Die verbotene Zeit - Claire Winter - E-Book
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Die verbotene Zeit E-Book

Claire Winter

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Beschreibung

1975: Nach einem schweren Autounfall sind Carlas Erinnerungen wie ausgelöscht, und sie setzt alles daran, die verlorene Zeit zu rekonstruieren. Der Journalist David Grant behauptet, sie sei auf der Suche nach ihrer Schwester gewesen, die vor sechzehn Jahren spurlos an der Küste von Cornwall verschwand. Doch kann sie ihm vertrauen? Lügen ihre Eltern sie an? Die Wahrheit führt Carla weit zurück in die Vergangenheit, in das Berlin der Dreißigerjahre, zu einer ungewöhnlichen Freundschaft und einer verbotenen Liebe, aber auch einer schrecklichen Schuld ...

Berlin, 1922: Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft verbindet Edith und Dora von Kindheit an eine so enge und treue Freundschaft, als wären sie Schwestern. Dora ist die Tochter eines einfachen Hausmädchens, Edith die eines reichen Papierfabrikanten. Die beiden wachsen im schillernden Treiben der Großstadt heran, und ihre Verbundenheit bleibt ihnen auch als Erwachsene erhalten. Dora findet ihr Glück mit dem ehemaligen Sportler Paul Behringer, und Edith heiratet den Adeligen Maximilian von Stettenheim. Doch wahre Liebe begegnet Edith erst mit dem charismatischen Violinisten Jules Cohn. In den gefährlichen politischen Zeiten der Dreißigerjahre lässt Edith sich auf ein gewagtes Spiel ein, denn Jules ist Jude und im Widerstand aktiv. Dora bleibt der einzige Mensch, dem sie vertrauen kann. Und Edith wird schließlich gezwungen, die Freundin um etwas zu bitten, das ihrer aller Leben auf dramatische Weise für immer verändern wird ...

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Das Buch

Berlin, 1922: Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft, verbindet Edith und Dora von Kindheit an eine so enge und treue Freundschaft als wären sie Schwestern. Dora ist die Tochter eines einfachen Hausmädchens, Edith die eines reichen Papierfabrikanten. Die beiden wachsen im schillernden Treiben der Großstadt heran, und ihre Verbundenheit bleibt ihnen auch als Erwachsene erhalten. Dora findet ihr Glück mit dem ehemaligen Sportler Paul Behringer, und Edith heiratet den Adeligen Maximilian von Stettenheim. Doch wahre Liebe begegnet Edith erst mit dem charismatischen Violinisten Jules Cohn. In den gefährlichen politischen Zeiten der Dreißigerjahre lässt Edith sich auf ein gewagtes Spiel ein, denn Jules ist Jude und im Widerstand aktiv. Dora bleibt der einzige Mensch, dem sie vertrauen kann. Und Edith wird schließlich gezwungen, die Freundin um etwas zu bitten, das ihrer aller Leben auf dramatische Weise für immer verändern wird …

Die Autorin

Claire Winter studierte Literaturwissenschaften und arbeitete einige Jahre als Journalistin, bevor sie entschied, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Sie liebt es, in fremde Welten einzutauchen, und hat schon immer eine Schwäche für die mystischen Landschaften Englands und Schottlands gehabt. Die Autorin lebt heute in Berlin.

CLAIRE

WINTER

Die

verbotene

Zeit

Roman

Copyright © 2015 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Redaktion  |  Carola Fischer

Umschlaggestaltung  |  t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv  |  © Getty images/Keystone – France und shutterstock

CollaborationJS/Arcangel Images; shutterstock

Autorenfoto  |  © Michael Scheel

Satz  |  Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-15962-7

www.diana-verlag.de

Für M.

und

die, die wir nicht vergessen werden …

Prolog

England, Cornwall, 1959

Sie hatte die Tür zugeschlagen und war aus dem Haus gerannt – den schmalen Weg durch den Garten entlang und weiter zu der Sandstraße, die ans Meer führte. Nur weg hier! Sie lief, so schnell sie konnte. Es war nicht ihr erster Streit, doch dieser war anders als alle anderen zuvor gewesen. Als wäre etwas unwiderruflich für immer zerbrochen. Die Kälte in seinen Augen war schlimmer als die Schläge, zu denen er sich manchmal in seiner Wut hinreißen ließ, wenn er getrunken hatte. Sie fühlte, wie ihr im Laufen die Tränen über die Wangen rannen, während sie sich fragte, ob es wirklich an ihr lag. Was hatte sie nur falsch gemacht? Hasste er sie? Wie blind lief sie weiter. Sie spürte weder den Wind, der ihr scharf ins Gesicht schnitt und die salzige Luft des Ozeans mit sich trug, noch sah sie die kargen herbstlichen Wiesen, auf denen vereinzelt Schafe weideten. Nebelschwaden hingen über der einsamen Landschaft. Sie rannte und rannte, bis ihre Lungen brannten und sie nicht mehr konnte. Längst hatte sie die Steilküste erreicht. Erschöpft blieb sie stehen und trat außer Atem bis zum äußersten Rand vor, um nach unten zu blicken – in die tosenden Wellen, die mit unbändiger Kraft wieder und wieder gegen die Felsen schlugen. Einen Augenblick lang fühlte sie sich in Versuchung, einfach einen Schritt weiterzugehen. Wie schnell musste man von dem schäumenden aufgepeitschten Wasser verschlungen werden … Unwillkürlich wich sie zurück und ließ sich schließlich verzweifelt auf einem der Felsen hinter sich nieder. Noch immer liefen ihr die Tränen über die Wangen. Was sollte sie nur tun? Eine Weile saß sie so und schaute in die Ferne aufs Meer zum Horizont, an dem das Wasser und der Himmel in einer dunstigen Linie ineinander übergingen. Ihr Atem beruhigte sich, doch die Verzweiflung wollte nicht weichen. Erst da bemerkte sie den Mann. Er stand ein Stück weit entfernt, dort wo der schmale Uferweg seinen höchsten Punkt hatte, und starrte zu ihr herüber. Ein beklommenes Gefühl ergriff sie, als er nun auf sie zulief, ohne sie aus den Augen zu lassen. Sie sah ihn nicht zum ersten Mal. Schon öfter hatte sie seine Gestalt in letzter Zeit hier an der Steilküste erblickt, wie er in seinem langen flatternden Mantel oben auf den Felsen stand und rauchte.

Während er näher kam, konnte sie sein Gesicht deutlicher erkennen. Er hatte harte, kantige Züge, schmale Lippen und eine lederne Haut. Etwas Kaltes, beinah Brutales ging von ihm aus, das durch seine kurzgeschnittenen Haare, die er in einem strengen Seitenscheitel aus der Stirn trug, noch verstärkt wurde.

Sie erhob sich instinktiv von dem Felsen und wünschte, sie wäre ihrem ersten Impuls gefolgt und weggelaufen, doch nun war es zu spät. Er blieb direkt vor ihr stehen und nickte knapp, bevor er sie eingehend musterte. Einen Moment lang schien es, als würde er jedes Detail an ihr wahrnehmen, um es sich einzuprägen – ihr dunkles Haar, die bereits weiblich gewordene Figur, das noch weiche junge Gesicht … Ein Lächeln glitt über seine Lippen, aber es lag keine Freundlichkeit darin, sondern eine Genugtuung, die sie nicht verstand.

»Wie schön, dass du hier bist. Sonst hätte ich dich suchen müssen …« Er sprach die Worte hart und mit fremdländischem Akzent aus.

Sie blickte ihn unsicher an, weil er so tat, als würden sie sich kennen. Etwas in ihr war plötzlich wie gelähmt.

Er zündete sich eine Zigarette an. »Ich wusste, dass wir uns begegnen werden!« Seine Augen glänzten, und mit einem Mal spürte sie die Bedrohung, die von ihm ausging, so deutlich, dass sie zurückwich und wegrennen wollte. Doch noch bevor sie den ersten Schritt machen konnte, schnellte er nach vorne und hielt sie mit hartem Griff am Arm fest. »Aber, aber … wohin willst du? Ich habe dir etwas zu erzählen! Etwas sehr Wichtiges, das du hören solltest!« Er blies den Rauch seiner Zigarette langsam aus, als würde er die Situation auf einmal genießen und hätte sich schon oft und lange ausgemalt, wie dieser Augenblick sein würde.

»Lassen Sie mich!« Voller Panik versuchte sie, sich loszureißen, und blickte sich um. Sie waren alleine hier. Selbst wenn sie schrie, niemand würde sie hören.

