Unheimliche Freunde - Michael Stoffers - E-Book

Unheimliche Freunde E-Book

Michael Stoffers

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Beschreibung

Zuerst ist Helgoland für den 12-jährigen Philip nur etwas seltsam. Man gibt sich nicht die Hand, Fahrrad darf man nur mit Ausnahmegenehmigung fahren und bei Schnee fällt die Schule aus. Doch dann sieht er ein Schiff, das es gar nicht geben kann. Und wer ist der Mann in Blau, der ihn immer so eigenartig ansieht? Die seltsamen Ereignisse häufen sich, und ehe er es sich versieht, erlebt Philip ein Abenteuer, von dem er nie zu träumen gewagt hätte!

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Für Anneke, Levke und Jan

Ihr seid einfach großartig!

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1

Rollend und stampfend kämpfte sich das kleine Versorgungsschiff „Renate“ durch die aufgewühlte Nordsee. Ein bitterkalter Wintersturm fegte schon seit Tagen über das Meer und peitschte die Wellen auf. Vom Bug her ergoss sich das Spritzwasser immer wieder in einem Schwall über das Fenster der kleinen Brücke. Trotz des nachlassenden Regens lief der Scheibenwischer unaufhörlich.

Angestrengt sah Hark Lüders unter dem Schirm seiner Mütze hindurch in das Grau vor ihm. Ruhig und konzentriert steuerte er das kleine Schiff durch den Sturm, immer darauf bedacht den größten Wellen so gut es ging auszuweichen. Wie üblich, wenn er selbst am Ruder stand, sprach er nicht viel. Die vier Mann seiner Besatzung kannten das schon. Knifflig wurde es erst, wenn er anfing, leise vor sich hin zu pfeifen. Bei Hark Lüders war das immer ein Zeichen dafür, dass es ernst wurde und er sich Sorgen machte.

„Dort vorne kannst du schon Helgoland sehen“, sagte er plötzlich.

Neben Hark Lüders sah ein zwölfjähriger Junge angesichts der unvermittelten Ansprache überrascht auf. Philip Wulff fuhr sich mit der Hand durch seine braunen Locken und ließ seinen Blick durch den Sturm schweifen. Und tatsächlich – irgendwo zwischen der gezackten Linie, die die See bildete und den tief hängenden, dunklen Sturmwolken, konnte er schwach die Umrisse einer Insel ausmachen. Sie sah aus wie ein einziger großer Felsen, der aus dem Wasser ragte, nur an der von Philip aus gesehen rechten Seite, schien die Linie ihres Umrisses einmal kurz unterbrochen zu sein.

Das also sollte sein neues Zuhause sein. Auf den ersten Blick war er wenig begeistert und ein Seufzer entfuhr ihm.

„Du kommst aus Hamburg, richtig?“ Lüders warf seinem jungen Begleiter einen kurzen Blick zu. Der Junge drückte mit jeder Faser Zweifel aus und ein Unbehagen, das nichts mit dem Seegang zu tun hatte.

Philip nickte nur, sagte aber noch nichts. Er wippte in den Knien, um die Schiffsbewegungen auszugleichen. Mit einer Hand hielt er sich am Griff einer Konsole fest, die andere hatte er in der Hosentasche.

„Wird sicherlich eine Umstellung für dich“, versuchte Lüders es erneut und strich sich durch den dunklen Vollbart, der bereits an mehr als einer Stelle von grauen Strähnen durchzogen war. „Ist sicherlich keine Großstadt da drüben und vieles, woran du bisher gewöhnt warst, gibt es dort nicht. Aber dafür hast du anderes, was du bisher mit Sicherheit nicht hattest.“

„Zum Beispiel?“

Der Unglaube in Philips Stimme war nicht zu überhören, als er endlich den Mund aufbekam. Der ruhige und wortkarge Kapitän war ihm von Anfang an sympathisch gewesen und er hoffte, dass dieser den Eindruck nicht durch den Versuch zerstören würde, Philip irgendetwas einzureden.

„Stell dir vor, es ist Sommer, die Schule ist gerade vorbei und du bist nicht einmal eine halbe Stunde vom Strand entfernt. Und ich rede nicht nur von einem bisschen Strand, sondern von einem richtigen Strand. So einer, wie es ihn eigentlich nur an der Nordsee gibt. Hattest du so was bisher?“

„Nein, eigentlich nicht“, antwortete Philip und schüttelte den Kopf.

„Ist schon ein schönes Plätzchen da drüben. Sehr freundlich und wenn du mich fragst, ein perfekter Platz um sich wohlzufühlen. Dass man vielleicht nicht alles hat, was es auf dem Festland gibt, fällt da kaum ins Gewicht. Ist vielleicht sogar eher ein Vorteil.“

Philip sagte nichts. Er dachte über das gerade gehörte nach und hoffte inständig, dass Lüders recht hatte.

„Wo wohnt ihr eigentlich auf der Insel?“

„In der Norderstrasse glaube ich“, antwortete Philip knapp. „Sie muss ziemlich lang sein. Wir wohnen wohl in der Nummer fünfhundert und irgendwas.“

Lüders schmunzelte. „Naja, wirklich lang ist sie nicht. Das mit der Nummer liegt daran, dass es jede Hausnummer auf Helgoland nur einmal gibt.“

„Im Ernst?“ Philip sah Lüders erstaunt an. Dieser registrierte zufrieden, dass sein Besucher zum ersten Mal seit sie abgelegt hatten eine Regung zeigte.

„Kein Scherz“, bestätigte Hark Lüders. „Das ist tatsächlich so. Aber die Norderstrasse hat für dich noch einen Vorteil. Du hast nämlich einen extrem kurzen Schulweg.“

„Bisher habe ich mit dem Fahrrad auch nur zwanzig Minuten gebraucht.“

„Und jetzt brauchst du nur noch zwei. Aber zu Fuß.“

„Das ist aber mal wirklich eine Verbesserung“, murmelte Philip und verfiel wieder in sein anfängliches Schweigen.

