Felines Fratze - Marina Jenkner - E-Book

Felines Fratze E-Book

Marina Jenkner

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Beschreibung

Feline ist als Grafikdesignerin und Influencerin zwischen der Hektik des Agenturalltags und dem gemeinsam mit ihrer Freundin betriebenen Youtube-Kanal immer in Action. Nur der Stillstand ihres arbeitslosen Freundes ärgert sie. Eines Tages wird sie durch eine Gesichtslähmung plötzlich selbst zur Bewegungslosigkeit gezwungen. Doch was noch viel schlimmer ist: Ihr schiefes entstelltes Gesicht passt weder in die Werbe- noch in die Social-Media-Welt ... Ein Roman über die Zerbrechlichkeit eines scheinbar perfekten Lebens, über Schönheitsideale, Optimierungswahn und die Bedeutung von Lächeln in unserer digitalisierten Gesellschaft. »Die Fratze sah schrecklich aus und das Schlimme war, dass dieser Fratzenkopf auf ihrem Hals saß. Sie konnte es immer noch kaum begreifen, dachte, es sei jemand anderes, der sie so schief anblickte, aber diese Fratze war ihr Gesicht. Sie war ein Monster. Feline hatte ihr Spiegelbild gemocht, aber das, was sie nun sah, mochte sie nicht. Das war nicht sie. Und sie war es doch.«

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Für alle, die nicht perfekt sind.

Inhaltsverzeichnis

1. Zwischen Fruchthöhle, Youtube und Sofahölle

4 Tage vorher

3 Tage vorher

2 Tage vorher

Einen Tag vorher

2. Der Tag, an dem das Lächeln ging

3. Stillstand

Tag 2

Tag 3

Tag 4

Tag 5

Tag 6

Tag 7

Tag 8

Tag 9

Tag 10

Tag 11

Tag 12

4. Zu Hause

Tag 12

Tag 13

5. Warten auf Regung

Alltag und Party

Druck und Hoffnung

Zweite Meinung und Videodreh

Vernissage und Shoppen

6. Verletzungen

Franziska und Hartbrich

Beste Freundinnen

7. Auszeit

Abbruch

Gelber Nebel

8. Mienenspiel

Farben und Pläne

Auf dem Weg

Über die Autorin

Dank an ...

Bildnachweise

1. Zwischen Fruchthöhle, Youtube und Sofahölle

»Das Leben besteht in der Bewegung.«Aristoteles

4 Tage vorher

Am Rheinufer war es so früh am Morgen noch kühl, die Bewegung tat gut und hätte Feline geahnt, was ihr vier Tage später bevorstand, hätte sie diesen Augenblick wohl noch mehr genossen.

Die Promenade war menschenleer, in der Ferne sah sie die Rheinkniebrücke und den Fernsehturm. Ihre Rollen glitten über das Pflaster, der Wind strich ihr durch die kurzen Haare, ein bisschen war es wie Fliegen, als würden sie und Laura dem Landtag entgegenfliegen, dem Media-Hafen, den Gehry-Bauten, der ganzen Stadt flogen sie entgegen, Laura hielt den Selfiestick und Feline lächelte in die Kamera und genoss das Gefühl, Raum einzunehmen, sich die morgenjunge Metropole einzuverleiben, bevor die Hektik der Großstadt, die Maschinerie des Alltags dieses idyllische Bild zerfräßen.

Laura bremste, Feline tat es ihr nach, sie lehnten sich an eine Mauer und drehten sich so, dass hinter ihnen der Fernsehturm zu sehen war. Sie lächelten strahlend weiß in die Kamera, ihre Haare waren vom Wind zerzaust, aber das Fitness-Makeup saß perfekt.

»Hallo Ihr Lieben, hier sind wieder Laura und Line, schön, dass ihr eingeschaltet habt! Wenn euch das Video gefällt, gebt uns gerne einen Daumen nach oben und abonniert unseren Kanal, damit ihr kein Video mehr verpasst!«

Laura hatte ihre langen blond gefärbten Haare zu einem Zopf gebunden, schob sich nun direkt vor die Kamera und fragte: »Habt ihr das gesehen, worauf Line fährt? Guckt euch das an!« Sie trat zur Seite und senkte den Selfiestick etwas. »Leute, was Line da trägt, das sind keine Inlineskates, das sind Rollschuhe! Rollschuhe, das muss man sich mal reinziehen! So was hatten die Leute, bevor es Inlineskates gab ...«

Line lachte. »Sag mir, warum vier Rollen hintereinander und ein englischer Name cooler sein sollen als jeweils zwei Rollen nebeneinander.«

Laura verdrehte die Augen. »Sorry, aber das ist voll oldschool! Ich meine, wir sind hier in Düsseldorf, der Stadt für Mode und Lifestyle!«

Feline hielt ihren Fuß mit den Rollschuhen direkt in die Kamera. »Ihr Lieben, das ist nicht oldschool, das ist Vintage! Wenn ihr das auch findet, dann hinterlasst mir doch gerne einen Kommentar!«

Jetzt streckte Laura ihre Inlineskates in die Kamera.

»Und ihr dürft natürlich auch gerne in die Kommis schreiben, wenn ihr die hier nicer findet!«

»Für uns geht es jetzt erst mal zum Frühstücken.

Aber wir haben euch hier noch ein Video verlinkt, wo wir euch zeigen, wie wir unser leichtes Fitness-Make-up auflegen. Wir sagen Tschö – eure Laura und Line!«

Feline lächelte in die Kamera, bevor Laura das Video beendete. Sie war froh, dass sie endlich wieder fuhren und drehten. Letzte Woche war sie erkältet gewesen. Er hatte ihr gefehlt, der Fahrtwind, der die Gedanken klarer machte, und auch die sportliche Betätigung hatte sie vermisst. Bewegung war ein fester Bestandteil ihres Lebens und oft auch ihrer Videos – selbst wenn sie nicht befürchten musste, dass die abendlichen Spezialitäten, die sie Simon zuliebe aß, bei ihr ansetzten. Den Youtube-Kanal hatten sie ursprünglich aus Spaß gestartet und niemals damit gerechnet, dass er so erfolgreich werden würde. Inzwischen war es für beide ein Nebenjob und sie trafen sich mehrmals die Woche vor oder nach der Arbeit zum Dreh.