Sein Griff verstärkte sich. »Halt still, sonst tue ich dir weh!«, sagte er barsch. Und dann fing er an zu reden. Worte kamen aus seinem Mund, die erst keinen Sinn ergaben und sie so sehr verwirrten, dass sie eine Zeit lang sogar ihren Widerstand vergaß. Bis sie zu verstehen begann. Das, was er sagte, war so schrecklich, dass sie es nicht glauben wollte. Sie weinte und flehte ihn an, mit dem Reden aufzuhören und sie loszulassen. Nie wieder konnte die Welt sein wie zuvor. Doch er hielt sie unerbittlich fest und sprach immer weiter, als würden ihre Tränen und ihr Schmerz ihn nur noch anstacheln.

»Nein, das ist nicht wahr!« Sie schrie, aber er lachte nur. »Es ist wahr«, sagte er. »Und du sollst es wissen!«

Sie schluchzte und blickte ihn voller Entsetzen an. Es schien ihr, als würde der Boden unter ihren Füßen nachgeben und sie in die Tiefe eines brodelnden Abgrunds stürzen, der alles zerstörte.

Dann riss sie sich mit aller Kraft von ihm los …

Sechzehn Jahre später

CARLA

1

London, Oktober 1975

London blieb seinem Ruf wieder einmal treu – über den Dächern der englischen Hauptstadt hing am Morgen ein dichter Nebel. Nur schemenhaft konnte man auf der anderen Straßenseite die herrschaftlichen viktorianischen Häuser und die Umrisse der schmiedeeisernen Zäune und beschnittenen Bäume erkennen. Selbst die Lichter der Autos wirkten von Weitem wie eine Täuschung. Früher hatte Carla den Nebel immer gemocht. Als sie neu nach London gekommen war, war sie bei diesem Wetter oft durch die Stadt gelaufen, manchmal hinunter bis zum Ufer der Themse. Die Stimmung hatte sie an zu Hause erinnert – an die herbstlichen Tage ihrer Kindheit im Norden von Cornwall. Dort lag oft ein dunstiger Schleier über den schroffen Klippen der Küste, der die Weite des Horizonts verschluckte. Heute empfand sie die eingeschränkte Sicht vor ihrem Fenster jedoch eher als beunruhigend, ja fast symbolisch. Vergeblich versuchte Carla, gegen ihre Unruhe anzukämpfen. Sie hatte schlecht geschlafen. Wie so oft in letzter Zeit. Seit dem Unfall schreckte sie regelmäßig in der Nacht hoch. Mit klopfendem Herzen lag sie dann im Dunkeln wach und bemühte sich vergeblich, die quälenden Fragen zu verdrängen, die unentwegt durch ihren Kopf geisterten. Obwohl fast zehn Wochen vergangen waren, konnte sie sich noch immer nicht damit abfinden, was geschehen war. Angespannt strich Carla sich eine Strähne ihres langen, glatten Haars aus dem Gesicht. Sie wandte sich vom Fenster ab und ging zurück zu dem Schreibtisch, auf dem eine aufgeklappte Mappe lag. Der ausgeschnittene Zeitungsartikel einer Lokalzeitung lag darin. Er war vor über zwei Monaten, am 25. Juli 1975, verfasst worden:

Auf der Autobahn M4 Richtung West Drayton ist es gestern in den späten Nachmittagsstunden während des Sturms zu einem schweren Unfall gekommen. Die Fahrerin eines Personenwagens verlor auf der regennassen Straße die Kontrolle über ihr Fahrzeug, das die Leitplanken durchbrach und sich anschließend mehrmals überschlug. Die Verletzte, bei der es sich um eine achtundzwanzigjährige Frau handelte, wurde von einem Hubschrauber zum »London Hospital« transportiert. Sie schwebt zurzeit noch in Lebensgefahr.

Ein leiser Schauer lief ihr über den Rücken, wie immer, wenn sie diese Zeilen über sich selbst las, denn sie erinnerte sich an nichts. Weder an den Unfall noch – und das war das Schlimmste – an die sieben Monate, die davor lagen. Die Zeit war wie ausgelöscht aus ihrem Gedächtnis. Retrograde Amnesie, so lautete die medizinische Diagnose. Nicht ungewöhnlich nach einem derartig schweren Unfall. Es sei ein Wunder, dass sie überhaupt noch am Leben sei, hatten die Ärzte gesagt. Sie hatte etliche Prellungen, zwei Rippenbrüche und schwere Kopfverletzungen davongetragen und war mehrere Tage nach dem Unglück nicht bei Bewusstsein gewesen.

Carla biss sich auf die Unterlippe. Anfangs hatte sie geglaubt, die vergessene Zeit würde von alleine zurückkehren. Sie bräuchte vor allem Ruhe und Entspannung, hatte man ihr geraten, doch sie müsse sich darüber im Klaren sein, dass es keine Garantie dafür gebe, dass jemals alles so wie vorher sein würde. Inzwischen zweifelte Carla daran auch. In den letzten Wochen war nicht einmal ein vages Bild der vergangenen Monate wieder in ihrem Gedächtnis aufgetaucht.

Ein Geräusch hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um. Es war Tom, ihr Mann, der die Treppe von der Galerie zu ihr heruntergekommen war.

»Du bist schon wach?« Prüfend blickte er sie an, und sie bemühte sich um ein Lächeln, aber wie so oft in letzter Zeit verspürte sie in seiner Gegenwart eine leichte Anspannung.

Tom hatte bereits geduscht. Sie musste zugeben, dass er selbst zu dieser frühen Uhrzeit gut aussah. Dunkelbraunes Haar umrahmte sein Gesicht, in dem nicht die Spur von Müdigkeit, verschlafene Augen oder die Andeutung von Fältchen auszumachen waren. Sein Aussehen schien nie, wie bei anderen Menschen, tageszeitlichen oder emotionalen Schwankungen zu unterliegen. Ganz im Gegensatz zu ihr. Aus dem Spiegel hatte Carla am Morgen eine blasse Frau entgegengeblickt. Seit dem Unfall fühlte sie sich weit älter als achtundzwanzig Jahre.

»Hast du wieder schlecht geschlafen?«, fragte Tom und küsste sie auf die Wange. Der Duft seines Aftershaves stieg ihr in die Nase. Sie war ungerecht. Die meisten Frauen würden sie um einen Mann wie ihn vermutlich beneiden. Tom war attraktiv, charmant, als Anwalt überaus erfolgreich und ihr gegenüber fürsorglich und immer verständnisvoll gewesen. Seitdem sie aus dem Krankenhaus gekommen war, hatte er sie nicht einen einzigen Tag bedrängt. Unwillkürlich beschlichen sie Schuldgefühle. Sie war es, die sich verändert hatte, nicht er.

»Ich war nur früh wach«, wich sie aus.

Er strich ihr mit der Hand sanft über die Wange. Gegen ihren Willen versteifte sie sich. Einen Moment lang hoffte sie, er würde es nicht merken, doch seine Hand sank langsam nach unten. »Ach, Carla«, sagte er leise.

»Es tut mir leid! Ich … ich kann einfach nicht aufhören zu grübeln, mich zu fragen, was in der Zeit vor dem Unfall geschehen ist«, stieß sie hervor, als würde das ihr Verhalten erklären.

»Aber das weißt du doch!«

Etwas an der Bestimmtheit seines überlegenen Tonfalls ärgerte sie. Ja, sie wusste es, weil er oder andere es ihr erzählt hatten, aber das reichte nicht. Warum konnte Tom das nicht verstehen? Manchmal fürchtete sie, den Verstand zu verlieren. Das Gefühl, sieben Monate ihres Lebens verloren zu haben, sieben Monate, in denen sie alles getan haben könnte – Gutes wie Schlechtes –, verstörte sie und machte ihr Angst. Sie musste an ihr letztes Gespräch mit Dr. Norton denken, dem Psychologen und Neurologen, zu dem sie regelmäßig ging. Ihre Emotionen seien nicht ungewöhnlich, hatte er ihr gesagt. Es sei nur normal, dass sie sich verunsichert fühle. »Fällt es Ihnen denn schwer, den Menschen in Ihrem Umfeld zu glauben, was sie Ihnen über die Zeit erzählen, die Sie vergessen haben?«

»Manchmal schon. Ich habe einfach das Gefühl, dass es nur ein Ausschnitt der Wahrheit ist«, hatte sie nach kurzem Zögern erwidert, und das zuzugeben war ihr selbst vor Dr. Norton schwergefallen.

Dr. Nortons Brauen zogen sich bei ihren Worten ein Stück nach oben. »Sie zweifeln, dass es stimmt, was man Ihnen erzählt? Gibt es dafür einen Grund?«

Sie schwieg. Es war ein Gefühl, wurde ihr bewusst. Tief in sich konnte sie sich nicht des Eindrucks erwehren, man würde ihr etwas verheimlichen. »Alle sind so bemüht, mir klarzumachen, wie gut es mir geht und wie glücklich ich mit meinem Leben sein müsste«, begann sie zu erklären.

