Die weißen Füchse - Lidia Just - E-Book

Die weißen Füchse E-Book

Lidia Just

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Beschreibung

Hunger. Sorgen. Zukunftsängste. Das sind die Dinge, die die beiden Schwestern Olivia und Aurelia durch den aufkommenden Bürgerkrieg beschäftigen. Als die Familie schließlich gewaltsam voneinander getrennt wird, wird die Welt der beiden Schwestern auf den Kopf gestellt und nichts ist so, wie es einmal war. Beide kämpfen um ihr Überleben und gehen Wege, die sie alles hinterfragen lassen. Die Schwestern geben die Hoffnung jedoch nicht auf, sich wiederzusehen. In Mitten dieses Kampfes, treffen beide auf eine schicksalhafte Liebe, die alles verändern wird. Wird ihre Liebe eine Chance haben oder verlieren sie sich im Kampf ums Überleben?

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Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potentiell triggernde Themen. Aus diesem Grund findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung mit den entsprechenden Punkten.

Für meine Eltern,

die mir dieses Leben ermöglicht haben.

„Wer immer tut, was man ihm sagt, hat das Denken nie gelernt.“

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

AURELIA

OLIVIA

PROLOG

Schwer atmend starrte sie in den Garten.

Wo konnten sie sein?

Sie wusste keine Antwort, aber was sie wusste war, dass sie jetzt handeln müsste, wenn sie ihrer Familie helfen wollte.

Entschlossen versuchte sie erneut, sich an ihm vorbei zu drücken und rammte ihm ihren Ellbogen in die Flanke. Mit einem Krächzen gab er nach und sie stürmte in Richtung Treppe.

Plötzlich durchbrach ein ohrenbetäubendes Krachen die finstere Nacht und sie hörte, wie die Haustür aufgebrochen wurde.

Sie stolperte zurück, als sie die Polizisten in ihr Haus rennen sah. Einer von ihnen schaute nach oben und entdeckte sie.

In dieser Sekunde wurde sie ruckartig nach oben gezogen und gegen die Wand geschleudert. Er zog seine Waffe und feuerte. Panisch schrie sie auf und fiel auf die Knie. Schützend schlug sie die Arme vor den Kopf und versuchte sich gleichzeitig die Ohren zuzuhalten.

Es fiel ein Schuss nach dem anderen.

„Verdammt, was tust du da?“ Die Schüsse hörten auf und sie traute sich zaghaft, ihre Hände von den Ohren zu nehmen. Ängstlich schaute sie sich um und entdeckte, wie er sich mit gezückter Waffe hinter dem Treppengeländer versteckte und angespannt an die Decke starrte.

„Komm, liefere sie aus und wir vergessen die Sache. Ich sage, ich habe nichts gesehen.“

Langsam schloss er die Augen und atmete ganz ruhig, fast so, als wüsste er, was gleich passieren würde.

„Lass uns einfach durch. Ich will das nicht tun, ich will dich nicht erschießen müssen.“

Stille.

Hektisch schaute sie sich nach allen Seiten um und versuchte nachzudenken.

Denk nach, verdammt noch mal!

Vorsichtig löste sie sich aus ihrer Starre und kroch zu ihm, während er ihr einen kurzen Blick zuwarf.

„Wir sind doch Partner. Du weißt, dass diese Leute hier nichts anderes verdient haben. Die anderen sind in den Garten gerannt, nur ich bin hier. Ich weiß, dass du da noch eine haben musst - eine fehlt. Liefere das Mädchen aus und wir vergessen die Sache.“

Lautlos beugte er sich zu ihr herüber und strich ihr sehr viel sanfter als erwartet das Haar hinters Ohr. „Wenn ich los sage, rennst du um dein Leben. Wir holen deine Familie jetzt. Verstanden?“, flüsterte er und schaute ihr so lange in die Augen, bis sie zustimmend nickte.

„Otto?“, rief er nach unten und brachte sich in Position. „Es tut mir leid, aber du lässt mir keine Wahl.“ Blitzschnell sprang er aus seiner Deckung und schoss drei Mal. Erneut krümmte sie sich zusammen und schrie.

„Los!“ Sie spürte, wie sie ein weiteres Mal in die Höhe gezogen wurde und sie rannte. Ohne zu wissen wohin, ohne du denken, rannte sie.

Sie rannte um ihr Leben.

OLIVIA

Mit einem Gähnen räkelte sie sich in ihrem Bett und rieb sich die Augen.

8:30 Uhr. In zwei Stunden würde ihre Schicht anfangen und eigentlich müsste sie sofort aufstehen. Eigentlich.

Sie gähnte erneut und rollte sich auf die andere Seite, um vielleicht doch noch eine halbe Stunde länger zu schlafen.

„Liv!“, tönte es von unten und sie versuchte mit aller Kraft, die Stimme zu überhören.

Ob sie es merken würde, wenn sie einfach so tue, als würde sie noch schlafen?

Sie hörte, wie ihr Name immer wieder gerufen wurde. Das bedeutete wohl, dass es keine weitere halbe Stunde für sie geben würde.

„Olivia Miller!“, tönte ihre Schwester, als sie ihre Zimmertür aufriss.

Sie zog das Kissen über ihren Kopf und stöhnte.

Wann hatte sie endlich mal Ruhe vor ihr?

„Kannst du mich nicht einfach mal in Ruhe lassen?“, schnauzte sie, während sie ihre Decke zurückschlug und ihre Beine über den Bettrand warf. Müde rieb sie sich die Augen und stütze ihr Gesicht in beide Hände.

„Nein, kann ich nicht. Wenn du wüsstest, weshalb ich dich geweckt habe, wärst du jetzt wesentlich netter zu mir“, surrte Aurelia und warf sich auf ihre Bettkante. Olivia kannte diesen Ton bei ihrer Schwester nur zu gut und wusste, dass es nur zwei Optionen gab. Entweder versuchte sie, Olivia um den Finger zu wickeln um etwas zu bekommen oder sie hatte etwas, mit dem ihre Schwester sie aus der Reserve locken konnte.

Sie hob eine Augenbraue und signalisierte ihr, dass sie einfach sagen sollte, worum es ihr ging.

„Also schön, pass auf. Elias hat mich gerade angerufen und mir einen ganz heißen Tipp gegeben. Die Nachbarn seines Onkels ziehen in 3

Monaten aus ihrer Wohnung aus und würden dich weiterempfehlen, wenn du sie denn nehmen würdest!“

„Du hast eine Wohnung für mich in Aussicht?“, schrie Liv fassungslos und war auf einmal hellwach.

„Richtig und das auch noch in deinem Preisrahmen.“ Aurelia zwinkerte ihrer Schwester vielsagend zu.

Mit einem Quietschen warf Liv sich ihr um den Hals und riss sie mit sich aufs Bett.

„Ich kann es nicht glauben!“

Seit knapp fünf Jahren war sie jetzt schon auf Wohnungssuche. Die weltweite Wirtschaftskrise seit 2025 machte es einem normal verdienenden Menschen mittlerweile nahezu unmöglich, eine Wohnung oder gar ein Haus zu unterhalten. Selbst in diesem Haus konnten sie nur wohnen, weil sie, ihre Schwester und ihre beiden Elternteile arbeiteten und zusteuerten. Außerdem hatten sie das Privileg besessen, dass ihre Eltern das Haus schon vor der Krise ausbezahlt hatten.

Liv war jedoch mittlerweile 22 Jahre alt und hatte es mehr als satt, noch immer im Kinderzimmer bei ihren Eltern zu wohnen.

Nur einmal hatte sie bisher die Aussicht auf eine Wohnung und das war vor zwei Jahren mit der Liebe ihres Lebens gewesen. Ihrer Ex-Liebe.

„Das muss ich sofort Mama erzählen!“, rief sie und rannte aus ihrem Zimmer.

„Es ist noch nichts sicher!“, rief Aurelia ihr hinterher, aber sie wollte es nicht hören. Viel zu groß war die Euphorie, die sie durchströmte bei dem Gedanken, endlich selbstständig werden zu können.

Liv stürmte in die Küche, in der ihre Mutter gerade ein Stück Schwarzbrot mit Butter zu sich nahm. Eins der wenigen Dinge, die sie sich an frischen Nahrungsmitteln noch leisten konnten.

„Mama, Aurelia hat eine Wohnung für mich in Aussicht und das auch noch in meinem Preisrahmen!“, sprudelte es aus ihr heraus, als sie den Esstisch erreichte und sich aufgeregt zu ihrer Mutter beugte.

Langsam senkte ihre Mutter ihr Brot und versuchte sich ein Lächeln abzuringen. „Das ist toll, Schatz.“ Ihre Miene verdunkelte sich jedoch unheilvoll und Olivia glaubte auch, den Grund dafür zu wissen.

Mit einem Seufzen zog sie sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr an den Tisch. All die Euphorie wurde von dem schwarzen Mantel des Misstrauens mit sich in den Abgrund gezogen und Olivia versuchte, sich ihre Enttäuschung über die Reaktion ihrer Mutter nicht anmerken zu lassen.

