Die Weserleiche - Andrea Gerecke - E-Book

Die Weserleiche E-Book

Andrea Gerecke

4,9

  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

DAS BÖSE LEBT NICHT IN DER WELT DER DINGE. ES LEBT ALLEIN IM MENSCHEN. Nein, mit einem Schatz hat das ganz und gar nichts zu tun, was der zehnjährige Konrad in seinem Forschungsdrang am Weserufer von Minden entdeckt. Eigentlich sollte es – bei wunderbarem Sommerwetter – ein ganz normaler Badeausflug mit der Familie werden, aber dann dieser Fund! Ein merkwürdiges Paket aus blauen Plastiksäcken, fest umschnürt mit braunem Klebeband. Die Mutter entdeckt einen Riss, aus dem ein Fuß herausragt. Vorbei mit dem Spiel. Sie verständigt die Polizei. Die Ermittlungen der Mordkommission unter Leitung von Hauptkommissar Alexander Rosenbaum werden erschwert, da der Leiche einige Körperteile fehlen. Wie soll man da jemanden identifizieren? Und niemand vermisst eine junge Frau …

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Seitenzahl: 379

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Über die Autorin

Sonnenaufgang

Anruf

Loverboy

Alkohol

Tapetenwechsel

Entlobung

Waldeinsamkeit

Heimkehr

Schatzsucher

Spuren

Hobby

Gerücht

Austausch

Gassi

Umzug

Protokoll

Abstand

Verstecke

Beweismittel

Ertappt

Wissbegierde

Verstärkung

Eltern

Professor

Vaterschaft

Erinnerungslücken

Schönheitschirurgie

Abgefangen

Aphrodite

Geständnis

Danksagung

Andrea Gerecke

Die Weserleiche

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2017 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com

eISBN 978-3-8271-8329-3

EPub Produktion durch ANSENSO Publishing

www.ansensopublishing.de

Andrea Gerecke: Gebürtige Berlinerin mit stetem Koffer in der Stadt. Studierte Diplom-Journalistin und Fachreferentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Kurz vor dem Jahrtausendwechsel Entdeckung der Liebe zum Landleben mit den dortigen kreativen Möglichkeiten. Umzug ins vorletzte Haus an einer Dorfstraße in NRW (Ostwestfalen). Arbeit als freie Autorin und überregionale Journalistin. Literarische Spezialität sind mörderische Geschichten, in denen ganz alltägliche Situationen kippen. Nach den Gutenachtgeschichten für Erwachsene „Gelegentlich tödlich“ folgten „Warum nicht Mord?!“ und „Ruhe unsanft“. Ab 2011 die Minden-Krimis innerhalb der Weserbergland- bzw. Niemeyer-Krimi-Reihe mit Kommissar Alexander Rosenbaum: „Mörderischer Feldzug“ (2011), „Der Tote im Mittellandkanal“ (2012), „Die Mühlen des Todes“ (2013), „Tödliche Begegnung im Moor“ (2014), „Finales Foul“ (2015), „Kein letzter Akt“ (2016). Dazu gesellen sich humoristische und satirische Texte, Prosa und Lyrik sowie im Jahr 2015 „Weihnachtsgeschichten aus dem Weserbergland“. Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien, Zeitungen und Zeitschriften. Mitglied der Mörderischen Schwestern und des Syndikats sowie des Leitungsteams der Mindener Lesebühne. Literaturnetzwerkerin und -organisatorin. Siehe auch: www.autorin-andrea-gerecke.de

Die Romanreihe spielt direkt am Treffpunkt von Weser- und Wiehengebirge im Nordrhein-Westfälischen. Malerisch liegt das mittelgroße Städtchen an der Weser, die beide Erhebungen teilt oder vereint. Je nachdem, aus welcher Perspektive man das betrachtet. Alle Handlungen und Charaktere sind natürlich frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten ergeben sich also rein zufällig. Regionale Wiedererkennungseffekte sind indes erwünscht.

„Grausamkeit ist das Heilmittel des verletzten Stolzes.“

Friedrich Nietzsche

SONNENAUFGANG

Martin drehte den Kopf beiseite, als ihn die ersten Sonnenstrahlen trafen. Er spürte eine Übelkeit in sich, die nicht nur vom übermäßigen Alkoholgenuss der vergangenen Nacht herrühren konnte. Noch einmal wollte er in die Traumwelt abtauchen, in der ihm ein bildschönes, blondes Mädchen auffordernd zugewunken hatte, aber es gelang ihm trotz aller Mühe nicht. Ein merkwürdiger Gedanke formulierte sich: Das Böse lebt nicht in der Welt der Dinge. Es lebt allein im Menschen.

Martin hob jetzt langsam die Augenlider, sah über sich das durchlässige, zartgrüne Blätterdach einer Gruppe von Weiden und erkannte einen wolkenlosen, hellblauen Himmel. Woher tauchte denn jetzt dieser Spruch auf, schalt er sich, wohl kaum aus einem chinesischen Glückskeks oder gar aus dem Repertoire seiner Frau? Ein fröstelnder Schauer durchfuhr seinen Körper.

Beim Blick in die Runde entdeckte er das heruntergebrannte Lagerfeuer. Ein paar verkohlte Holzstücke schienen noch Glut in sich zu bergen. Daneben leere Rotwein- und Whiskyflaschen, ein paar Bierdosen, aufgerissene Chipstüten und die geöffnete Dose mit den Käsevorräten, die er als Leckerbissen beigesteuert hatte. Darauf hatte sich ein Schwarm Fliegen versammelt. Waren das alles ihre Hinterlassenschaften von der vorangegangenen Nacht?

Jetzt verstärkte sich das Würgen im Hals, und Martin erhob sich, das heißt, er wollte sich erheben, stemmte sich mit den Händen auf und wollte den Körper in die Senkrechte bringen. Aber der erste Versuch misslang. Er rutschte noch einmal in sich zusammen, schrammte dabei ungeschickt mit einem Unterarm an den Steinen entlang, und aus der roten Spur auf seiner Haut tropfte etwas Blut. Aber er spürte es nicht. Dafür ergriff die Übelkeit zunehmend Besitz von ihm. Als er dann schon den säuerlichen Brei in der Kehle schmeckte, fand er doch die nötige Kraft, um aufzustehen, ein paar Schritte über das steinige Ufer der Weser zu laufen und sich an einen Busch zu stellen. Er kotzte die Überbleibsel der zurückliegenden Stunden aus. Wieder und wieder. Sein Magen schien nichts in sich behalten zu wollen. Ein gallebittrer Geschmack machte sich auf seiner Zunge breit, und er fühlte einen pelzigen Belag darauf.

Ein paar Vögel sangen, unbeschwert klingend, in den frühen Morgen hinein, eine Krickente inspizierte watschelnd den Uferstreifen und machte lautstark auf sich aufmerksam. Zwei blaugrün schillernde Libellen verfolgten einander. Martin hörte und sah es nicht. Er nahm nur sich selbst wahr und die Geräusche, die er verursachte und die in ihm nachhallten. Das Knirschen der Steine, auf denen er keinen festen Halt hatte, das Herauswürgen der Essensreste, vermischt mit dem Zuviel und dem Durcheinander an Schnaps und Wein und Bier. Bitter stieß es ihm erneut auf, als sein Inneres kaum noch etwas hergab.

