Die verlorene Destille - Michael Stoffers - E-Book

Die verlorene Destille E-Book

Michael Stoffers

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Beschreibung

Es gibt Geschichten, die sich nur an bestimmten Orten ereignen können. Ob man dort nun lebt, beruflich dorthin verschlagen wird oder Urlaub macht. Helgoland ist einer dieser Orte ... Ganz sicher! Und wenn Sie es nicht glauben - lassen Sie sich einfach überraschen!

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Inhalt

Die verlorene Destille

Das Wendemanöver

Taschenkrebse mögen keine Milch

Der verschwundene Brennmeister

Die verlorene Destille

Prolog

Das Wetter war perfekt, um in aller Heimlichkeit etwas Großartiges zu schaffen.

Im Dämmerlicht seines Ladens stand Tim Wilke und beobachtete durch das Fenster den Sturm, der sich über Helgoland austobte. Dichte Wolken bildeten eine finstere Masse am Himmel, die alles Licht zu schlucken schien. Blitze zuckten durch die Dunkelheit und Sturmböen peitschten den Regen durch die Straßen.

Draußen hetzte eine einsame Gestalt an seinem Schaufenster entlang. Tim sah ihr nach, wie sie um die Ecke verschwand und den Weg vor dem Laden leer und verlassen zurückließ. Es würde dauern, bis der Sturm sich legte und es wieder aufklarte. Stunden, vielleicht sogar Tage. Wer es sich leisten konnte, verließ das Haus nicht mehr und auf der Insel würde Ruhe einkehren.

Perfekt!

Tim ließ die Jalousien herunter und knipste das Licht an. Im Schein der Lampen erstrahlte die Glasvitrine mit den unzähligen Kunstwerken aus Schokolade. Krebse und Hummer lagen dort gemeinsam mit Seesternen, Robben und liebevoll vorbereiteten Päckchen mit Rum- oder Champagnertrüffeln. Im Regal gleich dahinter hatte er die Chili-Varianten, auf denen nicht ohne Grund der Hinweis „Für Kinder nicht geeignet” klebte.

Daneben standen die Glaskübel mit den Whisky-Trüffeln. Das war vielleicht seine bislang beste Idee gewesen. Trüffel mit schottischen Single Malt aus eigener Herstellung! Die Liebhaber hatten sich schnell gefunden.

Und heute Nacht würde er noch einen drauf setzen!

Langsam ging er zu dem großen Brennkessel, den er im Laden aufgebaut hatte. Das Kupfer glitzerte im Licht der Lampe und strahlte eine mystische Wärme aus. Sanft glitt seine Hand über das glatte Metall.

„Na, Schönheit”, sagte er leise. „Dann wollen wir mal.”

Er griff nach dem Sack gemälzter Gerste, den er sich bereitgelegt hatte, und begann sein Werk. Heute Nacht wollte er verwirklichen, was ihn schon seit Jahren umtrieb, was ihn nächtelang wachgehalten hatte. Was nicht weniger als ein Lebenstraum geworden war.

Still und heimlich arbeitete er Stunde um Stunde vor sich hin. Draußen heulte der Sturm.

Als er fertig war, griff er nach einem Tumbler aus Kristall, den er sich für diesen einzigartigen Moment ausgesucht hatte. Vorsichtig drehte er den kleinen Messinghahn auf und ein erster Tropfen seines Destillats fiel herab, dann ein zweiter. Nach und nach ergoss sich ein steter Strom, bis das Glas halb voll war.

Tim schnupperte und prüfte die Farbe. Würzige Aromen kitzelten seine Nase und ein goldener Schimmer brach sich im Kristall des Tumblers.

Es war gelungen!

Sein Traum von einer Hinterlassenschaft in Form von flüssigem Gold, war Wirklichkeit geworden! Vielleicht konnte es sogar so etwas, wie ein Vermächtnis werden.

Das Fläschchen

In einer Hotelbar nahe der Düsseldorfer Altstadt führte Mark Stuppke sein Whiskyglas an die Nase und schnupperte. „Wenn sie jetzt einmal genau darauf achten, fällt ihnen so ein süßlicher Duft auf”, sagte er zu der Gruppe Männer, die mit ihren Gläsern vor ihm standen. Seine Stimme klang gedämpft, so als würde er den anderen ein Geheimnis verraten und nicht nur die verschiedenen Aromen vermitteln, die ein Single Malt aus den Highlands aufweisen konnte.

Sie befanden sich in einem extra für ihn reservierten Teil der Bar, was seinem Einsteigerseminar für Whiskyfreunde einen leicht konspirativen Hauch verlieh. Lächelnd beobachtete er, wie die meisten Teilnehmer das erste Mal bewusst versuchten, etwas zu riechen und ihre Wahrnehmung in Worte zu fassen. Stirnrunzelnd schnupperten sie an ihren Gläsern und konzentrierten sich darauf, die Aromen wahrzunehmen, die er ihnen angekündigt hatte.

„Stecken sie die Nase nicht ganz so tief hinein”, sagte Mark und drückte sanft das Handgelenk eines Mittvierzigers nach unten. „Es heißt zwar ‚Nosing Glas’, aber es reicht, wenn sie die Nase darüber halten. Sonst können sich die Düfte nicht entfalten.”

Im dämmrigen Licht leuchtete der Whisky in den Gläsern und schickte goldene Strahlen durch den Raum. Es wurde geschnuppert und geschnüffelt, endlich genippt und in den fragenden Gesichtern zeigte sich zusehends das eine oder andere Lächeln.

