickte, fuhr sie fort: »Es gab auch die Evakuierten. Die kamen aus dem Westen, als die Franzosen und Engländer näher rückten. Flüchtlinge nannten wir nur die aus dem Osten, die vor den Polen und Russen flohen. Und die hatten oft nur noch das, was sie am Leib trugen. Frau Winter – ich weiß nicht mehr, ob sie aus Ostpreußen oder Schlesien kam – hatte, als sie bei uns eintraf, einen alten Soldatenmantel an mit nur einem Ärmel. Ein Mantel war auf der Flucht sehr wertvoll, er konnte die Rettung vor dem Erfrieren sein. Deshalb war Frau Winter froh über dieses Stück. Doch unterwegs hatte ihr jemand den Mantel stehlen wollen, der fror wie so viele in diesem harten Kriegswinter. Der Mann riss am Ärmel, aber sie hat sich gewehrt, und da riss der Ärmel heraus. Und dann kam sie mit einem Ärmel bei uns auf dem Hof an.«

Ich versuchte, mir einen Mantel mit nur einem Ärmel vorzustellen und wie seltsam es ausgesehen haben mag, dass ein Blusenärmel aus dem einen Armausschnitt des Mantels ragte.

»Hat die Frau dann bei euch gewohnt?«

»Ja. Die Flüchtlinge wurden auf die einzelnen Häuser verteilt. Mein Vater war zu der Zeit Bürgermeister und musste sehen, dass er alle unterbrachte. Im Dorf gab es etwa neunzig Einwohner, aber wir beherbergten am meisten Flüchtlinge, obwohl wir nicht den größten Hof hatten. Denn die anderen Bauern sagten zu meinem Vater, er solle die Flüchtlinge erstmal bei sich selbst unterbringen, ehe er ihnen alle Zimmer nähme. Jeder wollte seine Zimmer behalten, aber das ging natürlich nicht. Bei uns wohnte die Frau Winter mit dem Mantel ohne Ärmel, die war mit Tochter und Enkel gekommen. Und nach und nach kamen dann alle ihre Kinder zu uns, nachdem sie von dem Aufenthaltsort der Mutter erfahren hatten. Die, die mit ihr gekommen war, hieß Emma, dann kamen noch Adolf, Gustav, Ludwig und Berta. Außerdem wohnte bei uns eine Frau aus Lodz mit ihrem Sohn. Da war die ganze Leibzucht voll, es wurde jedes kleine Kabuff und jeder Abstellraum, der an der Deele lag, besetzt. Bei uns im Haupthaus wohnten schon ein paar Jahre lang die Berliner, das war ein Vetter meiner Mutter mit zwei Kindern, die vor den Fliegerangriffen in der Hauptstadt geflohen waren. Und als in der Stadt nebenan Bomben fielen, kam dann noch unsere Tante Tillchen mit einem Neffen, um bei uns Unterschlupf zu suchen. Wir wussten bald nicht mehr, wo wir sie alle lassen sollten, aber irgendwie hat es geklappt.«

Kein Krieg im Esszimmer

Am Sonntag regnet es in Strömen, es ist ein deprimierend grauer Tag für Anfang September. Wir decken den Kaffeetisch im Esszimmer, stellen den Nusskuchen auf den Tisch, backen Waffeln und machen dazu heiße Kirschen. Kaffee, schwarzer Tee, Apfelsaft und Wasser für die Kinder. Ob sie kommen werden? Ich decke nicht das gute Geschirr, das wir uns nur gewünscht haben, damit unsere Eltern an Geburtstagen und Weihnachten immer eine Geschenkidee haben. Nein, ich decke die fünf alten Teller aus meiner Studentenwohnung und dazu drei alte Teller aus Tobias’ Studentenwohnung. Vielleicht würde ich mich in diesem Moment auch wohler fühlen, wenn wir noch in unserer alten Wohnung wären – in einem Mehrfamilienhaus mit einem gemeinsamen Zimmer für die Kinder. Jetzt haben wir dieses große Eigenheim, was ich manchmal selbst kaum glauben kann, und ich möchte mich doch gar nicht so sehr von der syrischen Familie unterscheiden. Ob sie kommen werden? Bei diesem Regen?