„Was ist los? Ich dachte du würdest dich für mich freuen. Nach der Sache mit John…“

„Das tue ich doch auch“, beteuerte ihre Mutter mit ihrer allbekannten Sorgenfalte zwischen ihren dichten Brauen. „Aber du weißt, wie rapide sich die letzten Jahre verändert haben… Uns geht es doch gut hier und ich habe kein gutes Gefühl dabei, wenn du ausziehst. Wer weiß, vielleicht wird das ganze bald noch teurer oder-“

„Oder die Welt geht unter. Wie du schon sagst, Mama: Es hat sich alles so schnell verändert. Wir sollten im Hier und Jetzt leben, nicht mit Sorge in der Zukunft“, unterbrach Liv sie und beschloss, dieses Gespräch doch nicht weiterführen zu wollen. Ihre Familie würde sowieso nur versuchen, ihr diese Idee wieder aus dem Kopf zu schlagen und sie dazu zu bringen, hierzubleiben.

„Na ja, wie dem auch sei. Ich muss mich jetzt fertig machen und dann zur Arbeit“, würgte Olivia ihre Mutter ab, bevor sie zu einer Erwiderung ansetzen konnte. Sie klaute ihr noch grinsend ein Stück Brot aus der Hand und schob es sich gut gelaunt in den Mund, während sie sich auf den Weg in ihr Zimmer machte.

Die restliche Stunde verbrachte sie damit, ihre langen blonden Locken zu glätten und sich zu schminken. Sie hasste ihre Locken und glättete sie beinah jeden Tag, was dazu führte, dass sie sie eigentlich längst abschneiden müsste.

Wenn sie ehrlich zu sich selbst gewesen wäre, wüsste sie, dass sie ihre Locken erst hasste, nachdem John sie vor zwei Jahren mit ihrer besten und einzigen Freundin betrogen hatte. Er hatte ihre Locken geliebt und immer wieder davon geschwärmt, dass er die Vorstellung liebte, ihre Tochter würde irgendwann ihre Locken bekommen.

Leider würde es nun niemals eine gemeinsame Zukunft, geschweige denn eine gemeinsame Tochter geben.

Seit dieser Trennung, die ihr das Herz brach und bei der alles, woran sie geglaubt hatte, einfach so mit Füßen getreten worden war, glättete sie ihre Haare jeden verdammten Morgen. Sie hasste den Gedanken, noch irgendetwas an sich zu haben, was John gefallen könnte.

Irgendetwas, was sie an den Mann erinnerte, dem sie sieben Jahre ihrer Jugend geschenkt hatte, um am Ende für eine leichte Affäre ausgetauscht zu werden.

Sie hasste den Gedanken, dass er ihr das Vertrauen in jeden Mann geraubt hatte, der ihr seitdem begegnete. Sie hasste den Gedanken, wie viele Tränen sie vergossen hatte und wie viel er zerstörte, als er diese Affäre einging. Und dass sie einsam war, so furchtbar einsam, seitdem er ihr sich und ihre einzige Freundin genommen hatte.

Sie waren in dieselbe Klasse gegangen, als sie sich mit 14 Jahren in ihn verliebte. Alles begann wie eine Kindergartenbeziehung, mit der sie jedoch beide groß und erwachsen wurden. Irgendwann ging es nicht mehr um Teenagerthemen, sondern um das Zusammenziehen und Zukunftspläne. Sie planten, sich mit 21 ein gemeinsames Leben aufzubauen und zusammenzuziehen. Olivia war so verankert in dieser Beziehung, dass sie nicht einmal im Traum daran gedacht hätte, dass es enden könnte.

John gehörte zu diesem Zeitpunkt schon so fest zu ihrem Leben, wie Schlafen und Essen. Als sie dann auch noch eine Wohnung fanden, die sie mit ihrem gemeinsamen Studentengehalt bezahlen konnten, schien ihr Glück perfekt.

Bis zu dem Tag, als sie John und ihre beste Freundin in genau dieser Wohnung erwischte, als sie einige Kleinigkeiten rüber schaffen wollte.

Beide hatten versucht, sie zu besänftigen, doch nichts auf dieser Welt hätte das reparieren können, was in diesem Moment in ihr zerbrochen war.

Ihre heile Welt war in sich zusammengekracht und ihre einzige Konstante, in einer Welt wie dieser, zerbrochen. John hatte mit seiner Affäre all ihr Vertrauen in Außenstehende mit sich genommen und ihr nie wieder zurückgegeben.

Olivia wusste, dass ihr nicht jeder schaden wollte, doch sie konnte niemanden mehr an sich heranlassen. Die kommenden Monate waren die Hölle, in der sie lernen musste, wieder allein klar zu kommen. Als sie dann erfuhr, dass diese Affäre bereits monatelang ging und keine einmalige Sache war, waren beide für sie gestorben.

Ihr Herz hatte sich verschanzt, hinter einer Mauer, die keiner durchdringen konnte. Hinter jedem netten Menschen vermutete sie ab diesem Tag etwas Schlechtes, obwohl sie wusste, wie absurd dieser Gedanke war.

Aber sie konnte nicht anders, John hatte ihr jegliche Leichtigkeit genommen.

Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken und Aurelia steckte den Kopf in ihr Zimmer. „Könntest du mich vor der Arbeit noch zum Bahnhof begleiten? Ich muss das Monatsticket für Frau Larx abholen.“

Ihre Schwester arbeitete seit einiger Zeit für Frau Larx, eine pensionierte Beamtin. Diese hatte genug Geld, um Aurelia mit solch einfachen Aufgaben zu beschäftigen und ihr so das Taschengeld aufzubessern.

„Dann müssen wir aber jetzt los. Sonst schaffe ich es nicht“, antwortete sie, während sie einen letzten Blick in den Spiegel warf, ihr Kleid noch einmal zurecht zupfte und nach ihrer Tasche griff.

An diesem Tag trug sie ein gelbes Sommerkleid mit großen Blüten bestickt, das ab der Taille leicht um ihre Hüften wehte. Es passte perfekt zu dem sonnigen Tag, der draußen auf sie wartete, als sich die beiden Schwestern auf den Weg machten.

Seit beinah zwei Jahren traute sich kaum jemand alleine unterwegs zu sein, in der Angst, in Angelegenheiten hineingezogen zu werden, in denen man nichts zu suchen hatte. Seit Beginn der weltweiten Wirtschaftskrise 2025, die aus einer Pandemie resultierte, wurden die Menschen von Tag zu Tag wütender. Sie waren wütend darüber, was mit ihnen und ihrer Wirtschaft passierte.

Es begann sehr schleichend, während die Nahrungsmittel stetig teurer und das Autofahren durch die steigenden Spritpreise zum Luxus wurden. Die Bevölkerung bekam jedoch nicht mehr Lohn als vorher, was die Lage zunehmend anspannte. Auch die Mieten stiegen ins Unermessliche, was viele dazu zwang, ihr Heim aufzugeben und im schlimmsten Falle obdachlos zu werden.

2028 erreichte die Wut der Bevölkerung dann ihren Höhepunkt, als der Staat verlangte, dass sie von ihren ohnehin wenigen Vorräten etwas abgaben. Zu diesem Zeitpunkt sollte jeder einen großen Teil an Nahrung und Verpflegung für Militär, Polizei, Krankenhäuser und weitere wichtige Institutionen abgeben. Auf noch nicht ausbezahlte Kredite wurden Hypotheken gelegt und die Vorräte der Menschen neigten sich dem Ende.

Geschäfte mussten schließen, Fabriken stellten ihren Betrieb ein und die Menschen verloren ihre Jobs, mit denen sie die Forderungen der Regierung bisher finanziert hatten.

Die Verzweiflung unter den Bürgern wurde spürbar größer und sie begannen gesammelt auf die Straße zu gehen. Sie wollten Gerechtigkeit und demonstrierten für eine Regierung, die sich um ihr Volk sorgte, anstatt es weiter auszunehmen.

Diese Demonstrationen gewannen an unglaublichen Zuspruch und es gingen immer mehr Menschen auf die Straße, um sich zu wehren.

Auch Olivia und ihr Vater waren unter ihnen, um sich ihre Rechte zurück zu holen.

Menschen hungerten, lebten auf der Straße, verzweifelten an ihren Hypotheken, während die Regierung in ihren warmen Büros über ihren Kopf hinweg entschieden.

Die anfänglich friedlichen Demonstrationen wurden jedoch immer brutaler, Polizeigewalt und Hooligans standen an der Tagesordnung.

Immer mehr Bürger wurden festgenommen, immer öfter kamen Schlagstöcker und Wasserwerfer zum Einsatz.

Und das war die Zeit, in der die „weißen Füchse“ gegründet wurden.

Eine Widerstandsbewegung, die streng vom Staat verfolgt wurde.

Grundsätzlich kämpften sie für eine Besserung ihrer aller Lebenssituation, Freiheit und Gerechtigkeit.

Zunächst hatten sie keinen Namen und waren einfach eine Gruppierung von Menschen, die in die gleiche Richtung dachten und versuchten, eine Lösung zu finden. Dies war jedoch auch der Moment, an dem Olivia und ihr Vater ausstiegen, um ihre Jobs nicht zu gefährden.

Sie konnten sich nicht leisten, bei der wenigen Arbeit die es noch gab, diese auch noch zu verlieren.