„Er schmeckt auch etwas süßlich”, stellte ein weiterer Teilnehmer fest. Er tupfte sich mit zwei Fingern die Lippen ab und strich durch seinen Bart.

„Das ist der Einfluss des Sherryfasses, in dem dieser Tropfen einige Jahre reifen durfte”, sagte Mark. „Wenn sie diese Note mögen oder ihnen die rauchigen und torfigen Sorten zu schwer sind, achten sie auf die Bezeichnung Sherry Cask auf der Verpackung.”

„Haben sie so einen dabei?”

„Aber selbstverständlich”, sagte Mark und griff in eine der Kiste, die hinter ihm standen.

Bei seinem „Absolute Beginners Evening” kamen Einsteiger zusammen, die sich der Faszination ‚Scotch’ nicht mehr entziehen wollten. Das war nicht unbedingt das lukrativste Tasting, das Mark im Angebot hatte, aber langfristig lohnte es sich. Denn die Flaschen, die er am Ende der Veranstaltung verkaufte, waren zumeist nur der Anfang. Die Quote der „Rückkehrer” war beachtlich. Manche Teilnehmer begleiteten ihn schon seit Jahren und einige waren mittlerweile genauso neugierig, wie er selbst. Experimentierfreudig und immer auf der Suche nach einem neuen Erlebnis.

Diese Gruppe stand noch ganz am Anfang, doch sie ließ sich gerne von ihm quer durch Schottland führen. Von den Speysides über die Lowlands in die Highlands und schließlich auf die Inseln, zu den ‚Heavy Boys’ von Islay. Jede dieser Reisen war immer wie ein kleines Abenteuer.

Als die Teilnehmer sich eine Stunde später verabschiedeten, blieb Mark alleine in seinem Separee sitzen und genoss ein letztes Glas. Mild und mit einem guten Schuss Torf im Abgang glitt der Whisky seine Kehle hinunter. Er schloss die Augen und machte es sich in seinem Sessel bequem. Es gab schlimmere Arten, sein Geld zu verdienen, als diese.

Ein Räuspern unterbrach ihn.

„Entschuldigung”, sagte der Barkeeper. „Es ist leider Zeit für den unangenehmen Teil des Abends.”

Mark sah auf die Rechnung, die etwas höher ausfiel, als erwartet. Seine Augenbraue zuckte kurz, während er die Positionen durchging, doch der Betrag war in Ordnung. „Ein perfekter Abend”, sagte er und holte seine Kreditkarte heraus. „Es war alles bestens vorbereitet. Wie immer. Vielen Dank und runden sie bitte auf den nächsten Hunderter auf.”

Der Barkeeper bedankte sich und kam kurz darauf mit dem Beleg zurück. Er lächelte verschmitzt.

Mark sah fragend auf. Hatte er zu wenig Trinkgeld gegeben?

„Sie kommen so regelmäßig … Und offen gestanden freuen wir uns immer auf sie. Nicht nur wegen des Tipps”, sagte der Barkeeper. Er präsentierte Mark ein Fläschchen, wie er sonst wohl einem Gast eine gute Flasche Wein darreichen würde, und stellte sie dann auf den Tisch.

„Dieser Whisky ist mir neulich in die Hände gefallen und da dachte ich, der ist genau richtig für sie.”

Mark rutschte an die Kante des Sessels heran und beugte sich vor. „Vielen Dank”, sagte er und unterzog mit leuchtenden Augen die Flasche einer eingehenden Betrachtung.

Sie war klein, hatte allenfalls das Volumen eines größeren Schnapsglases. Fünf Zentiliter schätzte er. Die Seiten verliefen geradlinig. An der Oberseite befand sich ein Verschluss, der so kurz war, dass man ihn kaum als Hals bezeichnen konnte. Der Boden war dagegen tief genug eingewölbt, dass Mark ein Fingerglied problemlos hineinstecken konnte. Offensichtlich war die Flasche zum Stapeln gedacht.

„Interessant”, sagte er und schaute auf das Etikett. „Creag Deargh #2, 52%”, las er vor. „Nie gehört. Ist der aus den Highlands? Der Name klingt gälisch ... Vielleicht aus Irland?”

„Nein. Nach allem, was ich weiß, ist das ein deutscher Whisky.”

Mark stellte das Fläschchen ab und ließ sich zurück in seinen Sitz fallen. „Ernsthaft? Wo soll es denn in Deutschland eine Destille geben, die sich ‚Creag Deargh’ nennt?”

„Auf Helgoland”, sagte der Barkeeper. „Jedenfalls hat man mir das gesagt ... Kann ich ihnen noch etwas bringen?”

Nach dem Einsteigerseminar in Düsseldorf fuhr Mark zunächst nach Frankfurt. Nachmittags betreute er ein Team-Building und gab abends ein Seminar zum Thema Whisky und Schokolade. Zwischendurch fand er kaum die Zeit, um wenigstens ein paar Entwürfe für die nächsten Artikel des Genuss-Blogs auf seiner Website zu schreiben. Zwei Tage später, am Samstag, fuhr er zurück nach Hamburg.

Weder mit dem Fläschchen noch mit der unbekannten Destille hatte er sich in der Zwischenzeit befassen können. Und so war das Geschenk des Barkeepers seinen Gedanken vollständig entglitten.

Zu Hause angekommen, erledigte er seine Nachbereitungen und verstaute Proben, Gläser und die Restbestände, die er nicht verkauft hatte. Danach machte er, was er am Freitagabend am besten konnte.