Neben den Kaffeetisch haben wir die Kisten mit der Holzeisenbahn gestellt. Damit die Kinder bei uns im Esszimmer zusammen spielen können, falls sie sich nicht sofort trauen, zu viert nach oben in die Kinderzimmer zu gehen.

Milch, Zucker, Kaffeelöffel, Kuchengabeln, Servietten – es ist alles gedeckt, nur die Waffeln backen noch in der Küche und der Tee muss ziehen.

Pünktlich um 15:00 Uhr klingelt es. Wir laufen zur Tür, die Kinder vorweg. Da stehen sie, alle vier – der Vater mit seinen beiden Söhnen und seiner Frau –, und strecken uns einen Blumenstrauß entgegen. Die Frau trägt eine schwarze Abaya, deren Ärmel mit Goldstickerei verziert sind, und ein schwarzes Kopftuch – ich glaube, sie ist mir schon am Tag der Einschulung aufgefallen. Wir bitten sie herein, reichen uns die Hände, und die Frau begrüßt mich gleich mit Wangenküsschen. Dann sagen wir uns gegenseitig unsere Namen. Der Vater stellt sich mit Nadim Ibrahim vor, Rami kenne ich ja schon, sein kleiner Bruder heißt Bassam und die Mutter Reyhan.

Im Esszimmer angekommen, bitten wir sie Platz zu nehmen. Ich hole eine Vase für den Blumenstrauß und stelle ihn auf den Tisch, während Tobias sich dem Waffeleisen zuwendet. Reyhan sagt etwas auf Arabisch zu Nadim, und er übersetzt uns: »Meine Frau sagt, Ihre Wohnung ist sehr schön und danke für die Einladung.«

Tobias bringt Waffeln, Kaffee und Tee; und als alle mit Getränken und Essen versorgt sind, kommen wir schnell ins Gespräch. Wir unterhalten uns auf Deutsch, und Nadim übersetzt seiner Frau, zwischendurch sprechen wir aber auch Englisch, weil Reyhan etwas Englisch kann, ein paar Mal muss auch das Übersetzungsprogramm von Nadims Smartphone für die Verständigung herhalten.

Nadim hat in einem Flüchtlingsheim im Osten unserer Stadt gewohnt, aber er hatte Glück, dass sein Asylverfahren nur drei Monate gedauert hat und er nach weiteren sechs Monaten – diesen Sommer – seine Familie nachholen durfte. Ihm ist es schwer gefallen, alleine für die Familie eine Wohnung zu suchen. Er hatte zuvor immer alle wichtigen Entscheidungen gemeinsam mit seiner Frau getroffen. Als er eine Wohnung gefunden hatte, durfte Reyhan mit den Kindern nachkommen. Mit dem Flugzeug. An Gepäck durften sie allerdings wie normale Urlauber nur dreißig Kilogramm plus sieben Kilogramm Handgepäck mitnehmen. Ich stelle mir vor, wie schwer es ist auszuwählen, was mitkommt und was man riskiert nie wiederzusehen. Die Kinder hatten beide Rucksäcke auf dem Rücken. Auch sie mussten sich entscheiden, was sie einpacken und was sie zurücklassen wollten.

Wir bieten noch Kuchen und Waffeln an, aber die Kinder haben bald keine Lust mehr am Tisch zu sitzen und beginnen, mit der Holzeisenbahn zu spielen. Und während sie eine Eisenbahnstrecke rund um den Esstisch konstruieren, reden wir Erwachsenen weiter, immer weiter, und die Themen gehen uns nicht aus.

Nadim zeigt auf unser Bücherregal und erzählt, dass er in Syrien auch viele Bücher gehabt und gelesen habe. Sogar auf die Flucht habe er Bücher mitgenommen, aber die habe er unterwegs verloren. Er senkt seinen Kopf, deshalb traue ich mich nicht, nach dem Verbleib der Bücher zu fragen.

Stattdessen fragt Tobias nach den Berufen von Nadim und Reyhan, und im Anschluss kommt die Gegenfrage. Dass Nadim Rechtsanwalt ist, wissen wir schon, nun erfahren wir noch, dass Reyhan als Lehrerin tätig war. Unsere Berufe sind etwas schwieriger zu erklären. Tobias arbeitet im sozialen Bereich mit schwer erziehbaren Jugendlichen, und ich bin Künstlerin, gebe Malkurse und schreibe Artikel für Kunstmagazine. Am liebsten wäre ich nur Künstlerin, aber die Finanzen verlangen meinen regelmäßigen Einsatz als Dozentin oder Journalistin.

