Die verdammte Generation - Christian Hardinghaus - E-Book

Die verdammte Generation E-Book

Christian Hardinghaus

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Beschreibung

Während Holocaust und Judenverfolgung seit Jahrzehnten ihren berechtigten Platz besetzen, haben wir vergessen, die Soldaten, die auf deutscher Seite im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben, zu fragen, wie das alles wirklich war im Krieg. Ein Versäumnis, das Ende der 1960er-Jahre seinen Anfang nahm, als rebellische Studenten damit begannen, ihre Elterngeneration pauschal als Nazis zu verdammen. Alle bisherigen Versuche einer differenzierten Betrachtung unserer dunkelsten Geschichte scheiterten. Die Legende einer sauberen Wehrmacht ist zur Legende einer verbrecherischen Wehrmacht verkommen. Dabei haben historische Erkenntnisse nie bezweifelt, dass nur ein geringer Teil der Wehrmachtssoldaten an Kriegsverbrechen und Holocaust beteiligt war. Wenn es gelingt, dies anzuerkennen, können wir den Blick auf unsere Vergangenheit erweitern und uns selbst besser verstehen lernen. Wer weiß denn schon, wie es sich anfühlte, in einem Jagdflieger abgeschossen zu werden und allein im Mittelmeer zu treiben? Wie ertrugen unsere Väter und Großväter die qualvolle Hitze in Afrika oder unerträgliche Kälte und Hunger im Kessel von Stalingrad? Können wir weiterhin pauschal verurteilen, wenn wir erfahren, welches Leid Bromberger Blutsonntag, Rheinwiesenlager oder die Gemetzel während des D-Days und der Allerseelenschlacht über deutsche Soldaten gebracht haben? 13 Zeitzeugen der bedeutendsten Schlachten des Zweiten Weltkrieges bitten letztmalig darum, gehört zu werden. Sie öffnen sich und sprechen schonungslos ehrlich über alles, was sie erlebten. Hören wir ihnen zu, anstatt sie zu verdammen.

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CHRISTIAN HARDINGHAUS

DIEVERDAMMTEGENERATION

Gespräche mit den letzten Soldatendes Zweiten Weltkriegs

1. eBook-Ausgabe 2020

© 2020 Europa Verlag GmbH & Co. KG,

Berlin · München · Zürich · Wien

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © picture-alliance / akg-imagesBildnachweis: http://io.ua/5604554S. 222; National Archives Washington, DC. S. 269; RIA Novosti archive, image #303890 / Zelma / CC-BY-SA 3.0, S. 220; Wigand Wüster S. 88, 94; Wikimedia Commons, S. 244; Wikimedia Commons Bundesarchiv, Bild 183-E10593 / CC-BY-SA 3.0, S. 53, Bild 183-Z0309-310 / G. Beyer / CC-BY-SA 3.0 S. 146, Bild_101I-402-0265-03A, S. 159, Bild 183-J14778 / CC-BY-SA 3.0 S. 203, Bild 183-J28303 / CC-BY-SA 3.0, S. 208, Bild 101I-090-3913-24 / Etzhold / CC-BY-SA 3.0, S. 227; Wikimedia, Public Domain, S. 62; alle anderen: privat

Redaktion: Franz Leipold

Layout und Satz: Robert Gigler

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-298-5

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

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Ansprechpartner für ProduktsicherheitEuropa Verlage GmbHMonika RoleffJohannisplatz 1581667 Mü[email protected]+49 89 18 94 [email protected]

INHALT

Vorwort

Zwischen Hysterie und Historie – Annäherung an die Verdammte Generation

Die Wehrmacht – eine historische Beurteilung

Otto und der Engel von Bromberg

Wigand und die Pferde von Stalingrad

Werner und der Todeswald vor Leningrad

Johannes und das Horchen nach dem roten Faden

Hans-Werner und die Wolken des Nordmeeres

Karl-Friedrich, Josef und die Wüstenfüchse

Fritz und das Verlangen nach Erdnüssen

Jakob und der blutende Fluss Dnjepr

Paul und die Strände der Normandie

Rolf, der Ruhrkessel und die Rheinwiesen

Ernst und der brennende Reichstag

Wolfgang und die toten Kinder in Schlesien

Nachwort

Anhang / Anmerkungen / Register

»Ich möchte, dass die Fakten bekannt und moralisch bewertet werden. Aber man schneidet sich selbst den Erfolg völlig ab, wenn man zunächst einmal pauschal 19 Millionen [Soldaten der Wehrmacht] beleidigt oder aber die Kinder von 19 Millionen glauben lässt, ihre Eltern seien die Schuldigen – und man selber sei nun aufgeklärt, moralisch in Ordnung und wäre – hätte man damals gelebt – Widerstandskämpfer geworden.«

Helmut Schmidt

VORWORT

Als Historiker habe ich eine Menge Bücher über den Zweiten Weltkrieg gelesen, Filme gesehen, Archive besucht, zeitgenössische Fotos und Feldpost studiert. Nichts aber hat mich so nah an die Realität des Krieges herangebracht wie die intensiven Gespräche, die ich mit verschiedenen Zeitzeugen führen durfte. Auch für mich persönlich konnte ich neue Erkenntnisse gewinnen und einiges lernen von den und über die Menschen, die den schlimmsten Krieg der Menschheitsgeschichte hautnah miterlebten. Für dieses Buch habe ich 13 Kriegsgeschichten aus meinem Zeitzeugenarchiv ausgesucht, die mir ehemalige Soldaten der Wehrmacht in den letzten vier Jahren anvertraut haben. Mit einigen Männern verbrachte ich viele Stunden, mit anderen mehrere Tage, sodass insgesamt über 60 Stunden Audiomaterial für die Auswertung zusammenkamen. Alle hier porträtierten Männer waren zum Zeitpunkt der Interviews zwischen 88 und 100 Jahre alt und hatten aktiv als Soldat im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Einige haben mit Familie und Freunden über ihre Erfahrungen gesprochen, andere mit niemandem. Ein paar haben versucht, ihre Erinnerungen an die schlimmen Erlebnisse in Form von Tagebüchern aufzuschreiben; andere haben, solange es ging, alles verdrängt. Nicht immer war es einfach, das Vertrauen der Männer zu gewinnen, doch dies war Voraussetzung, um die Gespräche führen zu können. Meine Gesprächspartner haben mir, nachdem ihnen klar war, dass sie nicht befürchten müssen, vorgeführt oder verurteilt zu werden, ehrlich und detailliert Auskunft zu allen meinen Fragen gegeben. Mein Ziel für dieses Buch ist, ein möglichst realistisches und authentisches Bild des Kriegserlebens eines durchschnittlichen Wehrmachtssoldaten zu beschreiben. Außerdem war es mir wichtig, Soldaten möglichst vieler unterschiedlicher Waffengattungen und vor allem verschiedener Einsatzorte befragen zu können. Die Zeit eilte voran, es war sozusagen die letzte Chance für mich, diesen besonderen Menschen zuzuhören, aber auch für sie, ihre Geschichten in einem Buch für die Nachwelt zu erhalten. Wie drängend das Vorhaben war, zeigt sich darin, dass von meinem ersten Interview bis zur Fertigstellung dieses Buches, also in einer Zeit von etwas über vier Jahren, sechs der 13 interviewten Zeitzeugen verstarben. Nach jedem Abschied ahnten beide Seiten, dass es kein persönliches Wiedersehen geben würde. Ich habe deutlich gemerkt, wie wichtig es allen war, von ihren Erfahrungen aus dem Krieg zu erzählen. Sie gehören einer verdammten Generation an: verdammt zum Kämpfen, verdammt zum Schweigen, später dafür verdammt, am Krieg teilgenommen zu haben.

Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, berichteten mir diese Männer schonungslos vom Kämpfen, Töten und Sterben und hinterfragten dabei ihre Rolle immer wieder selbst. Sie reflektierten ihre Kindheit vor dem Krieg, schilderten ihre ersten Erfahrungen mit dem NS-Regime als Hitlerjungen oder Flakhelfer, gaben an, was sie von Judenverfolgung, Holocaust oder Kriegsverbrechen mitbekommen hatten, beschrieben ihren Alltag in Kriegsgefangenschaft und blickten auf ihr Leben nach dem Krieg zurück. Nahezu alle Interviewten sagten mir, dass sie sich in den Darstellungen des Zweiten Weltkrieges, wie sie in Schule und Medien präsentiert wurden, nicht wiedergefunden haben. Oft hatten sie das Gefühl, dass jüngere Generationen nicht zu unterscheiden wussten zwischen einem Nazi und einem unbelasteten Soldaten der Wehrmacht. Sie monierten ebenso, dass viele Aspekte des Krieges in unserer Erinnerungskultur keinen Platz gefunden haben; das betrifft den Kriegsalltag deutscher Soldaten ebenso wie die Thematisierung von Verbrechen gegen deutsche Zivilisten und Soldaten, die sie miterleben mussten. Die Zeitzeugen berichten von ihren nicht aufgearbeiteten Kriegstraumata, die sie ihr ganzes Leben verfolgt und beeinflusst haben, geben Auskunft darüber, warum sie lange Zeit nicht sprechen konnten, und mahnen uns und die kommenden Generationen, verantwortungsvoll mit der Geschichte umzugehen, damit ähnliches Grauen nicht noch einmal über Europa hereinbricht.