Als sie sich später in Lauras Wohnung umzogen und frühstückten, fragte Laura nach Simon. Feline winkte ab, sie wollte nicht über ihn sprechen. Fruitsun war jetzt wichtiger, schließlich ging es um die neue Kampagne. Und so erneuerte sie eilig ihr Make-up und tuschte noch einmal ihre Wimpern über, die von Natur aus blond waren, weswegen sie nie ungeschminkt aus dem Haus ging. Anschließend verabschiedete sie sich von Laura und fuhr in die Agentur.

Äpfel, Orangen, Bananen und all die anderen Früchte an dem freundlichen Baum grinsten durch das abendleere Büro. Im Schein der Stehlampe wirkten sie beinahe gespenstisch. Dabei waren sie die Fruitsun-Früchte, standen für Power, Vitalität und Lebensfreude. Sie sollten Sommerlaune vermitteln, doch in dem kargen Licht wirkten sie eher wie Halloween-Kürbisse.

Feline saß an ihrem Schreibtisch und rollte ihre Schultern nach hinten. Sie fühlte sich verspannt. Statt sich eine Mittagspause zu gönnen, hatte sie Youtube-Kommentare beantwortet und ein neues Foto auf Instagram gepostet. Wenn andere von ihrer Nebentätigkeit als Influencerin erfuhren, wurde sie oft belächelt. Die meisten wussten nicht, wie viel Arbeit hinter dem ganzen Content steckte und dass sie oft jede freie Minute nutzte, um Kommentare der Follower zu lesen und darauf zu reagieren. Nun hätte sie längst Feierabend machen können, aber sie zögerte die Heimfahrt hinaus – wie so oft in letzter Zeit.

Der aufblasbare Baum mit dem Lachgesicht stand ihr gegenüber. Felines Mundwinkel zogen sich ein kleines Stückchen in die Höhe, als ihr Blick darauf fiel. Er war ihr Entwurf gewesen. Als fantasievoller All-Frucht-Baum war er bei der Kundschaft gut angekommen und hatte Fruitsun zur Marke gemacht. Die bunten, gut gelaunten Früchte waren zu einem Synonym für schmackhafte Vitamine in komprimierter Form geworden – exotische Fruchtsäfte, süße Fruchtriegel, sportliche Fruchtmolkedrinks und eine Reihe anderer Lebensmittel aus dem Süß-waren- und Wellnessfoodsektor. Die Palette war groß und die Produkte füllten Fensterbänke und Schränke des Büros. So dienten sie als Inspirationsquelle und präsentierten dem Kunden bei seinen Besuchen die allgegenwärtige Beschäftigung mit seinem Produkt. An der Tür stand eine große, rote Kunststoff-Banane als Überbleibsel der Werbekampagne für den Kirsch-Banane-Schokoriegel Kibascho Fruitsun. Und die zwei Schreibtische im Büro beherbergten Fruchtfiguren und Fruitsun-Kaffeetassen.

Unter Kollegen wurde ihr Büro scherzhaft die Fruchthölle genannt. Feline arbeitete gerne in ihrer Fruchthöhle, wie sie ihren Platz in der Agentur lieber bezeichnete.

Sie hatte mit ihren sechsundzwanzig Jahren schon viel erreicht, hatte hier ihren Platz gefunden zwischen lachendem All-Frucht-Baum und frecher Kunststoff-Banane. Dazu die Videos mit Laura, das große Interesse der Follower – eigentlich hätte es ihr gutgehen können.

An diesem Abend jedoch hätte sie sich am liebsten in der Fruchthöhle verkrochen, hätte sich ein Schlaflager gerichtet zwischen all dem Obst, das ihr wunderbar vertraut war – das wäre so viel einfacher gewesen, als jeden Abend aufs Neue einem Simon zu begegnen, der mit dem Mann, in den sie sich vor fünf Jahren verliebt hatte, nur noch wenig zu tun hatte.

Im Hinblick auf die neue Kampagne für Fruitsun-Fruchtsäfte schob sie eine vage Idee in ihrem Kopf hin und her, irgendwas mit Hektik und Stillstand schwebte ihr vor – die Hektik des Alltags, dann plötzliche Ruhe und Stillstand durch Auftauchen des Produktes. Fruitsun als Entspannung im Alltag, als Ruhepol und Kraftspender. Doch Feline wollte nicht die üblichen Werbespots, in denen plötzlich die Bilder verlangsamt liefen oder zu Standbildern wurden, um der Marke ihren Auftritt zu erleichtern. Das war ihr zu abgegriffen. Etwas Innovatives musste es sein, etwas, das die Kunden aufrüttelte.

Sie überlegte, aber immer, wenn sie das Gefühl hatte, ihr Einfall würde sich konkretisieren, spukte Simon wieder in ihren Gedanken herum.

Feline ließ ihren Blick über die Büro-Früchte gleiten und stoppte an der Postkarte über Sandras Schreibtisch. Ihre Kollegin war momentan in Elternzeit, aber die Karte hatte sie hängen lassen. »Ein Lächeln ist ein Geschenk, welches sich jeder leisten kann«, thronte gut sichtbar für jeden Hereinkommenden über ihrem Arbeitsplatz. Sandra hatte den Spruch wegen der Launen des Agenturchefs ausgewählt, aber jetzt berührte er Feline auf seltsame Art, ließ sie an Simon denken, daran, wie wenig er in letzter Zeit lächelte, wie wenig sie zu Hause lächelte und dass ihre langen Arbeitstage nicht gerade zur Entspannung beitrugen. Sie nahm ihr Smartphone, kontrollierte ihr Makeup in der Kamera-App und verließ die Agentur.