Wir fragen, ob von den Familien der beiden noch jemand in Syrien ist. Nadims Eltern leben in einem Dorf nahe Damaskus, aber leider kann er seit drei Monaten keinen Kontakt zu ihnen herstellen, weil die Telefonleitungen kaputt sind. Auch seine Geschwister sind noch in Syrien. Sie haben nicht das Geld zu fliehen.

Jonathan und Rami erweitern die Eisenbahnstrecke – Holzschiene für Holzschiene legen sie um den Esstisch. Jasper und Bassam kuppeln verschiedene Waggons aneinander.

Rami ist sechs und Bassam fünf Jahre alt – Reyhan erzählt, dass nur elf Monate zwischen den beiden Geburten lagen. Ich erzähle, dass der Altersabstand zwischen Jonathan und Jasper drei Jahre beträgt und ich froh war, zwischen beiden Kindern ein bisschen Pause gehabt zu haben. Nadim übersetzt.

Daraufhin lacht Reyhan und sagt: »Syria Frauen – keine Pause.« Reyhan hat ein volles Gesicht und ein offenes Lachen. Je länger wir uns unterhalten, desto weniger sehe ich das schwarze Kopftuch oder die Abaya. Das Äußerliche rückt in den Hintergrund, während ihre Geschichte und der Mensch unter dem schwarzen Stoff in den Vordergrund treten.

Jetzt lächelt Reyhan wieder, sagt Nadim etwas und lässt ihn übersetzen. Sie möchte wissen, woher die Namen unserer Kinder kommen und wer sie ausgesucht hat.

Was für eine spannende Frage, denke ich, und antworte: »Jonathan bedeutet ›Geschenk Gottes‹, den Namen habe ich ausgesucht. Und Jasper haben wir gewählt, weil der Name gut zu Jonathan passt. Die Bedeutung ist ›Schatzmeister‹, aber das war nicht so wichtig. Und bei euch?«

Rami, sagt Nadim, hieße »der Schütze«, und er habe damals den Namen ausgesucht, weil es ein starker Name sei. Reyhan durfte dann den Namen für den zweiten Sohn wählen – Bassam bedeute »der Lächelnde«.

Rami und Bassam schieben jetzt jeder eine Lokomotive, Rami ist zurückhaltend, etwas in sich gekehrt, er wurde schließlich auch in dem neuen Land direkt ins kalte Wasser der Schule geworfen. Bassam scheint seinem Namen alle Ehre zu machen, er lächelt das offene Lächeln seiner Mutter mit den verschmitzt blitzenden Augen eines Kindes. Ich habe das Gefühl, ihn einfach mögen zu müssen, er ist zarter und niedlicher, obwohl nur elf Monate die beiden Jungen trennen.

»Jona«, sage ich mit Blick auf meinen die Eisenbahnstrecke Schiene um Schiene erweiternden Sohn. »Dort unterm Schrank liegt noch eine Weiche.«

»Jona?«, fragt Reyhan.

»Ja, ich kürze Jonathan manchmal zu Jona ab. Spitzname nennt man das in Deutschland.«

Reyhan sagt etwas auf Arabisch. Nadim übersetzt: »Jona gibt es auch im Koran.«

»In der Bibel auch.«

»Jona ist Prophet. Er wurde gegessen von Fisch«, erklärt Nadim.

»Die Geschichte von Jona im Fischbauch steht auch in der Bibel!«, rufe ich erfreut.

Nadim lächelt. »Viele Geschichten, viele Religionen, viele Wege. Aber ein Gott.«

Ich muss an unsere Deutschlektüre auf dem Gymnasium denken, an »Nathan der Weise« und die Ringparabel, die mich damals ebenso beeindruckt hat wie jetzt Nadims Worte von den vielen Wegen.

»Geht ihr hier in die Ditib-Moschee?«, frage ich.