Schließlich torkelte er entkräftet zu seiner Lagerstatt zurück und ließ sich haltlos auf dem Schlafsack nieder. Nur die Ruhe bewahren, dachte Martin und massierte sich die hohe Schläfe. Ein heftiger Kopfschmerz pochte dahinter. Seine einst blonden Haare schienen auf dem Weg in ein Grau zu sein. Er hielt sie immer kurz, damit dieses Zeichen des Alterns nicht zu sehr auffiel. Ansonsten gab er nicht so viel auf Äußerlichkeiten, es war eben der Lauf der Dinge, dass Haare ausgingen oder ihre Farbe verloren.

Von den beiden anderen Männern war nichts zu vernehmen. Sie lagen in verkrümmten Haltungen auf ihren Decken. Karsten schnarchte lauthals, stoppte dann für Augenblicke, als wolle er Anlauf nehmen, um erneut intensiv zu rasseln. Hans-Jürgen wirkte, so zusammengerollt, wie er lag, wie ein Embryo. Martin schüttelte den Kopf und bemerkte eine unangenehme Starre im Genick, sicher von dem harten Untergrund des Nachtlagers, beschloss er und versuchte, sich an die letzten Stunden zu erinnern. Sein Gehirn versagte ihm den Dienst und erlaubte nur einen Rückgriff bis zum Einbruch der Dämmerung.

Bis dahin hatten sie – nach ein paar anfänglich geleerten Bierdosen – Rotwein getrunken. Dessen war er sich noch bewusst. Von wem kam später der Whisky und dann nicht nur eine, sondern sogar noch eine zweite Flasche? Die Erinnerung streikte. Er jedenfalls hatte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen solchen in seinem Reisegepäck gehabt. Wo er doch ein ausgesprochener Weintrinker war, am liebsten eine trockene, edle Sorte, dazu die passende Käseauswahl oder noch besser Brot zum Neutralisieren der Geschmacksnerven. Die hochprozentigen Flüssigkeiten überließ er normalerweise anderen. Sollten die sich doch einen Brummschädel holen. Er wollte sich das nicht antun. Alle bisherigen negativen Erfahrungen damit hatten doch eigentlich mehr als ausgereicht ...

Martin legte sich noch einmal hin und war Augenblicke später auch erneut eingeschlafen.

ANRUF

Alexander schloss die Tür geräuschvoll hinter sich. Das war jetzt wirklich die Höhe. Er war ja an einiges gewöhnt, auch an Lautstärke. Aber dieses Gedröhn ging nun wirklich nicht. Genau deshalb hatte er nach langem Überlegen und mehrfachen zornigen Ruhe-Rufen, auch weil er sich einfach nicht mehr konzentrieren konnte, seinen Schreibtisch im Arbeitszimmer verlassen und war in das Zimmer der Mädchen gelaufen. Wenn seine Nerven nicht so blank liegen würden, hätte er die Situation einfach ausgesessen. In der Ruhe liegt die Kraft, ein Motto seines Vaters.

Tinchen hatte ihn angelächelt, als er hineingestürmt kam – ihr schien der Krawall überhaupt nichts auszumachen. Lena hockte, ihm mit krummem Rücken zugewandt, an ihrem Schreibtisch und wippte im Rhythmus der Musik. Einen Fuß hatte sie auf den Stuhlsitz hochgezogen und abgesetzt, das Schienbein umklammerte sie mit beiden Armen.

„Es reicht, Mädels“, polterte Alex und spürte dabei, wie sein Kopf rot anlief. Dabei wollte er sich überhaupt nicht aufregen. Das hier war doch eine absolute Lappalie.

Tina blickte ihn erstaunt an, Lena rührte sich gar nicht.

„Schaust du mich mal an, wenn ich mit dir rede, Lena! Fräulein, hallo!“

Noch keine Reaktion, nur weiteres Wippen mit dem gesamten Körper und dazu die Bässe, die Vibrationen erzeugten, die durch und durch gingen.

„Ruhe, verdammt noch mal!“

Jetzt hatte Alex so laut gebrüllt, wie es seine Kräfte hergaben.

Mit betonter Langsamkeit drehte sich Lena auf ihrem Schreibtischstuhl um und schaute währenddessen über ihre Schulter.

„Is was, Dad?“

Auch das noch, stach es in Alexander. Er hasste dieses blöde Wort Dad. Das klassische Papa war ihm einfach am liebsten, aber seit einiger Zeit hatte sich die Große neben einer generell schnoddrigen Ausdrucksweise auf allerlei Englisches verlegt. Da war Dad im Grunde noch völlig harmlos. Kein Wunder, wo doch in fast allen Bereichen deutsche Bezeichnungen ersetzt wurden. Selbstredend auch bei ihm in der Behörde. Wer kein Englisch beherrschte, verstand heutzutage wahrscheinlich die Welt nicht mehr.

Er redete sich innerlich zu, jetzt nicht noch mehr aufzubrausen. Das hier waren doch Kindereien und würden sich mit zunehmendem Alter einfach geben. So wie die Phase der nervenden Warum-Fragerei und vieles andere.

„Ich hatte schon mehrfach um Ruhe gebeten“, sagte Alexander, bemüht sachlich klingend. „Eure unsägliche Musik erfüllt sogar mein Arbeitszimmer und das in einer Lautstärke, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann.“

„Haste das, um Ruhe gebeten?“, erkundigte sich Lena und ließ ihren Fuß lässig vom Stuhl rutschen, während sie die Musik etwas leiser werden ließ. Sie trug ein bauchfreies Oberteil und eine knappe kurze Hose. Das Thema anständige Garderobe wollte Alexander in diesem Moment lieber nicht noch zusätzlich aufs Tapet bringen. Außerdem waren hier alle zu Hause, da konnte man durchaus etwas großzügiger sein, was die Anzugsordnung anging. So würde sie ja wohl hoffentlich nicht in die Schule gehen! Oder würde sie das doch? Alexander zwang sich dazu, die aktuelle Lage konzentriert wahrzunehmen. Ein Problem reichte ja wohl aus ...

Tina hatte inzwischen ihre Blicke mehrfach von ihrer Schwester zu ihrem Vater und wieder zurückgleiten lassen. Die Situation kam ihr brenzlig vor. Mit beiden Händen schob sie sich ihre widerspenstigen Locken hinter die Ohren, die sich gleich wieder verselbstständigten und hervorrutschten.

„Ach, Papa, mach doch keinen Stress. Ich war das. Ich hab Lena gesagt, sie soll mal voll aufdrehen, weil das gerade meine Lieblingssongs sind, und die Musiker erst, die sind ja soooooo süß ...“, log Tina kurz entschlossen wortreich, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann erhob sie sich, lief zu ihrem Vater und umschlang ihn mit beiden Armen.