Doch die nächste Demonstration sollte die Geburtsstunde der radikalen Organisation „die weißen Füchse“ werden.

Bei dieser Demonstration fanden sich Tausende von Familien auf dem großen Platz der Hauptstadt ein, um friedlich für bessere Lebensbedingungen einzustehen. Warum es zu einer solchen Wendung in einer friedlichen Demonstration kam, weiß keiner, doch die Polizei begann, mit Wasserwerfern auf die Menschen loszugehen.

Panik brach unter den Frauen und Kindern aus, als die Wasserwerfer von allen Seiten gleichzeitig kamen und die Menge einkesselte. Es entstand eine Massenpanik und die Demonstranten versuchten in Angst zu fliehen, während sie sich aneinanderdrängten, sich schubsten und übereinander herkletterten.

Obwohl die Polizei diese Massenpanik bemerkte, hörten sie nicht auf und dies führte zu einer Tragödie. In ihrer Panik merkten die Menschen nicht mehr, was sie taten und versuchten einfach nur zu fliehen. Dabei wurden auch Menschen zu Tode getrampelt – darunter ein achtjähriges Mädchen.

Als einige Tage später das Bild des Mädchens durch die Presse ging, schockierte es alle gleichermaßen. Es zeigte ein kleines blondes Mädchen mit einem Kuscheltier in der Hand – einem weißen Fuchs.

Die Empörung der Bevölkerung über ihren sinnlosen Tod riss nicht ab und die Wut wurde dadurch ins Unermessliche befeuert.

Dieses Kind hätte nicht sterben müssen und wurde zur Symbolik der Ungerechtigkeit.

Und das war die Geburtsstunde der weißen Füchse.

Ab diesem Zeitpunkt radikalisierten sich die weißen Füchse immer mehr, es wurde von beiden Seiten immer gewaltvoller und führte dazu, dass man weder auf der Seite der Regierung, noch auf der der weißen Füchse stehen wollte.

Die eigene ehrliche Meinung zählte schon lange nicht mehr und man war sicherer, wenn man sie für sich behielt.

Der Bahnhof war jedoch unter anderem einer der Orte, bei dem man vielen Leuten von beiden Seiten begegnen konnte.

Es war eine Art Sammelpunkt, da hier viele Pendler aus verschiedenen Städten aufeinandertrafen und auch jüngere Menschen hier täglich ein und aus gingen, um zur Schule, zur Uni oder zur Arbeit zu kommen.

Hier war das Risiko also besonders groß, von der jeweils anderen Gruppe mit der anderen gesehen zu werden und somit in deren Radar zu gelangen. Abgesehen davon wimmelte es dort von Taschendieben, Gewaltverbrechern und Obdachlosen, die alle um ihre Existenz fürchteten. Und Menschen, die um ihr Leben bangen, begegnete man am besten nicht allein.

Leider galt dies nicht nur für den Bahnhof, sondern auch für viele weitere Orte in der Stadt.

Grundsätzlich fühlte Olivia sich besser, wenn ihre kleine Schwester nicht ohne Begleitung unterwegs war.

Der eine erledigte also das, was zu erledigen war und der andere sorgte dafür, dass ihnen keiner näherkam, als es unbedingt nötig sein musste.

„Was stimmt mit diesen Leuten eigentlich nicht?“, brummte sie, während sie Aurelia neben sich durch den Bahnhof zog. Der Geruch von frischen Backwaren und verschiedenen Parfums stieg ihr in die Nase, als sie die Tür zur großen Mall öffneten.

In jeder Ecke hingen Schilder mit den unterschiedlichsten Parolen, die in der nächsten Ecke von der Polizei wieder abgerissen wurden.

„Lasst uns aufstehen, bevor es zu spät ist!“

„Schließt euch den weißen Füchsen an!“

„Das ist nicht die Welt, in der unsere Kinder groß werden sollen!“

Das Ticketbüro erschien um die Ecke und sie gab ihrer Schwester einen leichten Stups Richtung Tür. „Beeile dich, ich warte draußen.“

„Du übertreibst, so wie immer. Manchmal glaube ich, du denkst, wir werden vom FBI höchstpersönlich verfolgt“, meckerte Aurelia und stieß die Tür zum Ticketbüro auf. Sie hielt Olivia in allen Belangen für misstrauisch und pessimistisch, obwohl sie selbst sich wohl eher als einen Realist bezeichnen würde. Sie wusste einfach, wie gefährlich es an manchen Orten war und nahm diese Sache ernst, besonders wenn es darum ging, ihre kleine Schwester zu beschützen. Obwohl diese zwar auch schon 19 Jahre alt war, benahm sie sich ihrer Meinung nach, einfach viel zu naiv und leichtgläubig. Wenn man sie mit einem lustigen Abenteuer locken würde, wäre sie sofort mit von der Partie, egal, ob sie diese Person jemals vorher gesehen hatte.

Vielleicht war das aber auch die typische Schwesternverbindung, bei der die ältere Schwester immer die Spaßbremse spielen musste und ihre naive jüngere Schwester ohne Unterbrechung davon abhalten musste, sich mit dem nächsten Aladdin aus dem Fenster zu werfen.

Ihr Blick fiel auf einen der Polizisten, der am anderen Ende der Mall stand und sie mit seinen Augen verfolgte. Misstrauisch wandte sie ihm ihre Schulter zu und hoffte, dass er sie nicht für eine der weiße Füchse hielt, die gerade versuchte, jemanden anzuwerben.

Auf keinen Fall wollte sie von irgendjemanden für eine weiße Füchsin gehalten werden. Ständig gab es neue Berichte in den Nachrichten, in den Zeitungen und weiteren Medien darüber, wie sich die weißen Füchse mittlerweile selbst bereicherten. Vor kurzem hatten sie erst eine Bank ausgeraubt, um sich selbst das Geld einzustecken und damit war niemandem geholfen. Am Ende musste die Lücke dieses Geldes wieder mit den Steuern der ohnehin schon armen Bürger gefüllt werden und somit schadeten die weißen Füchse den Bürgern eher, als dass sie ihnen halfen.

Es hatte schon lange nichts mehr mit dem ursprünglichen Gedanken der Freiheit zu tun – das hörte und las man jeden Tag in den Medien.

Und auch wenn sie nicht immer alles glaubte, was sie Medien sagten, schienen diese Fakten leider äußerst glaubwürdig.

Denn die Bank hatten sie schließlich wirklich ausgeraubt, genauso wie sie schon viele weitere Fehler wirklich begannen hatten. Darunter auch die Sprengung eines noch leeren Gefängnisses, das am Ende durch die Gelder der Anwohner wieder aufgebaut werden musste.

Dieses hätte einen Monat später seinen Betrieb aufnehmen sollen und da man das Gerücht hörte, dass dies explizit nur für weiße Füchse erbaut worden war, wurde es wenige Tage später gesprengt.

Zum Schaden der Bevölkerung.

Olivia versuchte, sich unauffällig wegzudrehen. Einfach keinen Augenkontakt, dann würde er sicher jemand anderes bemerken, der sich sehr viel auffälliger verhielt, als sie es tat.

Ein herbes Männerparfüm stieg ihr in die Nase, noch bevor sie die raue Stimme in ihrem Rücken vernahm. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“

Olivia erstarrte und schluckte schwer, als sie sich langsam zu dem Polizisten umdrehte, der sie wohl doch für auffällig empfunden hatte.

Er hatte dunkle, kurze Haare und ein markantes Gesicht. Seine Größe und sein unnachgiebiger Blick ließen sie eher erstarren, als sich in seiner Gegenwart sicher zu fühlen.

„Ich warte nur auf meine Schwester. Sie holt ein Ticket, dann sind wir weg“, antwortete sie kurz angebunden und hoffte, dass dieses Gespräch damit genauso schnell wieder beendet sei, wie es angefangen hatte.

Verstohlen schaute sie sich nach allen Seiten um. Genauso wenig wie sie von der Polizei mit weißen Füchsen gesehen werden wollte, wollte sie von weißen Füchsen mit der Polizei gesehen werden.

Denn die waren leider auch kein unbeschriebenes Blatt mehr.

„Da bin ich mal zwei Minuten weg und schon angelst du dir einen süßen Polizisten!“, lachte ihre Schwester, als sie aus dem Ticketbüro heraustrat und ihre Tickets wie eine Trophäe in die Luft hielt.

„Ist es nicht ziemlich warm in dieser Uniform? Wir haben schließlich Sommer und es sind sicher-“

„Ich hoffe, das wäre dann geklärt.“ Olivia lächelte dem Polizisten gequält zu und schnappte sich das Handgelenk ihrer Schwester, bevor sie noch mehr Blödsinn von sich geben konnte.

Dieser hob argwöhnisch eine Braue, nickte jedoch. „Schönen Tag noch.“

Genervt zerrte sie Aurelia hinter sich her und ignorierte ihr empörtes Schnaufen.

„Liv, was glaubst du eigentlich passiert, wenn wir mal eine Sekunde mit einem gutaussehenden Polizisten sprechen? Dass er uns direkt eine Pistole auf die Brust hält, weil wir hallo gesagt haben?“

„Du nimmst diese Sache einfach nicht ernst, Relia.“ Sie stieß die Tür nach draußen auf und ihr schlug die schwüle Luft von dreißig Grad entgegen. Es war wirklich heiß.