»Nein«, antwortet Nadim. »Das ist türkische Moschee. Wir gehen in arabische Moschee. Immer Freitag.«

Die vier Jungen werden unruhig. Sie haben keine Lust mehr, mit der Eisenbahn zu spielen, und möchten nach oben in die Kinderzimmer gehen. Wir lassen sie ziehen, schenken Kaffee und Tee nach, und Nadim und Reyhan bedanken sich zum wiederholten Mal für unsere Einladung und sagen, dass wir sehr nett sind, sodass es uns schon fast peinlich ist. Wir sollen sie auch einmal besuchen, schlagen sie vor, und wir sagen: »Gerne.«

Nadim deutet auf die Holzbalken in unserem Esszimmer. Er bemerkt, dass die Deutschen sehr viel mit Holz bauten, während in Syrien hauptsächlich Beton beim Hausbau zum Einsatz käme.

Über Gebäude kommen wir auf Palmyra, denn Ende August haben IS-Milizen zuerst den Tempel von Baalschamin und dann den Baal-Tempel zerstört. Nadim ist traurig darüber und beschreibt, wie einmalig die antike Stadt Palmyra war.

Über den IS kommen wir wieder auf das Thema Religion, und er erzählt von der christlichen Kirche in Damaskus und davon, dass vor dem Krieg in Syrien muslimische und christliche Gemeinden friedlich nebeneinander existiert haben.

Und schließlich gehen unsere Gespräche zum zerstörten Aleppo – die Stadt sei wunderschön gewesen, sagt Nadim, eine der ältesten Städte der Welt. Und Reyhan erzählt, von Nadim übersetzt, dass es in Aleppo eine florierende Textilindustrie gab. In Syrien werde viel Baumwolle angebaut, und in Aleppo habe es die schönsten Stoffe gegeben. Sogar die englische Queen soll früher die Gewebe für ihre Kleider in Aleppo gekauft haben.

Und über die Textilindustrie landen wir dann wieder hier in unserer Stadt, die im 19. Jahrhundert durch die Herstellung von Textilien zu großem Wohlstand gelangte, weswegen sie noch immer über viele ansehnliche Häuser aus der Gründer- und Jugendstilzeit verfügt.

Eine Etage über uns hören wir die Kinder ab und zu lachen oder reden, zwischendurch machen sie Musik, aber eines hören wir nicht: Streit. Die vier scheinen sich gut zu verstehen und spielen die ganze Zeit harmonisch miteinander, ohne irgendwelche Zwischenfälle. Dabei ist es sonst durchaus üblich, dass Tobias oder ich im Kinderzimmer mal nach dem Rechten sehen oder Streit schlichten müssen.

Nadim erzählt, dass seine Kinder am Anfang in Deutschland noch Angst vor den Bomben hatten, aber inzwischen wissen sie, dass ihnen hier nichts passiert.

Dann zeigt Nadim plötzlich auf die Orchidee auf der Fensterbank. Er möchte wissen, wie die Blume heißt und wie viel Wasser sie braucht. Er kauft Reyhan nämlich regelmäßig Blumen, aber diese Blume haben die Kinder immer gegossen und dann sei sie eingegangen. Ich sage ihm, dass Orchideen nur ganz wenig Wasser benötigen. Und finde die Vorstellung schön, dass er Reyhan regelmäßig Blumen schenkt. Weil Blumen Leben in eine Wohnung bringen und wachsende Hoffnung.

Nach zwei Stunden stehen Nadim und Reyhan auf, rufen ihre Kinder und helfen noch, die Holzeisenbahn aufzuräumen. Während sie ihre Schuhe anziehen, greift Tobias auf der Kommode im Flur nach einer Einladung zu unserer Einweihungsparty und sieht mich fragend an. Ich nicke. Tobias erklärt, dass wir am kommenden Wochenende ein Fest feiern, das erste Fest in unserem neuen Haus, und sie herzlich eingeladen sind. Nadim meint, da hätten sie Zeit. Die Verabschiedung ist herzlich.

Dann gehen sie nach Hause – durch den Regen, der die ganze Zeit grau vor den Fenstern niedergegangen ist, aber in unserem Esszimmer ist es so bunt gewesen, dass ich ihn gar nicht mehr bemerkt habe. Ich bin euphorisch, habe das Gefühl, ein Buch aufgeschlagen und das erste Kapitel gelesen zu haben. Ein Anfang. Wir hatten eine syrische Familie in unserem Haus gehabt und mit ihr waren nicht der Krieg oder nur schreckliche Geschichten in unserem Esszimmer gelandet, sondern die Welt, so wie sie sein könnte.