Als sie die steilen Treppenstufen zu ihrer Altbauwohnung hinaufging, hatte sie wieder dieses seltsame Gefühl im Magen. Wie so oft in letzter Zeit. Feline wusste gar nicht, ob es wirklich im Magen saß. Es war etwas, das sich flau anfühlte und doch ein bisschen wie Wut. Manchmal hatte sie Angst, dass sie dieses Gefühl vielleicht nicht unter Kontrolle hätte und es plötzlich ausbrechen würde. Es gab nicht viele Dinge, die Feline nicht unter Kontrolle hatte. »Ein Lächeln ist ein Geschenk«, pochte es in ihrem Kopf, sie strich sich ihre kurzen, strohblonden Haare hinter die Ohren, zog ihre Bluse glatt und ihre Mundwinkel in die Höhe.

»Du kommst spät«, sagte Simon. Er saß auf dem Wohnzimmersofa, die Füße hochgelegt. Der Fernseher lief. Feline sah auf die Uhr. Es war halb zehn.

»Du weißt doch, Fruitsun ...«

Er verdrehte die Augen. »Ja, ich weiß: Fruitsun.«

Feline merkte, wie ihre Mundwinkel nach unten sackten. Simon sah sie ohnehin nicht. Er zappte. Sie ließ ihren Blick über das Sofa gleiten. Er hatte die Kissen wieder auf den Fußboden geworfen, um sich mehr Platz zu verschaffen. Sie hatte ihm schon hundertmal gesagt, dass Kissen auf dem Boden nichts zu suchen hatten. Er warf sie trotzdem immer wieder runter, anstatt sie ordentlich zur Seite zu legen. In Fünf-Sekunden-Intervallen wechselte Simon die Fernsehprogramme.

»Im Ofen steht noch etwas zu essen. Du kannst es dir warm machen.«

»Was gibt es denn?«

»Maultaschen mit Hecht und Lachs in Buttersoße.«

Feline zog die Augenbrauen hoch und ging in die Küche. Sie stellte den Ofen an und seufzte. Jeden Abend fand sie diese kompliziert zubereiteten kulinarischen Genüsse im Ofen. Das war ja an sich in Ordnung. Wenn es nicht jeweils das einzige Werk gewesen wäre, das Simon an dem Tag vollbracht hatte. Und mit ihrem Befinden des Essens, mit ihrem Urteil und mit ihrem Appetit sank oder stieg Simons Selbstwertgefühl. Feline hätte viel darum gegeben, einen Abend einfach mal Pommes rotweiß und Currywurst von der Bude essen zu dürfen. Aber das kam für Simon gar nicht in Frage.

Sie holte das Essen aus dem Ofen, gab es auf ihren Teller und setzte sich an den Küchentisch unter das gerahmte Foto, das Feline in kurzem Kleid und mit direktem Blick in die Kamera auf der Rheinkniebrücke zeigte. Ihr Vater hatte es fotografiert.

»Und?« Simon stand plötzlich mit erwartungsvollem Blick im Türrahmen.

»Ja, ist super«, sagte sie und lächelte, obwohl sie noch keinen Bissen probiert hatte.

Simon setzte sich ihr gegenüber. Feline aß. Es schmeckte wirklich gut, aber meistens hatte sie um diese Uhrzeit gar nicht mehr so großen Hunger.

Simon sah zufrieden seiner Freundin beim Essen zu. Feline wusste, dass dies die schönsten Minuten seines Tages waren. Sie blickte auf seine strubbeligen Haare mit dem leichten Rotstich, seinen Drei-Tage-Bart, der wieder mal ein Sieben-oder-Acht-Tage-Bart war, seinen verwaschenen Pulli, den er schon die ganze Woche getragen hatte. Hätte sie nicht gewusst, dass Simon eigentlich ganz anders war, hätte sie sich selbst für verrückt erklärt, mit so einem Menschen zusammen zu sein.

Er nahm das Feuerzeug, das auf dem Tisch lag, in die Hand und wendete es hin und her.

»Der Freund von Ben, der Matthis, der kennt vielleicht jemanden, der jemanden kennt, der in einer Firma arbeitet, die einen Architekten suchen.«

Sie blickte auf. »Echt? Ist ja toll. Hast du schon die Kontaktdaten?«

»Nee, noch nicht, aber ich rufe morgen mal Matthis an.«

Feline merkte, wie aus ihrem angestrengten Essenslächeln ein echtes wurde. »Mach das auf jeden Fall. Vielleicht wird das ja was.«

Simon nickte. Er hielt das Feuerzeug mit Daumen und Zeigefinger und versuchte es wie ein Pendel hin- und herzuschwingen, doch sein Schwingen glich eher einem abgebremsten Hin- und Herwedeln.

Feline musste an ihre gemeinsame Zeit an der Uni denken, an die gemeinsamen Ideen und Ziele.

Es hatte ja auch alles gut ausgesehen nach dem Studium. Sie war durch viel Glück in der Agentur, in der sie schon während des Studiums gearbeitet hatte, als Junior-Art-Director ein- und bald aufgestiegen, dazu hatte sich das mit Youtube ergeben, während Simon in einem kleinen Architekturbüro untergekommen war. Es war genau das, was Simon sich gewünscht hatte: ein kleiner Betrieb, in dem Kreativität und Teamarbeit im Vordergrund standen.

Niemand hatte geahnt, dass der Inhaber des Architekturbüros hoch verschuldet war und schließlich Insolvenz anmelden musste. Das war vor einem halben Jahr gewesen.

Seitdem schien es Feline, als würden sie beide in unterschiedlichen Welten leben. Und sie hatte das Gefühl, dass sie sich den Zugang zu Simons Welt nur verschaffen konnte, indem sie seine kulinarischen Ergüsse annahm. Sie aß nur für ihn. Damit er ihr nicht entglitt in eine Welt, die ihr nicht mehr zugänglich war.