Feierabend!

Obendrein hatte er das Haus für sich. Anja war mit ihren Kolleginnen zum Essen verabredet und hatte ihm an der Magnettafel in der Küche eine Nachricht hinterlassen. Unter dem Button mit dem Schildkrötenbild von den Malediven, hing ein Zettel. „Ich war einkaufen. Im Kühlschrank ist etwas für Dich.” Darunter hatte Anja ihm ein großes Herz gemalt.

Er öffnete die Tür und entdeckte die unverwechselbare Packung aus ihrem bevorzugten Feinkostgeschäft. „Hmm”, sagte er leise und griff zu.

Mit Toast, Krabbensalat und einem Glas Weißwein setzte er sich vor den Fernseher. Satt und zufrieden ließ er sich von einem Krimi berieseln, der keine gesteigerte Aufmerksamkeit erforderte. Bei der erstbesten Werbeunterbrechung schaltete er den Ton aus und schloss für einen Moment die Augen.

Das war eine gute Woche gewesen. Gut, aber anstrengend. Neun Veranstaltungen in vier Tagen forderten ihren Tribut. Auch wenn jede Einzelne gelungen war. Vor allem das Einsteigerseminar in Düsseldorf. Er lächelte.

Sechs gestandene Männer, neugierig wie kleine Jungen, die sich bei jedem entdeckten Aroma gefreut hatten, als stünden sie zur Bescherung unter dem Weihnachtsbaum. Außerdem war da dieser äußerst nette Barkeeper gewesen ...

Ein Ruck ging durch Mark und trieb ihn aus seinem Sessel.

Das Fläschchen!

Das wäre jetzt genau das Richtige, um die Woche abzuschließen. An Schlaf war ohnehin noch nicht zu denken. Er holte es aus seinem Arbeitszimmer und nahm aus dem Wohnzimmerschrank einen Cognacschwenker aus Kristall. Für einen Moment überlegte er, ob ein Nosing Glas nicht angemessener wäre, aber sein Instinkt sagte ihm, dass er diese Probe nicht zu einem reinen Analyseobjekt herabwürdigen durfte.

Er goss den Whisky ein und wärmte ihn einen Augenblick mit den Händen. Vorsichtig schwenkte er die goldene Flüssigkeit, hob das Glas an und beobachte, wie sich das Licht darin brach. Ein angenehmer Farbton entstand, warm, wie ein Hauch Sonnenuntergang.

Mark sog vorsichtig den Duft ein, ging in seinem Kopf die Aromen durch, schnupperte noch einmal und nahm dann einen ersten Schluck.

Der Geschmack des Whiskys war genauso warm, wie seine Farbe. Er war kräftig, hatte Ecken und Kanten, fast schon etwas Ungezügeltes. Und er schmeckte nach Meer! Auch wenn Mark nicht gewusst hätte, wo der Whisky herkam – eine Insel wäre sein erster Tipp gewesen. Im Wasser musste eine Spur Salz zurückgeblieben sein, ein letzter Hauch. Er nahm einen weiteren Schluck.

Da war noch etwas anderes. Etwas, das Mark schon lange nicht mehr bei einem Whisky wahrgenommen hatte, zumindest nicht in diesem Ausmaß.

Leidenschaft!

Was auch immer den Brennmeister angetrieben, was auch immer ihn inspiriert hatte - es war in diesen Whisky miteingeflossen.

Bedauernd sah Mark auf das Fläschchen.

Es war leer …

„Und du hast wirklich nichts finden können?”, fragte Anja morgens beim Frühstück.

Mark schüttelte den Kopf. Seine Augen waren gerötet und sein Gesicht hatte einen ungesunden Grauton angenommen. Bis um vier Uhr hatte er an seinem Rechner gesessen und vergeblich versucht, etwas über die Creag Deargh Destillerie herauszufinden.

„Es gibt unter dem Suchbegriff nichts. Und auch, wenn ich allgemeiner nach Helgoland und Destille suche, kommt kaum etwas Gescheites dabei raus. Alles Mögliche zur Insel selbst und die Öffnungszeiten von Spirituosenläden, aber nichts, was mir weiterhilft.”

„Und die offiziellen Helgoland-Seiten?”

„Fehlanzeige. Man könnte fast meinen, dass es diese Destille nie gegeben hat.” Marks Blick schweifte ab. Draußen tobten zwei Eichhörnchen den Baum am Ende des Gartens rauf und runter. Auf einem Ast saß eine Amsel und beobachtete das Treiben eine Weile. Dann drehte sie sich gelangweilt um und flatterte davon. Mark trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und seufzte.

„Und wann fährst du hin?” Grinsend sah Anja ihn über den Rand ihres Kaffeebechers an.

„Was? Nach Helgoland?”

„Wohin denn sonst? Wenn du etwas über diese Destille herausfinden willst - und das willst du! - dann wirst du dich schon an Ort und Stelle begeben müssen.”

„Ach Quatsch! Da habe ich gar keine Zeit für! Die nächsten drei Wochen sind mit Terminen bis oben hin vollgepackt. Danach kommt das Wochenende bei deinen Eltern und anschließend sind wieder vier Wochen verplant.”

„Alles Ausreden”, sagte Anja. „Diese Destille wird dich nicht loslassen, bevor du eine vernünftige Antwort gefunden hast. Deine nächsten Veranstaltungen wirst du alle entspannt und perfekt durchziehen, weil es das ist, was du liebst und weil du ein Profi bist. Aber sobald die vorbei sind ...”