Abgerissene Fäden in der Hand

Am Samstag bereiten wir unsere Garage, mein Atelier und den Garten für unsere Einweihungsparty vor, wir haben uns Bierzeltgarnituren ausgeliehen und uns von unseren Gästen einen Beitrag zum Buffet gewünscht. Ich freue mich auf die vielen Menschen, die kommen werden, einige haben wir lange nicht gesehen. Und ich freue mich auf Familie Ibrahim. In der letzten Woche habe ich Nadim, Rami und Bassam nicht im Bus getroffen. Meist hat Tobias die Kinder mit dem Auto zur Schule und in den Kindergarten gebracht. An einem Morgen hat er Nadim am Schultor getroffen, aber sie haben sich nur kurz unterhalten. Während ich die Tische mit Servietten und Teelichthaltern dekoriere, überlege ich, mit wem ich die Ibrahims am Nachmittag bekannt machen kann. Zwei Eltern aus der ersten Klasse wollen kommen, und auch sonst fallen mir einige ein, die bestimmt sofort mit Deutsch, Englisch, Händen und Füßen ein Gespräch beginnen werden. Wir wollen von frühnachmittags bis nachts feiern. Auch wenn ich selbst während der Party nicht so viel Zeit haben werde, freue ich mich darauf, die Familie wiederzusehen.

Wir tragen gerade das Geschirr in die Garage, als das Telefon klingelt. Tobias geht ran. Es ist Nadim. Tobias versteht ihn nicht genau, er sagt etwas von »andere Tag«, und Tobias versucht ihm zu erklären, dass die Einweihungsparty nur heute ist. Schulterzuckend kommt er zu mir, er weiß nicht, ob das eine Absage war oder ob Nadim sich nur vergewissern wollte, dass unsere Party heute stattfindet.

Als am Nachmittag die ersten Gäste mit Kindern eintreffen, wird der Sandkasten sofort besetzt. Das Garagenbuffet wächst an, wir führen durch unser Haus, zeigen, was wir den Sommer über renoviert haben, stoßen an auf unser neues Heim, auf unsere Zukunft, doch ich erwische mich dabei, dass ich bei jedem Klingeln hoffe, Familie Ibrahim werde noch kommen. Immer wieder läutet es an der Tür, neue Gäste, neue Salate, neuer Gesprächsstoff. Aber die Ibrahims kommen nicht. Ich merke, wie sich Enttäuschung in mir ausbreitet, obwohl wir doch genug andere Gäste und alte Freunde zu Besuch haben.

Mir lässt das keine Ruhe. Bisher haben wir keine Telefonnummer von Nadim gehabt, aber nach seinem Anruf am Morgen hat unser Telefon eine Handynummer angezeigt. Deshalb schreibe ich noch abends auf der Party eine SMS auf Englisch an diese Nummer, dass wir uns auch Sonntagnachmittag treffen können, wenn sie uns dieses Wochenende noch sehen wollen. Eine Antwort erhalte ich nicht.

Auch am Sonntag bleibt eine Reaktion aus. Nach der Party am Samstag ist das vielleicht auch besser, denn unsere Söhne sind müde. Aber ich bin ungeduldig. Seit unserem Kaffeetrinken sind mir noch so viele Fragen eingefallen, ich habe mir ausgemalt, was ich der Familie erzählen und wie ich ihr unsere Stadt näherbringen kann.

Mitte September überlasse ich dem Flüchtlingsbeauftragten der Stadt mehrere Umzugskartons mit Kleidung, Bettwäsche und Spielzeug. Alles, was wir aussortiert haben. Dabei erwähnt er, dass er Freikarten für Flüchtlinge für ein Sinfoniekonzert am Sonntag organisiert hat. Ob ich noch jemanden kenne. Natürlich denke ich sofort an Familie Ibrahim, aber ich habe sie weder im Bus getroffen noch eine Antwort auf meine SMS erhalten. Und nachdem sie meine Nachricht nicht beantwortet und sich nicht gemeldet haben, traue ich mich auch nicht, einfach an ihrer Tür zu klingeln und sie zu überrumpeln. Auch Jonathan sieht Rami, der inzwischen in die Integrationsklasse geht, nur manchmal in der Pause.

Die ersten Tage schiebe ich es noch auf ein anderes Verständnis von Zeit oder Höflichkeit, dass sie sich nicht melden. Dass sie nicht die Gegeneinladung aussprechen. Kein Lebenszeichen von sich geben. Aber dann werde ich unsicher.