ZWISCHEN HYSTERIE UND HISTORIE – ANNÄHERUNG AN DIE VERDAMMTE GENERATION

Wir leben heute in einem Deutschland, das zum Glück nicht mehr von Krieg, dafür aber von Hysterie bedroht ist. Die zunehmende Unfähigkeit, zu differenzieren, und das scheinbare Nicht-ertragen-Können anderer Meinungen treiben einen Keil durch die Gesellschaft, aus der sich zumindest ein heftiger Meinungskrieg entwickelt hat. Debatten in Medien oder Politik werden kaum mehr sachlich geführt, Meinungen von Minderheiten – oder immer häufiger auch die von Mehrheiten – werden unterdrückt anstatt ausdiskutiert.

Obwohl wir über das Internet Zugriff auf quasi das gesamte Wissen der Menschheit haben, also in diesem Bereich privilegiert sind wie keine Gesellschaft zuvor, scheint es erhebliche Probleme mit dem zu geben, was wir als Wahrheit anerkennen wollen. Selbst gegen knallharte Fakten werden Menschen in diesem Land resistent, wenn sie nicht der eigenen Meinung entsprechen, aus der ein Lebensbild geformt werden soll. Soziale Medien dienen nicht mehr dem Gedanken- und Meinungsaustausch, sondern sind in erster Linie dafür da, die Richtigkeit eigener Ansichten zu bestätigen und zu stärken. Wir können uns der Flut von Informationen und Nachrichten, die täglich über Dutzende Kanäle auf uns einprasseln, nicht mehr erwehren, geschweige denn sie ausreichend beurteilen und ordnen; deshalb werden wir gezwungen, uns vorschnelle Urteile – mit anderen Worten Vorurteile – zu bilden. Wo Werte beispielsweise durch fehlendes Nationalgefühl, durch das Zerbrechen von Familien, durch das Schwinden des Einflusses der christlichen Religion, durch mangelnde Bildung wegfallen, sucht sich der Mensch Identifikation über alternative, meist vereinfachte Weltanschauungen. Das Bedürfnis, sich mit etwas zu identifizieren, wird paradoxerweise umso größer, je mehr sich alles zerstreut. Und je mehr Angebote zur Orientierung vorhanden sind, umso desorientierter wird die Gesellschaft und umso stärker wird das Bedürfnis des Einzelnen, sich in generellen Fragen von den anderen abzugrenzen und zu unterscheiden. So bleiben letztendlich zwei Prinzipgruppen übrig, die sich gegenseitig als Gut und Böse beschreiben und generell auf keinen Konsens mehr kommen können. Wer der anderen Seite angehört, der ist je nach Lesart verblendet, manipuliert, noch nicht aufgewacht. Halt und Anerkennung bietet die Eigengruppe sozialpsychologisch gesehen allerdings nur, wenn sie ein gemeinsames Feindbild hat. Die sogenannte Ingroup braucht eine Outgroup, die sie abwerten kann, um sich selbst als wahrhaftig zu begreifen und überlegen fühlen zu können. Da die Politik darin versagt, beide Seiten zusammenzuhalten, weil sich die Politiker längst selbst Eigen- und Fremdgruppen zugeordnet haben und daher ebenfalls keine Kompromisse mehr finden können, steigern sich die Argumente auf beiden Seiten immer weiter ins Radikale, Renitente und Unumkehrbare.

Für den Historiker kaum zu ertragen ist es, wenn Menschen mit anderer Meinung, die nicht den Vorstellungen oder der Moral unserer Zeit entspricht, abgewertet werden, indem man sie als Nazi bezeichnet und beschimpft. Ist es möglich, dass unsere Bildungspolitik derart versagt haben kann? Oder warum sonst lässt es die Gesellschaft zu, dass solche Menschen mit den größten Verbrechern gleichgesetzt werden, die jemals in Deutschland regiert haben?

Im Zentrum aller wichtigen Debatten, wie beispielsweise zur Migrations-, EU- oder Klimapolitik, steht die Frage nach unseren Werten und unserem Wesen. Wer sind wir Deutschen? Wer waren wir? Wie wollen wir sein? Die Identität eines Volkes wird maßgeblich durch seine historische Vergangenheit geprägt. Und die alles umspannende Pauschalisierung bzw. Popularisierung, der wir aktuell ausgesetzt werden, ist nichts anders als die Folge eines ausgewiesenen innerdeutschen Identitätsproblems. Das ist zwar im Grunde so alt wie Deutschland selbst, und nie konnte hier ein wirklicher Konsens gefunden werden, doch mit Sicherheit stellt die Zeit des Dritten Reiches für uns heute Lebenden den größten, nicht aufgearbeiteten Komplex und gleichzeitig die wichtigste Spaltursache dar. Diese dunkelste Epoche unserer Geschichte ist nach 75 Jahren längst nicht hinreichend verarbeitet, andernfalls würde nicht die Jagd nach vermeintlichen Nazis und Faschisten heute vehementer angetrieben werden als je zuvor. Wir scheinen eben doch nicht ganz verstanden zu haben, wer oder was die Nazis waren und was sie getan haben.

Aber haben denn die aktuelle gesellschaftliche Spaltung und die zunehmende Uneinigkeit der Deutschen wirklich noch etwas mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun?

Ganz gewiss! Wir müssen deswegen anfangen, unsere Geschichte multiperspektivisch aufzuarbeiten; wir dürfen Themen aus dieser Zeit nicht ausklammern oder aus Angst nicht ansprechen. Und vor allem sollten wir, wenn wir selbst anders leben wollen, nicht unsere Vorfahren in Schubladen sortieren. Zu häufig liest man in höhnischen Kommentaren unter journalistischen Artikeln, die beispielsweise an den Holocaust erinnern: »Alle haben es gewusst!«, »Alle haben mitgemacht!«, »Alle haben Schuld!«.

Das ist nicht nur historisch völlig inkorrekt, sondern ignorant gegenüber unseren Vorfahren und arrogant bezogen auf unser eigenes Dasein. Diese leicht dahingesagten Phrasen vermitteln Unwissenheit und Überheblichkeit gleichermaßen und zeigen, dass das System Nationalsozialismus nicht begriffen wurde. Das ist gefährlich. Wenn man nämlich alle Menschen zwischen 1933 und 1945 als Nazis bezeichnet, sei es aus Boshaftigkeit, Ideologie oder Unwissenheit, so werden auf der einen Seite die Verbrechen der Nazis verharmlost, auf der anderen Seite völlig unbelastete Menschen mit Schuld überhäuft, die sie nicht auf sich geladen haben. Es kann und darf nicht sein, dass heute jeder, der sich nicht offensichtlich im Widerstand organisiert hat, in den Verdacht gerät, Täter gewesen zu sein, und dass er schuldig gesprochen wird für etwas, das er weder zu verantworten hatte noch hätte verhindern können. Dasselbe Prinzip gilt für den ähnlich populistischen Ausruf »Alle Soldaten sind Mörder!«. Diese Plattitüde zeigt auf, dass auch das Wesen des Krieges nicht verstanden wurde – und das in einem Land, in dem eben noch gar nicht lange her der schlimmste Krieg der Menschheitsgeschichte tobte. Doch sind wir überhaupt unterrichtet worden über das, was Krieg in seinem Wesen ausmacht, wie er sich für die verschiedenen Beteiligten aller Seiten anfühlt, was Kriegsalltag bedeutet? Oder haben uns Schule und Medien lediglich einige wenige Ausschnitte gezeigt, aus denen wir ein Gesamturteil ableiten, wo es keines geben kann und darf, wir uns aber nicht trauen, anderes zu akzeptieren?