„Ich glaube, du nimmst diese Sache einfach ein bisschen zu ernst. Es bringt uns alle nicht weiter, wenn du dir nur ständig irgendwelche Berichte durchliest und uns allen permanent Angst machst.“

Schnaufend befreite Aurelia ihr Handgelenk und kramte nach ihrer Sonnenbrille.

„Ich mache euch nicht permanent Angst, ich versuche euch nur zu beschützen!“, rechtfertigte Olivia sich. „Diese eine Abmachung, mehr nicht! An Orten, die weder unser Zuhause, noch das unserer Freunde ist, unterhalten wir uns nicht länger mit Fremden, Polizisten oder ähnlichem, als es unbedingt nötig ist!“

„Weil sonst was passiert?“, empörte sich Aurelia und warf theatralisch die Hände in die Luft.

Gott sei Dank hatte sie Elias, dachte Olivia genervt. Ohne ihn, würde sie wahrscheinlich auch noch an den Weihnachtsmann glauben.

„Weil wir neutral sind! N-E-U-T-R-A-L! Ich will mein Studium nicht riskieren, weil wir mit einem der beiden Gruppen in Verbindungen gebracht werden und du solltest das auch nicht. Außerdem will ich keine Schwierigkeiten bekommen nur, weil meine naive Schwester selbst vergeben irgendwelche Polizisten anmacht!“ Sie überquerten die viel befahrene Straße und beeilten sich, ihre Fahrräder aufzuschließen, als sie diese erreicht hatten.

Für Autos hatten sie schon lange kein Geld mehr.

„Vielleicht solltest du mal wieder anfangen, ein wenig mehr Gefallen an süßen Polizisten zu empfinden und aufhören, diesem dummen John hinterher zu trauern! Du benimmst dich wie eine alte Jungfer!“

Nachdem Aurelia den Satz ausgesprochen hatte, öffnete sie erschrocken den Mund und schüttelte den Kopf. „Liv...“

Wütend zog diese ihr Fahrrad aus dem Ständer und stieg auf. „Ich denke du findest alleine nach Hause. Ich muss jetzt zur Arbeit.“ Damit fuhr sie los und wartete nicht darauf, was ihre Schwester ihr noch an den Kopf knallen wollte.

AURELIA

Die Sonne ging bereits unter, als Aurelia von ihren Erledigungen bei Frau Larx Zuhause ankam und ihr Fahrrad abschloss. Während sie die Haustür aufschloss, dachte sie an ihren Streit mit Olivia.

Es hatte ihr bereits beim Aussprechen leidgetan und sie wusste, dass sie sich bei ihrer Schwester entschuldigen musste.

Sie hätte John niemals in das Gespräch miteinbeziehen dürfen, wo sie doch wusste, wie sehr es noch heute an Liv nagte. Seit ihrer Trennung vor zwei Jahren ließ sie niemanden mehr an sich heran, der nicht auch schon vorher da gewesen war. Es gab keine neuen Männer, keine Dates und auch keine neue Liebe.

Sie schob die Haustür auf und bemerkte sofort den lieblichen Geruch von frisch gebackenem Brot. Ihre Mutter hatte heute also endlich wieder Zeit gefunden, ihrer Leidenschaft nachzugehen.

Leise schob sie sich in das Haus und schloss die Tür hinter sich.

Ihr Handy vibrierte und sie zog es aus ihrer linken Hosentasche, während sie ihre Sandalen auszog.

Aurelias Herz machte einen freudigen Sprung, als sie sah, dass es sich um eine Nachricht von Elias handelte.

Elias: „Hast du morgen Abend Zeit für mich?“

Lächelnd presste sie das Handy an sich und unterdrückte das Quietschen, das in ihrer Brust steckte. Sie und Elias waren nun seit zwei Monaten ein Paar und sie war so verliebt in ihn, wie sie es zuvor noch nie gewesen war. Jede seiner Nachrichten, jedes seiner Worte löste die größten Emotionen in ihr aus. Selbst wenn es eine banale Frage wie diese war.

„Aurelia, bist du das?“, hörte sie ihre Mutter aus der Küche rufen.

„Ja!“, rief sie zurück und folgte ihrer Stimme in die warme Küche, aus der dieser liebliche Duft drang. Mit einem Lächeln zupfte sie sich ein Stück des frisch gebackenen Brotes ab und schob es sich genüsslich in den Mund. „Mmmh...“

„Relia, hast du was zu Olivia gesagt?“ Ihre Mutter legte das Geschirrtuch, mit dem sie gerade ihre Hände abgetrocknet hatte, zur Seite und strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht.

Ihr Blick sagte alles. Aus irgendeinem Grund wusste ihre Mutter grundsätzlich immer, wenn sie sich stritten oder es einem von beiden nicht so gut ging. Manchmal scherzten sie und Olivia darüber, dass ihre Mutter vielleicht sogar einen sechsten Sinn besaß.

„Ich weiß...“ Schuldig drückte sie sich vor ihrem Blick. „Ich sollte mit ihr reden.“ Es bedurfte keiner weiteren Zustimmung, also drückte sie ihrer Mutter nur einen Kuss auf die Wange, schnappte sich noch ein Stück des noch warmen Brotes und machte sich auf den Weg in das Zimmer ihrer Schwester.

Da es bereits Abend war, ahnte Aurelia, dass Liv jetzt gerade wahrscheinlich für ihr Studium lernte, dass sie endlich anfangen konnte. Nach dem Einbruch der Wirtschaft, hatte sie erst einmal ihre Karriere auf Eis legen und sich dem finanziellen Überleben ihrer Familie widmen müssen.

Sie selbst war damals noch zu jung gewesen, um beträchtlich zur allgemeinen Kasse dazu steuern zu können. Jetzt wo auch sie hätte arbeiten können, gab es keine mehr. Es war mittlerweile fast ein Wunder, wenn man einen Job fand, der auch ausreichend bezahlt wurde. Ihre Schwester hatte das Glück gehabt, schon zu Beginn der Krise einen Job in einem der wenigen kleinen Geschäfte bekommen zu haben, die immer noch standhielten und noch nicht schließen mussten.

Viele andere hatten nicht das Glück gehabt und längst geschlossen, was zu einer geisterleeren Innenstadt führte.

„Darf ich reinkommen?“, fragte Aurelia kleinlaut, als sie die Zimmertür ihrer Schwester öffnete und sie konzentriert lernend an ihrem Schreibtisch vorfand.

Liv drehte sich zu ihr um und nickte. Leise schlüpfte sie hinein und schloss die Tür hinter sich, während Olivia ihr einen Stuhl frei machte.

„Hör mal, es tut mir wirklich leid, dass...“

„Ich weiß“, unterbrach Olivia sie und schenkte ihr ein gutmütiges Lächeln. „Ich kenne dich doch. Manchmal sprichst du schneller als du denkst. Aber das mag ich eigentlich auch an dir.“ Sie lachte und ihr Blick hatte nichts mehr von dem Zorn, mit dem sie sich am Fahrradständer verabschiedet hatten. „Für deine Unbeschwertheit.“

„Die kannst du auch haben! John ist nicht der einzige Kerl auf dieser Welt!“, protestierte Aurelia energisch, obwohl sie wusste, dass diese Argumentation eigentlich sinnlos war. Damals war etwas in ihrer Schwester zerbrochen, dass sich irgendwie nicht mehr reparieren ließ.

„Und seien wir mal ehrlich, du warst sowieso viel zu hübsch für ihn.

Kannst du dich noch an seine schiefe Augenbraue erinnern?“

Olivia lachte und schüttelte den Kopf. „Die habe ich tatsächlich schon vergessen. Oder verdrängt, wie man es nimmt.“

„Komm schon, Elias Kumpel fragt so oft nach dir und du sagst jedes Doppeldate ab. Was hättest du zu verlieren?“

Sie sah ihrer Schwester sofort an, dass sie die Antwort eigentlich schon kannte. Wie jedes Mal, würde sie nein sagen und es damit begründen, dass sie ihren nächsten Freund auf die altmodische Art kennenlernen wolle. In Olivias Vorstellung war es nur die große Liebe, wenn sie ihm ganz zufällig beim Einkaufen, bei der Arbeit oder beim Spazierengehen begegnete. Und dann müsste er natürlich sofort unsterblich in sie verliebt sein, sie heiraten und ohne jeden weiteren Zwischenfall gemeinsam mit ihr sein Leben verbringen.

Alles andere wäre eine höchst unzufriedenstellende Lösung für ihre Schwester, was den allgemeinen Maßstab natürlich nicht gerade niedrig hielt.

Aurelia seufzte und wollte gerade mit ihrer Überzeugungsarbeit beginnen, als Olivia mit den Achseln zuckte und sie anlächelte.