»Haben wir etwas falsch gemacht?«, frage ich Tobias. Er zuckt mit den Schultern, sein Bauchgefühl sei bei unserem gemeinsamen Kaffeetrinken ebenfalls gut gewesen.

Doch mich lassen die Fragen nicht los: War ich zu offen gewesen an unserem Treffen? Sind wir zu westlich? Vielleicht haben wir ein seltsames Bild abgegeben, Tobias mit seinen langen, zu einem Zopf gebundenen Haaren, der mit dem Backen der letzten Waffeln beschäftigt war und Getränke servierte, während ich mich schon zum Unterhalten an den Tisch setzte, was bei uns nichts Ungewöhnliches ist. Meine Kleidung war langärmelig und schlicht gewesen, meine Haare offen wie immer. Hatten wir etwas falsch gemacht?

Vielleicht war unsere Einladung zur Einweihungsparty unhöflich gewesen, vielleicht wäre es an uns gewesen, erst ihre Gegeneinladung anzunehmen. Aber dann hätten sie doch auf meine SMS antworten und uns einladen können.

Ich hatte mir das alles so schön vorgestellt, hätte der Familie so gerne unsere Stadt gezeigt, unsere Kinder gemeinsam spielen lassen, noch so viele Fragen gehabt, so viel von ihnen lernen können und sie von uns. Unser Treffen hatte sich für mich nach dem Anfang einer Freundschaft angefühlt. Und nun überkam mich die Ahnung, mit abgerissenen Handlungsfäden in der Hand dazustehen.

Ich male. Mein Pinsel gleitet über das Büttenpapier, die cyanblaue Aquarellfarbe verteilt sich, wird zu einem Wasser, einem Haff, einem Mittelmeer. Sie vermalt sich von selbst, und ich sehe ihr zu. Seichte Wellen. Dunkel in der Tiefe. Das Wasser, das sich auftut und sie verschlingt. Die Hoffnung versenkt. Ich schlucke. Umfasse den honiggelben Stein an meiner Kette und frage mich, wieso ich sie gerade heute umgelegt habe. Als Kontrast zu dem Cyanblau meines Shirts. Die Wasseroberfläche. Die Wellen. Die kleinen Steine, die an den Strand gespült werden. Die Gedanken, die ausreißen wollen.

In den nächsten Tagen erwische ich mich immer wieder dabei, wie ich bei jeder Busfahrt hoffe, dass sie an der Haltestelle stehen. Wie an der großen Kreuzung mein Blick immer wieder zu dem Haus geht, in dem sie wohnen. Ich erzähle niemandem davon, und doch schweifen meine Gedanken so oft zu dieser Familie. Abends sehe ich mir im Internet Reportagen über Flüchtlinge an und Dokumentationen über Syrien. Menschen klatschen an Bahnhöfen und rufen »Refugees welcome!«, während mir ist, als würde ich jeden Abend meine Gefühle im Internet versenken.

An einem Freitagabend treffe ich mich mit Mo, und wir gehen in eine Kneipe. Mo heißt eigentlich Mombert, aber weil er den Namen schrecklich findet, nennt er sich nur Mo. Er hat Liebeskummer. Obwohl er weiß, dass es hoffnungslos ist, kann er nicht aufhören, an sie zu denken. Ich höre ihm zu, sehe die Sehnsucht in seinen Augen, merke, wie sehr er leidet, versuche, ihm etwas dazu zu sagen, aber das ist gar nicht einfach, und in der Intimität unserer Gespräche denke ich plötzlich, dass auch meine Gefühle ein bisschen wie Liebeskummer sind. Und vertraue ihm auch etwas an.

Ich erzähle ihm von Familie Ibrahim. Von unserem Treffen, unseren Gesprächen und dem harmonischen Spielen der Kinder. Von der Absage zur Einweihungsparty, der ausbleibenden Antwort auf meine SMS, dem abgebrochenen Kontakt. Ich komme mir vor wie eine unglücklich Verliebte: das Hoffen sie zufällig zu treffen, der verstohlene Blick zu dem Haus an der großen Kreuzung, das ständige Denken an sie. Konnte mein Bauchgefühl mich so getäuscht haben?