Nach den Nürnberger Prozessen, die zwischen dem 20. November 1945 und dem 14. April 1949 gegen Kriegsverbrecher und Kriegsverantwortliche geführt wurden, herrschte unter den alliierten Anklägern schnell Einigkeit darüber, dass die deutsche Zivilgesellschaft nicht schuldig sein konnte an den Schandtaten der Nazis. In ihren Urteilen und Schlussplädoyers machten die Richter dies mehr als deutlich und übertrugen ihre Feststellungen auch auf die Soldaten der Wehrmacht. Es herrschte ein Einvernehmen darüber, dass die unter dem Einsatzkommando des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) stehenden Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei (SIPO) und des Sicherheitsdienstes (SD) mit der Planung und Durchführung des Holocausts beauftragt worden waren. Das führte dazu, dass die alliierten Rechtsprechenden zwar die NSDAP und die SS als verbrecherische Organisationen einstuften, nicht aber die Wehrmacht und auch nicht ihr Oberkommando (OKW). Heute wissen wir freilich, dass die Wehrmacht als Institution und Werkzeug der Nationalsozialisten Bestandteil eines schrecklichen Vernichtungskrieges geworden ist. Soldaten der Wehrmacht waren an Verbrechen und vereinzelt auch am Holocaust beteiligt. Diese machten aber – und die moderne Geschichtswissenschaft hegt hier keinen Zweifel – in der Gesamtbetrachtung einen geringen Anteil aus. Bis Ende der 1960er-Jahre wusste auch die deutsche Nachkriegsgesellschaft zwischen Zivilisten, Soldaten und Funktionären der NSDAP zu unterscheiden. Dann jedoch begannen die Kinder der letzten aktiv am Krieg beteiligten Generation damit, ihre Eltern für die bloße Teilnahme am Krieg als Täter und Mitwisser zu verurteilen. Eine Stigmatisierung, von der sich diese bis zum Ende ihres Lebens nicht erholen konnten und die ihnen auch danach immer noch anlastet. Die sogenannte 68er-Bewegung war notwendig, ihr Anspruch nach gründlicher Aufarbeitung von Nazi-Verbrechen richtig und wichtig, ihr Streben nach Frieden verständlich. Doch haben sie es sich in Deutschland in einigen Punkten zu leicht gemacht. Die pauschale Verurteilung all ihrer Väter, die am Krieg teilgenommen haben, als Nazis erfüllte auch den Wunsch dieser Generation, sich einerseits selbst von Schuld freisprechen zu können und sich andererseits nicht weiter mit der Vergangenheit ihrer Eltern auseinandersetzen zu müssen. Indem sich die Alt-68er gegenseitig versicherten, alle Väter und Mütter seien Nazis gewesen, konnte sich keiner schuldiger fühlen als der andere. Sie waren typische Rebellen, nahmen sich raus aus einer Debatte, ohne sie zu Ende zu denken, feierten sich selbst und die neue Freiheit lieber allein und dachten, die eigenen Kinder würden ihr Weltbild wohl schon irgendwie übernehmen.

Wer Ende der 1960er-Jahre die Vergangenheit differenziert betrachten wollte, galt als nicht gewillt, der neuen Friedensbewegung anzugehören, und wurde ausgeschlossen. Das galt ebenso für Historiker und Autoren, denn schon vor 40 Jahren liefen sie Gefahr, in die rechte Ecke gestellt zu werden, wenn sie die falschen Fragen über den Zweiten Weltkrieg stellten. Und damit sind nicht jene Geschichtsrevisionisten oder Holocaustleugner gemeint, die mit ihren Thesen nur noch im Ausland publizieren konnten. Gemeint sind genau alle anderen.

Trotz der jahrzehntelangen intensiven gesellschaftlichen, medialen und pädagogischen Versuche, die Verbrechen der Nationalsozialisten zu bewältigen, haben wir wohl nicht genug darüber gelernt – oder es wieder vergessen. Wir pauschalisieren und setzen Menschen, die das Pech hatten, in der Zeit des Dritten Reiches gelebt zu haben, sowie Soldaten, die keine andere Wahl hatten, als am Krieg teilzunehmen, mit Nationalsozialisten gleich. Wir können und müssen das korrigieren. Die Geschichtswissenschaft stellt Wissen zur Verfügung, das anderen erlaubt, eigene Werturteile und Sachurteile aus der Vergangenheit zu ziehen, mit diesen Erkenntnissen die Gegenwart zu analysieren, auf den Prüfstand zu stellen und darüber hinaus Prognosen für die Zukunft zu treffen.

Das Problem ist aber komplexer: Die Verbrechen des Holocausts überwiegen so deutlich, dass es bis heute nur wenige deutsche Historiker wagten, sich mit der Alltagsgeschichte deutscher Soldaten auseinanderzusetzen. Auschwitz und andere Lager des industriellen Massenmordes wurden zur Messlatte für alles Schlimme und Schreckliche, sodass es scheint, für andere Katastrophen dieser Zeit dürfe es keinen Platz geben. Im Ergebnis pflegen wir heute eine funktionierende, richtige und immer wichtige Erinnerungskultur, was die Opfer des Holocausts und die Judenverfolgung, die in der Shoah mündete, betrifft. Diese Verbrechen bilden den Kern auch unserer gesamtgeschichtlichen Erinnerungskultur, aber dies kann bei aller Warnung und Mahnung nicht genug sein. Die Folgen bemerken wir heute. Die Nationalsozialisten haben abscheuliche Gräuel begangen, die weitestgehend erforscht sind. Unsere Aufgabe und Pflicht ist die Erinnerung daran. Das wird auf ewig so bleiben. Doch das reicht nicht, dadurch wachsen wir nicht mehr und nicht wieder oder überhaupt einmal zusammen. Unsere Erinnerungskultur soll auch identitätsstiftend sein. Wir müssen in gemeinsamer Verantwortung gedenken und nicht Schuld abtragen. Das ist auch längst keine Forderung mehr, die unsere ehemaligen Kriegsgegner an uns stellen. Auch nicht die Opfer des Holocausts. Den Juden ist daran gelegen, dass wir mit uns selbst klarkommen und uns nicht über die Verbrechen definieren, die von diesem Land ausgingen, aber nicht von den Heutigen an ihnen verübt worden sind. Das hilft Juden nämlich nicht, und der größte Beweis dafür zeigt sich darin, dass der Antisemitismus im heutigen Deutschland nicht schwindet, sondern stetig steigt und bereits so bedrohliche Formen annimmt, dass zahlreiche Juden auswandern oder zumindest mit dem Gedanken spielen. Sie erleben vornehmlich nicht den Antisemitismus der NS-Zeit, sondern neue Formen, und zwar von Rechtsradikalen, von Linksradikalen und von radikalisierten Muslimen, die aus Ländern zu uns kommen, in denen Antisemitismus legitim ist.

Ist die deutsche Gesellschaft gespalten und mit sich selbst nicht im Reinen, dann leiden Juden darunter: diejenigen, die hier nach dem Krieg wieder ein Zuhause gefunden haben, diejenigen, die in Israel einen eigenen Staat schützen, sowie natürlich das jüdische Volk weltweit.

Wir müssen endlich offen darüber diskutieren, in wieweit es sinnvoll ist, Schuld- und Schamgefühle, die wir heute auf unsere Vergangenheit beziehen, besser ertragen zu können, wenn wir eine ganze Generation als Nazis abstempeln, unsere eigenen Opfer aber nicht in Schutz nehmen, unsere Widerständler nicht ehren, den eigenen gefallenen Soldaten nicht gedenken. Dennoch darf die Vergangenheitsdiskussion über die Zeit des Dritten Reiches natürlich nie ohne die Thematisierung des Holocausts auskommen, und das braucht sie auch nicht, sie tut es in jedem Falle und muss das sogar. Nur im Kontext kann dieses Menschheitsverbrechen begriffen und in eine multiperspektivische und differenzierte Debatte eingewoben werden. Dazu gehört es, ertragen zu können, dass es schwere Misshandlungen, Folter und Verbrechen auch gegen deutsche Zivilisten und Soldaten gegeben hat. Sowohl Historiker, Politiker, Medien als letztendlich auch die Zeitzeugen selbst haben diese Erzählungen weitestgehend vermieden, aus Angst, deren Thematisierung könne die schwerer wiegenden Gräuel der Nazis verharmlosen. Das führt nicht nur zu den Lücken in unserer Vergangenheitsbewältigung mit allen Folgen für die Gegenwart, es ist auch aus anderer Hinsicht brandgefährlich. Denn das Ausklammern historischer Tatsachen, insbesondere des Leides der deutschen Bevölkerung in dieser Zeit, lädt jene Radikale ein, die wir am wenigsten ertragen sollten und dürfen: echte Neonazis und Faschisten. Diese können und wollen den Umstand nutzen, dass die Mehrheitsgesellschaft die eigene Geschichte in spezifischen Teilaspekten verschleiert. Sie haben leichtes Spiel damit. Und so greifen hier vor allem Propagandisten der rechtsextremistischen Seite jene Themen auf, die ungehört geblieben sind, die in der Schule keine Beachtung finden und über die es kaum eine vernünftige Dokumentation gibt. Verbrechen an Deutschen im Zweiten Weltkrieg aber lassen sich im Zeitalter unbegrenzter Information nicht oder nicht mehr verschweigen. Die Gefahr besteht konkret darin, dass eben jene Propagandisten Zulauf bekommen, weil sie uns in teilweise gut recherchierten Büchern und spannenden Dokumentationen Dinge erzählen, die nachweislich geschehen, aber nie oder nur selten besprochen worden sind. Sie können also behaupten: »Seht her, das wird euch von unserer Regierung und unserer Presse verschwiegen!«