Sie hatte ihn ein paar Mal ermuntert, sich tagsüber neben der Jobsuche und dem Haushalt doch auch um seine Architektur zu kümmern. Zu entwerfen, Pläne zu zeichnen, Konstruktionen zu entwickeln – das war doch schließlich sein Gebiet. Doch er weigerte sich. Feline versuchte, ihn zu motivieren, aber Simon erklärte ihr, dass er Projekte, die niemals gebaut und nicht einmal an einem Wettbewerb teilnehmen würden, für vollkommen sinnlos hielt. Daraufhin hatte sie ihm vorgeschlagen, einen Youtube-Kanal für Architekten zu gründen, doch das hatte er sofort abgelehnt: Er sei nicht Architekt geworden, um Videos zu machen.

»Noch den Rest Maultaschen?« Simon riss Feline aus ihren Gedanken.

»Danke, ich schaffe wirklich nichts mehr.«

»Vielleicht kannst du es dir ja morgen mit in die Agentur nehmen. Für mittags.«

In seinen Augen lag ein Flehen, eine Erwartung, die das helle Grün seiner Iris trübte. Feline spürte etwas in ihrem Magen und nickte nur.

Später im Bett musste sie an ihre erste gemeinsame Studentenwohnung denken. An dieses kreative Schlachtfeld aus Architekturmodellen und Designentwürfen. Daran, wie sie damals ihr Chaos liebten, wie sie sich in ihrem Chaos liebten, zwischen Grundrissen und Werbeplakaten, zwischen dünnen Holzplatten und Fotopapier, zwischen Zeichenbrett und Farben. Sie beflügelten sich gegenseitig, in ihrer Kreativität, in ihren Entwürfen, in ihrer Liebe. Wenn Feline an die Zeit zurückdachte, kamen ihr

unendlich viele Farben in den Sinn.

Sie nahm die Farben ihrer Erinnerung, malte sich daraus Gedanken, und als sie Simon neben sich liegen sah, seine vertrauten Umrisse im Halbdunkel, konnte sie auf einmal nicht anders, als ihm eine Kussspur über sein Gesicht zu ziehen.

»Nicht jetzt«, grummelte Simon und drehte ihr den Rücken zu, »ich bin müde.«

Feline sank in ihre Kissen zurück und da war es wieder, dieses Flaue, nein, diesmal war es wohl wirklich so etwas wie Wut, das sich in ihrem Magen ausbreitete. Simon war müde!

Dabei hätte sie allen Grund gehabt müde zu sein, sie, die den ganzen Tag arbeitete, während er ... Feline versuchte gleichmäßig zu atmen, um das Gefühl in ihrem Magen kleiner werden zu lassen. Sie kam sich vor wie in einem schlechten Film. Nur dass in Filmen grundsätzlich die Frau müde war.

Wahrscheinlich war sie doch ein verkappter Mann, überlegte sie. Ihre Eltern hatten schließlich einen Felix erwartet, dann war sie gekommen und wurde auf den Namen Feline getauft.

Sie blickte zu Simon hinüber. Seine Bettdecke ging im Rhythmus seiner Atemzüge auf und nieder. Idiot, dachte sie.

3 Tage vorher

»Morgenroutinen und Shopping haben wir schon so oft in unseren Videos, wir könnten mal wieder eine Challenge machen«, überlegte Laura, während sie in ihrem Cappuccino rührte.

Feline scrollte auf ihrem Smartphone durch die Kommentare unter dem letzten Video. »Hast du gesehen? Da fragt eine, ob wir Schwestern sind.«

Sie hatten sich in ihrem Lieblingscafé in der Altstadt zum Frühstück getroffen, wie sie es oft taten, bevor Feline in die Agentur fuhr und Laura ihre Boutique öffnete.

»Hast du eine Idee für eine Challenge?«

Feline musste plötzlich an die Karte von Sandra denken. »Im Büro haben wir eine Karte hängen mit dem Spruch: ›Ein Lächeln ist ein Geschenk, das sich jeder leisten kann.‹ Wie wäre es, wenn wir drei Tage lang jeden anlächeln und dann im Vlog erzählen, wie die Leute reagieren?«

Laura verdrehte die Augen. »Deine Challenge-Ideen sind immer so tiefgründig, aber lass uns das machen: ›Die ultimative Lächel-Challenge – so kriegst du jeden rum‹.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Aber ich, du hast schließlich Simon. Den könntest du bei der Gelegenheit auch mal wieder anlächeln.«

Feline verschränkte die Arme vor der Brust.

»Lächeln, Süße! Du bist noch nicht im Challenge-Modus. Also, jeder drei Tage Material sammeln und am Wochenende Schnitt?«

Feline nickte. Ihr Smartphone klingelte, das Display leuchtete auf: ihre Mutter. »Hallo Mama, was gibt’s?«

»Hast du gestern die Stellenanzeige für Technische Zeichner in der Zeitung gesehen? Vielleicht wäre das etwas für Simon.«

Feline unterdrückte einen genervten Seufzer.

»Nein, habe ich nicht gesehen. Aber Simon ist Architekt und kein Technischer Zeichner.«

Wie immer ließ die Mutter sich nicht beirren. »Das wäre doch besser als gar nichts. So kann das schließlich nicht weitergehen. Das erinnert mich dermaßen an deinen Vater, der war auch immer so faul. Kind, ich mache mir Sorgen!«

»Simon ist nicht faul!« Felines Stimme hatte in der Lautstärke einen Sprung vollführt, völlig zu Recht, wie sie fand, obwohl sie sich gleichzeitig angesichts der letzten Wochen über sich selbst und ihre vehemente Verteidigung Simons wunderte. »Und Sorgen machen musst du dir auch nicht. Aber ich muss jetzt in die Agentur, sonst komme ich zu spät und verliere meinen Job und dann hättest du wirklich Grund, dir Sorgen zu machen.«

»Also Feline, mit so etwas scherzt man nicht!« Ihre Mutter besaß die Gabe, jedes einzelne Wort dermaßen vorwurfsvoll betonen zu können, dass Feline mehr als einen Satz davon kaum ertrug.

»Mama, ich muss jetzt wirklich los, es ist schon halb zehn.«

»Na ja, wenigstens eine, die fleißig ist. Gut, dass du nach mir kommst.«

Feline drückte das Gespräch weg.