Er musste wieder an den Abend denken, als sein Vater das erste Mal die Idee vorgebracht hatte, man könnte ja nach Helgoland ziehen. In der Energiefirma, für die er als Ingenieur arbeitete, wurden Mitarbeiter gesucht, die bereit waren, dorthin zu ziehen. Ein paar Kilometer vor der Insel wurde ein neuer Windpark gebaut und von Helgoland aus sollten die Anlagen gewartet werden. Philip hatte sich dabei nichts weiter gedacht. Es war schließlich nur eine Idee gewesen und sein Vater war der wohl sesshafteste Mensch, den Philip je getroffen hatte.

Doch dann war dieser Mittwoch gekommen.

Seine Eltern hatten mit ihm im Wohnzimmer gesessen. Auf dem Tisch standen eine Flasche Wein und zwei Gläser. Als unaufgefordert auch Chips und Cola für ihn dazu gestellt wurden, wusste er, dass irgendetwas nicht stimmen konnte. Kurz danach geriet seine kleine Welt aus den Fugen. Schulwechsel, der Verlust von Freunden und was würde aus seinen Gitarrenstunden werden? Endlich hatte er einen Gitarrenlehrer gefunden, der ihm auch einiges über Heavy Metal beibringen konnte. Das wollte er nicht aufgeben. Und vor allem: Konnte man auf Helgoland eigentlich Fußball spielen?

Aber am schlimmsten war, dass der Umzug mitten im Schuljahr stattfinden sollte.

Natürlich hatte man darüber nachgedacht, dass zuerst nur Herr Wulff auf die Insel ginge und Philip und seine Mutter nach Ende des Schuljahres nachkämen, aber die Eltern waren sich einig, dass eine Trennung die Dinge nur noch schwieriger machen würde. Also begannen die Vorbereitungen kurz nach Weihnachten und bereits im Januar verließen sie Hamburg, nur um dann mehrere Tage wegen des Sturms in Cuxhaven festzusitzen.

Nach drei Tagen war es Philips Mutter gewesen, die darauf bestanden hatte, mit dem kleinen Versorgungsschiff überzusetzen. Alle Einwände insbesondere von Hark Lüders hinsichtlich Seegang und der Dauer der Überfahrt bei diesem Wetter hatte Frau Wulff beiseite gewischt. Keine zwanzig Minuten, nachdem sie abgelegt hatten, bekam sie die Quittung dafür.

„Wie geht es eigentlich deiner Mutter?“, erkundigte sich Lüders, als könnte er Philips Gedanken lesen.

„Ich glaube nicht so gut“, grinste Philip und sah nach hinten. Irgendwo hinter ihm, im Bauch des Schiffes konnte man in regelmäßigen Abständen würgende Geräusche hören. Dass seine Mutter stur sein konnte, wenn sie etwas wollte, war ihm hinlänglich bekannt. Dass sie dafür sozusagen aber auch einmal einen Preis zahlen musste, war neu. Insgeheim freute ihn das sogar ein bisschen, auch wenn seine Mutter im Moment Höllenqualen zu leiden schien.

„Seekrankheit ist eine üble Sache. Kann einen richtig fertig machen. Aber du scheinst da keine Probleme zu haben, oder?“

Philip schüttelte lächelnd den Kopf. „Keine Sorge. Ich werde mein Frühstück schon nicht auf ihrer Brücke verteilen.“

„Sehr schön“, lächelte Lüders zurück und sah seinen Gast von der Seite an. Wenn der Junge lächelte und von sich aus etwas sagte, war er ein richtig angenehmer Zeitgenosse. Lüders hegte keine Zweifel, dass er sein Unbehagen schnell ablegen und sich auf Helgoland wohl fühlen würde.

„Sind wir bald da?“ Herr Wulff war auf die Brücke gekommen. Auch er sah ein bisschen blass um die Nase aus, schien sich aber so weit im Griff zu haben. Ihm folgte ein weiteres Mitglied der Besatzung mit einer Kanne Tee in der Hand.

„Schnapsidee bei diesem Wetter überzusetzen“, knurrte der Mann, als er Hark Lüders‘ Becher auffüllte. „Da hätte man ja gleich mit einem Seenotrettungskreuzer losschippern können. Von der Sauerei da hinten mal ganz zu schweigen.“

Philips Vater machte ein betretenes Gesicht. „Tut mir leid“, sagte er leise.

„Na toll. Die Frau reihert das Deck voll und ihm tut es leid.“ Kopfschüttelnd verließ der Mann wieder die Brücke.

Lüders warf Philip und dessen Vater einen erklärenden und beschwichtigenden Blick zu. „Geben sie uns noch eine Stunde. Plus minus zehn, fünfzehn Minuten. Bei dem Wetter können wir keine volle Fahrt machen. Die Nordsee ist halt keine Autobahn.“

Herr Wulff nickte und wandte sich dann seinem Sohn zu. „Bei dir ist alles klar?“

„Ja, alles in Ordnung. Mir geht es gut.“

„Na, wenigstens einer in der Familie.“ Philips Vater rang sich ein Lächeln ab und nickte dem Käpten zu, als er sich anschickte, wieder nach hinten zu gehen.

„Keine Sorge“, rief Lüders ihm nach. „Sie werden sich schon dran gewöhnen!“

„Woran wird er sich gewöhnen?“, fragte Philip. „An den Seegang?“

„Natürlich. Es kommt eher selten vor, dass die Wartungsleute zu den Windrädern fliegen. Die Hubschrauber sind nicht immer verfügbar und es gibt Wetterlagen wie heute, an denen sie gar nicht fliegen können. Und dann geht es mit dem Schiff los.“

Philip nickte und sah wieder aus dem Fenster und der Insel entgegen. Allmählich wurde die Sicht besser und durch das grau in grau aus Wellen und Wolken nahm Helgoland immer schärfere Konturen an.

Unruhig stapfte Max Wiebknecht von einem Fuß auf den anderen. Erst hatte er es nicht glauben wollen, als die Nachricht kam, die „Renate“ hätte samt drei Passagieren Cuxhaven verlassen und Kurs auf Helgoland genommen. Doch mittlerweile konnte er das kleine Versorgungsschiff immer deutlicher ausmachen.