Das wiederum kann dazu führen, dass man Schulen und Medien auch die andere Seite, das heißt unsere gepflegte Erinnerungskultur, nicht mehr abnimmt – Verfolgung von Juden, Sinti, Roma und anderen Minderheiten, Holocaust, Hauptkriegsschuld. Ein nicht geringer Teil unserer Gesellschaft – das zeigen Umfragen und Stimmungsbilder – fühlt sich bereits genervt und wendet sich zunehmend vom gemeinsamen Gedenken an den Genozid ab. Geschichtsfälscher brauchen dann nichts weiter zu tun, als das Ganze umzudrehen und diese lange behandelten und bekannten Themen ihrerseits auszuklammern, indem sie nur noch von der anderen Seite erzählen. Der Gefahr wirken wir nur entgegen, wenn wir als Gesellschaft alle Themen des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges besetzen und verschiedene Perspektiven und Meinungen, die es dazu gibt, nicht verdrängen. Wenn wir erst einmal so weit sind, der vorhandenen Geschichtsschreibung generell nicht mehr zu glauben – die Geschichtswissenschaft ist längst nicht die einzige Wissenschaft, die von dieser Art Skepsis befallen ist –, dann riskieren wir, dass Extremisten aller politischen Richtungen Zulauf bekommen.

Im Sinne der wissenschaftlichen Methode Oral History oblag mir als Historiker die verantwortungsvolle Aufgabe, die Erinnerungen meiner Interviewpartner nicht nur zu erfragen, sondern das Aufgenommene ebenso sorgfältig zu prüfen. Von Anfang an war klar, dass ich die individuellen Erlebnisse der Protagonisten dieses Buches nur darstellen kann, wenn sie im historischen Kontext kontrolliert und eingeordnet sowie einer genauen wissenschaftlichen Analyse unterzogen werden. Mir war es wichtig, dass ich von möglichst vielen verschiedenen Erlebnissen erzählen kann, die sich an unterschiedlichen Schauplätzen und zu unterschiedlichen Zeiten abgespielt haben. Daher enthält dieses Buch ein breites Spektrum an Berichten zwischen Kriegsbeginn und Kriegsende. Die einzelnen Episoden porträtieren die Zeitzeugen während ihrer gesamten Kriegszeit, bilden aber entsprechende Schwerpunkte. Die Episoden können losgelöst voneinander gelesen werden. Ich habe dennoch eine gewisse Chronologie bewahrt, über die man anschaulich das Fortschreiten des Krieges verfolgen kann. So beginnen die ältesten Protagonisten zu erzählen, da sie den Anfang des Krieges bereits als erwachsene Soldaten erlebten. Die Angaben der Zeitzeugen über die Zugehörigkeit zu bestimmten militärischen Einheiten oder erinnerte Einsatzorte konnte ich mithilfe erhaltener Dokumente aus verschiedenen Archiven verifizieren und entstandene Erinnerungslücken gegebenenfalls schließen. Die meisten Zeitzeugen besaßen noch Originale bzw. Kopien ihrer Wehrpässe, Soldbücher oder Entlassungspapiere aus der Gefangenschaft sowie Fotos aus ihrer Dienstzeit. Hilfe erhielt ich auch durch Angehörige. Für die Übertragung der Interviews in die Schriftform habe ich darauf geachtet, möglichst viel von der Authentizität der gesprochenen Sprache zu bewahren. Aus Gründen besserer Lesbarkeit habe ich an einigen Stellen das Tempus vom erzählten Perfekt ins Präteritum übertragen sowie natürlich Dialekte und Wortfindungsstörungen in den Erzählungen ausgelassen oder Halbsätze logisch geschlossen. Ergänzt werden die Geschichten durch Sachtexte, die den historischen Umstand erläutern, über den der jeweilige Protagonist gerade berichtet. Militärische Abkürzungen oder Fachbegriffe werden in Klammern erklärt. Das vorliegende Buch ist im wahrsten Sinne des Wortes individuell erlebte Geschichte aus erster Hand, liefert aber gleichermaßen historisches Hintergrundwissen zu den wichtigen Ereignissen des Zweiten Weltkrieges und kann durch seinen Aufbau und das nachstehende Register auch als Nachschlagewerk dienen. Als Besonderheit wird dabei der Krieg aus deutscher Perspektive erzählt.

In dieser Zeitzeugensammlung kommen keine Kriegsverbrecher zu Wort. Hier sprechen unbelastete Soldaten der Wehrmacht, die aber durchaus Zeugen von Verbrechen geworden sind. Die meisten von ihnen haben nie den Rang eines Offiziers erreicht, sind Schütze, Gefreiter oder Unteroffizier geblieben. Daneben berichten aber auch zwei Oberleutnante von ihren Erfahrungen in der Verantwortung für andere Soldaten. Bevor ich die Zeitzeugen erzählen lasse, möchte ich – damit die Leser den Kriegsgeschichten möglichst vorurteilsfrei folgen können – zunächst die Wehrmacht im Hinblick auf ihre Beteiligung an Kriegsverbrechen und am Holocaust unter Einbezug aktueller Forschungsergebnisse analysieren und darstellen. Ebenso soll aufgezeigt werden, wie sich die Bewertung der Wehrmacht im Laufe der Zeit mehrmals verändert und gewandelt hat.

DIE WEHRMACHT – EINE HISTORISCHE BEURTEILUNG

Als deutsche Wehrmacht bezeichnet man die Gesamtheit der Streitkräfte im nationalsozialistischen Deutschland, die sich in drei Teilbereiche gliederte: Heer, Kriegsmarine und Luftwaffe. Militärhistorisch gesehen zählt die Wehrmacht, der insgesamt während ihres zehnjährigen Bestehens zwischen 1935 und 1945 etwa 18 Millionen Soldaten angehörten, zu den schlagkräftigsten jemals aufgestellten Streitkräften in der Geschichte Europas. Sie gehört aber ebenso zu den umstrittensten Armeen der Weltgeschichte, und das hat bereits damit zu tun, dass ihre Soldaten seit dem 2. August 1934 bis zum Ende des Krieges einen Treueid auf die Person Adolf Hitler schwören mussten, der nach dem Tod Paul von Hindenburgs gleichzeitig als Reichskanzler, Reichspräsident und Oberbefehlshaber der Wehrmacht fungierte. Die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges waren wie alle anderen Organisationen im Deutschen Reich den Befehlen des faschistischen Diktators unterstellt. In ihrem Selbstverständnis allerdings war die Wehrmacht kaum politisch, und ihr Personal fühlte sich – der Tradition der deutschen Streitkräfte folgend – dem Land verpflichtet und nicht dem Nationalsozialismus. Soldatische Tugenden wurden weiterhin hochgehalten, was eine generelle politische Indoktrinierung von Anfang an unmöglich erscheinen ließ, da diese im Widerspruch zu den Kernzielen des Nationalsozialismus gestanden hätte. Genau aus dem Grund brauchte Hitler zur Durchsetzung seiner ideologischen Interessen zunächst die Sturmabteilung (SA) als paramilitärische Organisation, später die Schutzstaffel (SS) und ihre Untergruppen als politische Armee. Diese Notwendigkeit von doppelten oder dreifachen voneinander unabhängig operierenden (para-)militärischen Einheiten war den Nazis schon bei Aufstellung der Wehrmacht bewusst, denn von Anfang an gab es Versuche der militärischen Führungsebene, sich den Befehlen Hitlers zu widersetzen. Der bedeutendste Anteil des Widerstandes generierte sich aus Reihen der Wehrmacht und mündete in dem Putschversuch des 20. Juli 1944, den Hunderte Soldaten mit ihrem Leben bezahlen sollten. Es verwundert deshalb nicht, dass Hitler seinen regulären Streitkräften gegenüber immer skeptisch blieb. Am Ende des Krieges gab er den deutschen Generälen gar die Schuld an der Kriegsniederlage und bezichtigte sie des Verrates. Hitler sprach während des Deutsch-Sowjetischen-Krieges ganz offen über sein Verhältnis zur Wehrmacht:

»Als ich noch nicht Reichskanzler war, habe ich geglaubt, der Generalstab gleiche einem Fleischerhund, den man fest am Halsband halten müsse, weil er sonst jeden anderen Menschen anzufallen drohe. Nachdem ich Reichskanzler wurde, habe ich feststellen müssen, daß der deutsche Generalstab alles andere als ein Fleischerhund ist. Der Generalstab hat mich immer hindern wollen, das zu tun, was ich für nötig hielt.