„Gut, was soll's. Sag Elias, dass er ein Treffen ausmachen kann.“

Aurelia starrte sie entsetzt an und bevor sie etwas sagen konnte, gebot Liv ihr lachend zu schweigen. „ABER nur zu viert und es bleibt bei vier! So wie ich dich kenne, verschwindet ihr sonst nach fünf Minuten und ich muss den Rest des Abends mit irgendeinem Idioten alleine verbringen.“

„Du wirst es nicht bereuen, er sieht gut aus!“ Sie zückte direkt ihr Handy um Elias zu schreiben, er solle Luca wirklich direkt fragen, wann er Zeit habe, denn man wüsste nie, wie lange Livs Angebot Bestand hatte.

„Wenn du Elias sowieso schon schreiben musst, frag ihn noch bitte nach der Wohnung“, warf Liv ein und begann gedankenverloren auf ihrem Schmierzettel Kreise zu malen. Sie war oft so in ihren Gedanken versunken, sodass Aurelia sich manchmal fragte, ob sie etwas übersah, was Liv nicht entging. Etwas, was ihr Herz schwer machte und sie belastete und wofür sie selbst blind zu sein schien. Sie hoffte nur, dass ihre Schwester mit jedem ihrer Probleme zu ihr kommen würde und sie hätte ihr letztes Hemd dafür gegeben, Liv endlich wieder unbeschwerter zu sehen.

Das war das, was ihre Beziehung zueinander so besonders und wertvoll machte. Die Bereitschaft beider, der jeweils anderen im Ernstfall immer das größere Stück Kuchen zu überlassen, wenn es ihr dadurch helfen würde. Und dieser Bereitschaft waren sich beide schon immer bewusst gewesen.

Aurelia hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde und sah zu Olivia, die im gleichen Moment auch ihren Blick suchte.

„Es ist Papa. Er ist schon wieder so spät“, stellte sie mit einem Blick auf die Uhr fest, die bereits 21:30 Uhr anzeigte. Normalerweise hatte ihr Vater immer schon um 18 Uhr Feierabend, doch seit geraumer Zeit kam er immer erst gegen zehn Uhr oder später nach Hause, ohne jemandem den Grund für diese regelmäßigen Verspätungen mitzuteilen.

„Ja...Mama wird durchdrehen“, seufzte Liv und Aurelia nickte.

Seitdem ihr Vater zum Grund seines Verschwindens schwieg, hatte sich die Stimmung ihrer Eltern drastisch verändert. Vorher war ihr Verhältnis geprägt von Ehrlichkeit und Vertrauen. Mittlerweile hatte ihr Vater diese Basis der Beziehung durch sein Verhalten mit Misstrauen und Vorsicht ausgetauscht. Schon des Öfteren hatten beide ihre Eltern darüber streiten hören, dass ihre Mutter glaubte, ihr Vater ginge ihr fremd.

Und auch die beiden Schwestern waren sich nicht mehr sicher, ob das nicht tatsächlich der Fall war.

Vor knapp zwei Wochen hatte sie ihren Vater tatsächlich bei etwas erwischt, was diesen Verdacht nur verhärten ließ. Sie war gerade mit Elias zu einem seiner Freunde unterwegs gewesen, als sie durch eine Passage in der Innenstadt gelaufen waren.

Auf der anderen Straßenseite hatte sie dort vor einem Café ihren Vater gesehen. In seinen Armen eine fremde Frau.

Aurelia hatte ihren Augen nicht trauen können, als sie sah, wie vertraut er einen Arm um diese Frau legte und sie an sich zog, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern.

Ohne nachzudenken hatte sie Elias mit sich um die nächste Ecke gezogen und war der Szenerie entflohen. Schwer atmend hatte sie in den Armen ihres Freundes gelegen und versucht, das Gesehene zu verarbeiten.

Es war so eindeutig gewesen, dass eigentlich nur noch ein Kuss für ihre Sicherheit gefehlt hätte. Doch ihr Herz wollte es nicht sehen, wollte nicht wahrhaben, dass ihre Mutter mit ihrer Angst recht behalten würde.

Niemals hätte sie ihrem Vater so etwas zutrauen können – wenn sie es nicht selbst gesehen hätte. Nachdem sie ihn dort beobachtet hatte, ohne von ihm entdeckt worden zu sein, führte sie viele intensive Gespräche mit Elias.

Aurelia war sich so schrecklich unsicher gewesen, wie sie damit umgehen sollte und ihr schlechtes Gewissen drohte sie aufzufressen, egal was sie tat.

Doch sie entschied sich dafür, den Familiensegen zu erhalten. Also sprach sie weder ihren Vater darauf an, noch erzählte sie es Olivia oder ihrer Mutter. Sie nahm dieses Geheimnis und schob es so weit in ihr Unterbewusstsein, dass sie nie jemandem davon erzählen würde, solange es das Beste für ihre Familie war.

Die ersten Tage waren hart gewesen, da sie weder ihrer Mutter, noch ihrem Vater in die Augen schauen konnte – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Am liebsten hätte sie wenigsten Olivia davon erzählt, aber sie kannte ihre Schwester gut genug, um ihre Reaktion zu erahnen. Sie würde ohne zu zögern ihren Vater zur Rede stellen und ihrer Mutter alles erzählen – Olivia wäre ein wahrgewordener Racheengel und ihre Familie damit zerstört.

Also behielt Aurelia es für sich und hoffte, ihr Vater würde das Richtige tun.

Aurelia zog die Tür hinter sich zu und lief Elias entgegen. Hinter ihm standen noch sein Freund Louis und ihre beste Freundin Lina, die ihr beide entgegenlächelten.

„Hey, Leute!“ Sie umarmte beide lächelnd und wandte sich dann zu Elias, um ihn mit einem Kuss zu begrüßen. Er sah so unwiderstehlich süß aus mit seinen dunklen Locken unter der Kapuze und sie musste unwillkürlich grinsen.

„Was grinst du so?“, lachte er und strich ihr sanft die Haare aus dem Gesicht, die von dem frischen Sommerwind durcheinandergewirbelt wurden.

„Dafür habt ihr auch später noch Zeit“, unterbrach Lina sie und wies in Richtung Straße. „Wollen wir los? Louis hat angeboten, dass wir heute bei ihm einen Film schauen können.“

„Ooooh, einen Film“, schnurrte Aurelia und hakte sich lachend bei ihrer Freundin unter. Diese stöhnte gequält auf, ließ sich jedoch mitziehen und sie machten sich auf den Weg zu Louis, der nur wenige Straßen entfernt wohnte.

Seit einiger Zeit suchte Aurelia nun schon einen Freund für ihre Freundin und sie hielt Louis tatsächlich für einen geeigneten Kandidaten. Elias hatte sie jedoch bei ihrem Verkupplungsversuch gewarnt und sie darum gebeten, dass sie sich raushalten solle und dass es nicht ihr Problem wäre.

Gut, dass er sie noch nicht gut genug kannte und nicht wusste, dass sie sich definitiv NICHT heraushalten würde und Lina war sich dessen durchaus bewusst.

„Bitte, blamiere mich nicht. Nur weil Louis in deinen Augen ein guter Kerl ist, heißt das noch lange nicht, dass ich das auch so sehe“, flüsterte Lina, als sie einige Meter vor den Jungs herliefen und sie sich sicher sein konnte, dass keiner von beiden etwas hören konnte.

„Ich sollte dich blamieren? Was hältst du von mir?“, fragte Aurelia gespielt schockiert, weil sie beiden wussten, dass es nicht das erste Mal gewesen wäre.

„Relia!“, hörte sie Elias rufen und noch bevor sie sich umdrehen konnte, lief er von hinten gegen sie und warf seinen Arm um ihre Schulter. Lachend drückte er ihr einen Kuss auf die Wange.

„Komm schon, erzähl Louis mal von deinem Erlebnis letztens in der Bahn!“

Sie stöhnte genervt auf und versuchte sich aus seinem Griff zu winden.

„Hast du auch noch andere Hobbys, als dich über mich lustig zu machen?“

Elias lachte und schlang die Arme nur noch fester um sie. „Nein, warum auch? Es macht viel zu viel Spaß.“ Aurelia lachte und stieß ihn in den Bauch.

„Oh mein Gott, das wird der schlimmste Abend meines Lebens“, flüsterte Lina und rollte mit den Augen, während sie einen Meter Sicherheitsabstand zwischen sich und dem verliebten Paar brachte.

„Du weist gar nicht, was du verpasst, du Miesepeter!“, quietschte Aurelia und küsste Elias.

2 Monate später

„Geht es dir mittlerweile besser?“

Aurelia las die Nachricht von Elias nur mit halber Aufmerksamkeit, als die Übelkeit sie überrollte. Schnell presste sie sich ihre Hand vor den Mund und stürmte in Richtung Badezimmer, in dem sie es noch knapp schaffte, die Kloschüssel zu erreichen.

Sie übergab sich mehrmals und rollte sich anschließend stöhnend auf dem Badezimmerboden zusammen. Seit Tagen behielt sie nichts bei sich, was nur etwas dickflüssiger war als Wasser. Die ersten Tage hielt sie es noch für eine harmlose Magen-Darm-Grippe, die vielleicht etwas länger ging, als sie es gewohnt war. Danach folgte die Vermutung einer Lebensmittelvergiftung, obwohl sie keine Ahnung gehabt hätte, woher diese kommen sollte.