„Für kein Geld der Welt möchte ich da jetzt an Bord sein“, brummte er und beobachtete, wie die „Renate“ sich der Insel näherte. Je dichter sie dem Hafen kam, desto kitzliger wurde es. Max Wiebknecht konnte sich gut vorstellen, wie Käpten Lüders jetzt am Ruder stand und leise vor sich hin pfiff.

Das kleine Schiff wurde von den Wellen hin und her geworfen, bäumte sich auf, sackte wieder in ein Wellental, um kurz danach von der nächsten Welle wieder nach oben katapultiert zu werden. Schon kam sie den Kaimauern bedrohlich nahe. Für einen Moment glaubte Max Wiebknecht, die „Renate“ würde die Hafeneinfahrt einfach ignorieren und die Kaimauer überspringen. Doch dann hielt der Bug plötzlich doch noch wie durch ein kleines Wunder direkt auf die Einfahrt zu. Er konnte sehen, wie Hark Lüders das Ruder noch weiter herumwarf und den Motorhebel ganz nach vorne durchdrückte.

Einen Augenblick später tuckerte die „Renate“ an ihren Anlegeplatz, so als wäre nie etwas gewesen und der Sturm schon lange vorbei.

Nachdem die „Renate“ festgemacht hatte, folgte Philip seinen Eltern über den kleinen Steg auf die Kaimauer. Seine Mutter tat einen erleichterten Seufzer, als sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

Der Kai war bis auf zwei Ausnahmen menschenleer. Die beiden Männer standen in schwere Jacken gekleidet etwas abseits neben dem kleinsten Taxi, das Philip je gesehen hatte, und trotzten dem Wind, der im Gegensatz zum Regen kein bisschen nachgelassen hatte.

Philip sah seine Mutter von der Seite an und stellte fest, dass sie nicht nur blass war, sondern ihre Gesichtsfarbe einen sehr ungesunden Hauch ins Grünliche angenommen hatte.

„Ich sag’s ja: Seekrankheit kann einen richtig fertig machen.“ Hark Lüders stand hinter ihm und schien schon wieder zu wissen, was Philip dachte.

„Da seid ihr ja!“, rief Max Wiebknecht.

„Hallo Max,“ grüßte Herr Wulff zurück. „Schön, endlich hier zu sein.“

„Sag‘ mal, war das deine Schnapsidee bei diesem Wetter überzusetzen? Da muss man ja einen ganz gewaltigen Sprung in der Schüssel... “ Er verstummte, als er den Blick auffing, den Herr Wulff ihm zuwarf und der mit einem kaum merklichen, aber dennoch eindeutigen Seitenblick auf seine Frau verbunden war.

Max räusperte sich verlegen und ließ seine weiteren Gedanken unausgesprochen. „Naja, Hauptsache ihr seid heil angekommen. Und das ist dann wohl dein Junge, nicht wahr? Und der Einzige von Euch, der nicht krank aussieht!“ Den kleinen Seitenhieb hatte Max Wiebknecht sich dann doch nicht verkneifen können.

Philip trat einen Schritt vor und reichte dem Mann die Hand. Erstaunt stellte er fest, dass dieser zögerte, sie zu ergreifen. Mit einem leisen Lächeln tat er es dann doch.

„Auch auf die Gefahr hin die Erziehungsmaßnahmen deiner Eltern zu torpedieren“, begann er grinsend, „aber das mit dem Händeschütteln brauchst du hier nicht. Auf Helgoland tun wir das einfach nicht.“

Drei erstaunte Gesichter schauten ihn an, und noch bevor Frau Wulff, trotz ihres beklagenswerten Zustandes widersprechen konnte, fuhr Max Wiebknecht fort. „Helgoland ist ziemlich klein und irgendwie kennt hier früher oder später sowieso jeder jeden. Und wir laufen uns eigentlich dauernd über den Weg. Wenn wir uns dann noch jedes Mal die Hand geben würden, kämen wir aus dem Händeschütteln gar nicht mehr heraus. Also, einfach ein kurzes Winken und ein „Hallo“, das reicht vollkommen aus.“

„Und wenn ich jemanden ganz neu kennenlerne?“, wandte Philip ein.

„Auch dann“, bestätigte Max Wiebknecht noch einmal.

„Aber ist das nicht unhöflich?“, fragte Philips Mutter. Es waren die ersten klar artikulierten Töne, die sie von sich gab, seit sie die „Renate“ betreten hatte.

„Auf dem Festland vielleicht“, räumte er ein. „Aber hier nicht. Keine Sorge.“

Max gab dem Fahrer einen Wink, der sich darauf hin um die Koffer kümmerte. Mit einem kleinen Stück Kreide schrieb er die Hausnummer auf die Gepäckstücke und wuchtete sie in das Elektrotaxi.

„Wollen sie mitfahren?“

Froh wieder an Land zu sein und ein paar Schritte gehen zu können, lehnten Philips Eltern ab. Der Fahrer fuhr ohne sie davon und die drei Erwachsenen und Philip machten sich zu Fuß auf den Weg.

Während Max Wiebknecht seinen Eltern bereits dieses und jenes erzählte und das meiste davon im erleichterten Durchatmen der abklingenden Seekrankheit unterging, trottete Philip einfach nur hinterher. Es war kalt, der Sturm pfiff mit unverminderter Stärke über die Insel und alles schien grau zu sein. Wenn sie dann erst einmal im Haus wären, würde er mit Nachdruck eine heiße Schokolade fordern. Gerade als er sich den Duft ausmalte und im Geiste bereits den dampfenden Becher in der Hand hielt, fiel ihm der Mann in Blau auf.