„Wir wollten dich doch nicht schikanieren. Bist du mir jetzt etwa böse?“, fragte sie und schaute während der Umarmung treuherzig nach oben. Dichte Brauen standen über ihren ausdrucksstarken Augen. War da nicht doch eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm, drängte sich ein hartnäckiger Gedanke in seinen Kopf.

„Ach, natürlich nicht, mein Kleines“, erwiderte Alex.

Er wollte dieses Thema der Vergangenheit wegschieben, das sich immer und immer wieder meldete, wenn es überhaupt nicht passte. Ihm war es ja sogar schon unterlaufen, dass er seiner Jüngsten die ironische Ader als von ihm geerbt untergeschoben hatte. Dabei stand es definitiv fest, dass sie nicht von ihm war, immerhin hatte er es testen lassen. Sicherlich auch noch nicht einmal von seinem ehemaligen Nachbarn Gregor. Aber möglicherweise ging die Liaison seiner Frau Olga in Berlin sehr viel länger, als sie dann zugegeben hatte. Das würde sich nun, nach ihrem Tod, sicher nicht mehr im Detail rekonstruieren lassen. Wozu auch ...?

Aber sei es, wie es sei, grübelte Alexander, sie ist und bleibt jetzt mein Kind. Außerdem hat kein anderer ein Recht darauf eingefordert. Schließlich entscheidet doch in nicht unerheblichem Maße die Erziehung über die Entwicklung und den Werdegang eines Menschen. Punktum! Und dafür sorge ich mit all meinen Kräften!

Alex hatte inzwischen, wenn auch langsam, wieder eine normale Gesichtsfarbe angenommen. Er ging in die Knie und strich seiner Tochter Tina liebevoll über die Haare.

„Und bestimmt hab ich früher auch so laut Musik gehört. Davon können Oma und Opa garantiert ein Lied singen. Ich kann mich nur nicht mehr daran erinnern ...“, lenkte er nachdenklich ein.

„So ist das eben, wenn man alt wird“, zischte Lena von ihrem Platz aus und beobachtete ihren Vater argwöhnisch.

Alexander hatte die provozierende Bemerkung zwar vernommen, ging aber nicht darauf ein.

„Ihr solltet euch mal langsam bettfertig machen“, konstatierte er jetzt mit einem Blick auf die pinkfarbene Wanduhr mit den silbernen Dekoren und den Feen darauf. Das war auch verdammt lange her, dass sich die Große mal genau dieses Exemplar ausgesucht und so lange gequengelt hatte, bis er nachgab und sein Portemonnaie zückte. Und bisher bestand sie erstaunlicherweise noch nicht aufs Ausrangieren ... Alexanders Gedanken schweiften wieder einmal ab.

Lena wollte gerade antworten, aber da fiel ihr die jüngere Schwester rasch ins Wort.

„Machen wir, Papa. Nur noch dieses eine, ganz tolle Lied und dann ist hier wirklich Feierabend. Versprochen.“

Und im selben Augenblick hatte Lena auch schon wieder die Lautstärke bis zum Anschlag hochgefahren.

Alexander schüttelte den Kopf, drehte sich aber um und verließ ohne weitere Kommentare das Kinderzimmer.

Eine Weile später tauchten die Mädchen bei ihrem Vater im Arbeitszimmer auf. Erst die Kleine, die ihn umhalste und sein Gesicht mit zahlreichen Küssen bedeckte. Dann die Große, die abwartete, bis Tina den Raum verlassen hatte, um sich unbeobachtet ebenfalls in Alexanders Arme und auf seinen Schoß sinken zu lassen.

„Ich hab dich ja so lieb“, säuselte Lena und drückte ihren Vater fest an sich.

„Ach, ich dich doch auch, meine Große“, strahlte er mit einem zufriedenen Seufzer und genoss die Situation.

„Mach nicht mehr so lange, Dad“, sagte Lena, wieder ganz erwachsen klingend, als sie sich erhob. „Du brauchst schließlich auch deinen Schlaf. Sonst bist du oft so nörgelig. Das geht ja gar nicht!“

Alexander lachte.

„Stimmt, mein Mädchen. Aber nun ab durch die Mitte. Ich schau nachher noch einmal bei euch rein ...“

Stunden später saß Alexander immer noch an seinem Schreibtisch und machte sich Notizen für den folgenden Tag. Da waren wie üblich ein paar offene Baustellen, die er endlich beenden wollte. Dass dieser Schreibkram aber auch nie ein Ende nahm. Wenn er geahnt hätte, dass die Kripoarbeit aus ganz viel und immer noch zunehmenden bürokratischen Dingen bestand, dann hätte er sich vielleicht doch für einen anderen Beruf entschieden? Alex schüttelte den Kopf. Blödsinn! Das war schon genau der richtige Job für ihn, nur im Fernsehen wurde bei den Krimis immer so getan, als ob es keinen tristen Alltag gab, sondern stets hoch herging. Bei der Autobahnpolizei sausten die Dienstfahrzeuge mit ungeheurer Geschwindigkeit hinter den Verbrechern her, überschlugen sich, und die Beamten stiegen unverletzt aus. In einem Krimi war der Schauspieler der Kommissar und im nächsten der Täter. Und genau deshalb hatte er ab einem Moment keine Folge dieser unzähligen und immer mehr werdenden Serien angeschaut. Wann auch? Alex lachte leise auf und vertiefte sich weiter in seine Arbeit.

Er las das Protokoll aus einer der jüngsten Befragungen in einem schon abgeschlossenen Fall, das Aktenführer Eduard Schiller extra für ihn noch einmal herausgesucht hatte. Mit gerunzelter Stirn zwar, aber ohne Kommentar, schließlich war er an das sture Nachhaken von Alexander gewöhnt. Und manchmal ergab sich tatsächlich ein neuerlicher Ansatz.

Nein, da war doch keine Ungereimtheit drin, stellte Alex fest. Zeitweilig hatte er im Nachhinein ein ungutes Gefühl gehabt, was die Aussagen anging, und musste sich unbedingt noch einmal rückversichern. Also hatte er sich die Unterlagen mit nach Hause genommen, wie so oft. Irgendwo hatte er vor einiger Zeit gelesen, dass die Beamten aller Polizeien 20 Millionen Überstunden angehäuft hatten. Na prima, er hatte seinen gehörigen Beitrag dazu geleistet. Und das hier zählte ja nicht einmal als Überstunden. War eher sein Privatvergnügen ...

Er stand auf, um sich aus dem Kühlschrank etwas zu trinken zu holen, lief dann aber zuerst zum Kinderzimmer, dessen Tür halb offen stand. Vorbei am Kratzbaum mit dem schwarz-weißen Kater Albert im Obergeschoss, der ihn nur aus Augenschlitzen heraus träge musterte, sich aber nicht rührte. Die Nachttischleuchten waren noch an und erzeugten eine gemütliche Atmosphäre, aber beide Mädchen schliefen tief und fest. Alex beugte sich über Lena und dann über Tina und zog jeweils die Bettdecken gerade und strich behutsam darüber. Ein wunderbarer Anblick, dachte er glücklich, und außerdem diese himmlische Ruhe! Dabei entrang sich ihm ein kaum hörbarer Seufzer.