Sie nippte an ihrem Kaffee und lächelte versonnen.

„Dann wirst du wieder rastlos und grübelst nächtelang am Rechner vor dich hin, bis du endlich was gefunden hast. Aber bis es so weit ist, bist du manchmal unausstehlich.” Sie stellte den Kaffeebecher ab und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. „Und in dem Zustand möchte ich mit dir nicht meine Eltern besuchen. Da fahre ich lieber alleine, während du auf Helgoland nach deinem Whisky suchst.”

„Ernsthaft?”

„Ernsthaft”, sagte Anja und naschte ein Stück Schinken. „Und der Termin in drei Wochen passt auch. Dann fährt schon der Katamaran und du musst nicht mit dem Auto nach Cuxhaven fahren.”

Die Insel

Die drei Wochen nach dem Gespräch mit seiner Frau waren für Mark kein Zuckerschlecken. Verschobene Termine, anspruchsvolle Kunden und entnervende Verspätungen bei Bahn und Fliegern forderten ihn aufs Äußerste und strapazierten seinen Energiehaushalt.

Als er endlich an Bord des ‚Halunder Jet’ ging, ließ er sich ächzend in seinen Sitz fallen, froh, sich in den nächsten Tagen nur um sich selbst kümmern zu müssen. Er ignorierte die Unterhaltungen der Tagestouristen, die um ihn herum anschwollen, und orderte sich bei der Kellnerin einen Pott Kaffee.

Pünktlich um neun Uhr legte der Katamaran ab. Zwei Möwen kreisten über ihm und sahen zu, wie der ‚Halunder Jet’ mit schäumendem Kielwasser Hamburg verließ.

Das Brummen der Motoren floss durch den Schiffskörper bis in Marks Sitz und verursachte eine sanfte Vibration. Sie war leise, aber intensiv genug, um ihn zu beruhigen. Nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken hatte, schlief er binnen weniger Minuten ein. Er versäumte die Großschiffe, die sie passierten und alles andere, was bis Cuxhaven als Sehenswürdigkeit hätte durchgehen können. Den Leuchtturm von Wittenbergen, ein Kernkraftwerk, die größten Strommasten Europas ...

Mark schlief tief und fest. Er befand sich im Land seiner eigenen Träume und kehrte auf Helgoland in eine Destille ein, die niemand außer ihm zu kennen schien.

Er fand sich in der Gemütlichkeit eines kleinen Ladens wieder. Unzählige Flaschen blinkten golden in den Regalen und hier und dort befand sich ein Fass, mit dem eingebrannten Creag-Deargh-Logo. Vor ihm erschienen, wie durch Zauberhand, drei Nosing Gläser und ein Teller mit handgemachten Pralinen.

Und schließlich schwebte er in seinem Traum in eine Höhle, die versteckt im roten Buntsandstein Helgolands lag. In zwei Schichten waren Eichenfässer gestapelt und atmeten den Duft von Salz, Tang und Meer. Hier reifte etwas Großartiges!

Die Lautsprecherdurchsage, dass man jeden Augenblick Cuxhaven erreichen würde, riss Mark brutal aus seinem Traum. Er rieb sich die Augen und sah auf die Uhr. Zeit für einen neuen Kaffee.

Pünktlich zur Weiterfahrt saß er mit einem frischen Becher achtern auf dem Freideck und genoss den Fahrtwind. Die Kugelbake von Cuxhaven verschwand achteraus und der Katamaran begann das volle Potenzial seiner Triebwerke zu nutzen.

„Obacht! Isch glaub, jetzscht gibt er Vollgasch!”, schwäbelte es am Heck.

Das erste Mal nahm er seine Mitreisenden wahr. Es waren viele Familien an Bord. Drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen tobten herum und irgendwo zuckte ein Hund jedes Mal zusammen, wenn sie an ihm vorbeijagten.

Mark empfand augenblicklich Mitleid für das Tier. Es war ein junger Golden Retriever, der sich immer wieder hektisch umschaute. Auch aus der Entfernung von einigen Metern war gut zu erkennen, dass der Hund vor Aufregung vibrierte.

Zwei junge Männer setzten sich auf die Bank vor ihm. Ploppend öffneten sich ihre Bierflaschen.

„Und weißt du schon, was du mitbringen wirst?”, fragte der eine.

„Ich hatte an eine Flasche Gin gedacht”, sagte der andere. „Aber so ein richtig guter Whisky ist ja auch was Feines.”

Mark wurde hellhörig. Vielleicht saß Kundschaft vor ihm. Oder wenigstens die Gelegenheit für ein unterhaltsames Gespräch. Er begann, unauffällig zu lauschen.

„Ich weiß nicht. Du meinst sicher diesen Single Dings, Single ... Weiß ich nicht mehr.”

„Malt”, sagte der andere.

„Genau. Mir sind die immer zu torfig und schmecken zu stark nach Rauch. Bah! Ich hatte mal so einen. Irgendwas mit ‚Lager’, kann mich an den Namen nicht erinnern, aber der war kaum genießbar.” Der Mann schüttelte sich. „Ich habe einen halben Liter Cola in das Glas kippen müssen, um das Gebräu überhaupt trinken zu können.”

Marks Finger umschlossen krampfartig die Sitzbank. Ganz sicher hinterließen seine Fingernägel Kratzspuren im Aluminium.

Lagervullin mit Cola!