Er stand dort, wo eine kleine bunte Häuserzeile begann und sah ihnen entgegen. Er trug eine blaue Hose, eine blaue Jacke, unter der ein dicker wollener Rollkragen hervorlugte und eine ebenfalls blaue Mütze, die genauso aussah, wie Philip sich eine Kapitänsmütze vorstellte. Wie Hark Lüders trug auch dieser Mann einen Vollbart, nur dass dieser genauso weiß war, wie die Locken, die unter der Mütze hervorquollen.

Aber etwas war so ganz anders. Der Mann hatte etwas Durchdringendes, Unangenehmes. Unwillkürlich ging Philip langsamer und sah ihm in die Augen. Sein Blick wurde erwidert, aber auf eine Art und Weise, die er nicht deuten konnte.

In diesem Gesicht war nichts Freundliches, aber er konnte auch nicht sagen, dass er unfreundlich oder gar bedrohlich war. Es war vielmehr, als würde dieser Mann durch ihn hindurchsehen und dabei alles ergründen, was in seinem Inneren vor sich ging.

Schnell wandte er seinen Blick wieder ab und ging weiter. Kurz überlegte er, ob er damit die Regel, die Max Wiebknecht ihm gerade mit auf den Weg gegeben hatte, brach, aber der Mann war ihm so unheimlich, dass er seinen Schritt wieder beschleunigte und zu seinen Eltern aufschloss.

Helgoland war klein, hatte Max Wiebknecht gesagt. Philip hoffte inständig, dass er diesem Mann trotzdem nicht allzu häufig begegnen musste, und lenkte seine Gedanken wieder auf die heiße Schokolade. Die musste jetzt sein, allein schon wegen des Wetters. Und die Tatsache, dass er ganz offensichtlich als Einziger der Familie eine gewisse Seefestigkeit mit auf die Insel gebracht hatte, schrie seiner Meinung nach geradezu nach einer Belohnung.

Eigentlich hätte Philip zwischen der Ankunft auf der Insel und seinem ersten Schultag noch ein bisschen Zeit zur Eingewöhnung gehabt. Aber durch den Sturm hatte sich alles verschoben und so war sein erster voller Tag auf der Insel auch gleichzeitig sein erster Schultag.

Unruhig saß er in der kleinen Küche, die – wie der Rest des Hauses – noch bis oben hin mit kleinen Kisten und Kartons vollgestopft war, und kaute auf seinem Brot herum. Es war das erste Mal, dass er die Schule wechselte. Wie anders hier wohl alles sein mochte? War der Unterschied größer, weil Helgoland eine Insel war? Wie würden die anderen Kinder ihm begegnen? Machte es einen Unterschied, weil er vom Festland kam? Und aus einer Großstadt?

Um eventuellen Problemen vorzubeugen, hatte er sich betont neutral gekleidet. Weitestgehend in Schwarz. Das war unauffällig – fand er – und bot keinerlei Angriffsfläche. Worin ein Angriff aber überhaupt bestehen könnte oder sollte, war ihm selbst nicht ganz klar.

Nur an seiner Schultasche konnte er recht wenig tun. Die Aufnäher bekannter Metalbands waren da nun einmal drauf. Mit einem Ausdruck grimmiger Entschlossenheit hatte er seine Schulsachen hineingestopft. Wenn jemand mit Metallica, Iron Maiden oder Anthrax ein Problem hatte, sollte er es bitte schön selber lösen.

Ein tiefes Seufzen entfuhr ihm, als er endlich den letzten Bissen seines Brotes herunter geschluckt hatte.

„Aufgeregt?“ Seine Mutter sah ihn aufmerksam an. Philip wusste, dass es sinnlos war, drum herum zu reden.

„Ja, ein bisschen“, gab er missmutig zu.

„Soll ich dich vielleicht hinbringen?“, schlug Frau Wulff mit einem milden Lächeln vor.

Philips Augen weiteten sich in Panik! Hingebracht von der Mutter beim ersten Schultag! Konnte es etwas Schlimmeres geben? Himmel! Er war zwölf Jahre alt und die Schule war gleich um die Ecke!

„Nein danke!“, sagte er etwas lauter als beabsichtigt und verließ fluchtartig die Küche. Man wusste ja nie, wozu diese Frau wirklich fähig war und er war nicht gewillt, es ausgerechnet heute herauszufinden! Im Flur zog er sich Schuhe und Jacke an. Als er nach seiner Schultasche griff, kam ihm der Gedanke, dass die Metalaufnäher ein Problem darstellen könnten, albern vor. Wenn seine Mutter ihn hingebracht hätte – ja, das wäre ein Problem gewesen. Und mit Sicherheit nicht nur heute.

Wie Philip feststellen konnte, hatte Hark Lüders stark übertrieben. Sein Schulweg dauerte keine zwei Minuten. Selbst wenn er langsam ging, benötigte er eher eine, wenn überhaupt. Aber dann war er wirklich langsam. Er fand, dass das ein guter Einstieg war.

In der Schule, die auf den ersten Blick hauptsächlich gelb aussah, ging er ins Sekretariat, wo er freundlich begrüßt wurde. Dass seine erste Stunde allerdings gleich Physik sein sollte, passte ihm weniger. Er hätte lieber mit etwas anderem angefangen, mit etwas, dass ihm ein bisschen besser lag.

Die Schulsekretärin brachte ihn bis zu seinem Klassenzimmer und verabschiedete ihn an der Tür. Philip sah ihr nach und griff zögernd nach der Klinke. Warten machte keinen Sinn, fand er und ging hinein.

Es waren noch nicht alle da, aber die, die schon im Raum waren sahen ihn aufmerksam an. Einige lächelten, andere grinsten breit.

„Hallo“, sagte Philip und sah sich um.

„Hallo“, erwiderte ein kleinerer Junge mit strohblondem Haar und einem fast kreisrunden Gesicht den Gruß. „Wir haben dir schon einmal einen Platz ausgesucht und vorbereitet.“

Philip folgte dem Fingerzeig des Jungen. Der Platz, auf den er zeigte stand geradezu unter Wasser. Tisch und Stuhl glänzten vor Nässe und durch das stetige Rinnsal hatten sich unter seinem Platz zwei große Pfützen gebildet.