Immer noch mit vorsichtigen Bewegungen, um die Kinder nicht zu wecken, lief er erst zu der einen, dann zur anderen Nachttischlampe und machte beide aus. Zwar hatte er inzwischen durchgehend Energiesparlampen im Haus installiert, auch auf Drängen seiner Töchter, die ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein an den Tag legten, aber dennoch hielt Alex Dunkelheit im Schlaf für gesünder. Dazu hatte er mal irgendwo etwas aufgeschnappt, vielleicht im Magazin seiner Krankenkasse, und der Sachverhalt war von ihm für logisch befunden sowie im Gehirn verankert worden.

Als er ins Arbeitszimmer zurückgekehrt war, griff er sich sein Smartphone, weil er noch eine SMS schreiben wollte, und entdeckte einen Anruf in Abwesenheit: Dennis. Nanu, grübelte Alex, was war denn da so dringend, dass es nicht bis zum nächsten Tag Zeit hatte? Er war schon geneigt, darüber hinwegzugehen, als er doch einen Rückruf startete. Vielleicht war es ja wichtig, man konnte nie wissen. Seine Neugier hätte er sowieso nicht bezwingen können. Die lag mütterlicherseits in der Familie und war außerdem berufsbedingt auf Dauerschleife trainiert.

Alexander hörte zwar sofort jemanden am anderen Ende, aber er konnte die Stimme nicht auf Anhieb zuordnen.

„Dennis, bist du das?“

Es schluchzte lautstark. Das klang aber ganz und gar nicht nach seinem Mitarbeiter.

„Hallo, hier ist Alex. Was ist denn los?“

Kurz grübelte er nach dem Namen. Wie hieß die Frau von Dennis? Dann fiel es ihm ein.

„Jessica?“

„Ja, ich bin’s“, kam endlich eine zaghafte Äußerung.

„Ganz ruhig“, lenkte Alexander beschwichtigend ein. „Ist was mit eurem Kleinen? Oder stimmt irgendwas anderes nicht?“

Obwohl, die zweite Frage wollte er gar nicht gestellt haben. Private Sorgen seines Kollegen wollte er eigentlich nicht wirklich an sich heranlassen, schließlich hatte er genug eigene am Hals. Schon die Andeutungen von Dennis Sommer vor einer Weile erst wieder, dass es da Probleme in der Ehe gab und er Angst habe, in eine Depression zu fallen, hatten ihm ausgereicht.

„Nun rück mal raus mit der Sprache. Warum hast du bei mir angerufen?“

Alexander klang dienstlich.

„Ich, ich ...“

Einen Moment lang herrschte Stille in der Leitung, aber Alex wartete geduldig ab.

„Ich habe einen Abschiedsbrief von Dennis gefunden.“

Jetzt war es heraus.

Alex verschluckte sich und konnte einen Hustenanfall kaum bremsen.

„Was hast du?“, brachte er stockend hervor.

„Eigentlich habe ich schon geschlafen, aber dann hat sich der Junge bemerkbar gemacht, und ich bin munter geworden. Wollte ihn nur kurz stillen und mich dann wieder hinlegen. Aber da war Dennis weg. Das Bett lag so da, wie ich es für ihn aufgeschüttelt hatte. Ich bin durch die Wohnung gelaufen, habe nach meinem Mann gesucht und schließlich auf dem Küchentisch diesen Brief gefunden.“

Wieder hörte Alexander Jessica weinen.

„Und was schreibt Dennis?“, erkundigte er sich schließlich mit möglichst sachlicher Stimme.

„Dass er nicht mehr ein noch aus weiß und sich das Leben nehmen will. Wir hätten keine Schuld, weder die Arbeit noch die Familie, nur er allein ...“

Der Satz ging in ein Weinen über.

Das war heftig, grübelte Alex und versuchte, die Angelegenheit zunächst herunterzuspielen, um Jessica nicht noch weiter zu beunruhigen.

„So ernst wird er das bestimmt nicht gemeint haben ... Hast du eine Ahnung, wo er hin sein könnte? Und hast du mit deinen Eltern schon gesprochen?“

„Die gehen doch immer zeitig ins Bett. Ich traue mich auch gar nicht, bei ihnen anzuklopfen. Mein Vater hat ein schwaches Herz, und meine Mutter regt sich immer gleich auf“, beantwortete Jessica zunächst die zweite Frage, schnaubte sich geräuschvoll die Nase und legte nach.

„Das Auto ist weg, und vorhin lag beim Abendbrot noch ein stabiles Seil auf dem Sideboard im Flur. Da habe ich mich echt gewundert, was das soll, und Dennis gefragt. Er hat nur gemeint, er wolle mit so einem Abschleppseil immer auf Nummer sicher gehen ... und jetzt ist das Teil fort ... Außerdem hat er seinen guten Anzug angezogen. Zum Joggen kann er also nicht unterwegs sein! Ich wusste mir keinen Rat, deshalb habe ich dich angerufen, mir fiel niemand anderes ein, den ich damit jetzt, um diese Zeit, behelligen könnte. Tut mir leid, wenn ich dich geweckt haben sollte ...“

Alexander versuchte nachzudenken, was nun in welcher Reihenfolge zu tun war. Jetzt war Gefahr im Verzug. Er musste unbedingt handeln.

„Kein Problem. Ich war noch munter. Ist völlig richtig, dass du mich gleich angerufen hast. Bleib ganz ruhig, Jessica. Ich klär das schon“, redete er beruhigend auf sie und zugleich auf sich ein, denn er verspürte ebenfalls Panik. Sein Herz schlug schneller.

„Ruf mich bitte sofort an, wenn Dennis wieder auftaucht. Ansonsten melde ich mich bei dir, wenn ich was erreicht habe.“

Dann verabschiedeten sich die beiden voneinander.

Wovon hatte Dennis immer geredet, wenn er meinte, er müsse sich mal auf sich besinnen und sich zurückziehen? Alexander grübelte. Er hatte zwar nicht wirklich zugehört, wenn sein Kollege von seinen depressiven Ausbrüchen erzählte, aber es war trotzdem etwas hängen geblieben. Das Wäldchen, gleich in der Nähe des Anwesens seiner Schwiegereltern, wo er und seine Frau mit dem Kind im Obergeschoss wohnten. Zum einen joggte Dennis dort gern ein Weilchen, um einen freien Kopf zu bekommen, wie er meinte, und zum anderen lief er dort gelegentlich eine Runde mit dem zehnjährigen Dackel seiner Schwiegereltern, um gute Stimmung zu machen.

Und da war auch diese Bemerkung von Dennis wieder, halb im Spaß, halb im Ernst gesagt: „Ich führe da manchmal sogar Selbstgespräche ... Und sollte ich mich mal umbringen wollen, dann wäre das der ideale Ort.“

Genau so hatte er sich geäußert. Wer sagte denn so was?! Dazu hatte er gelacht, ein irgendwie hysterisch klingendes Lachen. Alex schüttelte sich im Nachhinein. Plötzlich bekam alles eine Bedeutung.