»Du hast den Lächel-Modus vergessen ...«, flüsterte Laura und grinste. »Denk dran: Ein Lächeln ist das schönste Make-up, das eine Frau tragen kann.« Feline zog die Augenbraue hoch. »Wo hast du das denn her?«

»Soll Marilyn Monroe gesagt haben.«

Kaum hatte Feline die Agentur betreten, begegnete ihr Hartbrich im Flur. Der Geschäftsführer trug einen seiner Maßanzüge in Graumelange, hatte seine gleichfarbigen Haare ordentlich nach hinten gestriegelt und sein Blick traf ihren durch seine schwarze Designerbrille.

»Ach, Frau Nebel?«

Feline blieb stehen. »Ja?«

»Ich hab gestern mit Fruitsun telefoniert. Schaffen Sie das Konzept bis heute Abend?«

Feline verbarg ihre Überraschung, dann spürte sie die Energie in sich, die am größten war, wenn sie selbst oder jemand anderes sie unter Druck setzte, und schenkte Hartbrich ein Lächeln. Schließlich war Challenge-Time.

»Klar, kein Problem. Bis heute Abend liegt das Konzept vor.«

Hartbrich bedankte sich mit einem freundlichen Gesicht, das gewöhnlich den Kunden vorenthalten blieb.

Geht doch, dachte sie und machte sich auf den Weg zu ihrer Fruchthöhle.

Tamara war schon da. Feline wusste nicht, warum immer ausgerechnet sie die Praktikanten aufs Auge gedrückt bekam.

Obwohl sie fast so alt war wie Feline, war dies Tamaras erstes Praktikum in einer Agentur. Sie war aufgeschlossen, hatte dunkle Locken und sympathische Grübchen, die sich beim Lachen in ihren vollen Wangen zeigten, aber es gab etwas, was Feline an Tamara störte: Sie bemühte sich wirklich, es nicht zu tun, doch sie konnte nicht anders – sie musste bei dem Namen ihrer Praktikantin immer an die Aldi-Marmelade aus ihrer Kindheit denken. »Tamara« war damals die Marmeladenmarke von Aldi gewesen und das bekam Feline nicht aus ihrem Kopf.

Während sie ihre Tasche abstellte, drehte sich Tamara auf ihrem Schreibtischstuhl hin und her. »Ich war gestern auf dem Nachhauseweg mit zwei anderen Praktikantinnen in der Straßenbahn. Die haben gesagt, dass du Influencerin bist. Und dann hab ich dich auf Youtube gefunden. Krass.«

Feline lächelte. »Das hat sich irgendwann so ergeben neben der Agentur. Laura und ich wollten das einfach mal ausprobieren. Und dann hat es den Leuten gefallen.«

»Aber wieso arbeitest du dann noch hier? Du könntest doch nur Influencerin sein.«

Feline schaltete ihren Mac an. Sie kannte diese Fragen.

»Ich mag meinen Job, dafür habe ich lange gearbeitet. Das mit Youtube hat sich so ergeben und macht uns einfach Spaß. Unsere Videos profitieren ja auch davon, dass ich Ahnung von Gestaltung habe und Laura von Mode. Und durch unsere Jobs sind wir nicht darauf angewiesen, auf unserem Kanal übermäßig viel Werbung zu schalten.«

Tamara nickte. »Da hätte ich auch Bock drauf, ein bisschen schminken, ein bisschen in die Kamera lächeln, ein bisschen Alltag in Düsseldorf zeigen – und dann ganz viele Klicks.«

Feline hatte keine Lust zu erklären, dass das alles immer geplant und Arbeit war. Stattdessen fragte sie Tamara, was sie denn beruflich vorhabe. Ob sie schon andere Praktika oder Auslandssemester gemacht habe und wie ihre Sprachkenntnisse seien.

Tamara zuckte mit den Schultern: »Auf jeden Fall müssen die Bezahlung und die Work-Live-Balance stimmen. Das hier ist mein erstes Praktikum und im Ausland war ich nur im Urlaub. Englisch kann ich eigentlich gar nicht, fand ich schon in der Schule doof, ist das denn für die Werbung wichtig? Aber da findet sich schon was, es werden ja überall Leute gesucht.«

Feline musterte Tamara, die völlig entspannt schien bezüglich ihrer beruflichen Zukunft. Fast bewunderte sie deren unerschütterliches Selbstvertrauen.

Hätte sie so etwas früher von sich gegeben ... ihre Mutter wäre ausgeflippt. Sie hatte stets Zielstrebigkeit von Feline gefordert und sie selbst vorgelebt.

Feline hatte viel Ehrgeiz entwickelt, war mit guten Noten durch die Schule gekommen, hatte kurz vor ihrem 18. Geburtstag ihr Abitur abgelegt und sofort einen Studienplatz erhalten. Während des Studiums hatte sie zwei Auslandssemester gemacht, als studentische Hilfskraft in der Agentur gearbeitet und trotzdem in etwas weniger als der Regelstudienzeit ihren Bachelor und Master gemacht.

Dass sie den Youtube-Kanal in ihrer Freizeit stemmte und weiter auch die Grafik-Designer-Karriere verfolgte, hatte nie zur Debatte gestanden.

Der Personalchef der Agentur beschwerte sich manchmal über die jungen Bewerber, die wenig mitbrachten, viel forderten und zu Überstunden nicht mehr bereit waren. Feline war das fremd, aber wahrscheinlich hatten nicht viele junge Leute so eine Mutter wie sie.

»Die Ablage habe ich schon gemacht«, sagte Tamara, »aber wohin das hier alles kommt, weiß ich nicht. Und die Infos über Corporate Design, die du mir gestern gegeben hast, konnte ich mir nicht kopieren – der Kopierer hat Papierstau.«

Feline blickte auf den Blätterstapel, den die Praktikantin ihr entgegenstreckte, seufzte innerlich, aber lächelte. Sie hatte an diesem Tag überhaupt keine Zeit für so etwas.