Und jetzt, wie sie zusammengerollt auf dem Badezimmerteppich lag und in die Leere starrte, kam ihr eine neue Vermutung, die ihr Herz stolpern ließ.

Nervös begann sie an ihren Nägeln zu kauen, während sie weiter in die Leere starrte und nichts um sich herum wahrnahm, als das leise Vogelgezwitscher vor dem Badezimmerfenster.

Langsam erhob sie sich und horchte, ob sich jemand von ihrer Familie im Flur befand und mitbekommen hatte, dass sie sich schon wieder übergeben musste.

In den letzten Wochen machte sich besonders ihre Mutter große Sorgen um sie und mahnt immer wieder, dass sie zum Arzt gehen müsse. In Zeiten wie diesen, in denen sie ohnehin schon zu wenig Nährstoffe bekamen, konnte dauerhaftes Erbrechen keine guten Folgen nach sich ziehen.

Aurelia war sich dessen durchaus bewusst, mied Ärzte jedoch wie die Pest. Seit sie denken konnte hasste sie jede Person mit einem weißen Kittel und sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal freiwillig bei einem Arzt gewesen war. Alles was sie in ihren Augen taten war, irgendwelche Dinge herauszufinden, die sie besser nicht hätte wissen wollen und mit denen sie dann irgendwie klarkommen sollte.

Sie selbst konnte es sich nicht erklären, doch selbst bei dem bloßen Gedanken an einen Arztbesuch drehte sich ihr Magen um 180 Grad und somit tat sie alles, um solche zu umgehen.

Aurelia wollte also kein weiteres Aufsehen mehr erregen und als sie niemanden im Flur hörte, schlich Aurelia sich leise aus dem Badezimmer und schloss ihre Zimmertür hinter sich, als sie diese unbemerkt erreicht hatte.

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, begann sie hektisch in der Schublade ihres Nachttisches zu kramen und seufzte erleichtert auf, als sie den noch neu verpackten Schwangerschaftstest herauszog.

Aurelia hatte sich diesen vor drei Monaten gekauft, als sie gerade einen Monat mit Elias zusammen gewesen war und schon direkt Panik bekommen hatte, schwanger von ihm zu sein. Er kam bisher jedoch nie zum Einsatz, weil ihre Periode ihr jedes Mal vorzeitige Entwarnung gegeben hatte.

Sie nahm allen Mut zusammen, schlich sich zurück ins Bad und beschloss, den Test zu machen. Nachdem sie die Anleitung befolgt hatte, setzte sie sich auf den Boden des Badezimmers, legte den Test vor sich hin und zog die Beine an. Fünf Minuten, wahrscheinlich die längsten Minuten ihres Lebens.

Angespannt wippte sie mit ihrem Bein und versuchte sich abzulenken, indem sie an die unfertige Zeichnung in ihrem Zimmer dachte und daran, was sie noch verändern wolle.

Sie zeichnete gerade an einer Landschaft, wie sie sich diese in Schottland vorstellte. Unmengen an grünen Bergen, tiefen Tälern und einem strahlend blauen Himmel.

Am liebsten zeichnete sie mit Acryl, was jedoch mittlerweile zu einem wahren Luxusgut geworden war und sie auf billige Buntstifte umsteigen ließ.

Genervt seufzte sie auf und lehnte den Kopf an die Wand hinter ihr.

Egal wie sehr sie versuchte, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken - sie schaffte es keine volle Minute an etwas anderes zu denken.

Wenn dieser Test positiv ausfallen würde, hätte sie mehr Probleme als zu teures Acryl.

Was sollte sie in solch einer Welt tun, mit einem Baby und ohne Arbeit? Sie hatte nicht einmal einen Ausbildungsplatz und auch Elias war noch immer auf der Suche nach einer entsprechenden Stelle.

Selbst ohne Baby fiel es ihrer Familie zunehmend schwerer, über die Runden zu kommen und ein Kind würde diesen Zustand keineswegs vereinfachen.

Und wenn sie ehrlich war, waren sie auch selbst Schuld daran gewesen, dass sie nun nervös vor diesem Test kauerte und sich diese Gedanken über ihre Zukunft machen musste. Verhütungsmethoden waren mittlerweile unglaublich teuer und für sie nicht erschwinglich geworden. Aus diesem Grund hatte Liv ihr vor einem Jahr ganz genau die Temperaturmess-Methode erklärt, mit der man seine fruchtbaren Phasen ermitteln und diese somit umgehen konnte.

Nur war sie selbst in den letzten Monaten zu faul gewesen, jeden Morgen ihre Temperatur zu messen und hatte es zu sehr schleifen lassen, sodass sie am Ende nicht mehr wusste, wann sie fruchtbar gewesen war. Und jetzt saß sie hier, starrte den Test an und hoffte, dass Liv nicht schon wieder Recht hatte mit der Annahme, dass sie selbst alles zu sehr auf die leichte Schulter nehmen würde.

Der Test begann zu blinken und Aurelia sprang hoch.

Aufgeregt hielt sie den Test in die Höhe.

„Bitte nicht schwanger. Bitte nicht schwanger“, flüsterte sie beinah wie eine Beschwörung.

Das Blinken erstarrte und zeigte das Ergebnis.

Schwanger.

OLIVIA

„…bundesweite Razzia gegen die weißen Füchse läuft-“ Peggy schaltete den Fernseher aus und warf die Fernbedienung auf den Tresen. „Das kann sich doch keiner länger als drei Minuten anhören.“

Sie lachte und wischte den Tresen mit einem trocknen Tuch ab, nachdem Peggy ihn mit einem feuchten gereinigt hatte.

Es war kurz vor Ladenschluss und sie hatten bereits angefangen, alles zu putzen und fertig zu machen, um rechtzeitig die Türen schließen zu können.

Seit Jahren arbeitete sie nun mit Peggy gemeinsam in diesem kleinen Lebensmittelladen, der sich mittlerweile wie ihr eigener anfühlte, weil die eigentliche Besitzerin sich kaum blicken ließ.

Er war längst nicht mehr so groß wie früher und hatte sich der Wirtschaftskrise anpassen müssen, doch er hatte überlebt. Olivia war dankbar, mit diesem kleinen Lebensmittelladen eine gesicherte Arbeitsstelle zu haben und nicht jeden Monat um ihr Geld bangen zu müssen.

Die Zeiten, in denen die Menschen sich ganze Pakete Mehl oder Zucker leisten konnten, waren leider vorbei. Hier konnte man sich die exakt gewünschte Menge abwiegen lassen und zahlte nur das, was man wirklich brauchte.

Keiner konnte es sich leisten, Lebensmittel schlecht werden zu lassen oder zu viel auf einmal auszugeben.

Gelegentlich kam es auch vor, dass Peggy und Olivia einen Tauschhandel eingingen, wenn es sich denn für den Laden lohnte. Die eigentliche Besitzerin sah dies zwar nicht gerne, bekam es aber auch nicht mit, wenn sie die frischen Eier eines Bauern gegen Mehl tauschten, weil er kein Geld mehr hatte.

Diese Eier konnten sie im Anschluss weiterverkaufen und hatten wieder Geld in der Kasse – und der Bauer hatte Mehl.

„Triffst du dich jetzt eigentlich mit diesem Typen, von dem du erzählt hast? Der von Relia?“, rief Peggy ihr über die Schulter zu, während sie die Rollläden der Fenster zuzog.

„Ach, ich weiß es nicht. Alleine die Tatsache, dass die beiden momentan nichts anderes zu tun haben, als alle Singles in ihrer Umgebung zu verkuppeln...“, lachte sie und kam um den Tresen herum, um die letzten Packungen Süßigkeiten richtig aufzustellen.

„Aber was viel besser ist, als irgendein Typ: Ich habe vielleicht eine Aussicht auf eine Wohnung!“, verkündete sie stolz und warf sich ihr Haar schnippisch über die Schulter.

„Eine Wohnung? Wo hast du die denn gefunden?“ Peggy starrte sie überrascht an und warf einen Blick nach draußen um sicher zu gehen, dass keine Kunden mehr kommen würden.

„Elias kann scheinbar nicht nur Männer verteilen, sondern auch Wohnungen.“ Olivia grinste und griff nach ihren Jacken, während Peggy die Tür abschloss und somit den Feierabend einläutete.

Geschickt fing Peggy ihre Jacke auf, als sie ihr diese zuwarf und machte sich mit ihr auf den Weg zum Nebenausgang.

„Kannst du mich mal bitte an Elias vermitteln?“, fragte Peggy und lachte. „Ich brauche auch endlich mal eine Wohnung. Ich fühle mich wie eine Dreizehnjährige bei meinen Eltern.“

„Mmmmh…ich schau mal, was sich machen lässt. Ich glaube aber eher, dass Relia mich umbringt, wenn ich anfange, Elias neue Frauen vorzustellen.“ Lachend zog Olivia die Tür hinter sich zu und schloss zwei Mal ab. Es war frisch geworden und sie zog ihre Jacke fröstelnd enger um sich.

„So, wir sehen uns. Komm gut nach Hause, Peggy.“ Sie erwiderte die Verabschiedung und sie umarmten sich kurz, nur um danach getrennte Wege zu gehen.