Er könnte jetzt aufstehen und diesen Trottel ohne viel Federlesens über Bord werfen ... Vor Gericht würde er damit durchkommen! Das stand mal fest! Kein Richter der Welt würde ihn dafür verurteilen. Jedenfalls, keiner, der ein wenig Verstand und Gefühl für die schönen Dinge des Lebens besaß! Mark schüttelte betrübt den Kopf. Die Gelegenheit auf ein Gespräch bestand hier wohl eher nicht. Außerdem ließ der Fahrtwind ihn mittlerweile frösteln.

Er ging zurück auf seinen Platz und blätterte die Broschüre über Helgoland durch, die dort auslag. Auch hier fand sich kein Hinweis auf die Destille.

Aber auf der Insel würde schon irgendjemand etwas wissen. Mark konnte sich nicht vorstellen, dass ein solcher Whisky sang und klanglos und auf Nimmerwiedersehen verschwand.

Und er wollte es auch nicht.

Eine halbe Stunde später legte der Katamaran im Südhafen an. Mark ging von Bord, ließ das Gepäck in sein Hotel transportieren und schulterte seinen Rucksack. Gemeinsam mit dem Rest der Touristenhorde schlenderte er den Hafen entlang. Der Kai war gesäumt von einigen Seglern und hinter ihm ankerte ein Seenotrettungskreuzer. Kurz vor Ende des Hafenbeckens verkaufte ein Krabbenfischer direkt von seinem Kutter. Mark lief das Wasser im Mund zusammen. Nur zu gerne hätte er diese Gelegenheit beim Schopf gepackt - aber er würde keine Zeit zum Krabbenpuhlen haben.

Er passierte die ersten Duty-free-Shops, bis sich auf der linken Seite eine kunterbunte Häuserzeile entlangzog. Die Gebäude waren klein und wirkten etwas gedrungen.

„Das müssen die Hummerbuden sein”, sagte er.

An einer Blauen hing ein Schild mit der Aufschrift „Seafood”. Marks Magen knurrte. Als er sich an Bord endlich entschlossen hatte, doch noch etwas zu essen, war die Küche bereits geschlossen gewesen. Aber das hier sah ohnehin um einiges besser aus.

„Habt ihr Krabbenbrötchen?”, fragte er, als er an der Reihe war.

„Klar doch. Pur oder als Salat?”

Mark entschied sich für die pure Variante. Wenn schon, denn schon.

„Kennen sie zufällig die Creag-Deargh-Destille?”, fragte er, als der Verkäufer das Brötchen auf einen kleinen Pappteller legte.

Der hielt kurz inne und runzelte die Stirn. „Die was?”

Mark wiederholte seine Frage, doch der Mann hinter dem Tresen schüttelte nur den Kopf.

„Ich fürchte, da kann ich ihnen nicht helfen. Whisky kriegen sie hier reichlich. Alle Sorten, die man sich denken kann und in der Preisklasse von bis ... Aber gleich eine ganze Destille?” Nachdenklich kratzte sich der Mann am Kopf. „Davon habe ich noch nie gehört. Aber ich bin auch erst seit sechs Jahren hier ... Das muss also nichts heißen”, fügte er lachend hinzu.

Mark bedankte sich und setzte sich an einen der Außentische. Schnell hatte er die erste Hälfte seines Brötchens verputzt. Das Magenknurren hatte sich gelegt, dafür war ein anderes, ungutes Gefühl entstanden.

Der Mann war schon seit sechs Jahren hier und hatte von der Destille noch nicht einmal gehört? Nachdenklich schaute Mark über den kleinen Hafen hinweg auf eine weitere Insel, die gleich gegenüber lag. Vielleicht wusste man dort drüben etwas über Creag Deargh. Seine Gedanken schweiften ab. Am Ende reifte der Whisky nicht in einer Höhle, sondern in einem Versteck im Dünensand, wie es früher Schmuggler benutzten.

Etwas stieß ihn an der Schulter an. Ein großer weißer Schatten rauschte über ihn hinweg und strich seinen Arm entlang. Mark zuckte erschreckt zusammen und duckte sich.

Als er wieder aufsah, war sein Brötchen weg. Ein paar Meter weiter verschlang eine Möwe den Rest seiner Mahlzeit. Provozierend sah sie ihn an und ließ ein markerschütterndes Triumphgeschrei hören.

„Passen sie auf die Möwen auf ”, sagte jemand im Vorbeigehen zu ihm. „Die sind hier ziemlich dreist.”

„Danke für die Warnung”, sagte Mark und schüttelte sich. Er ging besser ins Hotel.

„Herzlich willkommen.” Hinter dem Tresen der Rezeption erstrahlte das Lächeln einer freundlichen Mittzwanzigerin. „Zimmer 212. Den Gang herunter und am Ende die Treppe nach oben.”

Mark nahm seinen Schlüssel und drehte sich zum Gehen. Dann hielt er inne. Einen Versuch war es wert, dachte er. Rezeptionisten waren normalerweise gut informiert.

„Wissen sie zufällig, wo die Creag-Deargh-Destille ist?”

Die junge Frau runzelte die Stirn. „Hmmm ... Offen gestanden sagt mir das nichts. Ich werde mal die Kollegen fragen. Falls jemand was weiß, hinterlasse ich ihnen hier gerne eine Nachricht. Wenn sie sich aber allgemein für Whisky interessieren, kann ich Herberts Duty-free-Shop empfehlen. Da gibt es donnerstags auch ein Tasting.”

Interessant, dachte Mark. Den Laden musste er sich einmal ansehen. Er bedankte sich und ging auf sein Zimmer.