Der Psychiater drehte den Stift in seinen Händen und musterte sie. »Nun, könnte es nicht auch sein, dass der Verlust Ihrer Erinnerungen ein solcher Schock für Sie war, dass Sie es schlichtweg nicht akzeptieren können, dass nur der Unfall dafür verantwortlich war und Sie deshalb mehr hinter allem vermuten?«

»Ja, das könnte natürlich sein«, hatte Carla höflich erwidert, weil jede andere Antwort auch in ihren eigenen Ohren komisch geklungen hätte. Aber sie wusste, es war nicht der Schock. Es gelang ihr einfach nicht, emotional an die Zeit vor dem Unfall anzuknüpfen, und sie war sich inzwischen sicher, dass es dafür einen Grund gab. Als sie aus dem Krankenhaus gekommen war, hatte sie die Menschen, die ihr nahestanden – Tom, ihre Familie und Freunde –, immer wieder gefragt, was sie im letzten halben Jahr genau getan und erzählt hatte, um durch die Antworten vielleicht eine Verbindung zu ihren Erinnerungen herstellen zu können. Doch die Auskünfte waren vage gewesen und hatten ihr nicht weitergeholfen – im Gegenteil, sie hatte oft das Empfinden gehabt, man würde ihr ausweichen. Vor allem bei Tom wurde sie nie das Gefühl los, er verheimliche ihr etwas.

Als Carla eine gute halbe Stunde später mit ihrem Mann am Frühstückstisch in der eleganten Wohnküche saß und er ihr einen frisch gepressten Orangensaft reichte, verspürte sie angesichts dieses Gedankens ihm gegenüber erneut ein schlechtes Gewissen. Er war ihr Mann, sie sollte ihm vertrauen.

»Was wirst du heute machen?«, fragte Tom. Er hatte die Zeitung neben seinem Teller nicht angerührt und lächelte sie an.

Clara trank von ihrem Saft. Obwohl es ihr körperlich schon seit einiger Zeit wieder gut ging, war sie aufgrund ihrer Amnesie noch krankgeschrieben. Sie arbeitete eigentlich als Redakteurin bei dem Magazin Art & Living. »Ich habe einen Termin bei Dr. Norton und werde mich später noch mit Rachel treffen.«

Er blickte sie überrascht an und goss sich Tee ein. »Ist sie wieder in London?«

Carla nickte. Trotz seines beiläufigen Tonfalls merkte sie Tom an, dass sich seine Begeisterung über ihre Verabredung in Grenzen hielt. Rachel war ihre engste Freundin. Sie arbeitete für einen Radiosender und war ein Jahr als Korrespondentin in New York gewesen. Tom und sie hatten sich nie besonders gemocht.

Mit ausdrucksloser Miene bestrich er sich seinen Toast mit Butter. »Ich habe heute Mittag einen Termin mit Arthur Henderson. Er würde es unterstützen, wenn ich eine aktivere Rolle in der Partei übernehmen würde, vielleicht sogar ein Amt«, berichtete er.

Einen Moment wusste sie nicht, was sie sagen sollte. »Davon hast du doch immer geträumt, oder?«, fragte sie vorsichtig. Ihre politischen Meinungen gingen auseinander, aber sie wusste, dass Tom, der Mitglied der Tories war, seine Teilhaberschaft in der Kanzlei nie als sein endgültiges berufliches Ziel angesehen hatte.

Verblüfft schaute er sie an. »Ja, das stimmt!« Er lächelte und biss mit Appetit von seinem Toast ab. Seine gute Laune schien mit einem Schlag zurückgekehrt. Unwillkürlich fragte Carla sich, warum. Eine leichte Unsicherheit ergriff sie, weil sie das Gefühl hatte, ihr fehlte eine Information, die diesem Gespräch vorausgegangen war. Sie beobachtete, wie Tom noch einen Schluck von seinem Tee trank und dann aufstand, um sich auf den Weg in die Kanzlei zu machen. Als er sich verabschiedete und sich die Haustür schließlich hinter ihm schloss, konnte sie nicht dagegen an, einen Anflug von Erleichterung zu verspüren.

2

Über dem Hyde Park hing noch immer ein nebliger Schleier, als Carla später auf dem Weg zu ihrem Termin bei Dr. Norton war. Trotz der schlechten Sicht nahm sie die Abkürzung durch den Park. Die Praxis lag in einer Seitenstraße, die von vornehmen Stadtvillen flankiert wurde. Dr. Norton war ein renommierter Psychiater, zu dessen Patienten etliche bekannte Londoner Persönlichkeiten zählten. Gewöhnlich gab es für seine Praxis eine lange Warteliste, doch Tom kannte den Arzt persönlich – er hatte ihm vor einigen Jahren bei einer juristischen Angelegenheit geholfen –, sodass Carla von ihm sofort als Patientin angenommen worden war.

»Wie geht es Ihnen heute?«, erkundigte er sich.

Die Frage entbehrte nicht einer gewissen Ironie, wenn man zu einem Psychiater kam, fand Carla und lächelte leicht. »Danke, gut«, sagte sie dann jedoch höflich, während sie auf einem der niedrigen grünen Sofas Platz nahm, die genau wie die übrige Einrichtung des Raums eher den Eindruck erweckten, sich in einem Wohnzimmer zu befinden. Sie schlug die Beine übereinander und nahm wahr, wie Dr. Norton sie mit geübtem professionellem Blick musterte und jedes Detail an ihr wahrzunehmen schien – von der modischen Schlaghose, dem schlichten engen Pullover bis hin zu ihrem Ring, dem einzigen Schmuck, den sie außer der Uhr trug –, so, als würden all diese Dinge etwas über ihren Gemütszustand verraten. Sie mochte den Psychiater, er war ein sympathischer grauhaariger Mann in den Fünfzigern, aber es fiel ihr dennoch nicht leicht, ihm ihr Innenleben zu offenbaren.

»Tatsächlich? Das Wetter schlägt Ihnen nicht so wie mir aufs Gemüt?«, fragte Norton mit einem Lächeln, während er ihr gegenüber auf einem Lehnstuhl Platz nahm.

Sie schüttelte den Kopf und warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. Normalerweise hatte man von hier eine beeindruckende Sicht auf den Hyde Park. »Nein. Ehrlich gesagt, mag ich den Nebel sogar.«

Die buschigen Augenbrauen des Psychologen hoben sich. »Wirklich?«

»Ja, es erinnert mich immer ein wenig an zu Hause. Ich bin an der Küste in der Nähe von Boscastle groß geworden, dort ist das Wetter häufig so«, erklärte sie, und dabei wurde ihr bewusst, dass sie das Meer und die wilde Landschaft tatsächlich oft vermisste.

»Ihre Eltern stammen von dort?«

Sie sah, dass Norton wieder begann, sich Notizen zu machen. »Nein, aus Berlin, aber ich bin in Boscastle geboren.«

»Ihre Familie kommt aus Deutschland?« Überrascht blickte er auf. »Sind Ihre Eltern während des Krieges geflohen?«, erkundigte er sich dann interessiert.

Carla schüttelte den Kopf. »Sie sind erst kurz danach nach England gezogen.«

»Wissen Sie, warum?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich glaube, es waren vor allem geschäftliche Gründe, und sie wollten irgendwo neu anfangen. Genau haben wir nie darüber gesprochen«, erwiderte sie knapp. Sie musste plötzlich an den Traum denken, der sie im Morgengrauen hatte aus dem Schlaf schrecken lassen. »Es ist seltsam, dass Sie mich nach meiner Familie fragen«, sagte sie zu Norton. »Heute Nacht habe ich nämlich von meiner Schwester geträumt!«

»Haben Sie beide ein gutes Verhältnis?«

Einen Augenblick lang wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Dann wurde ihr klar, dass sie mit ihm bisher kaum über ihre Familie gesprochen hatte. Er konnte es nicht wissen. »Meine Schwester lebt nicht mehr.« Über Carlas Gesicht glitt ein Schatten. »Anastasia ist schon lange tot. Ich war damals noch ein Kind.«

»Das tut mir sehr leid«, sagte Norton betroffen. »Möchten Sie erzählen, was mit Ihrer Schwester geschehen ist?«

Sie zögerte, denn das Letzte, was sie wollte, war, über Anastasia und die schrecklichen Tage und Wochen zu sprechen, die sie und ihre Familie vor sechzehn Jahren durchlebt hatten. »Eigentlich nicht. Ich rede nicht gerne darüber.«

Er musterte sie mit undurchdringlicher Miene. »Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass Sie gerade jetzt von ihr träumen?«

Sie hob die fein geschwungenen Brauen über ihren grünen Augen. »Sie meinen, weil in meinem Kopf ohnehin einiges nicht in Ordnung ist?«

Sein leichtes Lächeln zeigte ihr, dass er ihren ironischen Unterton sehr wohl mitbekommen hatte. »Nein, ich wollte damit eher andeuten, dass Ihr Unterbewusstsein vielleicht gerade Ihre Erinnerungen in der einen oder anderen Weise aufarbeitet.«

Sie schwieg, musste aber zugeben, dass seine Annahme vielleicht stimmen konnte. In den letzten Wochen dachte sie auffällig oft an ihre Kindheit und Jugendzeit. Mit plötzlicher Verzweiflung blickte sie ihn an. »Ehrlich gesagt habe ich nicht das Gefühl, dass sich in meinem Gedächtnis irgendetwas tut. Ich erinnere mich nach wie vor an gar nichts …« Sie brach ab.