Auf dem Weg zu ihrer Bahn dachte sie darüber nach, wie seltsam ihre Beziehung zu Peggy geworden war. Eigentlich verstanden sie sich blendend und sie war die einzige neben Aurelia, der sie sich sonst noch anvertrauen konnte. Trotz dieser Bindung trafen sie sich jedoch grundsätzlich nie in der Freizeit und waren so etwas wie…

Arbeitsfreunde, wenn es so etwas geben sollte.

Sie stieg in die Bahn und suchte sich einen abgelegenen Platz in einer Ecke, um ihre Ruhe zu haben. Gedankenverloren lehnte sie ihren Kopf an die Scheibe, als diese wieder losfuhr und beobachtete die an ihr vorbeiziehenden Häuser und Gebäude.

Alles, was Olivia sah, war eine leere Stadt, geprägt durch Armut und Sorgen. Kaum jemand schaffte es mittlerweile, sich sorglos und ungezwungen über Wasser zu halten.

Als die Pandemie ausbrach, die anschließend die weltweite Wirtschaftskrise auslöste, war sie gerade 15 gewesen und konnte sich noch gut daran erinnern, wie das Leben vor all den Veränderungen gewesen war.

Wenn sie daran dachte, für wie selbstverständlich sie all die Dinge genommen hatte, die heute purer Luxus für sie wären. Mehrmals im Monat essen gehen, immer frisches Obst und Gemüse im Kühlschrank zu finden, Dinge zu unternehmen und frei zu sein.

Mittlerweile bestand ihre Ernährung aus den absoluten Grundnahrungsmitteln, frisches Obst wurde zu einem Geburtstagsgeschenk und in ihrer Freizeit machte sie nichts anderes mehr als arbeiten und lernen, um das Überleben ihrer Familie zu sichern.

Hätte sie damals nur zu schätzen gewusst, was sie dort noch für selbstverständlich genommen hatte. Dieses Leben hatte sie alle in einem Tempo altern lassen, was sie sich selbst für ihre Zukunft nie gewünscht hätte.

Die Bahn rollte aus und hielt an ihrer Haltestelle. Sie zog sich in die Höhe und bahnte sich den Weg nach draußen, ohne einen der anderen Insassen anzusehen.

Frischer Wind wirbelte ihre langen Haare durcheinander und sie kramte ihr Haargummi aus ihrer Tasche, um diese zu bändigen. Mit geübtem Griff band sie sich einen tiefen Dutt und machte sich auf den Weg nach Hause.

Wenn man sie mit Aurelia vergleichen würde, wäre wahrscheinlich keiner darauf gekommen, dass sie überhaupt verwandt miteinander waren. Im Gegensatz zu ihren langen blonden Locken hatte Aurelia schulterlange tiefbraune Haare und genauso dunkle Augen wie ihr Vater. Grundsätzlich konnte man sie beide sowieso zu ihren Eltern zuordnen, indem Aurelia alles von ihrem Vater und sie alles von ihrer Mutter geerbt hatte, was ihr Aussehen anging.

Einzig die Größe war dieselbe, worüber beide mit 160 cm nicht allzu begeistert waren.

Sie schloss die Tür auf und schob sich in das Haus ihrer Eltern. Es war ungewöhnlich still und sie dachte, dass sie ausnahmsweise einmal alleine zuhause sein würde. Aurelia war sicher bei Elias und ihre Eltern arbeiten, so wie fast immer.

In ihren Gedanken versunken schlenderte sie ins Wohnzimmer, um sich die Nachrichten anzusehen, die Peggy ihr abgeschaltet hatte.

„Oh, du bist schon zuhause?“ Sie schrie auf und fuhr zurück, als sie die Stimme ihres Vaters aus der Ecke des Wohnzimmers hörte.

Er saß mit seinem Laptop in einer Ecke des Zimmers und klappte ihn hastig zu, als er realisierte, dass sie theoretisch auf den Bildschirm hätte gucken können. Schon wieder versuchte er, etwas zu verheimlichen.

Wie immer.

Seufzend setzte sie sich auf das Sofa ihm gegenüber und sah in seine müden, blauen Augen. In den letzten Wochen schien er um Jahre gealtert zu sein.

„Papa, du weißt, dass sie das nicht verdient hat.“ Sie wählte ihre Worte sorgfältig und griff nach seinen Händen, ohne dass er Widerstand leistete. „Sei ehrlich zu Mama und sag ihr, wenn du jemand anderes hast. Das ist nicht fair, was du mit uns machst.“

Er schüttelte den dunkelhaarigen Kopf, löste seine Hand von ihrer und rieb sich die Augen. „Es ist nicht…“

„Siehst du nicht, was du euch antust, Dad? Du scheinst um Jahrhunderte gealtert zu sein und Mama arbeitet nur noch mehr, als sowieso schon. Nur, um nicht in dein Gesicht schauen zu müssen, aus dem sowieso nur Lügen sprechen!“

Sie merkte, wie Wut in ihr hochkochte und stockte, um diese daran zu hindern, sich ihm zu zeigen. Es ging schon viel zu lange. Viel zu lange, hörte sie sich alle die Lügen ihres Vaters an, dass er länger arbeiten müsste, etwas dazwischengekommen war oder er einen Platten hatte.

Mittlerweile versuchte er nicht einmal mehr, sich zu rechtfertigen. Viel zu oft hatte sie gehört, wie sich ihre Mutter in den Schlaf weinte, während er immer noch nicht Zuhause gewesen war und viel zu oft hatte sie die beiden schreien gehört, ohne jemals eine Lösung zu finden.

Dieses Versteckspiel zerrte an den Nerven aller und sie wollte einfach, dass er es beendete. Auch wenn das bedeuten sollte, dass es eine Familie wie diese nicht mehr geben würde und sie sich in ihm so sehr getäuscht hätte, dass sie nicht wusste, ob sie ihm das jemals verzeihen könne.

Aber es sollte einfach aufhören.

„Liv, du verstehst das nicht. Ich tue das nur für euch.“

„Für uns?“ Sie glaubte, sich verhört zu haben und spürte, wie die Wut sich nun doch ihren Weg an die Oberfläche suchte. „Was genau tust du denn für uns? Tust du es für uns, abends nicht mehr nach Hause zu kommen und Mama mit allem alleine zu lassen?“ Wütend stand sie auf und starrte auf ihn hinab. „Tust du es für uns, Mama weiterhin in Ungewissheit zu lassen und uns zusehen zu lassen, wie sie leidet?“ Ihre Mutter würde sich niemals von ihm trennen, solange sie nicht mit einem Vorschlaghammer die pure, verletzende Wahrheit gegen den Kopf gestoßen bekommen würde. Sie hing viel zu sehr an ihm und der Vorstellung, unsere Familie eine Familie bleiben zu lassen.

„Wie kannst du das sagen? Wenn du etwas davon für uns tun würdest, würdest du uns einfach die Wahrheit sagen!“ Sie merkte, wie ihre Stimme immer lauter wurde und wie sie immer mehr die Fassung verlor. „Wochen! Wochen, Papa, seit Wochen geht dieses Spiel schon!

Was hast du davon? Mag deine Geliebte dieses Versteckspiel?“

„Liv…“ Seine Stimme klang leise und geschlagen, als hätte sie einen wunden Punkt erwischt und sie wollte ihn treffen.

„Was?! Wie wäre es, wenn du einmal zu deinen Fehlern stehen würdest und diese Farce beenden könntest? Du bist so selbstsüchtig!“ Jetzt schrie sie.

Schwer atmend starrte sie ihn an. Er saß in sich zusammengesunken in seinem Sessel, starrte auf seine Füße und schüttelte immer wieder den Kopf, ohne etwas zu sagen.

„Wenn du keine Verantwortung für uns übernehmen kannst, tue ich es.“

Damit drehte sie sich um und ging wütend zu ihrem Zimmer, während ihr Vater alleine im Wohnzimmer zurückblieb und nicht einmal einen Versuch machte, sie aufzuhalten.

Zwei Wochen nach ihrem Gespräch schaffte es Liv immer noch nicht, ihrem Vater in die Augen zu schauen, geschweige denn, sich normal mit ihm zu unterhalten. Sie war noch immer so wütend auf ihn, so wütend über den Umstand, dass er sie einfach alle weiter leiden ließ.

Heute Morgen hatte ihr Vater sie gefragt, ob er sie zur Arbeit begleiten solle, so wie er es sonst manchmal tat. Eigentlich liebte sie die gemeinsamen Arbeitswege, da sie eine der wenigen Stunden waren, die sie mit ihrem Vater genießen konnte. Nur auf diesen Wegen hatten sie Zeit, sich unbeschwert zu unterhalten, zu philosophieren und miteinander zu lachen, als sei sie noch ein kleines Kind.

Sie vermisste den Arbeitsweg mit ihrem Vater.

Dennoch hatte sie heute Morgen erneut abgelehnt und sich alleine auf den Weg gemacht, ohne länger als nötig mit ihrem Vater zu sprechen.

Olivia konnte nicht so tun, als wäre nie etwas gewesen und als würde er nicht weiterhin gewissenlos tolerieren, dass sie alle wussten, was er trieb und alle dabei zusehen mussten, wie ihre Mutter daran zerbrach.