Der Generalstab hat der Aufrüstung, der Rheinlandbesetzung, dem Einmarsch in Österreich, der Besetzung der Tschechei und schließlich dem Krieg gegen Polen widersprochen.

Der Generalstab hat mir abgeraten, gegen Frankreich offensiv vorzugehen und gegen Russland Krieg zu führen.«1

Bis 1939 aber hatte Hitler es durch eine systematische Mischung aus Verführung, Belohnung und Bestrafung geschafft, sich der Loyalität seiner Generäle zumindest insoweit zu versichern, dass er einen Krieg überhaupt wagen konnte. Der Führungsebene der Wehrmacht war selbstverständlich spätestens mit den Plänen, die Sowjetunion zu überfallen, auch bewusst, dass Hitler einen ideologischen Vernichtungsfeldzug führte. Sein Generalstab wusste, dass es darum ging, Lebensraum im Osten zu erobern: von einem Volk, das die Nazi-Ideologie als minderwertig betrachtete, für ein Volk, das die Nazis auserkoren hatten, andere Völker auszubeuten. Die Wehrmacht war Mittel zum Zweck. Historiker wissen heute ebenso unmissverständlich um Hitlers übergeordnete Ziele. Doch darf man davon ausgehen, dass der einfache deutsche Soldat in der Mehrheit deswegen so erbittert kämpfte, weil er glaubte – und bewusst in dem Glauben gelassen wurde –, er verteidige in der Sowjetunion die Heimat. Veranschaulicht wird dieser Umstand auch dadurch, dass eine der am häufigsten geäußerten Sorgen der Wehrmachtsoldaten in ihren Briefen an die Angehörigen in der Heimat war, den für sie so barbarisch kämpfenden Russen könnte es gelingen, in Deutschland einzufallen und ihre Liebenden zu bedrohen. Dies war eine Taktik der Nazis, ihre Soldaten mit der Überzeugung in den Krieg zu schicken, sie täten etwas Notwendiges und Gerechtes. Und dies war auch der Grund, warum die Nationalsozialisten dem Militär seinen so hoch gehaltenen Ehrenkodex ließen, der vor allem besagte, dass sich ein deutscher Soldat keiner Verbrechen schuldig machen durfte. Dass Teile der Wehrmacht an Kriegsverbrechen beteiligt waren, leugnet kein einziger Historiker. Dass Hitlers Ideologie auch einfache Soldaten erfasste, dass es auch unter ihnen überzeugte Antisemiten gab, ebenfalls nicht. Feldpostbriefen ist zu entnehmen, dass einige wenige Soldaten der Wehrmacht während des Deutsch-Sowjetischen Krieges in bestimmten Gebieten in Kontakt mit Einsatzgruppen gekommen sind und zumindest Teile der von diesen verübten Verbrechen gekannt haben. Doch kann man über diese Einzelbeschreibungen weder auf die Art noch den Umfang des Wissens anderer am Krieg beteiligter Wehrmachtssoldaten schließen, noch sollte man meinen, diese Zeugen hätten ohne Weiteres ihr Leben riskiert, um mehr über das Erlebte in Erfahrung zu bringen.

Die wenigsten deutschen Soldaten dachten während ihres Fronteinsatzes über Politik nach. Sie hatten vor allem gar nicht die Zeit dazu, sondern mussten tagtäglich um ihr eigenes Leben und das ihrer Kameraden kämpfen. Wehrmachtsangehörigen war es während ihrer Dienstzeit nicht umsonst verboten, Mitglied der NSDAP zu sein. Man wollte verhindern, dass die kämpfende Truppe sich mit etwas anderem beschäftigte, als militärisch zu funktionieren und strategische Erfolge einzuheimsen. Dabei war den Nazis, die ja für ihre verbrecherischen Unternehmungen eigene Truppen stellten, durchaus daran gelegen, dass der deutsche Soldat als Teil der Wehrmacht, die den Grundpfeiler eines bis dato nie da gewesenen strategischen, logistischen und effektiven Eroberungskampfes markierte, ein anständiges Bild in der Welt abgab. Jeder Soldat der Wehrmacht trug ein Merkblatt bei sich mit den zehn Geboten der Kriegsführung, an denen er sich zu orientieren hatte und die in Einklang standen mit den Richtlinien der völkerrechtlichen Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung (1907) und der Genfer Konventionen (1929).2

Über alle übergeordneten Ziele der Kriegsführung durfte der Soldat keine Kenntnisse haben. Hitler bestand hier auf absolute Geheimhaltungspflicht. Als eines der wichtigsten Schlüsseldokumente dafür gilt der als geheime Verschlusssache für die Führung der Wehrmacht herausgegebene Führerbefehl Nr. 1 vom 11. Januar 1940, der für alle Soldaten zu gelten hatte:

a)Niemand soll Kenntnis von geheimen Dingen haben, die nicht in seinen eigenen Aufgabenbereich gehören.

b)Niemand soll mehr erfahren, als er zur Erfüllung der ihm unterstellten Aufgabe wissen muss.

c)Niemand soll früher Kenntnis erhalten, als es für die ihm gestellten Obliegenheiten notwendig ist.

d)Niemand darf mehr oder früher geheim zu haltende Aufträge an nachgeordnete Stellen weitergeben, als dies zur Erreichung des Zwecks unvermeidlich ist.3

Die Beweislage dafür, dass auch Soldaten der Wehrmacht an Kriegsverbrechen beteiligt waren, ist jedoch eindeutig und geht aus einschlägigen Akten hervor. Diese individuelle Schuld wiegt so schwer, dass man sie nicht mit Befehlsnotstand erklären kann. Eher als Verrohung innerhalb eines immer brutaler werdenden Krieges, der das Schlechteste im Menschen hervorbringen konnte. Persönliche Frustration über Niederlagen, der Verlust von Kameraden, die Erbarmungslosigkeit des Gegners, Angst- und Hoffnungslosigkeit, letztendlich Erschöpfungs- und Verwirrungszustände durch psychische Belastungsstörungen, aber auch der in der Wehrmacht weitverbreitete Drogenmissbrauch konnten Soldaten dazu treiben, schlimmste Verbrechen zu begehen. Letztendlich gab und gibt es unter den Menschen immer auch einen kleinen Teil von Niederträchtigen, Mordlustigen und Sadisten, die sich erst dann so recht entfalten können, wenn ihnen Macht übertragen wird und Barrieren durch einen Kriegszustand entfallen.