»Sie können es nicht erzwingen, Mrs. Whiteman«, erwiderte der Psychiater behutsam. »Vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet, müssen Sie froh sein, dass Sie nur ein paar Monate verloren haben. Entscheidend und wichtig ist, dass Sie lernen, damit umzugehen.«

Sie schwieg. Nur ein paar Monate! Als sie später die Praxis verließ, gingen ihr Nortons Worte noch immer durch den Kopf. Sie wusste, er hatte recht. Wie musste man sich wohl erst fühlen, wenn man seine gesamten Erinnerungen verloren hatte? Sie schauderte bei dem Gedanken und schlug im Gehen ihren Mantelkragen hoch, während sie weiter in Richtung der Oxford Street lief. Ein buntes Gewühl an Menschen unterschiedlichster Kulturen und Hautfarben war dort unterwegs. Das Geräusch der Stimmen und Schritte auf dem Asphalt um sie herum vermischte sich mit dem Lärm des Verkehrs, dem Motorengeräusch der roten Omnibusse und Taxen. Der typische Geruch Londons lag in der Luft, ein eigentümliches Gemisch aus Abgasen, Kohle und feuchtem Nebel, den sie überall wiedererkannt hätte. Sie vergrub ihre Hände in den Manteltaschen und erreichte einige Straßenkreuzungen weiter die James Street, wo sie mit Rachel verabredet war. Sie kannten sich beide noch aus Cornwall, waren zusammen zur Schule gegangen und später zum Studium nach London, wo sie sich drei Jahre lang – bis Carla Tom kennenlernte – eine Wohnung geteilt hatten. Rachel war ihre engste und beste Freundin.

Vor ihr aus dem Dunst des Nebels tauchte der Schriftzug des Cafés Bohemian auf, in dem sie sich schon früher immer getroffen hatten. Es war Lunchzeit, und die Leute saßen dichtgedrängt an den schmalen Tischen. Der Rauch von Zigaretten hing in der Luft. Sie war kaum durch die Tür getreten, als an einem der Ecktische eine zierliche Frau mit blasser Schneewittchenhaut und blauen Augen vom Stuhl aufsprang und ihr zuwinkte.

»Carla!«

Wie immer sprühte Rachel vor Energie. Wenigstens sie schien sich nicht verändert zu haben. Carla merkte plötzlich, wie sehr sie sich auf das Wiedersehen gefreut hatte. Die beiden Freundinnen fielen sich in die Arme. Innerhalb weniger Augenblicke waren sie ins Gespräch vertieft. Sie bestellten sich etwas zu essen und zu trinken und brachten sich auf den neuesten Stand in ihrem Leben. Rachel berichtete ein wenig von New York, bevor sie sich eingehend nach ihrem Unfall erkundigte.

Carla hatte ihr in ihren Briefen und einigen kurzen Telefonaten zwar von ihrem Gedächtnisverlust erzählt und auch, wie schwierig es war, damit umzugehen, aber nicht, dass sie sich in ihrem eigenen Leben seitdem wie eine Fremde fühlte. Rachel hörte ihr nun mit ernster Miene zu. »Du hast das Gefühl, dass etwas geschehen ist, das man dir verheimlicht? Mein Gott, das klingt ja wie in einem Film von Hitchcock«, sagte sie schließlich.

Carla nickte stumm.

Rachel legte ihr Besteck zur Seite und zündete sich eine Zigarette an. »Aber wer sollte dir denn etwas verheimlichen? Tom?«

»Ich weiß, es klingt paranoid …«

Rachel schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht. Nur, welchen Grund sollte er haben?«

»Ich habe keine Ahnung. Das ist ja das Schreckliche, und zwischendurch zweifle ich auch immer wieder an mir und denke, ich bilde mir alles nur ein und es liegt an mir …« Sie verzog unglücklich das Gesicht.

Rachel legte ihre Hand auf die ihre. »Das glaube ich nicht. Ich kenne dich lange genug. Du hast immer einen sehr guten Instinkt gehabt. Weißt du noch, damals mit deiner Schwester, da hast du auch schon lange vorher etwas geahnt.«

Carla nickte angespannt. Einen kurzen Augenblick stiegen die Bilder der Vergangenheit wieder vor ihren Augen auf – die furchtbaren Tage, in denen die Polizei die Wälder durchkämmt und den Küstenabschnitt nach ihrer Schwester abgesucht hatte. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie schon zum zweiten Mal an diesem Tag an Anastasia dachte.

»Es tut so gut, mit jemandem zu sprechen, der mir glaubt!«, sagte sie zu Rachel. »In der Zeit vor dem Unfall haben wir doch telefoniert, oder?«, fragte sie dann. »Gab es da irgendetwas, was ich Auffälliges erwähnt oder gesagt habe?«

Rachel, die begriff, worauf sie hinauswollte, überlegte. »Ich entsinne mich, dass wir vor allem über deine Fehlgeburt gesprochen haben. Es ging dir nicht besonders gut.«

Carla nickte. Diese Zeit gehörte auch zu den letzten Erinnerungen, die sie selbst noch im Kopf hatte. Tom und sie hatten sich immer Kinder gewünscht, und im letzten Jahr war sie endlich schwanger geworden, doch sie hatte das Baby verloren und war deshalb einige Zeit sehr niedergeschlagen gewesen.

»Ehrlich gesagt, ist mir nichts aufgefallen«, fuhr Rachel fort. »Ich erinnere mich nur, dass unser letztes Telefonat vor deinem Unfall etwas merkwürdig war. Du wolltest mir etwas erzählen. Etwas Wichtiges, sagtest du.«

Carlas Finger spannten sich um das Weinglas, und ihr Herz schlug auf einmal schneller. »Und was war das?«

Rachel zuckte die Achseln. »Nichts. Wir wurden unterbrochen. Tom kam früher nach Hause, und du hast das Telefonat daraufhin schnell beendet und gesagt, du würdest dich in den nächsten Tagen wieder melden. Das hast du aber nicht getan.«

Carla versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie wünschte, sie hätte gewusst, was sie damals hatte erzählen wollen.

Als sie später das Café verließen, liefen die beiden Freundinnen noch ein Stück zusammen die belebte Oxford Street entlang. Rachel hakte sie unter. »Weißt du, wenn dein Gedächtnis dich im Stich lässt, musst du dir vielleicht die vergessene Zeit dann einfach anders zurückholen.«

»Anders?«

»Ja, als wenn es nicht dein Leben wäre. Du hast doch für euer Magazin auch oft Porträts über Künstler oder berühmte Leute geschrieben. Stell dir vor, du würdest über einen von ihnen berichten und recherchieren müssen, was er im letzten halben Jahr getan hat. Hast du schon mal überlegt, dich deiner Erinnerung auf diese Weise zu nähern?«

Carla wich einem Passanten aus und lächelte schief. »Vor Tom müsste ich das geheim halten. Er hätte sicherlich das Gefühl, ich würde ihm nicht vertrauen.«

»Womit er ja nicht ganz falschliegt«, gab Rachel trocken zur Antwort.

»Ja, vielleicht bin ich auch deshalb bisher davor zurückgeschreckt«, gestand Carla. Sie drehte sich zu Rachel. »Aber ich weiß, dass ich etwas tun muss, sonst werde ich noch verrückt. Alles ist besser, als einfach darauf zu warten, dass mein Gedächtnis wieder von alleine zurückkommt.«

3

Stanford, Green & Whiteman gehörte zu den renommiertesten Kanzleien Londons. Möbel aus geschliffenem Mahagoniholz, lederne Clubsessel und Antiquitäten zierten die hohen Räume, in denen der Besucher bei jedem Schritt unweigerlich die Macht und den Erfolg spürte, die seit Jahrzehnten die Firmengeschichte bestimmten.

Tom liebte diese Atmosphäre. Es war früher Nachmittag, als er von seiner Lunchverabredung zurückkam. Solange er zurückdenken konnte, hatte er Anwalt werden wollen, ein erfolgreicher wohlgemerkt, und sein Ehrgeiz hatte ihn dieses Ziel bereits früh erreichen lassen. Vor drei Jahren war er mit gerade einmal Mitte dreißig Partner in der Kanzlei geworden. Aber Tom wollte mehr, und er hatte nie daran gezweifelt, dass er das auch schaffen würde.

»Für die nächste Stunde bitte keine Telefonate und Besuche. Ich möchte nicht gestört werden«, sagte er bei seiner Rückkehr zu Lucy, seiner Sekretärin, in deren hübschem Gesicht eine Frage und ein stiller Vorwurf zugleich lagen. Er ignorierte beides. Es fiel ihm nicht leicht, aber es war besser so.