Letzte Nacht war er nicht einmal nach Hause gekommen und hatte auch nicht versucht, sich zu entschuldigen.

Ihre Mutter war nicht stark genug, es ohne ihn auszuhalten. Während ihrer Ehe hatte ihr Vater seine Hand immerzu schützend über alle gehalten und sich um alles gekümmert, wodurch der Rest der Familie sich immer sicher sein konnte, einen sicheren Hafen zu haben.

Diesen Hafen hatte er in den letzten Wochen jedoch untergehen lassen.

Olivia seufzte und rieb sich die Augen, während sie versuchte, sich wieder auf den Artikel vor sich zu konzentrieren.

Peggy hatte ihr morgens geschrieben, sie solle die Nachrichten öffnen und sie hatte ihren Augen nicht trauen können. Gestern hatten sich scheinbar Spione der weißen Füchse in das Parlament schleusen können und hatten dort mehrere Bomben platziert, die in der letzten Nacht hochgegangen waren.

Diese Nachricht erschütterte die gesamte Gesellschaft und besonders die Regierung. Bereits am Morgen meldete sich diese mit den Worten, dass sie dies nicht hinnehmen würden und es nun an der Zeit wäre, härter gegen die weißen Füchse vorzugehen.

Olivia hatte den ganzen Tag lang gearbeitet und versuchte sich nun durch verschiedene Artikel auf den neusten Stand zu bringen. Tief in ihr regte sich die Angst vor einem möglichen Bürgerkrieg, für den dieses Ereignis ein Startschuss hätte sein können.

Sie fragte sich, an welchem Punkt die Organisation so aus der Bahn geraten war. Täglich kamen neue Nachrichten darüber, welchen Schaden die weißen Füchse anrichteten und den Frieden des normalen Lebens störten.

Als Olivia noch Teil der Demonstrationen gewesen war, ging es um Gerechtigkeit und Chancengleichheit für die Armen – nicht um Bomben und Krieg.

Die weißen Füchse erschwerten den Mitmenschen ihr Leben nur weiterhin und solange sie damit nicht aufhörten, würde die Regierung sich nicht um die Wirtschaft kümmern können.

Und dass sie mittlerweile dazu bereit waren, Menschen zu verletzten und Bomben zu platzieren löste ganz neue Dimensionen aus.

Schaudernd zog sie sich die Decke bis an ihr Kinn und zog die Beine an, während sie weiterlas.

„…Anschlag gegen das Parlament…Ein Akt, der nicht geduldet werden würde…Weiße Füchse zeigen Solidarität im Internet…Experten fürchten mögliche Revolution…“

„Olivia!“, hörte sie die Stimme ihres Vaters von unten rufen und riss sie damit abermals aus dem Artikel.

Seufzend legte sie ihr Handy zur Seite. „Was ist?“, rief sie genervt zurück und starrte an ihre weiße Decke.

„Komm runter! Aurelia auch!“ Seine Stimme duldete keinen Widerspruch und sie schlug stöhnend die Decke auf. Schwer warf sie ihre Beine aus dem Bett und schlurfte in den Flur, den auch Aurelia zeitgleich erreichte. Sie trug nur einen Bademantel und hatte ihre braunen, kurzen Haare zu zwei Zöpfen geflochten.

„Was denkst du, will er von uns?“, flüsterte Relia ihr im Vorbeigehen zu.

„Keine Ahnung, kommt eh nur Schwachsinn bei herum“, brummte Liv und stieg gemeinsam mit ihrer Schwester die Treppe hinunter.

Unten erwartete sie zu ihrer Überraschung ein reichlich gedeckter Tisch, mit gekochten Kartoffeln und einem frischen Salat. Auch ihre Mutter saß an diesem Tisch und blickte ihren Töchtern genauso ratlos entgegen, wie diese sich nun auch gegenseitig anschauten.

Skeptisch zog Liv die Augenbrauen hoch und setzte sich zögernd an den Tisch, während ihr Vater noch einen Braten aus dem Ofen holte.

Solch ein Essen hatte es das letzte Mal zu Weihnachten gegeben und musste ein Vermögen gekostet haben. Das hier tat er sicher nicht aus Nächstenliebe, sondern allenfalls, weil sein Gewissen sich vielleicht endlich zu melden schien.

Ihre Mutter strich sich eine blonde Locke aus dem Gesicht und suchte unsicher den Blick zu ihrer Tochter Olivia, die diesen erwiderte und die Frage in den Augen ihre Mutter las.

„Dad, was wird das hier?“, fragte Liv und wies auf den prall gefüllten Tisch, als sich ihr Vater endlich zu ihnen gesellte und sich setzte.

„Ich wollte mit euch sprechen.“

„Oh, halleluja. Das fällt dir ja früh ein“, brummte Olivia und verschränkte die Arme vor der Brust. Aurelia trat ihr auf den Fuß und warf ihr einen giftigen Blick zu, der ihr gebot, ihre Meinung einmal für sich zu behalten.

„Olivia hatte recht damit, dass ich unfair zu euch war und deswegen, habe ich es beendet. Gestern Abend war das letzte Mal, dass ich weg war und das Ganze hat nun ein Ende.“ Ihr Vater schluckte schwer und wich ihren Blicken aus. „Ich will nur, dass ihr wisst, dass ich das alles immer nur für euch getan habe. Auch wenn ihr das vielleicht noch nicht verstehen könnt.“

„Oh bitte“, stöhnte Liv nun doch und verdrehte die Augen. „Warum fängst du jetzt wieder damit an? Hat deine Affäre gestern mit dir Schluss gemacht oder warum ist es so plötzlich vorbei?“

Ihre Mutter schluchzte laut auf und presste sich ihre Serviette an den Mund, um ihr Weinen im Keim zu ersticken. Olivia bereute ihre Worte noch im gleichen Atemzug. „Mama...“

„Du hast genug gesagt“, zischte Aurelia und strich sanft über den Rücken ihrer Mutter.

Sie so zu sehen, ließ abermals Wut in ihr aufsteigen und sie musste sich zusammenreißen, nicht einfach aufzustehen und ihrem Vater die Kartoffeln entgegen zu werfen.

„Es gab nie eine andere Frau, es gab immer nur eure Mutter.“ Ihre Mutter schluchzte erneut laut auf und schüttelte immer wieder stumm den Kopf, während sie ihre Augen vor der Wahrheit zu verschließen versuchte.

„Ich wollte euch eigentlich nicht davon erzählen, um euch nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Aber ich muss es tun, weil ich merke, wie ihr euch alle immer mehr von mir entfernt.“ Ihr Vater sah Olivia direkt in die Augen und sie konnte tiefe Traurigkeit darin erkennen.

„Besonders du, Liv.“

Olivia schluckte den Hauch von Bedauern herunter, der in ihr aufzusteigen drohte und versuchte ihre Wut wieder hochkommen zu lassen, um nicht selbst den Tränen nah zu kommen.

„Schon gut, Dad“, lenkte Aurelia, liebenswürdig wie sie war, direkt ein.

Kopfschüttelnd schnitt Liv ihr das Wort ab. „Nein, es ist nicht gut.

Wovon genau sprichst du?“

Ihr Vater legte die Gabel nieder, mit der er gerade eine Kartoffel aufstecken wollte und räusperte sich.

„All die Abende war ich nicht bei einer anderen Frau, sondern…Ich bin den weißen Füchsen beigetreten.“

Plötzlich war es totenstill in ihrer kleinen Küche. Man hörte kein Schluchzen und kein Atmen mehr, nur das Ticken der Uhr, die jede Sekunde eines neuen Lebens einläutete.

„Das meinst du nicht ernst…“, hauchte sie entsetzt und starrte ihn an, als würde ihr ein ganz fremder Mann gegenübersitzen und nicht ihr über alles geliebter Vater, von dem sie geglaubt hatte, ihn zu kennen.

„Ich weiß, was die Medien über die weißen Füchse sagen, aber…“ „Du bringst uns damit alle in Gefahr…Wieso solltest du so etwas Dummes tun? Wofür?“ Olivia glaubte, ihr würde das Herz gefrieren als ihr bewusst wurde, wo sie nun hineingeraten waren.

Sie standen kurz vor einem Bürgerkrieg und ihr Vater hatte sie mit verbundenen Augen mitten auf das Schlachtfeld gezogen.

„Für Gerechtigkeit, Liv.“ Ihr Vater strahlte plötzlich eine neu gewonnene Entschlossenheit aus, die in den letzten Wochen verschwunden schien.

„Für Gerechtigkeit bringst du unsere Töchter in Gefahr?“, meldete sich nun ihre Mutter zum ersten Mal zu Wort und fixierte ihn mit einem so kalten Blick, den sie noch nie bei ihrer Mutter hatte beobachten können.

„Aber wer war dann die Frau in deinen Armen?“

Alle Augen richteten sich auf Aurelia, die ihren Vater verwirrt musterte.

„Welche Frau?!“, riefen ihre Mutter und Olivia zeitgleich und auch ihr Vater schien Aurelia nicht ganz folgen zu können.

„Ich habe dich mit dieser Frau gesehen…Vor dem Café. Sie lag in deinen Armen“, murmelte ihre Schwester und wich beschämt den Blicken der anderen aus.