Mo meint, ich solle das alles nicht überbewerten, die Familie habe schließlich nicht die Pflicht, sich bei uns zu melden. Und wenn sie keinen Kontakt wollten, dann müssten wir das eben akzeptieren, das könne man nicht erzwingen.

Ich wollte nichts erzwingen, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass die gegenseitige Sympathie an dem Nachmittag Anfang September nur Einbildung gewesen war. Vielleicht hatte auch die arabische Moschee etwas damit zu tun. Die Familie hatte uns von ihrem Besuch jeden Freitag dort erzählt. Im Stadtteil munkelte man, dass diese Moschee – im Gegensatz zur hiesigen türkischen Ditib-Gemeinde – vom Verfassungsschutz beobachtet werde. Wer wusste, was die dort predigten? Vielleicht vertrug sich das einfach nicht mit einer Freundschaft zu uns? Aber Nadim hatte mir einen recht aufgeklärten Eindruck gemacht. Er hatte doch sogar das mit den vielen Wegen zu dem einen Gott gesagt.

Mo meint, ich solle aufhören mit solchen Verschwörungstheorien, das bringe doch nichts. Wenn die keinen Kontakt wollten, solle ich sie nicht bedrängen. Vielleicht hätte ich auch etwas Falsches in den Nachmittag hineininterpretiert.

Ich erinnere mich an das unglückliche Verliebtsein als Teenager. An all die Situationen, in die ich etwas hineininterpretiert und deshalb an meiner Liebe festgehalten habe. Aber konnte ich so etwas heute nicht besser einschätzen? Noch dazu, wo es doch gar nicht um Liebe ging, sondern um den Austausch und die sich vielleicht ergebende Freundschaft zwischen zwei Familien?

»Lass die Finger davon«, rät Mo. »Wenn die keinen Kontakt wollen, ist das ihr gutes Recht. Dann suchst du dir eben eine andere Flüchtlingsfamilie.«

Vater Abraham hat viele Kinder

Ende September bringe ich morgens meine Söhne in Schule und Kindergarten und fahre mit dem Bus nach Hause. Mein suchender Blick – am Schultor, an der Haltestelle, im Bus – findet keinen Halt. Nie sehe ich sie, scheine die Ibrahims immer zu verpassen.

Als ich mich gerade meinen Grübeleien darüber widmen möchte, bleibt mein Blick an einer muslimischen Familie auf einem Vierersitz hängen, die mit langen Kleidern sehr traditionell angezogen ist. Nicht nur die Mutter, sondern auch die beiden kleinen Mädchen tragen ein Kopftuch. So kleine Mädchen, das ist selbst in unserem kulturell vielfältigen Stadtteil ungewöhnlich. Aber auch der Vater trägt ein langes Gewand. Die Familie sieht in diesem Bus aus, als sei sie aus der Zeit gefallen.

Oder haben die irgendein Fest? Ramadan und Fastenbrechen war schon im Sommer, das weiß ich. Die Familie steigt mit mir zusammen aus dem Bus und läuft in Richtung der arabischen Moschee. Mir fallen noch andere Muslime auf, die außergewöhnlich schick gekleidet sind. Und vor der türkischen Moschee parken viele Autos.

Zu Hause angekommen, frage ich das Internet. Heute beginnt das Opferfest, das wichtigste Fest im Islam! Wieso weiß ich das nicht, obwohl so viele Muslime in unserem Stadtteil wohnen? Ich lese, dass das Opferfest auf Ibrahim, in der Bibel Abraham, zurückgeht, der Allah oder Gott so sehr vertraut, dass er bereit ist, seinen Sohn für ihn zu opfern. Als Gott dieses unerschütterliche Vertrauen sieht, erlöst er ihn jedoch und gibt sich mit einem Tieropfer zufrieden. Abraham hat zwei Söhne: Nachdem seine Frau Sara keine Kinder bekommen kann, schenkt ihm die Dienerin Hagar seinen ersten Sohn Ismael. Später gebiert Sara doch noch ihren Sohn Isaak. In der Bibel soll ausdrücklich Isaak geopfert werden, im Koran steht kein Name für den zu opfernden Sohn. Die meisten Muslime gehen davon aus, dass es sich um Ismael handelt, zumal dieser als Stammvater der Araber gilt und zusammen mit Ibrahim die Kaaba in Mekka wiederaufgebaut haben soll.