Tom schloss die Tür hinter sich. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Akten eines Klienten, den er morgen vor Gericht verteidigen würde. Seine Gedanken weilten jedoch noch immer bei dem Gespräch, das er eben geführt hatte. Es war gut verlaufen, sehr gut sogar. Arthur Henderson, der ihn protegierte, hatte sich ausführlich mit ihm über seine politische Zukunft unterhalten – über ein potenzielles Amt in der Partei genauso wie über die Möglichkeit, in ein, zwei Jahren für das Unterhaus zu kandidieren.

»Sie bringen alles mit, Tom«, sagte er. »Sie sind jung, erfolgreich, intelligent und sympathisch! Die Wähler werden Sie lieben. Das sehe nicht nur ich allein so.«

»Ich fühle mich sehr geehrt, das zu hören«, erwiderte er so bescheiden wie möglich, und Henderson hielt ihm daraufhin einen Vortrag, was ihn in der Politik erwarten würde. Mit einem selbstbewussten Lächeln hörte Tom ihm zu, stellte genau die Zwischenfragen, die von ihm erwartet wurden, und hatte Henderson und der Partei schließlich noch einmal seiner absoluten Loyalität versichert.

Angespannt glitt sein Blick jetzt jedoch zu dem gerahmten Foto seiner Frau, das am Rande seines Schreibtischs stand. Carla konnte alles gefährden. Die Situation mit ihr war schwierig und keineswegs stabil. In den letzten Tagen hatte Tom manchmal befürchtet, dass sie sich vielleicht doch wieder erinnern würde und diese Tatsache nur vor ihm verbarg. Andererseits hatte Carla sich noch nie besonders gut verstellen können. Aber ihr Verhalten war seltsam. Sie hatte sich verändert, fast als würde sie etwas spüren. Ganz zu schweigen von ihren vielen Fragen. Er ging grübelnd von seinem Schreibtisch zu einem Schrank, hinter dessen polierten Holztüren sich eine kleine Bar und ein Eisfach versteckten. Tom griff ein Glas und goss sich nachdenklich einen Whisky ein. Normalerweise trank er während der Arbeitszeit nicht, doch gelegentlich half es ihm bei schwierigen Fällen beim Nachdenken. Er nahm einen Schluck. Der rauchige Geschmack des Whiskys hinterließ sofort ein angenehmes Gefühl, und er merkte, wie sich der Alkohol wärmend in seinen Adern ausbreitete.

Er musste es analytisch, wie einen seiner Fälle, betrachten. Es war nicht zu verhindern, dass Carlas Erinnerungen vielleicht doch zurückkehrten – obwohl die Ärzte sich ihm gegenüber zu seiner Erleichterung nicht besonders optimistisch geäußert hatten. Aber jede Woche, jeder Monat später würde ihm die Möglichkeit geben, besser reagieren zu können, wieder mehr Einfluss auf sie zu gewinnen. Vor seinen Augen tauchten unwillkürlich wieder die Bilder im Krankenhaus auf. Er entsann sich seiner Anspannung und Angst. Es war ihm wie ein Geschenk vorgekommen, als Carla das Bewusstsein wiedererlangte und klarwurde, dass sie einen Teil ihres Gedächtnisses verloren hatte und nicht mehr wusste, was vor dem Unfall geschehen war.

Tom trank einen weiteren Schluck, dann stellte er das Glas zur Seite. Er schätzte es, Kontrolle über sich und die Dinge zu haben. In seiner Karriere und seinem Leben gab es nichts, was er dem Zufall überlassen hatte. Die meisten Menschen glaubten, ihm seien die Dinge von alleine zugefallen, aber dieser Eindruck war bewusst gesteuert.

Seine Gedanken kehrten zu seiner Frau zurück. Er spürte ihre innere Distanz, die Gefahr, dass sie ihm emotional entglitt. Seit dem Unfall schliefen sie in getrennten Zimmern, weil sie in der Nacht immer wieder hochschreckte und oft stundenlang wach war. Doch er war sich bewusst, dass das nicht der einzige Grund war. Sie brauche Zeit für sich, hatte sie gesagt, und ihm war gar nichts anderes übrig geblieben, als den verständnisvollen Ehemann zu spielen. Zu viel hing davon ab.

Vor zwei Tagen hatte er mit ihrem Vater telefoniert. Der alte Herr war beunruhigt gewesen, weil Carla Fragen gestellt hatte, weshalb sie in dem halben Jahr vor dem Unfall mehrere Male in Cornwall gewesen war. Tom hatte lange mit ihm telefoniert. Er presste die Lippen zusammen. Sie durfte auf keinen Fall die Wahrheit erfahren. Niemand durfte sie erfahren!

4

Als Carla am frühen Nachmittag von ihrem Treffen mit Rachel nach Hause kam, setzte sie sich an den Schreibtisch und fing an, ein Kalenderblatt für die Monate vor dem Unfall anzulegen. Eine neue Entschlossenheit hatte sie ergriffen.

Das letzte Ereignis, das sie noch deutlich vor Augen hatte, lag im Dezember des vergangenen Jahres. Der Unfall war im Juli darauf geschehen. Sie musste herausfinden, was sie in der Zeit dazwischen getan hatte – Tag für Tag. Die Ausbeute aus ihrem Filofax und anderen Unterlagen, die Carla schon zigmal zuvor durchgegangen war, war spärlich. Leider hatte sie nie zu den Menschen gehört, die regelmäßige Eintragungen in ihren Kalender machten. Neben einigen beruflichen Terminen, wie ihren Redaktionssitzungen, und Geburtstagen hatte sie nur ihre drei Besuche bei ihrem Vater in Cornwall notiert.

Ihr Blick irrte über die vielen weißen Kästchen, die für die Tage standen, an die sie sich nicht erinnern konnte, und sie fragte sich, wo sie nur anfangen sollte. Plötzlich beschlich sie die Angst, dass sie sich doch lächerlich machte. Was, wenn Tom gar nichts vor ihr verheimlichte und sie es nur nicht wahrhaben wollte? Amnesien gingen oft mit Verunsicherungen, ja regelrechten Identitätskrisen einher. Das hatte ihr nicht nur Dr. Norton gesagt, sondern sie hatte es auch selbst nachgelesen.

Sie merkte, dass ihr kalt war. Draußen hatte sich der Nebel inzwischen gelichtet, doch wenn der Wind so wie jetzt auf dem Haus stand, zog es stets ein wenig durch die alten viktorianischen Fenster. Sie fröstelte und erhob sich von ihrem Schreibtisch, um ins Schlafzimmer zu gehen und sich dort eine Strickjacke zu holen. Nachdenklich holte sie das Kleidungsstück aus dem Schrank und schlüpfte hinein. Dabei merkte sie, dass sich in einer der Taschen ein gefalteter Zettel befand. Sie zog ihn hervor und wollte ihn schon wegwerfen, als sie sah, dass es ein alter Abholschein für die Reinigung war. Vom 10. Juli. Überrascht blickte sie auf das Datum. Das war zwei Wochen vor ihrem Unfall gewesen! Ihr Herz klopfte mit einem Mal schneller. Sie versuchte, irgendeine winzige Insel der Erinnerung in ihrem Kopf zu finden. Doch da war nichts. Aber sie kannte die Reinigung, weil sie dort schon oft etwas abgegeben hatte. Sie lag nur ein paar Straßen entfernt. Kurz entschlossen griff Carla nach ihrer Handtasche und ihrem Mantel und machte sich auf den Weg dorthin.

Eine Frau mit beeindruckend knallig roten Haaren stand hinter dem Ausgabetresen, als sie das Geschäft betrat. Ungläubig starrte sie auf den Abholschein, den Carla ihr reichte. »10. Juli? Also, das ist ja ein bisschen her«, sagte sie in breitem Cockney, einem Dialekt, den man vor allem im Londoner East End sprach. »Kann ich Ihnen nicht versprechen, dass die Sachen noch da sind. Wir sind nicht verpflichtet, die Kleidung länger als acht Wochen aufzuheben …«

»Ich weiß«, sagte Carla, die sich unwillkürlich fragte, ob sie die Frau vor sich schon einmal gesehen hatte. Sonst hatte hier immer eine ältere Dame an der Ausgabe gearbeitet. »Vielleicht könnten Sie trotzdem einmal nachsehen?«, bat sie sie mit einem liebenswürdigen Lächeln. »Ich war im Krankenhaus. Es war mir leider nicht möglich, vorher vorbeizukommen …«

Die Frau musterte sie und nickte. »Ich werde mal nachschauen«, sagte sie etwas freundlicher. »Wir lagern die Sachen hinten in einer Kammer, bevor wir sie weggeben. Sie glauben ja gar nicht, was die Leute alles vergessen!« Carla sah ihr hinterher, wie sie kopfschüttelnd durch eine Tür entschwand.

Ihr Blick glitt durch den Raum, in dem ein konzentrierter Geruch nach Reinigungsdämpfen und frischer Wäsche hing. Sie war hier gewesen, am 10. Juli. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie sie in der Reinigung gestanden hatte. Doch sosehr sie sich auch bemühte, ein Bild vor Augen zu bekommen, es gelang ihr einfach nicht. Stattdessen flackerte die altbekannte Panik in ihr auf. Sie merkte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat, wie jedes Mal, wenn sie sich in einer Situation befand, von der sie wusste, dass sie sich hätte erinnern müssen. Es fühlte sich an, als würde sich vor ihren Füßen ein schwindelerregender Abgrund auftun, der sie in seine Tiefe zu ziehen drohte. Sie war dankbar, als in diesem Augenblick die Tür wieder aufging und die Frau mit mehreren Bügeln über dem Arm zurückkam. »Da haben Sie aber Glück gehabt! Mrs. Murry hat die Sachen extra noch aufgehoben!«

Sie legte die Sachen vor sich auf den Tresen. Es waren zwei Kleider und ein Sommertrenchcoat. »Ach, und das war in einer der Manteltaschen. Sie sollten sie vorher immer leeren!«, erklärte sie mit strenger Miene und reichte ihr eine durchsichtige Tüte, in der sich ein Stift, ein kleines rotbraunes Notizbuch und eine angebrochene Packung Bonbons befanden.

Carla blickte überrascht auf den Inhalt. »Natürlich. Vielen Dank!«

Es war nicht das erste Mal, dass sie ein Notizbuch in ihren Taschen vergaß, denn sie trug eigentlich immer eines bei sich, entweder in ihrem Mantel oder der Handtasche. Seit sie Redakteurin war, hatte sie sich diese Angewohnheit zugelegt, damit sie jederzeit etwas aufschreiben konnte, wenn ihr eine Idee für einen Artikel kam oder sie etwas recherchierte. Auf dem Dachboden gab es eine ganze Kiste voll dieser Büchlein.

Sie bezahlte die Reinigungssachen und gab zusätzlich ein großzügiges Trinkgeld. »Richten Sie Mrs. Murry bitte noch einmal meinen herzlichen Dank aus, dass sie die Sachen noch aufbewahrt hat.«

Als sie wieder in ihrem Wagen saß, zog sie die kleine Tüte hervor und nahm das Notizbuch heraus. Sie blätterte es durch. Ungefähr ein Drittel der Seiten war beschrieben. Es waren kurze Notizen über Andy Warhol, Gustav Klimt, einen österreichischen Maler, und einen bekannten Londoner Kunstsammler, mit dem sie ein Interview geführt hatte. Carla wusste von Tom, dass sie im Sommer an Artikeln über die drei Männer gearbeitet hatte. Sie überflog das Geschriebene. Weiter hinten zwischen den leeren Seiten hatte sie anscheinend ein Geburtsdatum notiert: 10.04.1918. Sie erkannte an ihrer Schrift, dass sie dabei in Eile gewesen sein musste. Doch es befanden sich leider keinerlei private oder persönliche Einträge in ihren Notizen. Carla verspürte eine leise Enttäuschung – nicht der kleinste Hinweis. Sie steckte das Notizbuch wieder ein und fuhr nachdenklich nach Hause.

Die Stille im Haus hatte mit einem Mal etwas Beunruhigendes. Sie schaltete das Radio ein. In den Nachrichten wurde über die Festnahme eines mutmaßlichen IRA-Attentäters und die Auswirkungen der Ölkrise berichtet. Schließlich setzte sie sich an den Schreibtisch und griff noch einmal nach dem Notizbuch, das man ihr in der Reinigung zurückgegeben hatte. Sie ging die Seiten mit den Einträgen über Warhol und Klimt erneut durch, aber auch beim zweiten Durchsehen fand sich nichts. Ihr Blick blieb an dem Geburtsdatum hängen, das sie hinten zwischen den leeren Seiten notiert hatte. Kurz überlegte Carla, ob das Datum – der 10.04.1918 – etwas mit Warhol zu tun haben konnte, aber dann entsann sie sich, dass er erst zehn Jahre später, 1928, geboren war. Carla verzog das Gesicht. Nun, zumindest diese Information schien sich noch in ihrem Gedächtnis zu finden. Sie schlug dafür in einem Nachschlagewerk Gustav Klimt nach. Er war tatsächlich 1918 verstorben, entdeckte sie, aber nicht am 10. April, sondern am 6. Februar. Das konnte es also auch nicht sein. Stirnrunzelnd stellte Carla das Buch zurück. Das schrille Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken.

Es war ihr Vater. Mit schlechtem Gewissen fiel ihr ein, dass sie sich heute bei ihm hatte melden wollen.

»Stör ich dich gerade? Ich wollte nur wissen, wie es dir geht.« Aus seiner Stimme, die immer ein wenig heiser klang, war deutlich der deutsche Akzent herauszuhören.

»Mir geht’s gut, Dad! Mach dir keine Sorgen.« Sie wechselte ins Deutsche, die Sprache, in der sie aufgewachsen war und die sie zu Hause immer mit ihren Eltern gesprochen hatte.

»Das freut mich!« Ihr Vater war noch nie ein Mann großer Gefühlsbezeugungen, doch nach ihrem Unfall war er sehr besorgt gewesen. Carla hatte begriffen, wie viel sie ihm wirklich bedeutete.

»Was macht Mum?«, erkundigte sie sich. Sie konnte spüren, wie er zögerte.

»Sie hat Gott sei Dank eine stabile Phase. Ich habe sie gestern besucht. Wir waren sogar spazieren.«

»Wie schön. Das klingt gut!«, sagte Carla aufrichtig erfreut. Die Tagesform ihrer Mutter wechselte sehr. Nach dem Tod ihrer Schwester hatte sie versucht, sich das Leben zu nehmen, weil sie nie über den Verlust von Anastasia hinweggekommen war, und wurde seitdem nicht nur von schweren Depressionen heimgesucht, sondern war auch oft verwirrt. Sie war deshalb schon seit Langem in einer Klinik mit einem angeschlossenen psychiatrischen Heim untergebracht. Ihr Vater fuhr drei, manchmal vier Mal in der Woche zu ihr und verbrachte die Nachmittage bei ihr im Heim, das zwanzig Meilen von seinem Haus entfernt lag.

»Gib ihr einen Kuss von mir und sag ihr, dass ich sie auch bald wieder besuche«, sagte Carla, die seit dem Unfall noch nicht wieder zu Hause gewesen war. Als sie das Gespräch beendet hatten und sie den Hörer auflegte, verspürte sie plötzlich Sehnsucht nach Cornwall. Vielleicht sollte sie wirklich ein paar Tage nach Hause fahren. Das Meer und die Natur dort hatten ihr schon immer auf besondere Weise Kraft geschenkt. Ihre Hand lag noch immer auf dem Hörer, und dabei fiel ihr Blick auf die durchsichtige Wählscheibe, in deren Mitte die Telefonnummer prangte. Das Bild der Zahlen erinnerte sie an etwas. Sie stutzte. Dann griff sie plötzlich nach dem Notizbuch und verglich das Datum mit der Nummer. Die Anzahl der Zahlen stimmte überein. Konnte das sein?

Sie überlegte nur kurz, dann versuchte sie, die Nummer zu wählen. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis schließlich ein Freizeichen ertönte – es war tatsächlich ein existierender Anschluss. Carla verspürte ein trockenes Gefühl im Mund. Ihr wurde bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, was sie sagen sollte. Fast war sie erleichtert, dass niemand abnahm. Sie wollte gerade wieder auflegen, als sich am anderen Ende doch noch unerwartet eine tiefe Männerstimme meldete.

»Grant, hallo?«

Im ersten Moment fühlte sie sich in Versuchung, einfach wieder aufzulegen. »Verzeihung, mit wem spreche ich dort?«, fragte sie vorsichtig.

»Mit Grant, David Grant«, ertönte es ungeduldig, als hätte sie den Mann bei etwas gestört.

»Es klingt bestimmt etwas seltsam, was ich sage, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir uns kennen«, brachte Carla stockend hervor.

»Hätten Sie die Güte, mir vielleicht erst einmal Ihren Namen zu verraten?«

Ihren Namen? Carla durchflutete mit einem Mal ein Gefühl der Panik. Sie musste daran denken, dass Tom ein bekannter Anwalt war. Was tat sie hier? »Ich … Verzeihen Sie bitte die Störung. Es war ein Irrtum. Ich habe mich getäuscht. Auf Wiederhören.«

»Nein, legen Sie nicht auf«, unterbrach sie der Mann unerwartet hastig. Sein Tonfall hatte sich mit einem Schlag verändert. Sie konnte hören, wie er tief durchatmete. »Sind Sie Carla … Carla Whiteman?«

Sie erstarrte. »Wie kommen Sie auf diesen Namen?«

»Wir kennen uns«, sagte er eilig, und sein Ton hatte dabei etwas Beschwörendes, als fürchtete er, sie könnte einfach auflegen. »Ich hatte Ihre Stimme nur nicht sofort erkannt. Mein Name ist David Grant. Ich bin Journalist und habe Sie vor einigen Monaten kontaktiert. Sie sind Carla Whiteman, nicht wahr?«

Sie konnte spüren, wie ihr Herz raste. »Ja, das bin ich«, antwortete sie schließlich.

5

David Grant wollte ihr am Telefon nicht sagen, warum er sie vor einigen Monaten kontaktiert hatte, sondern bat um ein Treffen, um ihr alles in Ruhe erklären zu können. Sie verabredeten sich für den kommenden Tag in der Lobby-Bar des Hyde Park Hotels.

Es kam Carla mit einem Mal vor, als würde sie vor einer Tür stehen, und obwohl sie sich einerseits nichts mehr wünschte, als zu erfahren, was sich dahinter verbarg, hatte sie gleichzeitig Angst davor. Nur mit Mühe konnte sie am Abend vor Tom ihre Anspannung verbergen.

»Ist alles in Ordnung? Du wirkst nervös«, sagte er misstrauisch.

»Aber nein, mir geht es gut«, erwiderte sie und versuchte ihn mit Fragen nach seinem Treffen mit Arthur Henderson abzulenken. Sie hörte seinen Antworten kaum zu. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem seltsamen Telefongespräch zurück. Keine Sorge, ich werde Sie erkennen, hatte Grant versichert. Erst nachdem sie aufgelegt hatte, war ihr bewusst geworden, wie eigenartig diese Äußerung war und dass der Journalist nicht einmal nachgefragt hatte, weshalb sie nicht wusste, wer er war.

Am nächsten Tag stand sie vor der imposanten Fassade des Hyde Park Hotels. Ein livrierter Hotelpage hielt ihr mit beflissener Höflichkeit die Tür auf.

In der Eingangshalle herrschte emsiger Betrieb. Menschen waren am Kommen und Gehen – die meisten elegant gekleidet, wie es dem Publikum eines Fünfsternehotels entsprach. Hotelangestellte schoben mit Koffern beladene Gepäckwagen vor sich her, und Wortfetzen fremder Sprachen drangen zu ihr.

Die Bar, die auch für die Londoner ein beliebter Treffpunkt für geschäftliche Verabredungen war, befand sich links. Carla ließ ihre Augen über die Gäste schweifen, die in den Sitzgruppen der braunen Lederclubsessel saßen, und fragte sich, ob einer von ihnen David Grant sein könnte. Zögernd ließ sie sich schließlich in einer Ecke an einem Tisch nieder und bestellte bei dem Kellner Mineralwasser und einen Tee.

Ein Schatten fiel auf sie.

»Mrs. Whiteman?«

Carla drehte sich um. Sie schaute in das Gesicht eines Mannes, der vielleicht Ende dreißig, Anfang vierzig sein mochte. Er hatte dunkles Haar und ein auffallend markantes Gesicht, in dem sich ein leichter Bartansatz zeigte, als hätte er es am Morgen nicht geschafft, sich zu rasieren.

Ihr Blick blieb an seinen grauen Augen hängen, die sie offen und ungewöhnlich direkt musterten. Etwas an ihm kam ihr vertraut vor.

Sie nickte. »Ja, das bin ich.«

»David Grant! Sie erlauben …«

Er deutete auf den Sessel ihr gegenüber und nahm dort Platz.

Carla beobachtete, wie er beim Kellner ebenfalls einen Tee bestellte. Seine Stimme war genauso tief wie am Telefon. Grant wirkte auf eine unaufdringliche Weise selbstbewusst. Sie musterte ihn prüfend – und dann erstarrte sie, denn sie sah den Mann keineswegs zum ersten Mal. Er war im Krankenhaus gewesen, nach dem Unfall! Es war in jenen Tagen gewesen, als es ihr körperlich zwar langsam besser ging, sie aber seelisch völlig aufgelöst war, weil sie zu begreifen begann, dass ihr die Erinnerung an mehrere Monate fehlte. An einem dieser Nachmittage hatte er plötzlich im Zimmer gestanden, und sie war in Tränen ausgebrochen, weil sie nicht wusste, wer er war. Sie konnte seinen besorgten Gesichtsausdruck noch immer vor sich sehen. Tom, der gerade zu Besuch gewesen war, hatte ihn eilig aus dem Zimmer geleitet.

»Sie waren im Krankenhaus!«, sagte sie mit tonloser Stimme.

Ein erstaunter Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Ich war mir nicht sicher, ob Sie sich erinnern!«

»Ich entsinne mich nur nicht der Zeit vor dem Unfall!«

»Ich verstehe, deshalb wissen Sie nicht mehr, wer ich bin«, stellte er ruhig fest, aber es klang nicht sonderlich überrascht, als wenn Tom ihm im Krankenhaus bereits von ihrer Amnesie erzählt hätte. Was auch Grants Reaktion am Telefon erklärte.

»Nein, leider nicht«, erwiderte sie stockend. »Ich versuche die Zeit so gut es geht zu rekonstruieren, aber es ist schwierig. Ihre Telefonnummer habe ich in meinem Notizbuch gefunden. Nur deshalb habe ich angerufen. Es stand nicht einmal ein Name dabei.«

»Ich bin froh, dass Sie sich gemeldet haben!« Der Blick seiner Augen traf sie erneut. »Ich habe Sie im letzten April das erste Mal angerufen«, erzählte er. »Wir haben uns daraufhin einige Male getroffen und auch telefoniert.«

»Und weshalb haben Sie mich angerufen?«, fragte Carla, die versuchte, ihre plötzliche Unsicherheit zu verbergen.

»Ich habe Sie um Hilfe gebeten. Die Geschichte ist etwas kompliziert«, sagte Grant, der nach den richtigen Worten zu suchen schien. »Der beste Freund meines verstorbenen Vaters, Jules, dem ich sehr viel verdanke, hat mich im letzten Jahr um einen großen Gefallen gebeten. Er lebt selbst in Israel, ist aber in Berlin aufgewachsen und auf der Suche nach seiner Jugendliebe, einer gewissen Edith von Stettenheim, die er kurz nach dem Krieg das letzte Mal gesehen hat. Ich versuche für ihn herauszubekommen, was aus ihr geworden ist.«

Carla hob die Augenbrauen. »Und wie um Gottes willen sollte ich Ihnen dabei helfen?«

Grant lächelte leicht. »Verzeihen Sie, aber genau dasselbe haben Sie auch gesagt, als wir uns das erste Mal gesehen haben!«, sagte er dann. »Edith von Stettenheim war eine enge Freundin Ihrer Mutter Dora. Sie hat sie 1946 in Berlin besucht. Danach verliert sich ihre Spur leider.«

Carla blickte ihn überrascht an. Sie hätte nicht sagen können, was sie von dem Treffen mit dem Journalisten erwartet hatte – aber ganz sicher nicht, dass es um eine einstige Freundin ihrer Mutter ging. Sie hatte den Namen Edith noch nie gehört. »Ich verstehe trotzdem nicht ganz …« Sie runzelte die Stirn. »Wenn wir schon einmal darüber gesprochen haben, dann wissen Sie doch auch, dass meine Mutter psychisch krank ist und in einem Heim lebt.«

Grant, der einen Schluck von dem Tee getrunken hatte, stellte seine Tasse ab. »Ja, sicher, und es liegt mir auch fern, Sie zu bedrängen. Ihre Situation ist bestimmt schon schwierig genug.« Es klang ehrlich, wie er das sagte.

Sie schwieg. »Sie möchten, dass ich meine Mutter nach Edith frage?«, schlussfolgerte sie.

Er zögerte. »Sie hatten Ihre Mutter bereits auf Edith angesprochen«, sagte er zu ihrer Überraschung. »Aber sie hat nichts gesagt und wohl sehr ungewöhnlich reagiert. Als wir das letzte Mal telefonierten, hatten Sie deshalb angefangen, selbst einige Nachforschungen anzustellen.«

Carla starrte ihn an. »Ich? Aber warum?«

Ein nicht zu deutender Ausdruck huschte über Grants Gesicht. »So wie Sie es mir zu dieser Zeit schilderten, hatten Sie wohl das Gefühl, dass die Vergangenheit Ihnen vielleicht eine Antwort auf die Depressionen Ihrer Mutter geben könnte«, erklärte er vorsichtig.

Carla schaute ihn mit wachsender Verwirrung an. Inwieweit hätte es in der Vergangenheit ihrer Mutter eine Erklärung für deren Depressionen geben können? Sie merkte, dass der Journalist sie aufmerksam beobachtete, und mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie eigenartig die Situation war. Hier saß sie mit einem für sie wildfremden Menschen, der mehr über ihr Leben zu wissen schien als sie selbst, und sie erinnerte sich an nichts.