Es war klein, hatte aber einen wunderbaren Blick auf den Südstrand. Wie die Tage auf verlaufen würden - ruhige Abende mit einem Glas Whisky und Meerblick waren garantiert. Doch jetzt war es an der Zeit, die neue Umgebung zu erkunden.

„Können sie mir für heute Abend ein Restaurant empfehlen”, fragte er, als er an der Rezeption seinen Schlüssel abgab.

„Sicher”, sagte die junge Frau. „Sie sind das erste Mal hier, richtig?”

Mark nickte.

„Haben sie schon einmal Knieper gegessen.“

„Was für Dinger?“ Mark hob fragend die Augenbrauen und ließ sich über die gekochten Scheren der Taschenkrebse aufklären.

„Wenn sie gerne Scampi, Garnelen oder andere Meeresfrüchte essen, wird ihnen das gefallen”, beendete die Rezeptionistin ihren kulinarischen Kurzvortrag. „Ich kann bei den einschlägigen Restaurants gerne nachfragen.“

Mark schluckte und sah mit leuchtenden Augen zu, wie die junge Frau telefonierte.

„Bitte schön”, sagte sie und reichte ihm die Visitenkarte eines Restaurants. „Achtzehn Uhr dreissig. Frische Knieper für eine Person. Lassen sie es sich schmecken!“

„Das werde ich ganz sicher”, sagte Mark.

Vom Hotel aus schlenderte er die Promenade entlang, irrte durch die kleinen Gassen und ging die Treppe hinauf aufs Oberland. Wenn man schon einmal hier war, musste man die ‚Lange Anna’ sehen.

Er genoss die frische Luft, den Wind in seinem Haar und das Geschnatter der Spatzen in den Büschen. Ein angenehmes Kribbeln durchlief ihn und er atmete wie befreit auf. Die letzten Wochen mit den üblichen kleineren und größeren Katastrophen des Alltags waren plötzlich weit, weit weg.

Gemütlich wanderte er den Klippenrandweg entlang, bis er freien Blick auf die Nordsee hatte.

Vor seinen Augen entfaltete sich das Meer wie ein riesiger Teppich. Einzelne Sonnenstrahlen brachen durch die Wolken und glitzerten tausendfach auf dem Wasser. Nach der ‚Langen Anna’ betrachtete Mark fasziniert das Treiben am Vogelfelsen, wo Basstölpel bis an den Zaun heran ihre Nester bauten, und kletterte auf den Pinneberg.

Von Helgolands höchster Erhebung hatte er einen perfekten Überblick über das Oberland. Eine hügelige Landschaft erstreckte sich vor ihm und leuchtete in einem satten Grün. So, wie es hier aussah, hätte die Insel ebenso gut nördlich von Schottland liegen können oder in der Irischen See. Auch wenn Mark sich nicht sicher war, ob es diesen rötlichen Buntsandstein dort ebenfalls gab.

Er schloss die Augen und lauschte dem Wind. Er schnupperte die Luft, versuchte, sie zu schmecken, spürte, wie sie sanft über sein Gesicht strich. Ein Kribbeln zog von seinem Bauch bis in Arme und Fingerspitzen. Dieses Gefühl hatte er genau zweimal gehabt. Auf Islay und auf der Isle of Skye.

Helgoland war der perfekte Platz für eine Destille!

Er öffnete die Augen wieder und stemmte die Hände in die Jackentaschen. Irgendjemand auf dieser Insel musste etwas wissen.

„Das wäre doch gelacht”, sagte Mark leise und ging den Berg hinab.

Herberts Duty-free-Shop war einer der kleinsten Läden, in die Mark jemals seinen Fuß gesetzt hatte. Dafür wies er die höchste Dichte von Whisky pro Quadratzentimeter Ladenfläche auf, die überhaupt vorstellbar war.

Interessiert schaute er sich um. Zentimeter für Zentimeter glitt sein Blick die Regale entlang. Ganz langsam, um ja keine Marke zu übersehen. Aber auch, um nirgendwo anzustoßen. Alles stand so dicht beieinander, dass er befürchtete, mit einer falschen Bewegung Schaden anzurichten.

Aber die Beengtheit des Raumes und die Fülle der verschiedenen Sorten versprühten einen besonderen Charme. Der Laden wirkte wie eine Schatzkammer, die entdeckt werden wollte. Mark spürte, wie sich sein Zeitgefühl verflüchtigte, um draußen vor der Tür auf ihn zu warten.

Aus einem Nebenraum steckte ein junger Mann den Kopf herein. „Kann ich helfen?”

Mark brauchte einen Moment, um sich von der Flasche zu lösen, die er soeben entdeckt hatte. Ein Single Malt aus den Highlands, den er verschollen geglaubt hatte. Zumindest war dieser Whisky ihm schon seit Jahren nicht mehr untergekommen.

„Wenn sie mich so fragen ...”, sagte er und brachte mit einem erwartungsfreudigen Lächeln sein Anliegen vor. Doch gleich darauf musste er feststellen, dass die Erwähnung nach der Creag-Deargh-Destille auch hier nur Stirnrunzeln verursachte.

„Und die soll hier auf Helgoland sein?” Der junge Mann sah zurück in den Nebenraum, wo sich offensichtlich eine zweite Person aufhielt. Doch auch von dort kam keine bessere Antwort. „Normalerweise würde ich Herbert fragen, aber der ist für ein paar Tage aufs Festland gefahren.”

„Ach, der Chef ist gar nicht da?”