Uneinigkeit herrscht allerdings darüber, welche Vergehen auch nach damaligem Recht als sogenannte Kriegsverbrechen zu gelten haben. Was beispielsweise die Erschießung von Geiseln oder Partisanen betraf, so war das nicht eindeutig kriegsrechtlich geregelt. Das Exekutieren von Geiseln etwa verstieß nicht explizit gegen das Völkerrecht, zumindest wurde dieser Passus erst 1949 durch das Zivilschutzgesetz in die Genfer Konvention aufgenommen. Auch galten Partisanen im Sinne des Völkerrechtes weder als zu schützende Zivilisten noch als unbewaffnete Soldaten. Der Umgang mit ihnen sollte nach internationalem Kriegsrecht verhältnismäßig bleiben, wobei dies nicht näher definiert wurde. Eines steht jedoch fest: Niemand konnte gezwungen werden, einem Exekutionskommando anzugehören, und der Großteil aller Soldaten lehnte dies entschieden ab. Doch letztendlich brauchte es nur eine Waffe, um viele Menschen zu töten. So fanden sich stets Freiwillige, denen man für diese gewissenlose Tätigkeit beispielsweise als zusätzlichen Anreiz Orden verlieh. Aus heutiger Sicht verstoßen selbstverständlich alle Vergeltungsmaßnahmen an Zivilisten, Unbewaffneten oder auch Partisanen gegen das Völkerrecht. Auch wenn alle Kriegsparteien Exekutionen von Gefangenen durchführten und Zivilisten ermordeten, so sind bestimmte Erlasse, die Adolf Hitler persönlich befahl, an perfider Eindeutigkeit kaum zu überbieten. Als prägnantes Beispiel gilt hier der sogenannte Kommissarbefehl, der für die Wehrmacht von Juni 1941 bis zu seiner Aussetzung im Oktober 1941 verbindlich galt. Dieser sah vor, gefangen genommene politische Kommissare der Roten Armee schon wegen des Verdachts von Widerstand oder Sabotage zu erschießen. Wann und wie das geschah, sollte im Ermessen der jeweils zuständigen Kommandeure liegen. Je nach Einstellung des Befehlshabenden kam dies in einigen Truppenteilen oft vor, in anderen gar nicht. Schätzungen zur Folge wurden bis zu 4000 Exekutionen an politischen Offizieren der Sowjetunion durch die Wehrmacht durchgeführt.

Neben der Erschießung von Geiseln, Zivilisten, Partisanen und Kommissaren rechnet man heute auch den größtenteils durch Hunger, Seuchen und Kälte ausgelösten Tod von nach Schätzungen 2,6 bis 3,2 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen während ihrer von katastrophalen Zuständen geprägten Zeit in deutschem Gewahrsam zu den Kriegsverbrechen der Wehrmacht. Ein besonders grausames Beispiel dafür ist die zwischen dem 8. September 1941 und 18. Januar 1944 angeordnete und durchgeführte Blockade der Stadt Leningrad, die es darauf abgesehen hatte, die Einwohner der Stadt durch Einkesselung und Abschottung systematisch auszuhungern. Während dieses Ernährungskrieges starben über eine Million Zivilisten.

Insgesamt wurden 0,05 Prozent aller Wehrmachtssoldaten wegen Kriegsverbrechen verurteilt. Entweder während des Krieges durch die Wehrmachtsgerichtsbarkeit – beispielsweise bei Plünderungen oder Vergewaltigungen – oder durch alliierte Gerichte nach dem Krieg. Wie viele Wehrmachtssoldaten tatsächlich Verbrechen begangen haben, lässt sich schwer schätzen, aber deutlich eingrenzen. Die Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust ist nur unter verschiedenen moralischen Gesichtspunkten verwertbar und kann nicht allgemeingültig festgelegt werden, sofern man nicht Anhänger jener Kollektivschuldthese ist, die besagt, die Wehrmacht sei alleine deswegen schon verantwortlich, weil durch ihre Eroberung im Osten der Holocaust erst möglich gemacht wurde. Das ist zwar theoretisch richtig, als Argument aber zu schwammig und abstrakt, um konkrete Aussagen über Schuld einzelner Soldaten treffen zu können.

Der Holocaust in all seinen grausamen Facetten – neben dem systematischen Massenmord in den Vernichtungslagern zählen ebenso sämtliche Massenerschießungen von Juden in den besetzten Gebieten dazu – ist heute hinlänglich erforscht, und kein seriöser Historiker kann daran noch Zweifel hegen, auch nicht an der geschätzten Anzahl von 6 Millionen Todesopfern. Dass die Führungsebene der NSDAP und der SS in Kenntnis darüber war, ist ebenso eindeutig wie die Tatsache, dass nicht die Wehrmacht, sondern die speziellen Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD unter Befehl des Reichssicherheitshauptamtes und dem Kommando Reinhard Heydrichs bzw. Heinrich Himmlers mit der Organisation, Durchführung und Vertuschung des Holocausts betraut waren. Doch was wusste und was tat die Wehrmacht? Klar ist, dass die mordenden Einsatzgruppen zu keiner Zeit unter dem Befehl der Wehrmachtsführung standen und dass für alle Beteiligten absolute Geheimhaltungspflicht galt. Mordaufträge wurden nur mündlich erteilt; in den wenigen Schriftstücken, die erhalten geblieben sind, ist die Sprache codiert. Daher kann man nicht davon ausgehen, dass ein nicht Eingeweihter wusste, dass mit einschlägigen Befehlen Mord gemeint war. Die von den Einsatzgruppen durchgeführten Massaker fanden intendiert außerhalb von besetzten Ortschaften und fernab von Truppenteilen der Wehrmacht statt.

Hat also kein Soldat davon gewusst?

Doch!

Das beweisen Berichte, die Historiker in der Feldpost von Wehrmachtsangehörigen gefunden haben. Diese hatten auf Weisung die hinter ihnen operierenden Einsatzgruppen mit angeforderten Materialien, Benzin oder Lebensmitteln zu versorgen. Außerdem arbeiteten Soldaten der Wehrmacht in sogenannten Kommandanturen, die in besetzten Orten eingerichtet wurden. Diese hatten den Auftrag, Juden zu erfassen, zu kennzeichnen und anschließend den nachrückenden Einsatzgruppen zur Evakuierung zu übergeben. Auch wenn wohl die meisten in dem Glauben handelten, die Juden würden tatsächlich nur umgesiedelt, so kam auch vor, dass Soldaten der Wehrmacht dazu beordert wurden, den Einsatzgruppen bei der Logistik der verbrecherischen Transporte behilflich zu sein. Diese rekrutierten sich allerdings in der Regel nicht aus kämpfenden Divisionen, sondern explizit aus sogenannten Sicherungsdivisionen der besetzten Gebiete. Es stellt sich dem Historiker die Frage, ob man diese vergleichsweise sehr wenigen Männer dafür verurteilen kann, wenn sie nicht direkt gemordet haben, aber für die Einsatzgruppen beispielsweise Straßen im Hinterland absperrten oder ihnen den Weg freiräumten. Zu Bedenken dabei gilt weiterhin: Sollten diese Soldaten etwas mitbekommen und es gewagt haben, sich genauer danach zu erkundigen, dürften sie keine Antworten erhalten und mit Sicherheit ihr Leben riskiert haben. Inwieweit der Wehrmacht eine Mitschuld am Holocaust auferlegt werden kann, wird sich ohne genaue Definition auch weiterhin nicht eindeutig beantworten lassen. Natürlich ist dies immer eine Frage unterschiedlicher Bewertung verschiedener Ereignisse. Selbst wenn die Wehrmacht in der Regel nicht direkt oder aktiv an Massakern beteiligt war, so starben doch etliche Juden, die als Geiseln, Partisanen oder Kommissare hingerichtet wurden und die damit als Opfer des Holocausts gezählt werden. Manchmal wählten Kommandeure gar absichtlich Juden aus, die für die Vergeltungsmaßnahmen herhalten sollten. Partisanen und Kommissare wurden propagandistisch, ob sie es nun waren oder nicht, sprachlich mit Juden gleichgesetzt, und natürlich kämpften Hunderttausende Juden aufseiten der Roten Armee und anderen Streitkräften, von denen etliche im Gefecht oder in Gefangenschaft starben. Und letztendlich gab es Ausnahmen von der Regel: Die 707. Infanterie-Division beispielsweise wurde von einem überzeugten und scharfen Antisemiten geführt: Generalmajor Gustav Freiherr von Mauchenheim gen. Bechtolsheim. Da dieser zwischen 1941 und 1943 auf eigene Faust beschloss, mit der SS zu kooperieren, und auch autonom Erschießungen von Juden befahl, muss man hier zweifelsfrei von einer aktiven Beteiligung einer Wehrmachtseinheit am Holocaust sprechen. Dies kann man anhand der Untersuchung eines bestimmten Falles angeben, ohne dass dies auf eine größere Gruppe übertragbar ist.