»Sie müssen mir verzeihen, das alles ist etwas schwierig für mich«, stieß sie schließlich hervor. »Selbst wenn meine Mutter und diese Edith sich 1946 getroffen haben. Das ist doch Jahre her, und meine Eltern sind zu dieser Zeit auch nach England gegangen.«

»Das stimmt«, gab Grant zu. »Aber es ist der letzte Anhaltspunkt, den es zu Edith gibt.«

Nachdenklich trank Carla einen Schluck von ihrem Mineralwasser. Sie musste an die wechselnde Gemütsverfassung ihrer Mutter denken. Es war nicht sonderlich erstaunlich, dass sie nichts zu Edith gesagt hatte, wenn sie einen schlechten Tag gehabt hatte. Carla musste zugeben, dass Grants Geschichte ihre Neugier geweckt hatte. »Wenn ich das nächste Mal in Boscastle bin, kann ich meine Mutter noch einmal fragen«, sagte sie zu Grant. »Vielleicht sagt sie diesmal mehr. Sie hat sehr unterschiedliche Tagesformen.«

»Ich wäre Ihnen für jede Information dankbar.« Er blickte sie an, und einen Moment lang konnte sie sich nicht des Gefühls erwehren, dass er ihr nicht alles erzählt hatte.

Carla gab dem Kellner ein Zeichen, dass sie zahlen wollte, doch Grant bestand darauf, die Rechnung zu übernehmen. Als sie das Hotel verließen, wandte sie sich noch einmal zu ihm. »Die Geschichte mit Ihrem Freund Jules klingt sehr romantisch. Diese Edith muss ihm viel bedeutet haben.« Ein nachdenklicher Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. »Wie eigenartig, dass meine Mutter und sie so eng befreundet waren. Ich habe noch nie von einer Edith von Stettenheim gehört. Wissen Sie, woher sie sich kannten?«

Er nickte. »Sie sind zusammen aufgewachsen. Ihre Mutter Dora Wilmer war die Tochter des Hausmädchens der Theußenbergs. Edith war das jüngste Kind der Familie. Wie Jules es mir schilderte, waren die beiden Mädchen von Kindheit an unzertrennlich!«

Carla blickte ihn erstaunt an.

Als sie auf dem Weg nach Hause war, merkte sie, wie sehr sie das Treffen mit dem Journalisten aufgewühlt hatte. Sie hatte gehofft, von ihm etwas zu erfahren, das ihr vielleicht einen Schlüssel zu ihren verlorenen Erinnerungen geben würde. Wie merkwürdig, dass ihre Gedanken stattdessen nun um die Vergangenheit ihrer Mutter kreisten. Ein Bild tauchte vor ihren Augen auf – von früher. Sie waren im Garten, und ihre Mutter hatte ihre Schwester und sie in die Arme genommen und sie beide so fest an sich gedrückt, als hätte sie Angst, sie zu verlieren: Ihr seid die kostbarsten Schätze, die mir das Leben geschenkt hat. Ich liebe euch …

Carla ging auf, dass sie mit ihren Eltern nie über deren eigene Jugend gesprochen hatte. Bisher hatte sie das immer auf den Krieg geschoben. Niemand aus der älteren Generation sprach schließlich gerne über diese Zeit. Es fiel Carla schwer, sich ihre Mutter jung und unbeschwert als junge Frau oder gar als Kind vorzustellen. Wie mochte sie damals wohl gewesen sein?

DORA

6

Berlin, Januar 1922

Draußen herrschte klirrende Kälte. Dora wünschte sich, sie hätten sich nicht einfach ohne Schal und Mütze aus dem Haus gestohlen. Doch der Anblick der schneebedeckten Natur – der weißen Wiesen und Bäume, deren Äste sich unter der schweren Last nach unten bogen, sodass man sie fast greifen konnte – ließ sie die Kälte sofort wieder vergessen. Glitzernd lag der sichelförmige Lietzensee vor ihnen. Eine dünne Eisschicht hatte ihn überzogen. Zarte Flocken fielen vom Himmel und tanzten, hier und da durch einen Windstoß getrieben, übermütig durch die Luft, und Dora kam sich vor wie im Märchen.

Sie rannte und hörte neben sich Ediths helles Lachen. »Oh, ist das nicht wundervoll!«

Dora nickte strahlend. Ihr dunkelblondes Haar wehte hinter ihr her. Später würde ihre Mutter ihr eine Predigt halten, da war sie sicher, aber jetzt war sie hier, zusammen mit Edith. Der Schnee stob zu ihren Füßen hoch, und ein Glücksgefühl durchströmte sie. Im Sommer hatte ihre Mutter eine Anstellung im Hause des Papierfabrikanten Theußenberg angenommen, und seitdem wohnten sie im Dienstbotentrakt des Hauses. Der Unternehmer und seine Frau gehörten in der dritten Generation zur besseren Gesellschaft Berlins und lebten im wohlhabenden Charlottenburg in einem eleganten herrschaftlichen Stadthaus, das sich über drei Stockwerke zog und sogar einen eigenen Garten hatte. Die Familie hatte einen Sohn, Carl, der fast erwachsen war, und eine jüngere Tochter, Edith. Seitdem Dora sie das erste Mal gesehen hatte, hatte sie sich nichts mehr erträumt, als dieses Mädchen zu ihrer Freundin zu haben. Sie waren beide im gleichen Alter. Wie oft hatte sie am Fenster gestanden und die andere sehnsüchtig beobachtet – wenn Edith allein durch den Garten lief, mit ihrem großen Bruder Ball spielte oder sich am Abend lachend in die Arme ihres Vaters warf – sie wirkte so frei und unbeschwert.

Ihre Mutter hatte ihre Blicke sehr wohl mitbekommen. »Sie kann nicht deine Freundin sein!«, hatte sie in einem strengen Tonfall erklärt, der keinen Widerspruch duldete. Dora hatte folgsam genickt. Nie hätte sie es gewagt, die Tochter des Hauses von sich aus anzusprechen. Doch was sollte sie tun, wenn Edith es ihrerseits tat? Das Stadthaus war groß, und sie begegneten sich oft. Meistens grüßten sie sich nur, und Dora, die gerne so viel sagen wollte, brachte kaum mehr als ein scheues Lächeln zustande, aber heute war Edith auf einmal überraschend im Flur des Dienstbotentrakts vor ihr aufgetaucht. »Hast du gesehen, es hat geschneit! Kommst du mit nach draußen?«, hatte sie mit leuchtenden Augen gefragt.

Dora hatte gezögert und unwillkürlich zum Hauswirtschaftsraum geschaut, wo ihre Mutter dabei war, Wäsche zu mangeln.

Edith hatte ihren Blick mitbekommen. »Nur kurz. Es wird niemand mitbekommen«, wisperte sie leise, und eh Dora recht zum Nachdenken kam, hatte sie genickt, ihren Mantel gegriffen, und sie waren beide nach draußen gelaufen.

Nun rannten die beiden Mädchen zum Ufer hinunter. Ihre Wangen hatten sich gerötet, und ihre Mäntel flatterten beim Laufen um ihre Beine, während der feine Schnee wie Puderzucker zu ihren Füßen aufstob. Edith griff ihre Hand.

»Schau, der See ist schon zugefroren!«

Einen Moment hielten die beiden Mädchen atemlos inne und beobachteten, wie eine Katze über den einsamen See spazierte und eine zarte Spur ihrer Pfoten hinterließ.

»Komm!« Edith zog sie weiter mit sich.

Doch Dora blieb stehen. »Das Eis ist bestimmt noch nicht fest genug!«

»Ach wo, es ist schon seit Tagen kalt, und wir sind doch ganz leicht!«, gab Edith mit einem unbekümmerten Lachen zur Antwort.

Dora kam sich feige vor. Ihr Glücksgefühl bekam einen feinen Riss, aber sie blieb stehen, während Edith schon ohne sie weiterrannte, hinaus auf den See.

»Wovor ist dir so bange? Sieh, es ist ganz fest!« Übermütig drehte Edith sich mit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse. Wieder und wieder. Ihre dunklen Locken flogen im Wind. Einen Moment lang war Dora voller Neid und Bewunderung, weil Edith so frei war und keine Angst zu kennen schien. Dora wünschte, sie hätte sein können wie sie.

Dann hörte sie ein Geräusch – als würde jemand auf einen riesigen Berg von Glas treten. Ein erschrockenes Gesicht blickte sie vom Eis aus an, und ein lautes, bedrohliches Knirschen ertönte, bevor Dora nur noch voller Entsetzen sah, wie Edith mit einem angsterfüllten Aufschrei einbrach und unter Wasser verschwand.

ENDE DER LESEPROBE