Hinter Mark stand plötzlich ein älterer Mann im Laden. Er war vollständig in Schwarz gekleidet und auf seiner Mütze prangte ein Totenkopf.

Der Verkäufer schüttelte den Kopf. „Nee. Wenn du zu Herbert willst, musst du Anfang nächster Woche nochmal kommen.”

Mit einem Schulterzucken wollte der Mann wieder gehen, doch der Junge hielt ihn mit einem Seitenblick auf Mark zurück.

„Warte mal Christian ... Du bist ja schon ein bisschen länger hier ... Hast du mal etwas von einer Destille hier auf Helgoland gehört? Also von einer, die hier Whisky brennt?”

Der Mann zog die Augenbrauen hoch. Augenblicklich wanderte sein Blick zu Mark.

„Wollen sie das wissen?”, fragte er.

Mark bejahte und stellte sich kurz vor.

„Schau an, schau an.” Ein Schmunzeln erhellte das Gesicht des Mannes und in seinen Augen blitzte es. „Einen Moment bitte, dann bin ich ganz bei ihnen”, sagte er und nahm eine Flasche eines klassischen Single Malt aus dem Regal.

Lecker!, dachte Mark, als er das Etikett sah. Der Kollege hatte Geschmack!

Der Mann bezahlte und bedachte Mark mit einem weiteren Seitenblick.

„Und dann gib mir mal bitte zwei von deinen Probierbechern”, sagte er. „Der junge Mann und ich werden gleich mal testen, ob dieser Tropfen immer noch so gut ist, wie früher. Sie haben doch einen Augenblick, oder?”

Mark lächelte. „Gerne auch zwei oder drei”, sagte er.

Sie setzten sich auf eine Bank vor Herberts Laden. Der Mann stellte sich als Christian Bendahl vor. Er war Pensionär, verbrachte die Sommermonate auf der Insel und arbeitete währenddessen ehrenamtlich als Fremdenführer. „Mein nächster Inselrundgang ist übrigens morgen um 16:00 Uhr”, fügte er augenzwinkernd hinzu. Er entkorkte die Flasche und roch daran.

„Hmmm ... Hier ... Schnuppern sie mal.” Bendahl füllte die beiden Probierbecher und prostete Mark zu.

„Slàinte”, sagte er.

Sie tranken und verbrachten einen genussvollen Augenblick gemeinsamen Schweigens. Als die Becher leer waren, schenkte Bendahl nach.

„Sie stellen ungewöhnliche Fragen”, sagte er.

„Tatsächlich?” Mark lächelte. Die Einleitung weckte Hoffnung in ihm.

„Nach der Creag-Deargh-Destille wurde schon lange nicht mehr gefragt. Viele haben hier auf der Insel seinerzeit gar nicht mitbekommen, was passiert ist. Und die, die daran beteiligt waren, reden nicht darüber.” Bendahl ließ ein Schnauben hören und kniff die Lippen zusammen. „Aus gutem Grund, wenn sie mich fragen. Denn niemand kommt dabei besonders gut weg.”

„Klingt ja dramatisch”, sagte Mark. „Fast schon, als hätte es einen Unfall gegeben.”

Bendahl gab ein leises, aber bitteres Lachen von sich. „Sabotage trifft es wohl eher.”

„Sie meinen, Sabotage in Form von zerschlagenen Fässern oder aufgeschnittenen Getreidesäcken?”

„Ich meine Sabotage in Form von Ordnungsamt und Polizei. Tja, da gucken sie, was? Man kann sowas auch ganz legal anstellen.”

„Das heißt, die Destille wurde von Amts wegen geschlossen?” Mark holte tief Luft und streckte unwillkürlich den Rücken durch.

„Wie man’s nimmt. Tim hat damals seinen Laden aufgebaut und sich um alle Genehmigungen gekümmert. Dachte er jedenfalls. Es fehlte eine hinsichtlich der Verwendung von Gewerbeflächen für eine anderweitige Nutzung als Produktionsstätte.” Bendahl fing Marks fragenden Blick und hob abwehrend die Hände. „Fragen sie mich nicht, wie das genau hieß. In diesem Beamtendeutsch bin ich nicht so bewandert. Auf jeden Fall fing der gute Tim damals an, seinen ersten Brennversuch im neuen Laden zu unternehmen, und zack! Stand auch schon die Polizei vor der Tür.”

„Wie haben die das mitgekriegt?”

„Gar nicht.” Christian Bendahl lachte freudlos. „Sie wurden informiert, und zwar von jemandem, der seinen Laden ganz in der Nähe hat. Sie wissen ja, wie es heißt. ‚Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn’s dem bösen Nachbarn nicht gefällt.’ War schon eine ziemlich üble Nummer.”

„Und warum hat der Nachbar ...”

Bendahl legte seine Hand auf Marks Arm.

„Das dürfen sie mich nicht fragen”, sagte er. „Ich habe eine Meinung, aber die behalte ich ausnahmsweise für mich. Ich bin nicht in der Lage, ihnen die Motivation dieser Person zu erläutern. Oder zu erklären, warum Tim keinen alternativen Standort zum Brennen gefunden hat. Eine Affenschande.”

Mark lächelte und schwieg.

„Gut, jetzt ist es doch raus”, sagte Bendahl und lächelte zurück.

„Was ist aus Tim geworden?”, fragte Mark. „Ist er noch hier auf der Insel?”

Bendahls Gesicht nahm einen harten Zug an. Er schüttelte den Kopf.

„Irgendwann hat er seine Sachen gepackt. Aber das war zu einer Zeit, als ich nur ein paar Wochen im Jahr hier war. Eines Tages kam ich wieder, der Laden war zu und Tim nirgendwo auffindbar. Vielleicht wissen diejenigen, die ihm den Schlamassel eingebrockt haben, etwas. Aber ich bezweifle, dass die sonderlich an diesem Thema interessiert sind. Wenn sie es dennoch versuchen wollen ...”

Bendahl holte einen Notizblock hervor und schrieb Namen und Adressen auf.

„Und nicht vergessen”, sagte er, als er Mark den Zettel gab. „Inselrundgang, morgen um 16:00 Uhr.”

Mark verabschiedete sich und machte sich direkt auf den Weg. Wenige Minuten später stand er vor einem Schaufenster, in dem sich Teedosen wie aus der Jahrhundertwende und sorgsam drapierte Jutesäcke tummelten. „Der Halunder Hof - Tee und Gewürze” verkündete ein Schild, das sich die über ganze Breite des Ladens erstreckte.

Mark ging hinein und fand eine beachtliche Auswahl vor. Auf den ersten Blick war kaum vorstellbar, dass Teeliebhaber oder ambitionierte Hobby-Köche hier nicht fündig werden sollten. Sofern sie nicht unmittelbar bei Betreten des Ladens erstickten. Ein schwerer Duft füllte den Raum wie Watte und erschwerte das Atmen.

Mark benötigte einige Sekunden, um sich daran zu gewöhnen. Als seine Geruchsnerven die Reizüberflutung halbwegs verarbeitet hatten, glitten seine Hände zum Reißverschluss seiner Jacke. Für einen Moment verharrten sie dort, suchten sich jedoch sogleich ihren Weg zurück in die Taschen.

Mark trat an eines der Regale heran und betrachtete die Teedosen. Eine sah aus wie die andere und unterschied sich von der neben ihr Stehenden nur durch ihre Aufschrift. In einer Apotheke sähe das ganz ansprechend aus, dachte er. Zudem würde es dort einen professionellen Eindruck vermitteln. Aber in einem Teeladen? Zweifellos war die Luft nicht das einzige, was ihn hier störte.

„Kann ich helfen?”

Mark drehte sich um und erblickte einen Kahlkopf, den er selbst um etwa einen Kopf überragte. Der Mann war auffallend übergewichtig, fast schon an der Grenze zur Fettleibigkeit.

Er lächelte, aber die Augen blieben kalt.

„Ich suche einen guten Darjeeling”, sagte Mark.

Im Hintergrund klingelte ein Telefon.

„Einen Moment!” Der Kahlkopf würgte das Gespräch mit einer abgehackten Handbewegung ab und verschwand im Hinterzimmer. Nach zwei Minuten tauchte er wieder auf.

„So. Was wollten sie nochmal?”

„Einen Darjeeling. Und wie gesagt, einen guten.”

„Wie gut soll er denn sein?” Die Augen des Mannes glitzerten. Offensichtlich witterte er ein Geschäft.

„Versuchen wir es zum Einstieg mal mit ihrem Besten”, sagte Mark.

„Das lobe ich mir.” Schnell hatte der Mann ein Päckchen herausgesucht und stellte es auf den Tresen.

„Nicht von schlechten Eltern”, sagte Mark, als er das Preisschild sah. Seine Augenbraue zuckte heftig.

„Nur das Beste, wie sie wollten.”

„Nein, ich meinte den Preis.”

„Das ist bei Qualitätsprodukten halt so”, sagte der Kahlköpfige ungerührt. „Kann ich sonst noch etwas für sie tun?”

Mark suchte ein paar Geldscheine heraus.

„Ich habe gehört, dass es hier eine Destille gibt oder einmal gab”, begann er unverfänglich.

„Sie wissen nicht zufällig, wo ich die finde?”

„Gar nicht”, sagte der Mann und steckte das Geld ein. Sein Gesicht bekam einen hämischen Zug. „Die gibt’s nicht mehr.”

„Wie schade”, sagte Mark. „Und warum nicht?”

„Weil ich dafür gesorgt habe!” Aus der Häme wurde ein hässliches Grinsen, das Marks Nackenhaare in die Höhe trieb. „So ein Laden passt einfach nicht her. Hier in der Straße haben wir nur ordentliche Geschäfte. Und dann kommt einer und will nur zwei Türen weiter eine Schnapsbrennerei aufmachen! Nein, nein. Sowas kommt gar nicht in Frage!”

„Aber so eine Destille ist doch ein Hingucker. Das hätte ihnen Kundschaft zuführen können. Whisky auf der einen Seite und Tee gleich nebenan. Klingt für mich nach einer perfekten Ergänzung.”

„Quatsch! Ergänzt! Geruchsbelästigungen hätte dieser Widerling verursacht! Nichts weiter!” Wie zur Bestätigung wischte Kahlkopf sich grunzend die Nase ab. „Und früher oder später wären die Betrunkenen hier durchgetorkelt! Schnapsbrennerei! Eine Schnapsidee war das. Aber glücklicherweise konnte ich das ja verhindern.”

Mark nickte und tat, als würde er den Mann verstehen. „Und wie macht man sowas? Sie sind ja vermutlich nicht hingegangen und haben gesagt, ‚lass das mal lieber’, oder?”

Der Mann sah ihn schief an und sein Grinsen bekam etwas Herablassendes.

„Man muss halt die Spielregeln kennen, dann ist sowas ganz einfach.”

„Und sie kennen die Regeln?”

„Das versteht sich wohl von selbst!” Der Mann warf