Es bleibt aber die Frage nach der Anzahl von Soldaten, die sich an Kriegsverbrechen im Allgemeinen beteiligt haben. Merkwürdigerweise scheint es sich bei den Schätzungen nicht immer um seriöse historische Urteile zu handeln. So war die Bewertung der Wehrmacht dem Wandel der Zeit unterworfen, und nicht selten entsprang eine falsche, teilweise fatale Einstufung aus dem Gefühl des vorherrschenden Zeitgeistes und einer entsprechenden politischen Motivation heraus. Da die Wehrmacht, wie bereits erwähnt, von allen Anklagepunkten während der Nürnberger Prozesse freigesprochen und nicht als verbrecherische Organisation eingestuft worden war, entstand in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland zunächst der Eindruck einer insgesamt fair kämpfenden Truppe. So gab auch der erste Bundeskanzler der BRD, Konrad Adenauer, am 2. Dezember 1952 im Bundestag eine Ehrenerklärung ab:

»Wir möchten heute und vor diesem hohen Hause im Namen der Regierung erklären, dass wir alle Waffenträger unseres Volkes, die im Rahmen der hohen soldatischen Überlieferung ehrenhaft zu Lande, zu Wasser und in der Luft gekämpft haben, anerkennen. Wir sind überzeugt, dass der gute Ruf und die große Leistung des deutschen Soldaten (…) in unserem Volk noch lebendig geblieben sind und auch bleiben werden.«4

Auch Bundespräsident Theodor Heuss fand damals passende Worte. Während der Gedenkzeremonie zum zehnten Jahrestag des Attentates auf Hitler am 20. Juli 1944 verkündete er:

»Als ich kürzlich mit einem früheren Berufsoffizier zusammen war (…) meinte er, ich möge aber doch in der Gedenkrede nicht die anklagen, die nach dem 20. Juli, die bis zur Schlußkatastrophe weiterkämpften. Ich konnte ihn nur bitten, mich nicht für so töricht und ungerecht zu halten. Ich müßte dann ja Freunde und geliebte Verwandte anklagen, die Hitler, die den Nationalsozialismus hassten, aber als sie starben, glauben mochten, glauben durften, daß ihr Kämpfen Deutschland vor dem Äußersten vielleicht doch rette. Und der gute Truppenoffizier dachte an seine Leute!«5

Eine Legende über die saubere Wehrmacht, die einige Historiker immer wieder anführten, um sie dann anhand ausgesuchter Einzelfälle widerlegen zu können, hat es indes zumindest in der Geschichtswissenschaft nie gegeben. Schon die Nürnberger Prozesse hatten zutage gebracht, dass Teile der Wehrmacht an Mordtaten an unbewaffneten feindlichen Soldaten, an Gefangenen und auch an der Zivilbevölkerung beteiligt waren – also Kriegsverbrechen begangen hatten. Doch war man sich, ohne genaue Zahlen zu kennen, einig – so sah es auch die Bewertung der Siegermächte –, dass die Anzahl derer, die hier involviert gewesen waren, nur sehr gering sein konnte. Und so war es den Deutschen in den ersten 30 Jahren nach dem Krieg möglich, neben der zaghaft beginnenden Aufarbeitung der Gräueltaten in den Vernichtungslagern und der durch die Einsatzgruppen verübten Massaker sich Erlebnisse von Soldaten vorurteilsfrei anzuhören. Es entstanden Filme, die einen heldenmütigen Kampf der Wehrmacht darstellten wie Des Teufels General (1955), Canaris (1954) oder Hunde, wollt ihr ewig leben (1959). In gewisser Weise wurden die Soldaten dadurch heroisiert, weil in Filmen und Büchern negative Aspekte wie die Beteiligung Einzelner an Verbrechen ausgespart blieben. Deutlich zeigte sich dies zum Beispiel an der erfolgreichen Romanheftreihe Der Landser. Die sogenannte Trümmerliteratur oder Filme wie Die Brücke (1959) widmeten sich hingegen dem Schicksal und dem Leid der Soldaten während und nach dem Krieg, thematisierten auch früh schon Schuld wie in Die Mörder sind unter uns (1946). Doch der einfache, kleine Soldat wurde nicht der Mittäterschaft bezichtigt, andererseits auch nicht heroisiert. Sein Schicksal, sein Verarbeiten des im Krieg erlebten Grauens und seine Neuorientierung in einem zerstörten Deutschland standen im Vordergrund. Eine Form von Erinnerungskultur notleidende Soldaten einer Armee betreffend, bildete sich in jedem an einem Krieg beteiligten Land zu allen Zeiten heraus. In den Kulturen der Alliierten, aber auch der damaligen deutschen Verbündeten geschieht dies heute immer noch wie selbstverständlich, ebenfalls was ihre Rollen im Zweiten Weltkrieg betrifft, häufig ist dort aber zentrales Stilmittel die Tapferkeit der kämpfenden Soldaten. Filme, Bücher, Spiele, Comics erinnern an die heldenhaften Soldaten in den großen Schlachten von Stalingrad über Tobruk bis zum D-Day. Auch dabei geht es nicht um Politik, werden eigene Verbrechen nicht behandelt. Möglich ist das, weil die anderen Nationen zu den Siegern oder den weniger Schuldigen zählen und eben nicht die Bürde des Holocaust zu tragen haben. Jedes Land dieser Welt pflegt eine Erinnerungskultur, die den Soldaten der vergangenen Kriege gedenkt. Deutschland tat dieses vor 1945 ebenfalls nicht nur selbstverständlich, sondern leidenschaftlich. Davon zeugen noch Tausende Kriegerdenkmäler des Deutsch-Französischen-Krieges und des Ersten Weltkrieges. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Erinnerungskultur nicht mehr aktiv gepflegt. Zumindest schaffte man es aber kurz danach noch, wenigstens zu differenzieren und nicht allzu vorschnell zu verurteilen. Doch etwas hat sich im Laufe der Zeit verändert. Allgemein scheint ein deutscher Soldat, selbst ein Angehöriger der Bundeswehr, die sich noch in ihrem ersten Traditionserlass vom 1. Juli 1965 verpflichtete, den gefallenen Soldaten ihrer Vorgängerarmee zu gedenken, heute weder Vorbild noch Respektsperson zu sein. Das ist einmalig in der Geschichte eines Landes.

Alles begann, wie schon in der Einleitung erwähnt, mit den zu ihrer Zeit wichtigen Friedensinitiativen der sogenannten 68er-Bewegung. Sie wollten das Kapitel Weltkrieg, am liebsten das ganze Buch Krieg, für immer zuschlagen. Linke Ideologien, studentische Revolutionen und der Anspruch auf uneingeschränkte Freiheit passten nicht mehr zur Generation der Väter, für die man sich zu schämen begann, da sie mit Maschinengewehren feuerten, Panzer bewegten und Kampfbomber flogen. Die Debatte mit den Eltern, die nie ernsthaft geführt wurde, kippte in eine pauschale Verurteilung. Die Epoche der 68er markiert den Beginn der Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Wehrmacht, die noch heute in weiten Teilen der Bevölkerung vorherrscht. Dass man nun alle am Zweiten Weltkrieg beteiligten deutschen Soldaten mitschuldig sprach, damit konnte die von den Ideen junger Idealisten geprägte deutsche Gesellschaft eine Zeit lang gut leben. Es war auch die Zeit von drei Jahrzehnten linksradikalem Terror, der einen neuen Feind forderte: den Kapitalismus, zu dem unter anderem der militärisch-industrielle Komplex, vor allem jener der USA, sowie eine deutsche Waffenlobby gehörten, die sich an neuen kriegerischen Auseinandersetzungen in der Welt bereicherten. Die Wehrmacht als solche geriet zunehmend in den Hintergrund, doch für den historischen Umgang mit ihr sollte es noch einmal schlimmer kommen. Als Deutschland zu Beginn der 1990er-Jahre mit Bildern von brennenden Asylheimen geschockt wurde und man bemerkte, dass manche Enkel der Kriegsgeneration sich rechtsradikalisierten und sich sogenannte Skinheads stolz mit Wehrmachtsdevotionalien zu schmücken begannen, waren ihre linksgeprägten Väter zu Recht besorgt. Doch anders als der einfache Landser waren die jungen Rechtsradikalen seit den 1990er-Jahren politisch. Sie hatten – es wurde ihnen ja so vorgelebt – die Wehrmacht mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt, nutzten diese so ein weiteres Mal aus und missbrauchten sie für eine alte Ideologie, um daraus einen neuen Hass auf Ausländer im Allgemeinen zu kreieren. Es entstanden Tausende Projekte gegen den Rechtsradikalismus. Viele davon waren erfolgreich und arbeiten bis heute. Doch nicht alles lief rund. Keine gute Methode, was den Umgang mit unserer Geschichte betrifft, stellte die sogenannte Wehrmachtsausstellung dar: ein gesellschaftspolitischer GAU, der das Land, das erst sieben Jahre zuvor vereint worden war, bereits wieder tief spaltete. Die Vorstellung von der Wehrmacht, wie sie die Ausstellung mit ihrem vollen Titel Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 präsentierte, hält sich bis heute hartnäckig in großen Teilen der Gesellschaft. Die Ausstellung wurde vom Hamburger Institut für Sozialforschung unter Leitung und Organisation ihres Chefs Jan Philipp Reemtsma realisiert und zunächst zwischen 1995 und 1999 als Wanderausstellung in 34 deutschen und österreichischen Städten gezeigt. Etwa 900 000 Besucher sahen sie in dieser Zeit. Eine These der Macher lautete, es seien 80 Prozent aller Wehrmachtssoldaten an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen. Ein Schock! Aber genau das wollte man anhand von ganz neuen Dokumenten, Fotos und Zeitzeugenaussagen belegen, die auf großen Schautafeln so präsentiert wurden, dass sie in ihrer Mitte ein überdimensionales Eisernes Kreuz bildeten. Und nach Jahren der Verdrängung war die Wehrmacht damit quasi über Nacht zum Politikum geworden, niemand schien darauf vorbereitet: Sollte tatsächlich 50 Jahre nach Kriegsende alles neu bewertet werden müssen? Konnte dieser Krieg noch schlimmer gewesen sein als angenommen? Waren doch alle Beteiligten schuldig? Würde es noch einmal Kriegsverbrecherprozesse geben?