Deshalb drückte sie Tamara eine DVD mit den letzten Fruitsun-Werbespots und mit den Werbespots der Konkurrenz in die Hand und schickte sie damit in den Medienraum. Ein bisschen fühlte sie sich, wie eine Mutter, die ihr Kind vor dem Fernseher parkte, aber sie brauchte für die neue Fruitsun-Kampagne Ruhe.

Wenn Feline nachdachte, pflückte sie manchmal gedankenverloren winzige Krümel von ihrem Radiergummi. Auf ihrem Schreibtisch hatte sich schon ein kleiner Berg aus Radiergummikrümeln gebildet. Und je höher dieser Berg wurde, desto sicherer war sich Feline, dass ihre Hektik-und-Stillstand-Idee nicht gut war.

Sie hasste Stillstand.

Stillstand war eigentlich nicht die werbewirksame Ruhe, Entspannung und Erholung. Stillstand war Nichtvorwärtskommen, war Auf-der-Stelle-Treten, war Passivsein, Eingefrorensein. Sie mochte diese Dinge nicht. Und auf einmal wusste sie auch, warum.

Der Stillstand erwartete sie jeden Abend in ihrer Wohnung. Höchstpersönlich saß er auf ihrem Sofa und sah fern.

Simon war der Stillstand!

Feline fragte sich, wieso ihr das nicht schon früher in den Sinn gekommen war. Warum sie ausgerechnet jetzt über einem Berg aus Radiergummikrümeln an Simon dachte.

Sie zerriss den Konzeptentwurf mit der Hektik-Stillstand-Idee und nahm ein neues Blatt, dessen weiße Unschuld sie vorwurfsvoll anstarrte.

Eine gestrichene Mittagspause, acht Becher Kaffee und unzählige Radiergummikrümel später stand Feline vor Hartbrichs Büro. Es war kurz vor zwanzig Uhr, als sie an seine Tür klopfte und ihm lächelnd ihr sechsseitiges Konzept sowie ein paar storyboardartige Skizzen überreichte.

Die Idee war plötzlich einfach da gewesen. Fruitsun baute seit Neuestem auf exotische Mischfruchtsäfte. Papaya-AloeVera, Ananas-Ingwer, Mango-Chili und Blutorange-Pfeffer. Feline hatte ihre alte Idee der vermenschlichten Früchte wieder aufgegriffen und für den Werbespot die Liebesgeschichte zwischen einer Mango und einer Chilischote entworfen, die gemeinsam am Fruchtsaftmeer unter dem Fruitsun-Baum saßen und sich am Ende aus Liebe ineinander ergossen. Während der Produkteinblendung wollte sie die ebenfalls verliebten anderen Früchte paarweise im Hintergrund zeigen. Ähnliches stellte sie sich auch für Plakate, Anzeigenwerbung und Social Media vor.

Die Idee war sehr gefühlsbetont, dessen war sich Feline bewusst, aber sie hielt es für angebracht, die Exotik der Produkte mit Erotik in Verbindung zu bringen, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, ob »Sex sells« auch für Früchte galt.

Hartbrich warf einen flüchtigen Blick über Felines Konzeptbeschreibung, sah sich die Skizzen etwas länger an, murmelte etwas Unverständliches und sagte ihr dann, dass sie am nächsten Morgen um neun in sein Büro kommen solle, bis dahin hätte er das durchgesehen.

Als Feline gegen 20.15 Uhr die Agentur verließ und über den Parkplatz zu ihrem Auto lief, erreichte sie eine Nachricht von Laura: »Hey Süße, ich bin mit meiner Lächel-Challenge absolut erfolgreich. Mehr wird nicht verraten.«

Kaum hatte Feline die Nachricht gelesen, rief Simon an. Wann sie denn komme, wollte er wissen.

»Ich sitze hier noch im Büro mit einem Stapel Arbeit. Ein bis zwei Stunden brauche ich bestimmt noch.« Feline war erschrocken über sich. Es war einfach so aus ihr herausgesprudelt. Ihr schien es, als hätte jemand anderes diese Worte gesprochen, als wäre sie es gar nicht selbst gewesen.

Simons Stimme klang enttäuscht. Feline spürte wieder dieses seltsame Gefühl in ihrem Magen. Sie werde sich beeilen und so schnell wie möglich zu ihm kommen, versprach sie und schloss die Tür ihres roten Mini Coopers auf.

Sie stieg ins Auto und war unentschlossen. Nach ihrer spontanen Arbeitslüge konnte sie noch nicht nach Hause und auf Lauras Lächel-Challenge-Flirtereien hatte sie nach dem anstrengenden Tag ebenso wenig Lust wie darauf, im Vlog von ihrem Lächeln gegenüber Hartbrich oder Tamara zu berichten. Plötzlich sah sie im Rückspiegel den roten Haarschopf ihrer Kollegin Beate, die für einen Hygieneartikel-Kunden zuständig war. Feline kannte sie schon, seit sie als studentische Hilfskraft in der Agentur begonnen hatte. Schnell stieg sie aus und rief hinter der Kollegin her.

Ob Beate Lust auf ein Bier habe, fragte sie. Beate überlegte kurz, willigte dann ein und stieg zu ihr ins Auto. Sie parkten in der Altstadt. Dort reihten sich die Kneipen aneinander, warben mit Schildern, Menükarten und Musik um die unentschlossen Flanierenden und mussten Feline und Beate doch schließlich an Felines Lieblingskneipe freigeben. Hier ergatterten die beiden Frauen noch zwei Plätze an einem rustikalen Holztisch und bestellten bei dem Kellner zwei Alt.

Beate war zurzeit in der Agentur ebenso eingespannt wie Feline und so ergab sich genügend Gesprächsstoff. Sie redeten über ihre Projekte, lästerten ein bisschen über Hartbrichs Art und Feline fragte Beate scherzhaft, ob sie nicht eine Praktikantin gebrauchen könnte. Leider hatte Beate schon zwei, aber Tamara war ja erst einmal mit den Werbespots beschäftigt und das beruhigte Feline.