Philip sah den Jungen an, der erwartungsvoll vor ihm stand. Er konnte fühlen, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. Zuerst wollte er fragen, ob das sein ernst sei, schluckte die Bemerkung aber schnell herunter. Er runzelte kurz die Stirn mit Blick auf den nassen, triefenden Tisch. „Danke. Aber die ganze Mühe wäre gar nicht nötig gewesen.“ Er hob den Stuhl an und ließ das Wasser abfließen. Nachdem er mit dem Ärmel einmal über die Sitzfläche gewischt hatte, setzte er sich. „Schwimmen kann ich nämlich schon“, fügte er mit einem breiten Grinsen hinzu.

Der strohblonde Junge sah ihn erst erstaunt an. Dann verwandelte sich sein rundes Gesicht in ein herzliches Lachen. „Der war gut!“, rief er und hielt ihm die flache Hand hin. Philip schlug ein und atmete innerlich einmal tief durch. Wie es aussah, hatte er den Anfang gut überstanden. Außer dem strohblonden Jungen, der sich als Sven vorstellte, lächelten alle anderen. Ein allgemeines Nicken, gespickt mit dem einen oder anderen „Hallo!“ oder „Willkommen!“ ging durch den Raum.

Nur einer warf ihm einen finsteren Blick zu. Ein Junge mit kurzen, schwarzen Haaren, dessen Blick immer wieder zwischen Philip und seiner Tasche hin und her pendelte. Obendrein gab dieser zwei anderen Zeichen, sich an den Willkommensäußerungen nicht zu beteiligen. Nun gut, man konnte eben nicht alles haben. Insgesamt war sein Einstieg aber ganz gut verlaufen.

Zu seiner Überraschung verlief auch die anschließende Physikstunde weit besser als erwartet. Es ging um Mechanik und Hebelwirkungen, etwas, das er zumindest im Ansatz schon einmal gehabt hatte und mit dem er einigermaßen etwas anfangen konnte. Als danach auch die Englischstunde gut verlief, hatte sich seine Nervosität vom Morgen endgültig gelegt.

In der ersten großen Pause des Tages ging Anja wie alle anderen hinaus auf den Schulhof. Irgendwo hinter dem großen Blumenkübel packten zwei ihrer Klassenkameradinnen schon das Springseil aus, aber Anja hatte heute keine Lust. Sie hielt lieber einfach die Nase in den immer noch starken Wind und suchte nach einem einzelnen, verirrten Sonnenstrahl, der die dichte Wolkendecke vielleicht durchbrochen haben mochte. Aber sie fand keinen.

Sie lehnte sich an einen der Pfeiler, die das Vordach des flachen Hauptgebäudes stützten, und sah über den kleinen Schulhof. Schnell fand ihr Blick den Neuen. Er sah etwas verloren aus, was Sven jedoch schnell änderte, der ihn mit zu den beiden kleinen Halfpipes zog, die am anderen Ende des Hofs aufgebaut waren. Wahrscheinlich würde Sven ihm jetzt erklären, dass es das Coolste überhaupt war mit einem Skateboard darauf von einer Seite auf die andere zu fahren. Und der Neue würde ihm wahrscheinlich erzählen, dass er diese Dinger in größer kannte.

Anja schloss die Augen und schüttelte ihren blonden Pferdeschwanz aus. Gedankenverloren strich sie sich durch die zusammengebundenen Haare. Eigentlich hatte sie sich wieder einmal zwei Zöpfe machen wollen. An jeder Seite einen, genau wie Pippi Langstrumpf. Aber aus irgendeinem, ihr völlig unverständlichen Grund, hatte ihre Mutter an diesem Morgen ein Veto eingelegt und auf den Pferdeschwanz bestanden. Anja haderte immer noch mit der Ungerechtigkeit dieser Welt. Selbst ihre besten Waffen, ein unnachahmlicher Aufschlag ihrer tiefblauen Kinderaugen, gepaart mit einem lang gezogenen „Biiittteeee!“ hatten nicht geholfen. Aber ihre roten Lieblingsschuhe hatte sie anziehen dürfen. Wenigstens etwas.

Noch während Sven und Philip in ihr angeregtes Jungsgespräch vertieft vor den Halfpipes standen, nahm Anja aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Langsam, aber zielstrebig machte sich Torben mit seinen zwei Kumpels auf den Weg zu dem Neuen. Das würde Ärger geben! Torben hielt sich prinzipiell für den Größten. Er konnte alles, wusste alles, und wenn jemand sagte, dass er irgendwo hingefahren war, dann konnte man sicher sein, dass Torben die Tour schon zweimal gemacht hatte. Anja fand diese Großspurigkeit einfach nur lästig.

Und im Moment schien es, als wollte er dem Neuen jetzt erst einmal deutlich machen, wer der Chef auf diesem Schulhof war. Anja konnte es schon an seinem Gang sehen und daran, wie seine beiden Kumpels ihn flankierten. Als er den Neuen mit einem unfreundlichen „He! Landratte!“ anrief, machte Anja sich auf den Weg.

Philip drehte sich um und sah den Jungen mit den kurzen, schwarzen Haaren, zusammen mit zwei weiteren auf sich zukommen. Abgesehen von der Anrede, machte auch die Körpersprache klar, dass dies kein Höflichkeitsbesuch werden würde. Philip sah kurz zu Sven herüber, doch der zuckte nur etwas hilflos die Schultern und trat unmerklich einen Schritt zurück.

„Was machst du hier?“ Torbens Frage glich einem Bellen. Spätestens jetzt war Philip klar, dass er mit Freundlichkeit hier nicht weiterkommen würde. Der Junge vor ihm mochte nicht bösartig sein, aber es war mehr als eindeutig, dass dies nicht der Zeitpunkt für Zugeständnisse oder für Kompromisse war. Sein Gegenüber war auf eine Konfrontation aus. Philip mochte so etwas nicht, aber wenn das Spiel gespielt werden musste, dann spielte er es eben mit.

„Ich unterhalte mich mit Sven“, erwiderte er ruhig.

Torben schüttelte ungehalten den Kopf. „Nein, das interessiert mich nicht. Ich meine, ganz allgemein. Was machst du hier?“

„Du meinst hier so allgemein an der Schule? Tja, ich weiß nicht, was du hier so machst, aber ich lerne. Ich hab gehört, dass das für den weiteren Lebensweg eine ganz gute Sache sein soll. Es sei denn natürlich, man hat sich als Lebensziel eine Karriere als Mützenträger ausgesucht. Wäre das nicht vielleicht was für dich?“

Torbens Mund verzog sich zu einem hässlichen Grinsen, aber seine Augen grinsten nicht mit. Er heftete einen stieren Blick auf Philip. „Ein Klugscheißer, wie?“ Bedrohlich machte er einen Schritt auf Philip zu. Dieser blieb stehen und hielt dem Blick stand.

„Was willst du auf unserer Insel?“, giftete Torben. „Und dann auch noch diese Tasche mit den Aufnähern. Du stehst auf Krach, wie? Nun, den kannst du auch mit mir haben. Hier und jetzt, wenn du willst.“

„Nein, will ich nicht“, antwortete Philip und versuchte seinem Gesicht etwas ähnlich kaltes zu verleihen. „Aber wenn es sich nicht vermeiden lässt ... Allerdings schlage ich mich nur sehr ungern mit dummen Leuten. Und du musst ausgesprochen dumm sein. Oder hast du irgendeine Ahnung, wer ich bin und was ich kann? Nein, wohl eher nicht. Wäre doch peinlich, wenn sich in ein paar Sekunden herausstellt, dass ich Judo oder Karate kann und dich hier in Rekordzeit in den Dreck schicke.“

Beide standen jetzt dicht voreinander und starrten sich gegenseitig in die Augen, immer darauf bedacht, nicht als Erster zu blinzeln. Und während Torben über das gerade gehörte nachdachte, schlug Philips Herz – angesichts des Bluffs, den er gerade gebracht hatte – ihm bis zum Hals.

Energisch trat Anja zwischen die beiden Jungs. „Schluss jetzt mit dem Quatsch!“, rief sie und schubste Torben von Philip weg. „Ist ja ne schöne Art jemanden zu begrüßen“, zischte sie ihn an.

„Halt dich da raus, du Zicke. Das ist was unter Männern.“

Anja sah ihn scheel an. „Männer? Ich seh hier keine Männer. Nur zwei Jungs und einer davon ist ein mächtiger Idiot!“

„Du nennst mich einen Idioten?“ Torben machte wieder einen Schritt auf Anja zu und senkte bedrohlich den Kopf. Philip sah fasziniert zu und fragte sich, ob der Hund nicht nur bellen, sondern auch beißen würde.

„Natürlich nenne ich dich einen Idioten. Oder siehst du hier noch einen? Hör auf so zu tun, als ob du hier der Boss wärst!“

„Pass bloß auf, was du sagst.“ Torbens Stimme war ein drohendes Flüstern geworden. Er machte noch einen weiteren Schritt auf sie zu, doch als er sich gerade zu seiner vollen Größe vor ihr aufbauen wollte, machte Anja mit einem Schmerzensschrei einen Satz zurück.

„Pass doch auf, du Depp! Du bist mir voll auf den Fuß getreten!“

Anja sah auf ihren Schuh hinunter. Torben und Philip folgten ihrem Blick und alle drei sahen sie einen dicken, dreckig schwarzen Abdruck von Torbens Sohle auf Anjas rotem Schuh. Mit einem Blick, der ohne Probleme eine Stahlwand oder gar Titanplatten hätte durchdringen können, sah Anja Torben an.

„Du hast meine Schuhe schmutzig gemacht“, flüsterte sie. „Das sind meine absoluten Lieblingsschuhe“, fügte sie hinzu, als Torben eine Entschuldigung murmelte. Ihr Schlag kam ansatzlos und trocken aus der Hüfte und traf Torben genau in die Magengrube.

Der Junge sackte sofort in sich zusammen und lag nach Luft japsend auf den Knien.

„Fass nie wieder meine Schuhe an“, zischte Anja ihm noch einmal entgegen. Dann packte sie Philip an der Schulter. „Komm ‘“, sagte sie und zog ihn mit sich.

Philip ging mit. Er hatte schon davon gehört, dass Mädchen und Frauen beim Thema Schuhe empfindlich sein konnten, aber diese Reaktion hatte ihn dann doch überrascht. Andererseits musste er sich eingestehen, dass er diesen kleinen schlagfertigen Blondschopf ziemlich faszinierend fand.

„Ich habe die Aufnäher auf deiner Tasche gesehen“, sagte sie. „Hast du nur die Aufnäher oder auch die Musik?“

„Was möchtest du denn haben?“, fragte er.

Sie zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht kannst du mir ja einfach mal eine Auswahl mitbringen. Ich bin da noch ziemlich unbeleckt, was das Thema angeht.“

„Klar“, entgegnete Philip. „Allerdings nur unter einer Bedingung.“

„Und die wäre?“

„Wenn dir das, was ich dir ausgesucht habe, nicht gefällt, schlägst du mich nicht!“

Anja grinste ihn an. „Versprochen“, sagte sie.

2

Für Philips Verhältnisse hatte sich sein neues Zimmer in Rekordzeit von einem Abstellplatz für auseinandergenommene Möbel und Kartons in ein bewohnbares und gemütliches Zuhause gemausert. Hinten rechts stand sein Bett, darüber prangten seine Poster und der Kleiderschrank war auch aufgebaut. Gleich neben dem Schreibtisch, den er direkt unter dem Fenster platziert hatte, standen seine Gitarren samt Verstärker. Anlage und Computer waren ausgepackt und verkabelt und alle CDs da, wo sie hingehörten. Dass dann noch der eine oder andere Karton mit Kleinkram oder Klamotten herumstand, fiel kaum noch ins Gewicht.

Insgesamt ein Ort, an dem man sich wohl fühlen konnte. Aber er vermisste seine Freunde und sein gewohntes Umfeld. Und das, obwohl Helgoland und die anderen in der Schule – allen voran Anja – es ihm sehr leicht machten, sich einzuleben. Seine Eltern versicherten ihm zwar, dass das vorübergehen würde, aber in den Momenten, in denen ihn das Heimweh plagte, war das nur ein schwacher Trost.

Dennoch – alles in allem war es hier gar nicht so schlecht, denn Helgoland bedeutete für Philip vor allem eins: Freiheit!

„Lassen sie ihn einfach laufen“, hatte eine Nachbarin zu seiner Mutter gesagt. „Von der Insel kann er nicht runter und irgendjemand wird ihn schon gesehen haben. Das hat bisher immer funktioniert.“ Alles war so übersichtlich, dass er überall zu Fuß hingehen konnte. Ganz gleich, ob er Anja noch ein paar CDs vorbeibringen wollte, zum Einkaufen musste oder in die Bücherei. Er musste auf keinen Bus und auf keine Bahn warten oder erst einmal Fahrpläne überprüfen. Niemand, den er anbetteln musste, dass er ihn mit dem Auto irgendwo hinfuhr. Gleich um die Ecke gab es auch einen Fußballplatz, sodass auch eine seiner größten Befürchtungen ausgeräumt war. Es war fast, als könnte er tun und lassen, was er wollte!

Und als er die Straße bis zum Norderfalm hinunterging, konnte er feststellen, dass Hark Lüders nicht übertrieben hatte. Im Sommer wäre er in Rekordzeit auf der Düne. Und damit hätte er dann nicht nur einen sensationellen Strand, an dem er sich austoben konnte, sondern gleich zwei! Wer hatte das schon?

Kleinere Einschränkungen musste er dafür allerdings auch hinnehmen. Etwas erstaunt hatte er zur Kenntnis nehmen müssen, dass Fahrräder auf Helgoland verboten waren.

„Also man kann schon Fahrrad fahren, man braucht aber eine Genehmigung dafür“, hatte Anja gesagt.

Als Philip geantwortet hatte, dass das ein Scherz sein müsse, hatte sie ihm bei nächster Gelegenheit eines der wenigen Fahrräder der Insel gezeigt. Und tatsächlich. Hinten auf dem Klapprad war eine Art Plakette angebracht, auf der stand:

„Ausnahmegenehmigung vom Fahrverbot für die Gemeinde Helgoland nach §50 Straßenverkehrsordnung – Nr. AG...“ und so weiter. Das Ganze mit Stempel, Ausstellungsdatum und Gültigkeitsdatum. Philip war platt. Er hatte es wirklich für einen Scherz gehalten.

„Überleg doch mal“, begann Anja weiter zu erklären. „Mit dem Fahrrad hier auf dem Oberland herumzufahren ist zwar möglich, aber guck dir den Klippenrand mal genauer an. Nicht nur, dass da gelegentlich mal etwas abbröckelt. Insgesamt ist der ganz schön hoch. Also ich weiß nicht, wie es bei dir aussieht – aber ich möchte da nicht mit dem Fahrrad runter fallen ...“

So sehr es Philip auch widerstrebte, diesem Argument konnte er sich nicht verschließen. Obwohl er sich natürlich vollkommen sicher war, dass ihm, als einem exzellenten Fahrradfahrer, so etwas selbstverständlich niemals passieren würde. Sechs Jahre Schulweg mit dem Fahrrad waren schließlich ein perfektes Training gewesen!

„Eine Grauzone gibt es da natürlich“, hatte Anja schließlich noch hinzugefügt. „Roller werden von der Regelung nicht erfasst und sind damit so gesehen erst einmal erlaubt.“

Philips Antwort war eine Art Grunzen. „Wer will denn schon Roller fahren?“, grummelte er.

Als Philip einige Tage später nach Hause kam, war er genervt. Torben hatte kaum eine Gelegenheit ausgelassen, ihm hämische Bemerkungen an den Kopf zu werfen und sich neue Schimpfnamen für ihn auszudenken. Dabei immer flankiert und durch schweigende Zustimmung unterstützt von zwei anderen Klassenkameraden namens Björn und Gunnar. Nach der letzten Stunde in Mathematik wusste Philip auch, warum die beiden meistens nichts sagten: keiner von beiden war eine besondere Leuchte und die Art und Weise wie insbesondere Björn versucht hatte Brüche zu addieren, ließ den Schluss zu, dass es für alle Beteiligten einfach besser war, wenn er die Klappe hielt. Wäre Philip nicht so sauer auf Torben gewesen, hätte er sich ein Grinsen nicht verkneifen können.

Aber dann war da noch die Sache auf dem Schulhof gewesen. Wieder einmal. Eigentlich war er schon so gut wie weg gewesen, aber Sven hatte ihn noch etwas wegen Physik gefragt. Und als er dann das Hauptgebäude verließ, warteten Torben und seine beiden Kumpane schon auf ihn.

Es kam zu keiner körperlichen Auseinandersetzung. Aus irgendeinem Grund scheute Torben davor zurück. Insgeheim bildete Philip sich ein, dass das an seinem Bluff vom ersten Schultag lag, aber dann verunsicherte ihn diese Vorstellung wieder. Wie lange würde der Bluff halten? Früher oder später würde Torben spitzkriegen, dass er – wenn er denn Sport trieb – Fußball spielte und weder mit Judo noch mit Karate oder irgendeiner anderen Kampfsportart auch nur das geringste am Hut hatte.

Statt zu einer Prügelei hatte Torben ihn zu einer „Battle“, also einer Art Wettkampf im Sprechgesang herausgefordert. Torben mochte offensichtlich Hiphop und hielt sich – zumindest in seiner Altersklasse – für den obersten Gangster Rapper der Insel. Das Problem bestand nur darin, dass Torbens Texte und Reime echt lausig waren! Zusammen mit seinen ungelenken Bewegungen musste Philip an sich halten, nicht lauthals loszulachen.

Statt dessen hatte er ihn nur finster angeguckt und ihm ein unfreundliches „Hör endlich auf mir auf den Wecker zu gehen!“ entgegen gezischt. Dann hatte er ihm noch die Pommesgabel, die Faust mit abgespreizten kleinen und Zeigefinger gezeigt und ihn samt seinen beiden Begleitern stehen gelassen.

Im Grunde hatte er auch diese Konfrontation wieder für sich entschieden. Zumindest hatte Anja, die die ganze Szene mal wieder beobachtet hatte, das kurz danach behauptet. Aber es nervte ihn, dass es überhaupt zu diesen Konfrontationen kam. Er wollte schließlich nichts von diesem Jungen. Warum konnte der ihn nicht einfach in Ruhe lassen?

Seufzend stand Philip vor der Haustür und schloss auf. Vielleicht müsste er sich doch einmal prügeln, schoss es ihm für einen Moment durch den Kopf, aber das passte ihm überhaupt nicht. Es musste einen anderen Weg geben.

Im Haus hörte Philip aus dem Wohnzimmer ungewohnte Stimmen. Er legte Jacke und Schultasche ab, zog sich die Schuhe aus und schlich zuerst in die Küche. Er hatte Durst. Dann ging er ins Wohnzimmer, wo er seine Eltern zusammen mit einem älteren Herrn beim Kaffee sitzen sah.

„Wir waren heute früher fertig als gedacht und bis zur nächsten Schicht haben wir Leerlauf. Da habe ich mir gedacht, dass ich die Zeit lieber zu Hause verbringen“, erklärte sein Vater, als er ihn fragend ansah. Es war kurz nach halb zwei. Eine Zeit, zu der sein Vater wochentags normalerweise sonst wo war, aber ganz sicher nicht zu Hause.

„Das ist Herr Peters, unser Nachbar“, fügte seine Mutter hinzu. „Er wohnt gleich nebenan. Bestimmt hast du ihn schon gesehen.“

„Heiner Peters. Und du musst der neue Musikus sein“, grinste der Besucher ihn an. „Habe schon von dir gehört. Und dich habe ich natürlich auch schon gehört.“

Philip war sich nicht sicher, wie er die Bemerkung verstehen sollte, ging aber lieber auf Nummer sicher. „Ich werde versuchen die Gitarre ein bisschen leiser zu stellen. Aber eine gewisse Lautstärke braucht es einfach, damit aus dem Verstärker auch etwas heraus kommt“, erklärte er.

„Oh nein, nein, alles in Ordnung“, versicherte Peters mit übertrieben abwehrender Geste. „Spiel, soviel du willst. Notfalls nehme ich einfach die hier heraus.“ Peters neigte den Kopf leicht und deute auf eins seiner beiden Hörgeräte. „Manchmal ganz praktisch.“ Er grinste breit.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sein Vater. Er hatte die Stirnrunzeln auf Philips Gesicht gesehen.

„Ach nichts weiter. Nur ein bisschen Ärger mit einem Klassenkameraden. Kaum der Rede wert.“

„Das ist das übliche Trara, wenn ein Neuer in die Klasse kommt. Da werden die bisherigen Hackordnungen neu sortiert. Das gibt sich bald. Völlig normal. Das war bei uns schon so und wird immer so sein.“

Heiner Peters setzte zu einer noch längeren Erklärung an, die ihn von Philips Schule zu seiner Zeit auf einem Marinezerstörer und bis in die Anfänge der christlichen Seefahrt führte. Philip hatte den Eindruck, dass der Mann gar nicht wieder aufhören wollte. Und ganz egal, was seine Eltern auch einwarfen – Peters hatte immer den passenden Konter parat. Er wusste nicht, ob er fasziniert oder angewidert sein sollte.

Minutenlang zog sich der Vortrag hin. Philip war gedanklich schon längst ausgestiegen und hatte sich etwas zu essen gemacht, als Peters endlich sagte: „Also, wenn sie irgendetwas brauchen, geben sie mir einfach Bescheid. Und du“, wandte er sich an Philip, „wenn du irgendetwas wissen willst – über die Insel und was man hier machen kann oder was interessant ist: ich bin gleich nebenan. Einfach klingeln.“

„Wie beruhigend“, murmelte Philip, rang sich dabei aber ein Lächeln ab.

Entgegen Philips Erwartungen war das aber nicht das Ende von Heiner Peters Besuch gewesen. Was sich wie eine Überleitung zum Abschied angehört hatte, war tatsächlich nur der Ansatz für einen weiteren Vortrag gewesen. Offensichtlich gab es nichts, was Heiner Peters nicht über Helgoland wusste und überhaupt schien es kaum etwas zu geben, wozu er keine Meinung äußern konnte oder worin er keine Erfahrung hatte.

Ausnahmsweise war Philip dankbar für den Einkaufszettel, den seine Mutter ihm in die Hand drückte. Mit einem Kopfnicken verabschiedete er sich und machte sich auf den Weg Richtung Supermarkt.

Es war immer noch sehr kalt und ein eisiger Wind fegte aus östlichen Richtungen über die Insel. Statt in Richtung Norderfalm zu gehen, entschied Philip sich für den Weg durch die Lummenstraße. Er ging an der Kirche vorbei und dann noch ein Stück gerade aus, bis er links abbiegen konnte und direkt auf dem Falm landete. Dort verharrte er kurz. Er stand ziemlich genau vor der Treppe, die zum Unterland führte und das bedeutete, dass er sich nur ein Stück links von seinem neuen Lieblingsladen befand.

Gegenüber dem Fahrstuhl war einer der vielen Läden Helgolands, die mit zollfreien Waren handelten. Aber dieser hier war für Philip etwas besonders, denn es war der Erste, in dem er seine Lieblingslakritzen gefunden hatte. Genau die Sorte, die er am liebsten mochte, die er aber zu Hause in Hamburg nirgends hatte finden können. Umso größer war natürlich seine Freude gewesen, als er feststellen durfte, dass es sie hier nicht nur in rauen Mengen, sondern auch noch gleich um die Ecke gab.