Die Reemtsma-Ausstellung – wie sie schnell genannt wurde – schickte sich an, das Urteil der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse zu revidieren, und scheute nicht davor zurück, dieses plakativ darzustellen. Die Ausstellung warb auf Plakaten mit Slogans wie »die Sünden der Väter« und setzte damit ganz auf Emotionen, auf Wut. Es fanden sich darin vor allem Fotos von Leichen, Leichenbergen, am Galgen hängenden Toten, schießenden Soldaten. Quellen für die Zeitdokumente wurden selten angegeben. Infotafeln zu den Fotos wiesen zu einfachen Schlagworten wie »Genickschüsse« oder »Spuren verwischen« aus, was die Wehrmacht auf den gezeigten Ausschnitten des Krieges wo und wann angeblich getan hatte. Diese unwissenschaftliche und pointierte Form fand schnell ihre Kritiker unter den Besuchern, die die Absicht dahinter zu erkennen glaubten, was zwangsläufig zu Protesten in Teilen der Bevölkerung führen musste. Denn noch lebten genug Zeitzeugen, die ihren Sinnen nicht mehr trauen mochten, als sie die Bilder sahen, die sie aus eigenen Erfahrungen nicht kannten und nicht für sich gelten lassen wollten. Jetzt hüllte man sich nicht mehr auf beiden Seiten in Schweigen, sondern warf sich gegenseitig Schuld und Schande vor. Die großen Medien, die anfangs eine Sensation gewittert und die Ausstellung vorschnell als gelungen und bahnbrechend beurteilt hatten, gerieten ebenfalls in Irritationen, wusste man doch nicht so recht, auf welche Seite man sich zu stellen hatte. Schließlich konnte es sich keine Redaktion erlauben, die alten Leser, aber auch nicht die jungen zu verlieren. Ein journalistisches Dilemma. Bald gab es kein Medium mehr, das nicht die Ausstellung oder Vorkommnisse rund um diese zum Hauptthema machte. Und die Pressestimmen wurden zunehmend kritischer. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Februar 1996 urteilte über die Inhalte der Ausstellung, sie seien »Zeugnisse eines vagabundierenden Schuldempfindens«6. Am 22. Februar 1997 schrieb der Bayernkurier: »Die Ausstellung verallgemeinert tatsächliche Verbrechen durch Einheiten und Soldaten der Wehrmacht zum Pauschalvorwurf gegen alle ehemaligen Soldaten. […] Es geht also den Veranstaltern darum, Millionen von Deutschen die Ehre abzusprechen.«7

In den Kommunen und Landtagen stritten Politiker. Mehrheitlich CDU- und CSU-Abgeordnete mauserten sich zu Gegnern der Ausstellung, weil sie die Soldaten verunglimpft sahen. Mehrheitlich Bündnis 90/Die Grünen, PDS und FDP bekannten sich zu Befürwortern, da sie sich weitere Aufklärung über bisher verschwiegene Verbrechen erhofften. Veteranenverbände äußerten sich empört, Vertriebenenverbände geschockt. Sowohl Rechtsextremisten als auch Linksextremisten nutzten die Situation und trugen Gewalt auf die Straße. Im Fernsehen sah man schreckliche Bilder, die an Nazitum einerseits und an RAF-Terror andererseits erinnerten. Irre Szenen: Polizisten prügelten sich mit Linksautonomen, begleitet von johlenden Gesängen Rechtsradikaler. Als wäre die Debatte noch nicht aufgeheizt genug gewesen, forderte sodann die Partei Bündnis 90/Die Grünen per Antrag, die Ausstellung auch im Reichstagsgebäude stattfinden zu lassen. Die PDS schloss sich dem Gesuch an. Darauf wurde im Bundestag am 13. März 1997 eine Aktuelle Stunde veranstaltet, in der die Parlamentarier erstmals und umso heftiger über Schuld oder Unschuld deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg diskutierten. Letztendlich wurde nach einer weiteren Aktuellen Stunde am 24. April 1997 der Antrag Der Grünen mit großer Mehrheit abgelehnt. Es gab also keine Wehrmachtsausstellung im Reichstag, aber Lösungen in der Auseinandersetzung über ihre Inhalte hatte man auch nicht gefunden. Unter den strengen Augen der Öffentlichkeit, hatte es keine Fraktion gewagt, eindeutig Partei zu ergreifen für die Wehrmacht, aber auch nicht ganz dagegen. Die Angst um den Verlust allzu vieler Wählerstimmen war zu groß. So sprachen die Bundestagsabgeordneten je nach politischer Ausrichtung ihrer Partei der Wehrmacht mehr oder weniger Schuld zu. Von Anerkennung, Andenken und Ehre an die Wehrmacht, die es bis zur Ausrichtung der Wehrmachtsausstellung innerhalb aller Parteien gegeben hatte, redete allerdings fortan niemand mehr. Es herrschte eine Stimmung der Angst vor, und man ergoss sich förmlich in Phrasen. Öffentlichkeit und Medien setzten daraufhin all ihre Hoffnung auf die Beantwortung der drängenden Fragen zur Beurteilung der Wehrmacht in Historiker. Diese wiesen zwar unisono auf Unstimmigkeiten in der Ausstellung hin, aber fast alle wollten es vermeiden, selbst in die Schusslinie zu geraten. Wer sich nämlich in dieser Zeit als Gegner der Schau zeigte – oder sie auch nur kritisierte –, geriet schnell unter Beschuss von Linksextremisten. Der Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt war einer der wenigen Fachleute, die sich nicht verbiegen lassen wollten. Zur Zurückhaltung seiner Kollegen merkte er an: »Jeder Kritiker riskierte (…) an den rechtsradikalen Rand gedrückt zu werden. Zudem verklagen die Ausstellungsmacher gern ihre Kritiker. […] Die Ausstellung suggeriert ein Gesamtbild über die Wehrmacht, das undifferenziert und schief ist. Es wird Jahre an Arbeit kosten, dies wieder zurechtzurücken.«7a

Eine Erkenntnis, der sich auch Focus-Chefredakteur Wolfgang Markwort anschloss, der die Aufarbeitung der Fehler der Schau zur Chefsache erklärt hatte. Er schrieb über die Schwierigkeiten, die sich durch die Zusammenarbeit mit Historikern ergab:

»Warum hat kein deutscher Historiker die vielen Fehler und Täuschungen aufgedeckt? Die Antwort geben Geschichtsprofessoren nur, wenn unsereiner verspricht, seinen Namen nicht zu nennen: Jeder Historiker hat sofort gesehen, wie schlampig und suggestiv die Ausstellung eingerichtet war, aber wer hat schon Lust, sich öffentlich fertigmachen zu lassen?«8

Müller kritisiert generell die Zurückhaltung bei der Historiographie der Wehrmacht durch deutsche Historiker, die sich außer an der Aufarbeitung der Verbrechen der Wehrmacht kaum an alternativen Forschungsgebieten beteiligen würden:

»In Deutschland steht noch heute die Schuld- und Betroffenheitsfrage im Mittelpunkt des Interesses, geht es häufig allein um politische Aufklärung und »political correctness« […] Briten, Amerikaner und Israelis können über Militärgeschichte fast im Plauderton schreiben, während die deutsche Historiographie gerade bei diesem Thema oft einem angestrengt eifernden und belehrenden Ton anschlägt.«9

Weiter schreibt Müller: