Die Walzerkönigin - Anny von Panhuys - E-Book

Die Walzerkönigin E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

Als die beiden Freundinnen Hilde Tomiczek und Martha Stiller heimlich Arm in Arm zu später Stunde in der Stadt spazieren gehen, steht noch das ganze wunderbare Leben vor ihnen, ohne Sorgen und Nöte. Besonders die lebhafte Martha sperrt sich gegen die Zukunftspläne ihrer Eltern – sie träumt von einer Karriere als Schauspielerin. Doch bald holt sie das Schicksal ein: Ihr Vater, ein angesehener Pastor, begeht Selbstmord, als sein Griff in die Kirchenkasse bekannt wird. Eines Tages erfährt Hilde per Brief, dass Martha einfach auf und davon ist und sich einer Theatertruppe angeschlossen hat. Als kurz darauf auch ihr Vater stirbt, muss sie wie ihre Freundin die Stadt verlassen. Mit nichts im Gepäck als ein bisschen Erspartes und Vaters geliebter Geige kommt sie in einer kleinen Berliner Pension unter. Doch auch in der Großstadt scheint es fast aussichtslos, Geigenschüler zu finden. Langsam schmilzt das winzige Vermögen dahin. Einmal nimmt sie, völlig überwältigt von den Sorgen, die Geige zur Hand: Ihr zutiefst emotionales Spiel erzählt von der Trauer um den Vater, von ihrer Verzweiflung – ihr ganzes Herzblut legt sie in die Walzer ihres Vaters, und ihr Spiel wird von jemandem nebenan gehört. So beginnt ganz plötzlich eine ungewöhnliche Karriere, die auch die Wege von Martha kreuzt. Doch das Schicksal wird sich zwischen sie stellen.Ausdrucksvoll und romantisch erzählt der Roman vom schicksalhaften Leben der "Walzerkönigin", die über die Musik ihres Vaters zu sich selbst findet.-

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Anny von Panhuys

Die Walzerkönigin

Roman

Saga

Die Walzerkönigin

© 1917 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711570395

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Erstes Kapitel.

Hilde Tomiczek und Marta Stiller flüsterten und kicherten eifrigst und gingen wie zierliche Schatten durch das Dunkel des Vorfrühlingsabends.

In der Grabenstrasse war es still, nur ab und zu huschte ein Pärchen, das der linde Abend zu einem Plauderstündchen zusammengeführt, beim Nahen der beiden Mädchen auseinander. In der Kleinstadt muss man sehr vorsichtig sein, sonst ist man bald in aller Mund; der Klatsch hat schon manches junge jubelnde Glück zu Fall gebracht, dass es sich nimmer wieder erheben konnte. Nimmermehr. Darum huschten die Pärchen bei näherkommenden Schritten so jäh auseinander.

Die Grabenstrasse war zu Ende, vor den beiden Mädchen breitete sich der Düppelplatz. Rings um den kleinen Platz standen Lindenbäume, doch streckten sich die Zweige noch kahl und leer gen Himmel.

Wenn man quer über den Platz ging, kam man in die Bahnstrasse, die Hauptverkehrsader des Städtchens. Die Mädchen sahen einen Moment wie unschlüssig nach der Richtung hinüber. In der Bahnstrasse brannten dreimal soviel Gaslaternen als in der Grabenstrasse, und Menschen gab es um diese Zeit dort auch. Aber man kam auch in Gefahr, Bekannte zu treffen, und in Schwärzestadt gehörte es noch weniger als sonstwo zum guten Ton, dass sechzehnjährige höhere Töchter um die neunte Stunde noch einen Strassenbummel machten.

Marta Stiller, mit dem langen dunkeln Zopf und der energischen Raubvogelnase, schob ihren Arm unter den der Freundin, und langsam schlenderten die beiden den Weg, den sie gekommen, wieder zurück. Das Kichern von vordem war zwischen ihnen verstummt, sie redeten von ernsten Dingen. Von Dingen, die ihre jungen empfänglichen Herzen stark bewegten.

„Weisst Du, Hilde,“ meinte Marta, „allzuweit darf ich meine Gedanken nicht spazieren führen, sonst wird mir bitterangst. Ach Gott, so viel ich mir schon Mühe gegeben habe, an Beredsamkeit fehlt es mir doch wahrlich nicht, es will und will mir nicht gelingen, Mutter den sondervaren Plan auszureden, mich Zahnärztin werden zu lassen. Weiss Gott, wie sie auf diese Idee kommt!“ — Mit festem Druck auf den Arm zwang sie die Freundin stehen zu bleiben. „Und ich tu’s und tu’s nicht,“ kurz und trotzig stampfte ein kleiner Mädchenfuss das holprige Pflaster. „So’ nen Beruf mag ich nicht, dazu hab ich kein Talent, nee. — Brr,“ sie schüttelte sich, dass ihr Zopf aufgeregt hin und her pendelte, „fremden Leuten im Mund herumfahren, das passt mir ganz und gar nicht, und für mich selbst brauch’ ich nicht Zahnärztin zu werden.“ Sie lachte plötzlich übermütig, so dass ihre kleinen gleichmässigen Zähnchen aufblitzten wie poliertes Elfenbein.

„Da hast Du recht, Marta, denn Du hast die schönsten Zähne, die ich bisher gesehen habe,“ sagte die blonde Hilde anerkennend und zog die Freundin weiter.

„Ja,“ nickte die andre, „meine Zähne sind schön, auch Haar und Augen sind nicht ohne, wenn nur die Nase nicht wäre,“ sie seufzte komisch, „Vater behauptet, als die Nasen verteilt wurden, da hätte ich nicht ein-oder zweimal, sondern mindestens ein dutzendmal ‚hier‘ gerufen.“

Nun lachten sie beide doch. Das ging ihnen immer so, ihren Ernst durchbrach meist rasch wieder ein übermütiges Wort. Dann plauderte Marta von ihrem Wunsch, Schauspielerin zu werden. Zu Hilde konnte sie davon sprechen, wenn sie es dagegen daheim einmal wagte, dann blickte man sie entsetzt an, als rede sie irre. — Mitten in das fröhliche Plänemachen tönte von der Peterskirche herüber tief und nachhallend ein Glockenschlag.

„Schon halb zehn,“ rief Marta Stiller erschreckt, „da ist’s Zeit, nach Hause zu gehen.“

Schneller schritten die beiden zu.

Vor einem schlichten zweistöckigen Hause machten sie Halt. Hilde öffnete von aussen den nur leicht angelehnten Flügel eines niedrigen Parterrefensters. Mit einer Bewegung, der man die lange Übung anmerkte, schwang sie sich dann durch das Fenster. Noch ein paar geflüsterte Worte, ein flüchtiger Händedruck, und Marta eilte davon.

Hilde sah, leicht aus dem Fenster gelehnt, der andern noch einige Augenblicke nach, bis das stumpfe Grauschwarz der öden Grabenstrasse die Freundin umfing und über ihr zusammenschlug.

Nun schloss das junge Mädchen das Fenster und tappte in ihrem finsteren Zimmerchen zum Tisch, wo Lampe und Zündhölzer standen. Eben wollte sie ein Hölzchen anstreichen, da liess sie die Rechte wieder sinken und hob lauschend den Kopf.

Feine getragene Geigentöne erhoben ihre Stimmen weich und kosend in langsamem Dreiachteltakt und schlangen sich zusammen zum Reigen, sangen süss und feierlich einen Walzer. Es war ein Walzer, der wenig gemeinsames hatte mit denen, die unsre modernen Operettenkomponisten der Bühne schenken. Ein Walzer rund und voll, und doch kam er daher wie wehe Klage, unendliches Leid. Lautes Schluchzen tönte daraus und überwindendes Lächeln. Über allem triumphierte aber eine hoheitsvolle Resignation, und ein befreites Sichlösen von allem Irdischen. Mit langgezogenem, sanft ersterbendem Mollakkord schloss der letzte Bogenstrich.

In Hildes dunkelm Zimmer zitterte der schwere weiche Akkord nach und hing machtvoll über dem kleinen Raum. Das Mädchen starrte mit grossen Augen in die Finsternis, und schwer atmend hob sich ihre junge Brust. Ihr war zumute, als hätte ihr einer ein Bekenntnis abgelegt — von Lust und Freude, vom Entsagen und siegreichen Überwinden.

Der so spielte, der hatte überwunden, der ersehnte nichts Grosses mehr von der Zukunft und sah allen kommenden Tagen ruhig entgegen. Und er, der so spielen konnte, war ihr Vater. Des Daseins Enttäuschungen lagen hinter ihm, weit, weit ...

Hilde erzitterte. Wenn er so spielte wie heute, dann fühlte sie ein Grauen vor der Zukunft, eine schreckliche, beklemmende Lebensfurcht umspann sie wie ein riesiges Netz, aus dem sie sich nicht mehr befreien konnte. In Gedanken erblickte sie die Freundin, wie sie vorhin in der Finsternis der stillen Strasse untertauchte. Und die abendliche Dunkelheit da draussen schien ihr plötzlich ein Symbol des Lebens, und ein Schauer machte ihren schlanken Körper frösteln.

Auch Hilde war auf ihren Wunsch seit Jahren von dem Vater im Geigenspiel unterrichtet worden, sie spielte Konzertstücke sauber und mit guter Technik. Auch hatte sie ein vorzügliches musikalisches Gehör; kaum vernommen, spielte sie des Vaters Walzerkompositionen nach. Aber das Seltsame, das Überwältigende, das seinen einfachen Walzern die Grösse gab, das war ihr nicht gegeben, davor stand sie machtlos.

Jetzt rieb sie schnell das Zündholz an, und nun flammte der Docht der Lampe auf und füllte mit beruhigendem Lichte den Raum.

Ein Lächeln huschte um den frischen Mädchenmund. Gott, welch ein Angsthase sie doch manchmal war. Wie konnte man sich vor dem Leben fürchten? Das musste doch bunt und farbenprächtig sein, stark und berauschend schön und voll von glücklichen Überraschungen.

Wieviel hatten Marta und sie schon über das Leben geplaudert. Alle ihre frohen Lebenshoffnungen hatten sie sich aufgebaut wie Weihnachtsgeschenke, die man sich selbst macht und dann trotzdem bestaunt. Und das Leben erschien ihnen wie ein köstliches Märchenbuch, in dem sie bald lesen durften nach Herzenslust. Marta schwärmte davon, eine grosse Schauspielerin zu werden, und zugleich eine grosse Dame mit seidenen Kleidern und seidenen Strümpfen, die sie wegwerfen würde, wenn auch nur das kleinste Loch darin war Gestopfte Strümpfe — oh, so etwas trägt „man“ doch nicht.

Hilde hatte dazu gutmütig gelacht, denn sie wusste genau: vorläufig trug Pastor Stillers Jüngste noch wollene Strümpfe, die ihr die Mutter strickte, und die gestopft wurden, solange es irgend ging. Aber auf den abendlichen Spaziergängen schwadronierte Marta gern ein wenig. Sie liebte überhaupt alles Besondere. So machten ihr diese abendlichen Spaziergänge, die sie mit Hilde unternahm, vielleicht nur Vergnügen, weil sie sich dazu heimlich aus dem Hause stehlen und wieder hineinschleichen musste. Das Gerade-ans-der-Haustür-gehen machte ihr keinen Spass, und darum gefiel es ihr, dass Hilde durchs Fenster ihren Weg nahm, obgleich dazu nicht der geringste Grund vorlag, denn Hildes Vater wusste von den kleinen harmlosen Ausgängen der Freundinnen. Darin waren sich nun beide Mädchen einig: das Selbstverständliche ihres Zusammenseins wurde anziehender, wenn es so einen kleinen Stich ins Ungewöhnliche erhielt.

Hilde fuhr sich mit der Bürste leicht über das vom Frühlingswinde verwehte Haar und blickte dabei in den Spiegel, der über ihrer Waschkommode hing. Matt und unsicher gab er ihr Bild zurück; das klare, sanfte Licht des Lämpchens hatte nicht Kraft genug, voll bis hierher zu dringen, doch zwei leuchtende blaue Augen guckten aus dem Spiegelglas, und über dem rötlich schimmernden Haar lag es wie Goldstaub, der schillernd aufblitzte. Und Hilde Tomiczek lächelte ihr Spiegelbild an.

Dann ging sie zum Vater.

Amtsrichter Tomiczek sass in einem tiefen Lehnstuhl. In der Linken hielt er nachlässig den Geigenbogen, und auf seinen Knien lag die braune Amati, die er einmal vor langen Jahren, da er noch ein junger Referendar gewesen, zufällig in einem Trödlerladen Berlins gekauft hatte. Wie sie dahin gekommen? Wer konnte es wissen. Not, Sorge und viel Verständnislosigkeit mussten das kleine Instrument an diese Stätte gebracht haben, denn wertvoll war die Geige, das hatte der junge Tomiczek damals beim ersten Blick herausgefunden. Manchmal meinte er, es müsse eine echte Amati sein, und wollte sie von Sachverständigen prüfen lassen, aber in letzter Minute scheute er immer wieder davor zurück — wenn die Sachverständigen entschieden, die Geige sei nicht echt, dann war er um eine geliebte Illusion ärmer. Also wozu? So blieb ihm der Glaube an seine Amati erhalten bis jetzt, da aus dem jungen Referendar ein alter Amtsrichter a. D. geworden war.

Als Hilde ins Zimmer trat, blickte der Vater auf.

„Nun, Mädel, zurück vom Spaziergang?“

Hilde nickte.

„Schon lange ... Ich habe zugehört ... als Du spieltest, Vater.“

Tomiczek erhob sich. Er war gross und schmal, und seine Figur neigte ein wenig nach vorn, wie ein hoher Baum, den anhaltender Sturm in der Jugend etwas gebogen.

Hilde liess sich auf einer kleinen Fussbank nieder und neigte sinnend und erwartungsvoll den feinen Kopf. Sie wusste, nun würde der Vater wieder spielen.

Leicht drückte er die Geige unters Kinn, und seine Linke umfasste zärtlich den Hals des Instrumentes, als sei es ein geliebtes, lebendes Wesen. Und der Bogen setzte an. Kurz, in tändelnd abgehacktem Staccato, neckisch im Dreiachteltakt flatterten die Klänge auf und jubelten ineinander, toll und aufreizend.

Wieder war es eine Walzermelodie. Allmählich ward der Bogenstrich länger, bedeutsamer, und in wiegenden Rhythmen, durch die zage, halbverschwommene Sehnsuchtsrufe brachen, zogen die Weisen hin.

Heisses unverstandenes Sehnen nach einem Etwas, für das sie keinen Namen wusste, quoll jäh in Hilde auf, und als der Alte Geige und Bogen sinken liess, da huschte sie zu ihm hin, legte ihre schmalen Arme um seinen Hals:

„Wie Du einem das Innerste zu rühren weisst, Vater, und wieder froh zu machen mit Deinen Walzern, das ist so wundersam und eigen. Wer Dich nicht gehört hat, der glaubt’s wohl niemals, dass ein Walzer so wirken kann.“

Und leise setzte sie hinzu: „Das ist sicher das böhmische Blut in Dir,“ und dann mit leisem Schelmenkichern: „Als Dein Vater sich damals naturalisieren liess, da vergass er, sein böhmisches Blut mit naturalisieren zu lassen. Und das Blut blieb böhmisch, Väterchen, das klingt und singt nun in Deinen Walzern.“

Sanft nahm sie dem Vater Geige und Bogen ab und zog ihn wieder in seinen Lehnstuhl nieder, schob sich die Fussbank herbei, und sass nun zu des Vaters Füssen.

„Ja, die Böhmen haben ihre Musik, die sitzt ihnen im Körper, im Herzen, und vibriert ihnen bis in die Fingerspitzen. Aus dem Herzen kommt ihr Spiel, und darum ergreift es so mächtig.“

Versonnen sagte es Hilde Tomiczek.

Der alte Mann neigte den scharfen Charakterkopf.

„Ja, Böhmens Königstraum ist wohl ausgeträumt für immer, aber in dem Spiel der Böhmen, da glüht es stolz und heimverlangend auf. — Du magst wohl recht haben, Kind, das böhmische Blut ist uns geblieben,“ und ihm fiel ein, durch wieviel Irrwege im Leben ihn dieses Blut gedrängt.

„Schade, Vater, dass so wenig von Deinen, Musiksinn in mir ist,“ klügelte Hilde, „es muss schön und erhebend sein, sich so wie Du in Tönen die Seele zu befreien.“

Da lächelte er bedächtig.

„Die Seele zu befreien! Kleine Hilde, noch beschwert ja nichts Deine Seele. Und dann,“ zögernd, überlegend, schob er die Worte nach, „hast vielleicht zudem auch eine Portion gut bedächtigen, märkischen Blutes von Deiner toten Mutter in den Adern.“

Er sah ins Leere und dachte an eine rundliche, blonde Frau, die gleichmütig einige Lebensjahre neben ihm hergelaufen war, und an die er sich manchmal erinnern musste, wie an einen braven, anständigen Weggesellen. Mehr war ihm seine Frau nie geworden.

„Noch beschwert ja nichts Deine Seele,“ wiederholte er sinnend noch einmal, „noch ist ja keine Lebenswoge bis zu Dir herangebraust. Höchstens ein winziges Wellchen hat Deine Füsse bespritzt. Wenn Grosses, Machtvolles fordernd zu Dir kommt, dann, Kind,“ er hob mit der Hand Hildes Kinn, „dann wird auch Dein Spiel mehr sein als nur eine Kette von Tönen — dann schwingt die Seele mit.“

Mit dem Ausdruck unendlicher Liebe und Güte legte er seine andre freie Hand auf das flimmernde dichte Haar der vor ihm Sitzenden.

„Tief und wahr wird Dein Spiel sein, aber eines gehört dazu, und das, das vergiss nicht. Es ist das Beste, was uns gehört — darauf gib acht, da lass den grauen Alltagsstaub nicht heran, das trage sorgfältig durch Dein Leben,“ ernst und bedeutungsvoll endete er, und seine Stimme ward fast feierlich: „Halt’ Dir die Seele rein, Mädchen!“

Zweites Kapitel.

Ein paar Wochen später stand Hilde Tomiczek an Marta Stillers Seite vor dem Altar der Peterskirche, um das Taufgelübde zu erneuern. Als Unterlage zur Konfirmationspredigt hatte der magere kleine Prediger Stiller den Spruch gewählt: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen!“ Hilde Tomiczek dachte an des Vaters Worte: „Halt’ Dir die Seele rein!“ Eigentlich bedeutete das beinahe dasselbe.

Der kleine schmächtige Pfarrer redete, und seine schmalen, langen, behaarten Hände griffen dabei ab und zu nervös in die Luft. An diese Bewegungen war seine Gemeinde gewöhnt. Hilde aber musste immerfort auf diese suchenden, zuckenden Hände sehen, es zerstreute sie, so dass sie von der Predigt wenig hörte. Nur der Spruch schwang ihr nach: „Selig sind, die reinen Herzens sind,“ und die sechs Worte tauchten, sich wiederholend, stets wieder in ihrem Geiste auf. Immer von neuem, sie konnte sich nicht mehr dagegen wehren.

Ein neugieriger, kosender Frühlingssonnenstrahl lugte scheu durch die hohen mit Heiligenbildern geschmückten Kirchenfenster, zwängte sich dann eifrig an all’ den blau und rot und golden gemalten Heiligen vorbei, wurde breiter und belichtete die Kanzel, auf der Prediger Stiller stand. Eine leuchtende Helle umgab den plötzlich. Hilde blickte mit jäh emporgerecktem Kopf auf den kleinen Mann mit den lebhaften Händen. In seinen Augen war eine fiebernde Unruhe. Und jetzt fanden seine Worte auch den Weg zu Hilde Tomiczeks Ohr.

Stark und befehlend klang die sonst nicht allzu kräftige Stimme Johannes Stillers, da er schloss:

„Darum, meine lieben Konfirmanden, wie auch die Schicksalspfade sein mögen, durch die Euch Gott im Leben führt — Kummer und Sorge bleiben ja keinem Irdischen erspart — Euer Herz, das haltet rein und klar, dass Gottes Auge sich darin spiegeln kann. Segnend mag er Euch immerdar führen, der Spruch, den uns der Sohn des Höchsten in seiner herrlichen, überwältigenden Bergpredigt gab: „Selig sind, die reinen Herzens sind,“ er schrie es beinahe, und wie zögernd und abgehackt glitt es hinterher: „denn sie werden Gott schauen.“

Wie unter einem Bann hatten alle gesessen, die Alten und die Jungen. Ein hörbares Aufatmen ging durch die dichtbesetzten Bänke.

Marta raunte der Freundin zu: „So habe ich den Vater niemals reden hören, hab’ nicht einmal geahnt, dass er das kann.“

Und gerade wie ihre Worte verklangen, schwand der Sonnenstrahl auf der Kanzel; sich stützend über die Brüstung geneigt, lehnte ein mageres grauhaariges Männchen mit müdem Gesicht und stumpfen Augen ...

Am andern Tag hat sich Johannes Stiller ertränkt im kleinen Teich, tief drinnen im Eichenwald. Im schlammigen Wasser, das immer wie mit grüner Patina überzogen aussah, hat er Ruhe gesucht. Ruhe gesucht, weil er nicht reinen Herzens gewesen.

Er hatte die Kirchenkasse angegriffen.

Die grosse Familie war schuld daran. Drei Söhne studierten, das kostete viel Geld, und wenn man im Predigerhaus auch Pensionäre hielt, die das Gymnasium in Schwärzestadt besuchten, es reichte nie so recht So mag es gekommen sein, dass Johannes Stiller sein reines Herz verlor und es sich in dem ecklen schlammigen Teich wieder rein spülen wollte ...

Niemals schwand aus Hilde Tomiczeks Gedächtnis das Bild des kleinen Mannes, wie er auf der Kanzel stand und mit seinen nervösen Händen ins Leere griff. — — —

Marta Stiller ging in schwarzen Trauerkleidern und kam oft in das kleine Haus, das Amtsrichter Tomiczek mit seiner Tochter bewohnte. Hilde versuchte mit aller Kraft, die Freundin auf andre Gedanken zu bringen. Doch die vermochte über das tragische Ende des Vaters nicht hinwegzukommen, ihr junges Gesicht war starr und undurchdringlich, und ihre Augen fanden keine Tränen.

„Wenn ich nur wüsste, wie ich Dich einmal zum Weinen brächte,“ sagte Hilde, „das würde Dir gut tun und Dich befreien,“ — aber wie sie es auch anfing, Martas schwarze Augen blieben trocken, und um ihre Mundwinkel lag ein verbitterter Zug.

„Mich bringt so leicht nichts zum Weinen,“ hatte sie erwidert, „überhaupt kannst Du es Dir merken, dass ich das Wort „Gefühl“ aus meinem Zukunstswörterbuch ausgeschaltet habe.“ Und in auflodernder Leidenschaft zuckte es ihr vom Munde: „Warum soll ich einem nachweinen, der so an Frau und Kindern gehandelt hat. Und wenn’s tausendmal mein Vater gewesen ist — das durfte er nicht tun, das nicht. Nun hat er uns allein gelassen, feige geflüchtet ist er aus dem Leben, und uns ist die Verachtung der Menschen geblieben.“

Dicht trat sie vor Hilde hin, und ihre Fäuste ballten sich, als müsse sie einem ins Gesicht schlagen.

„Verachtung! Weisst Du, wie das weh tut? Hast Du eine Ahnung, wie das erbittern kann, wie das an einem wurmt und frisst, wenn man über die Strasse geht und in aller Vorübergehenden Blicke Verachtung liest? Verachtung — für die Tochter des Diebes Johannes Stiller.“

Wutverzerrt war das schmale blasse Gesicht, und Hilde wusste nicht, wie sie diesem Ausbruch begegnen sollte.

„Niemand verachtet Dich, Liebste, niemand. Herzliches Mitleid haben alle mit Dir und den Deinen,“ versuchte sie zu trösten.

Da lachte Marta kurz und hässlich. Voll Hohn war dieses Lachen.

Im Nebenzimmer zitterte ein langer Bogenstrich auf und zog in wiegendem Gleichmass schwere dämmersüsse Doppelklänge nach. Auf und nieder wegten die Töne, beschwörend hoben sie ihre Stimmen gleich düsteren Anklagen. Ein schriller unvermittelter Aufschrei der Quinte — dann rauschten liebliche Dreiklänge selig beruhigend auf. Dazwischen gellte, ein paarmal noch, doch immer leiser, wie ersterbend, der heisse Aufschrei, bis er endlich erlosch, sich verlor in einem freundlich sanften Pizzicato.

Marta stand noch immer vor der blonden Hilde, doch die geballten Fäuste hatten sich geöffnet, das erst so blasse Antlitz war gerötet, und aus den Augen lösten sich langsam zwei grosse, leuchtende Tränen. Dann weinte Marta Stiller; ein tiefes, heilig tiefes Weinen um den Vater war es.

Was der Mutter verhärmte Züge, aus denen eine stumme Bitte sprach, nicht vermochte, was den gütigen Reden der Freundin nicht gelungen war, das erreichte der alte Amtsrichter Tomiczek mit einem seiner seltsamen, selbstkomponierten Walzer. Marta hatte die Tränen wiedergefunden, und Johannes Stiller konnte ruhig schlafen unter seinem Hügel — seine Jüngste, sein Liebling hatte ihm vergeben.

Hilde Tomiczeks Herz schlug höher vor Stolz über des Vaters Macht. Traurig nur stimmte es sie, dass ihr diese Macht nicht gegeben war. Wie oft sie es auch versuchte; des Vaters Kompositionen wurden unter ihren Fingern nette liebe Walzer, die sich wohl ein wenig schmeichlerisch ins Ohr stahlen; das, was der alte Tomiczek daraus zu machen wusste, das lag für Hilde weltenfern.

„Unerreichbar!“ meinte sie. —

Hilde hatte recht gehabt, man zeigte in Schwärzestadt das innigste Mitgefühl mit dem Schicksal der Familie Stiller. Die angesehensten Bürger des Städtchens führten Frau Stiller Pensionäre zu; Söhne von ausserhalb wohnenden Freunden und Bekannten. Marta musste nun tüchtig im Haushalt zur Hand gehen, und die beiden Frauen brachten sich ganz gut durch, ohne besondere Freuden allerdings, aber auch ohne besondere Sorgen.

Frau Stiller gab sich, als der erste Schmerz um den Gatten abgeklungen war, damit zufrieden, doch in Martas Feuerkopf brodelten immer neue Gedanken auf, wie sie dem tödlichen Einerlei entrinnen könne. Bis zum achtzehnten Jahre sollte sie zu Hause bleiben und sich dann in Berlin zur Dentistin ausbilden. Von dieser Idee war Frau Stiller, trotz aller Bemühungen ihrer Tochter, nicht abzubringen.

„Das ist ein Beruf, der wirklich lohnend ist,“ meinte sie, „denn eine tüchtige Dentistin kommt überall durch. Hier in Schwärzestadt würdest Du sicher bald viele bekannte Damen zu Klienten haben, und bedenke, Marta, mit den Kindern käme man sicher zu Dir. Die Frau versteht es doch viel besser, Kinder zutraulich zu machen, nicht wahr? Und wie schön wäre das, wenn Du Dich hier niederliessest; Du hast Deine gute Praxis, ich sorge für den Haushalt, und wir leben ruhig und friedlich zusammen.“ Ein stilles Leuchten verklärte ihr Gesicht bei solchen Zukunftsträumen.

„Dann möchte ich schon lieber Lehrerin werden,“ warf Marta ein.

„Du lieber Gott, da hast Du nicht viel Aussicht, Lehrerinnen gibt’s so viele, und Dich studieren zu lassen, dazu hab’ ich nicht die Mittel. Und nun gar Deine verrückte Grille Schauspielerin zu werden — da gebe ich nicht nach, Marta, das kannst Du von mir nicht verlangen! Dein Vater war Prediger,“ setzte sie vorwurfsvoll hinzu, und während sie das letzte sagte, trat die Erinnerung vor sie hin und schielte mit falschen bösen Augen die bleiche Witwe an.

Und siedendheiss stieg die Scham in ihr auf. Sie schlug die arbeitsharte Hand vors Gesicht, und ein lautloses Schluchzen durchrüttelte die gebrechliche Gestalt wie Fieberfrost. Der Prediger Johannes Stiller, der ihr Mann gewesen, war ja zum Dieb geworden — er hat das Kleid, das er getragen, entweiht. —

Warmes Mitgefühl ergriff Marta; sie vermochte nicht, die hilflose Mutter ungetröstet leiden zu sehen. Da versprach sie alles, was sie von ihr forderte.

Gut, sie würde Dentistin werden. — Noch waren es ja ein paar Jahre bis dahin! Die Beweglichkeit und Schwungkraft ihrer sechzehn Jahre erfüllte sie mit allerlei vagen Hoffnungen, sie malte sich aus, wie vieles sich noch ereignen könne, bis es soweit war.

Und die Zeit ging hin, ein Tag reihte sich an den andern zu gleichmässiger Kette. Die formte sich zu Monaten und hängte sich zusammen zu Jahren. Martas achtzehnter Geburtstag stand bevor.

Am Tage neckte sich Marta mit den Pensionären und tollte mit ihnen herum gleich einem ausgelassenen Buben. Des Abends aber, wenn die Lichter im Stillerschen Hause erloschen waren, sass sie über die Klassiker gebeugt und las mit glühenden Wangen Goethes und Schillers Dramen. Kleist und Grillparzer wurden ihr lebendig, und ihr kleines Zimmer füllte sich mit bunten Gestalten — grüssend zogen sie an ihr vorüber, die sie gerufen mit seliger, banger Sehnsucht.

So spann die dunkelhaarige, überschlanke Marta Stiller nächtens in ihrem Stübchen wonnige Ruhmesträume, und während Schwärzestadts brave Philister längst in tiefem Schlafe lagen, schimmerte blitzend, wie ein funkelndes kleines Sternchen, ein einsames Licht durch die Rolljalousien von Prediger Stillers Häuschen. Und Schwärzestadts Nachtwächter, der mit seinem Karo vorüberwanderte, schüttelte zuweilen sinnend sein weisses Haupt, wenn das Lichtsternchen gar so aufdringlich durch die Spalten der Jalousien leuchtete ...

Manchmal schwärmte Marta der Freundin vor, und dann legte sie die blassen Hände zusammen wie zum Gebet; ein glückliches Lächeln trat um ihren Mund, als höre sie schon das Beifallsrufen einer freudigen Menge, die ihr zujubelte, ihr, der berühmten Schauspielerin Marta Stiller.

Zuweilen erschien sie des abends bei Hilde und bat den alten Tomiczek etwas zu spielen. Bach und Haydn spielte er den Mädchen oder ein feuriges Stücklein von dem Geigerkönig Sarasate, aber das wunderlichste blieben doch des Spielers eigene Walzer.

Einmal fragte Marta, warum man denn in der Öffentlichkeit nichts von seinen Kompositionen wisse.

Scheu und erschreckt wich der Alte dieser Frage aus, denn sie rührte an eine alte Wunde, die längst nicht mehr blutete, längst vernarbt war, an die er aber dennoch nicht gern erinnert wurde, weil mit der Erinnerung so vieles mit herauf kam, das am besten hinter der Tür der Vergangenheit blieb. Aber den wiederholten Bitten der Mädchen konnte er auf die Dauer nicht widerstehen, und so erzählte er an einem stillen Abend doch, warum es für die grosse Welt da draussen niemals einen Tonkünstler Tomiczek gegeben.

„Ich muss weit ausholen,“ begann der alte Mann, — „bis zu meiner frühesten Jugend. Meine Vorfahren waren tschechischen Ursprungs und wohnten in Prag. Durch Verheiratung mit einer Deutsch-Böhmin siedelte sich einer von ihnen, mein Grossvater, in ihrer Heimat, dem Dorfe Tyssa, an, das in der Nähe der sächsischen Grenze liegt. Sein einziger Sohn, mein späterer Vater, ein blutjunger Architekt, desertierte, da er seiner Soldatenpflicht genügen sollte, nach Preussen, und machte sich hier in Schwärzestadt, wo ihn der