Irgendwann kam eine junge Frau etwas verschämt an ihren Tisch. »Sorry, aber kann es sein, dass du Line bist von ›Laura & Line?‹ Ich gucke euren Kanal regelmäßig, ihr macht nice Videos. Würdest du vielleicht ein Selfie mit mir machen?«

Feline lächelte. »Ja, die bin ich. Klar können wir ein Selfie machen.« Sie warf ihrer Kollegin einen verlegenen Blick zu, Beate grinste.

Die junge Frau stellte sich neben Feline und zückte ihr Smartphone. Sie lachten in die Selfie-Kamera, Feline mit ihren kurzen blonden Haaren und die junge Frau mit blondgefärbten Haaren und Pferdeschwanz. Fast sahen sie aus wie Laura und Line.

»Cool, danke!« Die junge Frau strahlte. »Dann nochmal sorry für die Störung und schönen Abend noch!«

»Dir auch«, sagte Feline und wandte sich wieder Beate zu.

Die flüsterte: »Nervt dich das nicht?«

Feline winkte ab. »Ach, das gehört dazu und ist ja auch nicht ständig so.«

»Da wir grad bei dem Thema sind ... ich habe auch mal in euren Youtube-Kanal reingeguckt.« Beate umfasste ihr Bierglas, bevor sie fortfuhr. »Ich will dir nicht zu nahe treten, aber eure Themen – Shopping, Schminken, Mode – sind ja manchmal schon etwas oberflächlich, oder?«

Feline lachte. »Klar sind sie das, aber das ist ja nicht schlimm. Ich sehe das so: Die Welt ist voll mit ernsten Themen – Kriege, Klimawandel, Krankheiten – und die Menschen wollen von diesen Themen auch mal entspannen. Das bieten wir ihnen. Es ist doch besser, wenn sie sich ein bisschen stylen und schminken und sich dadurch besser fühlen, als wenn sie Depressionen bekommen.«

Beate schüttelte grinsend den Kopf. »Du bist echt durch und durch eine Werbefrau.«

»Im Ernst: Besser die jungen Mädels gucken unseren Kanal, wo es um ein bisschen Mode und Lifestyle vor Düsseldorfer Kulisse geht, als irgendeinen Kanal, der sie in Diäten- oder Fitnesswahn treibt. Aber lass uns nicht nur über Arbeit reden, wie geht es dir denn sonst so?«

Beate druckste erst herum und rückte dann damit heraus, dass sie gerade dabei sei, sich von ihrem Mann zu trennen.

Feline hörte ihr zu, wollte ihr Mut machen, aber sie musste an die momentane Situation mit Simon denken, an ihre geschiedenen Eltern, an den Groll, der irgendwie immer hängen blieb.

Ihr war, als würde ihr momentan schlichtweg das Repertoire dazu fehlen, Beate aufzubauen. Feline merkte, wie Floskeln ihrem Mund entwichen, nur um irgendetwas zu sagen und ihre eigene Konzentration auf Beate zu lenken und nicht auf den belogenen Simon.

Gegen halb zehn brachte Feline Beate zurück zur Agentur. Sobald sie alleine im Auto saß, meldete sich ihr schlechtes Gewissen Simon gegenüber. Im Radio kam ein uraltes Lied, das sie kannte, weil ihr Vater früher gerne Bruce Springsteen gehört hatte: »Hungry Hearts«. Sie stellte lauter und als das Lied den Wagen ausfüllte, wusste sie plötzlich, was zu tun war.

Bei der nächsten Gelegenheit hielt sie rechts an, stieg aus, trat durch die Glastür in die Neonbeleuchtung und bestellte bei dem freundlichen Mann hinter der Theke eine doppelte Currywurst zum Mitnehmen.

Mit ihrer Beute fuhr Feline auf einen dunklen Parkplatz, befreite ihr Essen von dem rosafarbenen Packpapier und zog das weiße Trennpapier aus der Soße. Der Duft von Currywurst breitete sich im Wagen aus, sie sog ihn in sich, nahm dann die kleine Plastikgabel und stach sie vorsichtig in ein Wurststück. Aus der Pappschale dampfte es. Feline musste an Nebelmaschinen denken, die den Auftritt von Stars begleiteten, während sie das ketchuptriefende Etwas zu ihrem Mund führte. Mit den Zähnen zog sie das Stück Currywurst von der Gabel und ihre Zunge begann zu schmecken.

Sie war sich des großen Auftritts, den sie ihrer Currywurst bereitete, bewusst, aber als sich der Geschmack in ihrem Mund ausbreitete, die warme Wurst in ihrem Magen landete und das flaue Gefühl, das dort saß, verdrängte, fand sie, dass die Currywurst diesen Auftritt verdient hatte.

Sie genoss jeden Bissen und während sie später durch die abendlichen Straßen nach Hause fuhr, pfiff sie laut »Hungry Hearts« und fühlte sich gut.

Als Feline die Wohnungstür aufschloss, lief der Fernseher nicht. Im Wohnzimmer war es dunkel. Auch in der Küche schien kein Licht. Vielleicht war Simon schon ins Bett gegangen, dachte sie, ja sie hoffte es fast, dann würde sie das Essen im Ofen einfach wegwerfen und ihr Currywurstgeheimnis für sich behalten.

Vorsichtig schlich sie ins Schlafzimmer. Sie konnte nichts erkennen und knipste leise das Licht an. Das Bett war leer. Wo war Simon?

Die Inspektion des Badezimmers führte ebenfalls zu keinem Ergebnis, sodass nur noch ein Raum übrigblieb. Als sie ins Wohnzimmer trat, sah sie schon den schmalen Lichtstrahl unter der Tür zum Arbeitszimmer.

Feline atmete tief durch und überlegte. »Simon, ich habe bereits gegessen. Ich hatte Lust auf Currywurst.« Nein, das war keine gute Erklärung. »Ich bin so gestresst, ich habe gar keinen Hunger, ich kann mir ja dein Essen morgen Mittag in der Agentur warm machen.« Das war feige, fand sie. »Simon, ich habe Currywurst gegessen. Das war mein Protest, das war wie ein Befreiungsschlag, wenn ich ehrlich bin, kotzen mich deine kulinarischen Köstlichkeiten an.« Das war zu hart, das konnte sie nicht bringen.

»Hey, da bist du ja endlich. Was stehst du denn hier im Dunkeln?«

Feline erschrak. Simon stand in der Tür, knipste das Licht an und betrachtete amüsiert seine Freundin. »Ich ... ach, ich weiß auch nicht. Ich habe mich gewundert, dass du nicht fernsiehst.«

Ein Funkeln lag in seinen grünen Augen. Jetzt sagt er es, jetzt sagt er gleich, dass noch Essen im Ofen steht, dachte sie.

»Komm mal mit, ich muss dir was zeigen.« Simon verschwand im Arbeitszimmer.

Feline folgte ihm vorsichtig. Hoffentlich hatte er kein Picknick zwischen Akten geplant. Sie war erleichtert, als nichts im Arbeitszimmer auf Essen hindeutete.

Simon drückte ihr Blätter in die Hand. »Hier, sieh mal, meine Bewerbung, vielleicht kannst du sie ja gleich mal korrekturlesen.«

Feline stutzte. »Hast du Matthis erreicht?«

»Ja, und er hat mir die Telefonnummer von dem Bekannten seines Freundes gegeben und dann hab ich mit dem gesprochen. Ein Architekturbüro in Ratingen. Die suchen dringend jemanden, weil ein Kollege krankheitsbedingt länger ausfällt, und wahrscheinlich kann ich mich Freitag schon vorstellen. Das erfahre ich morgen.«

»Aber ... aber das ist ja super.« Feline wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Simon grinste sie an und Feline zog ihn an sich und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.

»Ach, übrigens«, sagte Simon, »in der Küche da steht ...« Feline hielt die Luft an.

»Also, in der Küche steht heute nur Brot, wenn du Hunger hast. Ich hab es echt nicht geschafft, zu kochen. Ich war den ganzen Tag mit der Bewerbung beschäftigt.«

Sie atmete auf. »Aber das macht doch nichts. Kein Problem. Ich habe so spät sowieso keinen Hunger mehr.«

2 Tage vorher

Als Feline am nächsten Morgen zur verabredeten Zeit vor Hartbrichs Büro stand, war sie gut gelaunt. Schon morgens früh hatte sie im Südpark ein Video für die Lächel-Challenge gedreht und jetzt war sie trotz der wenigen Stunden Schlaf richtig wach. Und sie sah auch so aus, denn Schlafdefizite mit Make-up zu überdecken, beherrschten Laura und sie ziemlich gut. Hartbrich würde ihrem Entwurf zustimmen – da war sie zuversichtlich.

Sie klopfte leise, vernahm sein gemurmeltes »Herein« und betrat lächelnd das Büro. Hartbrich kam hinter seinem Glasschreibtisch hervor, begrüßte Feline und bot ihr einen Platz an dem kleinen Besprechungstisch an.

Obwohl sie nun schon lange in der Agentur arbeitete, konnte sie Hartbrich immer noch nicht richtig einschätzen. War sein Lächeln echt oder war es gestellt zum Zwecke seiner Wirksamkeit auf Kunden und Mitarbeiter? Vielleicht machte auch er gerade eine Lächel-Challenge? Er wirkte unnahbar und trotzdem lag in seiner Mimik und Gestik auch immer etwas Verbindliches.

Als er sich zu Feline an den Tisch setzte und die Beine übereinanderschlug, rutschte seine Anzughose hoch und gab den Blick auf seine Socken frei. Die eine war dunkelblau und die andere schwarz, stellte Feline fest und musste innerlich grinsen. Hartbrich gefiel die Idee mit den liebenden Früchten, jedoch befürchtete er, dass der Spot nur Kinder anspräche, wenn man die Früchte sprechen ließe. Deshalb sollte sie den Dialog besser beiseitelassen und stattdessen noch mehr auf Gefühl setzen, meinte er. Er hatte noch ein paar Verbesserungsvorschläge, aber insgesamt war Feline zufrieden, dass ihm ihre Idee gefiel und er nur Kleinigkeiten geändert haben wollte.

»Frau Nebel, wie schnell schaffen Sie die Änderungen?«

Hartbrich klang nicht so, als läge diese Entscheidung bei ihr, deshalb stellte Feline die Gegenfrage.

»Wie schnell brauchen Sie die Entwürfe?«

»Morgen früh um elf Uhr kommen die Fruitsun-Leute. Bis dahin bräuchte ich sie.«

Feline atmete tief durch. Lächeln konnte sie nun nicht mehr. »Bis elf Uhr morgen? Präsentationsgeeignete Entwürfe?«

»Natürlich präsentationsgeeignet. Und das Konzept als Powerpoint-Präsentation dazu wäre nett. Sie schaffen das doch, oder?«

Muss ich wohl, dachte Feline und zu Hartbrich sagte sie: »Ja, kein Problem.«

Als Feline über den Flur Richtung Fruchthöhle lief, überlegte sie, wie Hartbrich sich das vorstellte. Seit Sandra in Elternzeit war, glaubte Hartbrich, sie könne Arbeit für zwei machen. Normalerweise teilten sich Sandra und Feline die Fruitsun-Aufgaben nach ihren Kompetenzbereichen Marketing und Kreation. Nun musste Feline das gesamte Marketing noch mit übernehmen. Hartbrich hatte es für unnötig befunden, für die kurze Dauer einen Ersatz einzustellen. Er selbst musste ja auch nicht doppelt arbeiten. Es wurde Zeit, dass Sandra wiederkam.

Feline rollte ihre Schultern nach hinten und schüttelte ihre Arme aus. Schon beim Aufstehen hatte sie sich verspannt gefühlt, dabei war der Abend zuvor mit Simon seit langem mal wieder entspannt gewesen.