Als völligen Blödsinn hatte Alexander das damals abgetan, aber irgendwie war diese Äußerung doch in seiner Erinnerung geblieben. Das Wäldchen. Er musste dorthin und durfte keine Zeit verlieren.

LOVERBOY

Marion griff sich mit der Rechten schwungvoll ihren großen, knallroten Koffer vom Förderband und lief Richtung Ausgang. Über ihrer linken Schulter baumelte die Gucci-Tasche in edlem Braun mit goldenen Teilen verziert, auf dem Nasenrücken saß eine passende Sonnenbrille derselben Marke. Die Männer hatten sich daheim wieder in trauter Dreierrunde auf ihre Paddeltour begeben, und sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Ihr Sohn Torben hatte die Sportbegeisterten noch zum Start der Kanufahrt gebracht, nach Hann. Münden, wenn sie sich recht entsann. Danach wollte er wieder nahtlos zu seinem Praktikumsplatz bei dem großen Energieversorger. Und Annalena, der kleine Nachzügler, war mit einer Freundin an den Dümmer See gefahren, wo deren Eltern ein Grundstück hatten. Sie hatte ja gar kein zweites Kind haben wollen, aber dann entwickelten sich die Dinge anders in ihrem Leben. Nun war die Kleine beider Liebling, wenngleich Karsten in den Anfängen seine Zweifel hatte, die Marion aber wortreich zerstreute. Es war doch eine wunderbare Fügung, dass das Kind so einen eher dunklen Teint und so schönes, fast schwarzes Haar in die Wiege gelegt bekommen hatte ...

Ein Segen aber auch, diese Freundesbande, dachte Marion und schaute sich suchend um. Das blumige, leichte Sommerkleid umspielte ihre schlanke Figur und ließ die langen, glatten Beine wirken, betont noch von den hochhackigen Sandaletten. Ihre zu Hause erworbene Bräune ließ sie fast ein wenig im Menschengewirr der blassen Touristen aus Europa untergehen.

In der Ferne entdeckte sie im Gewimmel einen Mann, der Ähnlichkeit mit Khaled hatte. Seine Bewegungen schienen ihr eindeutig. Aber dann umarmte er eine blonde, ziemlich rundliche Frau und küsste sie intensiv. Das konnte er nicht sein.

Marion rückte die Sonnenbrille zurecht. Hätte sie doch nur auf Augengläser ihrer Stärke bestanden, dann wäre alles einfacher und klar erkennbar gewesen. Zu einer Brille auf Dauer konnte und wollte sie sich nicht durchringen. Für ihren Geschmack standen ihr die Dinger einfach nicht und machten nur alt, nicht etwa intelligent, wie eine ihrer Freundinnen immer behauptete. Und Kontaktlinsen vertrug sie nicht wirklich, da fingen ihre Augen meist ganz rasch an zu tränen, vor allem in geschlossenen Räumen. Alles schon getestet. Aber so, ohne klaren Blick? Schon des Öfteren hatte sie Leute verwechselt, und das eben war garantiert wieder so eine Situation. Ihr Geliebter, ihr Khaled-Schatz, konnte doch an diesem Ort unmöglich mit einer anderen Frau herumturteln. Sie schüttelte ihren Kopf, ließ die Locken fliegen und schritt weiter voran, immer mit suchendem Blick.

Plötzlich spürte sie einen heißen Atem in ihrem Nacken und roch diesen einzigartigen Duft – ein Parfüm, das sie ihm stets als kleine Aufmerksamkeit besorgte. Immerhin sollte er etwas von ihr tragen ... Sie drehte sich schlagartig um und erblickte ihn. Offensichtlich so ähnlich gekleidet wie der Mann von soeben, aber die Herren der Schöpfung sahen hierzulande ohnehin nicht sonderlich verschieden aus, was die Garderobe anging. Außerdem kam Khaled doch nun aus einer ganz anderen Richtung. Er konnte es also nicht gewesen sein. Keinesfalls!

Marion verscheuchte die trüben Gedanken und ließ sich in seine offenen Arme fallen.

„Ach, Liebster, wie ich mich danach gesehnt habe“, stieß sie gurrend hervor und atmete seinen Geruch ein, sog ihn inbrünstig in sich auf.

„Und ich mich erst, meine Mary“, flüsterte er ihr ins Ohr, berührte mit seinen Lippen sanft ihr Ohrläppchen und packte sie fester um die Taille.

„Wir haben fünf lange Tage vor uns. Ich bin ja so glücklich“, sagte jetzt Marion und strahlte über das ganze Gesicht. Ihre Augen funkelten, und die gepflegten, makellosen Zähne leuchteten. Die Lippen hatte sie mit dem Stift noch vor dem Aussteigen aus dem Flieger nachgezogen. Eine hochwertige Marke, die nicht so rasch verschmierte und auch nach einem Kuss noch Bestand hatte.

„Die Zeit werden wir genießen, mein Stern. Ich habe mir von der Arbeit frei genommen. Meine Familie freut sich wie immer auch schon auf dich. Meine Mutter hat gebacken und gekocht. Deine Lieblingsspeisen. Komm, wir wollen uns auf den Weg machen.“

Khaleds Deutsch klang perfekt. Bestimmt übte er auch während ihrer langen Trennungen, um sich dann immer besser mit ihr zu verständigen, überlegte Marion lächelnd. Wobei er ja als Hotelmanager dieser großen Anlage am Mittelmeer auch mehrsprachig gefordert war und ebenso Französisch und Englisch recht passabel beherrschte. Nur zu schade, dass er sie noch nie dorthin mitgenommen hatte. Er wollte seine Zeit immer nur mit ihr verbringen und nicht an die Arbeit erinnert werden, versicherte er ihr stets. Außerdem hätte er so unendlich viele Überstunden und ein eingespieltes Team, auf das er sich verlassen könne.

Galant griff der Mann nach ihrem Koffer, und Marion entrang sich ein tiefer Seufzer. Jetzt hatte sie nur noch die zwar relativ großformatige, aber doch ziemliche leichte, edle Handtasche zu tragen. Im Freien schlug den beiden die Hitze wie eine Wand entgegen. Marion machte das überhaupt nichts aus. Im Gegenteil. Sie liebte diese Temperaturen, die ihr lockere, viel Erotik versprechende Kleidung gestattete. Daheim war es ja viel zu selten möglich, diese Garderobe auch optimal auszuführen. Ewig der kalte, böige Wind, der über die Region fegte, die Frisur zerzauste, und dann häufig Regen.

Zwischen den zahlreichen Autos hindurch führte Khaled seine deutsche Freundin zu seinem Fahrzeug. Ein etwas schäbiger, alter Renault mit zahlreichen Beulen und abgeschabtem Lack. Eigentlich gar nicht würdig für einen Hotelmanager, dachte Marion und erinnerte sich daran, dass Khaled immer beteuerte, wie praktisch gerade dieses Modell sei, wie leicht es zu reparieren wäre und dass es einen kleinen Zusammenstoß nicht übelnehmen würde. Von der Ursprungsfarbe her war es nicht mehr eindeutig zuzuordnen. Ich sollte ihm mal ein neues Auto schenken, fuhr Marion ein Gedanke durch den Kopf, das würde ihn bestimmt freuen. Dabei stieg Vorfreude in ihr auf, was er für ein Gesicht machen würde bei so einem außergewöhnlichen Präsent. Sie strahlte immer noch, als sei diese Mimik in ihrem Gesicht fortan festgemeißelt. Das Lächeln nahm dabei von ihrem gesamten Körper Besitz, der zu leuchten schien.

Khaled öffnete die Haube vom Kofferraum mit einem Ruck und stellte das Gepäckstück hinein, in ein Durcheinander undefinierbarer Dinge: Werkzeug, Stofffetzen, Dosen, Kisten ... Dann lief er zur Beifahrerseite, um Marion beim Einsteigen behilflich zu sein. Als er schließlich hinter dem Lenkrad saß, drehte er sich zur Seite, und beide küssten sich lange und innig, im Hintergrund die Silhouette des Flughafens von Monastir. Um sie herum unzählige Menschen, die kamen und gingen.

Kennengelernt hatten sie sich einige Jahre zuvor, als Marion aufs Geratewohl nach Tunis geflogen war, um sich die Stadt einmal anzuschauen. Ein Singletrip, wie schon zahlreiche zuvor. Lauter Alleinreisende waren damals in der Gruppe unterwegs und merkwürdigerweise fast ausschließlich Frauen. Nur ein längeres Wochenende war vorgesehen.

In der Empfangshalle des großen, noblen Hotels, in dem einige deutsche, aber ansonsten vorrangig englische Touristen abstiegen, hatte sie ihn bemerkt. Unübersehbar hatte er dort auf etwas gewartet.

Er saß in einem der großen, schwarzbraunen Ledersessel, offensichtlich intensiv vertieft in die Tageszeitung. Und dabei ein wunderbarer Anblick, mit einem markanten, filmreifen Gesicht, ideal für die Rolle eines Liebhabers. Marion hatte sich kaum losreißen können, und irgendwann gab es den ersten Blickkontakt. Wenig später hockte Marion auf einem Drehstuhl an der Bar mit einem Aperitif, als sich der Mann zu ihr gesellte.

Seine bronzefarbene Haut hatte es ihr gleich angetan. Ein totaler Gegensatz zu ihrem Gatten Karsten, dessen fahles Aussehen sie oft daran erinnerte, einen Arztbesuch einzuplanen. Nur bei den Ausflügen auf der Weser tankte er etwas Farbe, aber meist war das ein widerliches Rot, und er verbrannte sich schnell, wenn er nicht aufpasste. So manches Mal hatte sie ihm Blasen kühlen und mit Salbe bestreichen müssen ...

Sie hingegen war eine Sonnenanbeterin, nutzte jede nur freie Stunde, um sich auf ihrer Terrasse nackt zu aalen, auf dass ja nur keine weißen Stellen an ihrem Körper als Makel erschienen, und sehr wohl darauf bedacht, auch wirklich keinen winzigen Fleck auszulassen – selbst den Ehering nahm sie vor ihren Bräunungsaktionen ab. Karsten stritt jedes Mal mit ihr, wenn er sie dabei entdeckte, wobei er in seiner Rage die Sache mit dem Ring, die ihn hätte stutzig machen können, nicht einmal bemerkte. Er meinte, die Nachbarn könnten sie so vollkommen unbekleidet und in purer Nacktheit entdecken. Und das wäre doch unschicklich. Von wegen, hatte sie immer triumphiert. Sie müsste sich nicht schämen, sie hätte eine einzigartige Figur. Was Karsten wiederum nicht leugnen konnte. In deren Erhalt landete ja auch ein Teil seines Geldes, unter anderem für einen Personal Coach.

An jenem ersten Abend in Tunis hatte es zwischen Marion und Khaled gefunkt. Die folgenden Tage waren sie unzertrennlich. Er zeigte ihr die Stadt von ihren beeindruckenden Seiten, sie schlenderten durch den Basar, der mit seinen Düften und Farben und außergewöhnlichen Anblicken alle Sinne betörte. Farbenfrohe Stoffe, köstliche Leckereien, einzigartige Schmuckkreationen ... Jeden Wunsch schien er ihr von den Augen ablesen zu können, dabei bestritt er sämtliche Ausgaben aus eigener Tasche.

Einmal ritten sie auf Kamelen in der Wüste, fast in den Sonnenuntergang hinein, und sie wünschte sich, dieser Moment würde nie enden. Das gemächliche Tier unter Marion gab gluckernde Geräusche von sich, wohl das Wasser, das es zur Reserve in seinem Körper hatte, wie Khaled später erklärte. Sie aber ließ sich in dieses faszinierend-unwirkliche Naturschauspiel fallen und genoss jede Sekunde. Später auch die Zärtlichkeiten des Mannes, die er behutsam ausgeweitet hatte, um endlich zu seinem Ziel zu kommen. Aber es war inzwischen ebenso das ihre.

Tunis war lange her. Seitdem aber lebte Marion in dieser glückseligen Wolke und im Grunde immer von Treffen zu Treffen. Sie behauptete Khaled gegenüber, dass sie ihren Mann bei einem Autounfall verloren hätte, was glaubhaft klang. Sein Mitleid währte allerdings nur kurz.

Ihren Mann Karsten schaltete sie mehr oder weniger aus ihrem wirklichen Leben, wie sie es für sich nannte, aus. Selbst seine gelegentlichen Gewaltausbrüche, wenn er zu tief ins Glas geschaut hatte, ertrug sie mit mehr Gelassenheit. Schloss sich einfach in ein Zimmer ein und wartete ab, bis er aufhörte zu randalieren und zu fluchen und irgendwann irgendwo einschlief. Später schien er sich ja nie daran zu erinnern. Jedenfalls tat er stets, als sei überhaupt nichts gewesen. Während es ihre Aufgabe war, die entstandenen Schäden wieder zu beheben. Warum hatte sie sich auch auf diesen Choleriker eingelassen?! Ihre Mutter hatte sie von Anfang an vor ihm gewarnt. Alle wussten schließlich, dass er wegen gefährlicher Körperverletzung schon einmal vor Gericht gestanden hatte und nur durch seinen gewieften Anwalt mit einer Bewährungsstrafe davongekommen war. Aber Liebe machte ja bekanntlich blind. Und so wie Justitia musste sie wohl auf beiden Augen blind gewesen sein ...

Marion riss sich aus ihren Erinnerungen, als Khaled das Auto zielsicher durch den lauten und unübersichtlichen Verkehr steuerte. Keiner schien sich hier an irgendwelche Regeln zu halten. So gerne sie daheim auch selbst am Lenkrad saß, hier verkniff sie sich einen Vorschlag, Khaled einmal abzulösen. Auch wäre es wohl ungebührlich gewesen.

Sie streifte mit ihren Augen irgendwann den Fußraum des Fahrzeugs, ihr fielen seine schäbigen Sandalen auf, die von undefinierbarer Farbe waren. Ein paar neue Schuhe sollten in diesem Urlaub unbedingt drin sein, entschied sie innerlich. Für die Arbeit würde er sich immer vor Ort im Hotel mit der entsprechend hochwertigen Garderobe einkleiden, zu Hause aber würde er die Freiheit genießen, nicht in Schlips und Anzug gehen zu müssen. Eine vertretbare Auffassung, fand Marion, aber ein wenig übertrieb er da mit der Lässigkeit schon.

Inzwischen hatten sie sich auf ein Treffen in Monastir geeinigt, vor allem, weil dort in der Nähe seine Familie zu Hause war. Für jeden hatte sie wieder kleine Geschenke mitgebracht. Für seinen Vater Yasser, die Mutter, die Großmutter und für die Geschwister. Immer nur winzige symbolische Dinge, um das Reisegepäck nicht zu sehr zu belasten, dafür aber in großzügige Euroscheine gewickelt, die unendliche Dankbarkeit und leuchtende Augen erzeugten.

Marion lehnte sich entspannt in ihrem Sitz zurück und träumte schon von der gemeinsamen Teezeremonie in dem gekachelten Raum mit den dicken Teppichen auf dem Boden, jeder im Schneidersitz auf einem Kissen, vor allem aber von dem Danach.

ALKOHOL

Monika trällerte bei dem Lied von Herbert Grönemeyer mit, dessen frühe CD „Bochum“ sie gerade eingelegt hatte, tanzte barfuß durch das große Wohnzimmer und hielt dabei ein noch etwas gefülltes, sehr voluminöses Rotweinglas in der Hand, dessen schwappender Inhalt sich bedrohlich dem Rand näherte. „Sanitäter in der Not“, „Fallschirm“ und „Rettungsboot“ betonte sie lautstark beim Mitsingen, wohl wissend, dass niemand sie im Haus hören konnte. Dann schüttete sie das Getränk in sich hinein und bewegte sich zu der Flasche hin, die auf dem Couchtisch stand. Noch war sie zu einem Drittel voll.

Sie ließ sich auf das Sofa fallen und legte die Füße hoch, dabei schaute sie aus dem überdimensionalen Fenster auf den gepflegten Garten. Am Tag zuvor erst war der Gärtner da gewesen, hatte die Hecke geschnitten, ein paar Büsche in Form gebracht, da und dort Unkraut gejätet, Rindenmulch aufgestreut und den Rasen gemäht. Alles sah perfekt aus, auch die braunen Stellen in den Buchsbäumen waren verschwunden. Sollten sie sich nicht wieder erholen, müssten sie vielleicht ausgetauscht werden, hatte der Gärtner erzählt und auf eine grassierende Krankheit hingewiesen. Es bestand aktuell aber kein weiterer Handlungsbedarf.

Vielleicht sollte sie bei dieser passenden Gelegenheit, wo die Familie außer Haus war, mal das Leergut entsorgen, nahm sie sich vor, hob den Oberkörper, griff zur Flasche und schenkte nach. Ach was, das hatte Zeit. Mindestens eine Woche waren die Männer planmäßig auf der Weser unterwegs. Eine Art Abenteuerurlaub für große Jungs. Martin, Karsten und ihr Gatte Hans-Jürgen. Eine uralte Männerfreundschaft, wie sie nur in Kinder- und Jugendjahren entsteht und gefestigt wird und dabei die Jahrzehnte überdauert. Niemand erwartete von den Frauen, dass sie etwa dabei mitmachten und diesen ganz besonderen Kreis störten. Zumindest nicht bei dieser gemeinsamen sportlichen Aktivität.

„Ihr seid dann doch sicher wieder bei einer eurer Wellness-Aktionen“, hatte Hans-Jürgen beim Abschied gesagt. „Und lass dich von den Mädels nicht wieder zu so viel Alkohol verführen! Du verträgst doch immer nur höchstens ein Glas ...“

Dabei hatte er ihr in die Wange gekniffen. Wenn sie daran dachte, spürte sie den Schmerz immer noch. Pah, Wellness, von wegen. Den Freundinnen Renate und Marion hatte sie erklärt, sie wolle sich um eine alte Tante im Osten kümmern, die eine große Gärtnerei mit Apfelplantage in der Nähe der Sächsischen Schweiz besaß, direkt mit Blick auf die Elbe. Da wäre mal irgendwann eine nicht unbeträchtliche Erbschaft zu erwarten, und so was müsse man eben von Zeit zu Zeit pflegen. Vollstes Einverständnis war da von beiden gekommen. Sie hätten garantiert nicht anders gehandelt. Nur ein paar von den leckeren Äpfeln erbaten sich beide. Das würde kein übermäßiges Problem sein. Biobauern gab es in der ostwestfälischen Region genug. Da würde sie schon ein paar ungewöhnliche Exemplare einer alten Sorte auftreiben, wo nicht einer exakt dem anderen glich, wie im Supermarkt, sondern auch mal eine kleine, schorfige Stelle aufwies, dafür aber im Geschmack unschlagbar war. Vielleicht einen leckeren Boskop. Und für die Tante, die es tatsächlich gab, musste ein längeres Telefonat ausreichen.

Dann hatte sich Monika nur um die Jüngste kümmern müssen, die noch nicht aus dem Haus war. Ein Besuch bei der Oma auf Sylt ging immer. Da gab es überhaupt keine Widerrede. Keiner schöpfte Verdacht. Alles bedurfte nur einer perfekten Organisation. Und das war sowieso Monikas Metier als Mitarbeiterin in einer Eventagentur. Jonas, der Große, studierte inzwischen in London und verbrachte gerade seine Semesterferien in Deutschland bei einem Freund im Süden. München oder Stuttgart. So etwas hatte er jedenfalls gesagt, wenn sie sich recht entsann.

Monika trank auch nicht regelmäßig. Es gab sogar Wochen und Monate, in denen sie jeden Tropfen Alkohol ablehnte, ihn regelrecht verabscheute und sich bei jeder passenden Gelegenheit auch entsprechend abfällig dazu äußerte, von wegen, wie könne man nur, und dafür habe sie ja überhaupt kein Verständnis ... Bis dann dieser Moment nahte, in dem sie gedanklich nicht mehr davon loskam. Dann sah sie überall Wein- und Schnapsflaschen, Reklame von glücklichen, gut aussehenden Menschen in edler oder sportlicher Garderobe, die unbeschwert ihren Sekt zu sich nahmen und mit Schnapsfläschchen in der Hand voller Elan Berge erstürmten. Oder die leckeren Pralinen mit der hochprozentigen, selig machenden Füllung.

Sie bevorratete sich stets sorgsam und wählte den Zeitpunkt gründlich. Bislang war ihr noch niemand auf die Schliche gekommen. Und als Hans-Jürgen mal leere Weinflaschen gefunden hatte, schimpfte sie lautstark auf den Gärtner und die Handwerker, die etwas an den Elektroleitungen repariert hatten. Das erklärte alles, auch die schlampige Arbeitsweise, die Monika immer wieder nachweisen konnte. Und Hans-Jürgen wechselte das Thema, obwohl er nicht glauben mochte, dass die Männer mal eben so nebenher während der Arbeit ausgerechnet Wein tranken. Ein Bier, das hätte er schon verstanden ...

Diesmal standen die Kisten mit den geleerten Flaschen bereits in ihrem Auto. Morgen, ganz bestimmt morgen wollte sie zu einem etwas entfernter gelegenen Container, in der Nähe einiger anonymer Hochhäuser vom Stadtteil Bärenkämpen, fahren und sie dort sortengerecht hineinwerfen. Die perfekte Mülltrennung war ein Muss in der Familie. Egal, wie hoch der Promillestand gestiegen war.

Jetzt aber, nachdem sie den Rest in der Flasche ausgetrunken und kurz in die einsetzende Dämmerung gestiert hatte, lief sie in den Keller und suchte sich aus ihren speziellen Vorräten in einer Ecke, in der sonst mit ziemlicher Sicherheit niemand stöberte, ihren Favoriten hervor. Ihre Bewegungen waren noch relativ koordiniert. Monika hielt eine Flasche ins Licht der Deckenlampe und strahlte bei diesem Anblick. Tja, der Traminer konnte jetzt gut passen. Sie hatte sich entschieden, griff fester zu und machte sich auf den Rückweg. Kurz vor der Treppe entschloss sie sich zur Umkehr. Wie weit würde wohl diese Flasche reichen, um in einen berauschten, erlösenden Schlaf zu fallen? Wenn sie später noch Nachschub benötigte, wollte sie nicht eventuell die steile Treppe hinabfallen. Das war ihr schon einmal passiert, und sie musste sich mit ziemlicher Mühe herausreden, woher denn die vielen blauen Flecke und Abschürfungen kamen, und wieso so etwas geschehen konnte. Also bevorratete sie sich mit zwei weiteren Flaschen und stieg mit den drei Exemplaren aus dem etwas muffig riechenden Raum nach oben.

Dabei machte sich ein boshafter Gedanke in ihr breit: Quartalssäufer. Das war hart. Monika schüttelte sich. So eine Bezeichnung traf doch überhaupt nicht auf sie zu, und außerdem teilte man Trinker in derartige Kategorien, wie solche, die sich in Abständen ihre speziellen, heftigen Trinkzeiten nahmen oder jene, die stets im Alltag ihren Pegel beibehalten mussten, gar nicht mehr ein. Sie hatte sich mal dazu im Internet schlaugemacht. Nicht etwa aus eigener Betroffenheit, sondern eher aus allgemeinem Interesse. Anschließend hatte sie jede Menge anderer Seiten aufgerufen – zur Mode, zum Trend, zum Garten, zum Essen, zum Reisen –, um die Spur zur Alkoholseite in den Hintergrund rücken zu lassen. Und wenn Hans-Jürgen doch einmal fündig werden würde, dann hatte sie auch dafür schon eine Entgegnung parat. Dass sie nämlich eigentlich für ein spezielles Kuchenrezept nach einer Schnapssorte hatte suchen wollen und urplötzlich doch auf so einer abwegigen Seite gelandet sei – ha, ha. Selbst ihr unverfängliches Lachen hatte sie dafür schon drauf und mal kurz trainiert. Man konnte ja nie wissen und musste für alles gewappnet sein.

Irgendwann in diesen Tagen klingelte das Telefon. Die Mutter von Cornelia war dran. Die Familien gehörten denselben Clubs und Vereinen an, die Frauen spielten gelegentlich Bridge miteinander. Zeitweilig hatte es sogar so ausgesehen, als könne es etwas mit einer familiären Verbindung werden. Die Kinder waren eine ziemlich lange Zeit auf der Schule miteinander gegangen und hatten sich eines Tages sogar verlobt. Etwas altmodisch, wie Monika gefunden hatte. Aber warum nicht. Sogar eine richtige Feier hatten die beiden ziemlich eigenständig in die Wege geleitet und organisiert: Cornelia und Jonas. Selbst in der Tageszeitung hatten sie das Ereignis inseriert. Mit großem Brimborium, also alles in allem. Hundert Gäste waren es bestimmt, wenn nicht noch mehr.

Monika hatte bei jener Feier irgendwann das Zählen aufgegeben und nur für immer mehr Nachschub an Essen und Getränken gesorgt, weil sie sich natürlich als Hausherrin und Mutter verantwortlich fühlte. Wobei ja eigentlich die Eltern der künftigen Braut für solche Aktionen zuständig waren; oder irrte sie sich da? Egal, als Jonas sie darum gebeten hatte, hatte sie keinen Augenblick gezögert und sofort zugesagt, alles zu managen. Sich selbst gestattete sie keinen Tropfen Alkohol, sonst wäre alles vielleicht in einem Fiasko geendet. Das musste sie vermeiden, auch um den guten Ruf der Familie zu wahren.

Eine Weile lief dann in der Beziehung der beiden Verlobten alles gut. Mal nächtigten sie bei ihnen, mal bei den Eltern des Mädchens. Doch irgendeines Tages hatte sie ihren Sohn Jonas heulend in seinem Zimmer vorgefunden und nach langem Bohren herausbekommen, dass sich seine Cornelia entlobt und nahtlos mit seinem besten Freund Matthes zusammengetan hatte.

„Hast du was von den Kindern gehört?“, erkundigte sich Maren, und ihre Stimme klang besorgt.

Monika riss sich zusammen, um artikuliert zu sprechen. Eine Flasche Wein hatte sie zu dem Zeitpunkt schon geleert und die zweite des Tages gerade entkorkt.

„Wieso? Ich denke, die machen mit der Clique ihren Abenteuerurlaub und wollten da auch mal völlig auf Technik verzichten. Sich gewissermaßen entschleunigen, wie das heute so schön heißt. Was ich für eine unheimlich gute Idee halte. Das sollten mal mehr Leute tun ...“

Die Sache mit den Ferien ihres Sohnes in Süddeutschland hatte sie gerade verdrängt. Beim Wort Technik stolperte ihre Zunge, und sie hüstelte.

„Bist du erkältet? Du klingst so komisch!“, wollte Maren jetzt wissen.

„Kann sein. Vielleicht habe ich mir einen Virus eingefangen“, meinte Monika und hoffte, das Gespräch würde bald beendet sein.

„Du glaubst also, wir sollten uns keine Sorgen machen?“, fragte Maren, nun schon etwas entspannter.

„Ach was, die Truppe wird sich schlichtweg amüsieren und nicht im Traum daran denken, ihren alten Eltern eine Nachricht zu schicken. Gönnen wir ihnen doch den Spaß. Wir waren schließlich auch mal jung!“, entgegnete Monika, mit einem Schlag ziemlich nüchtern. Wobei es ihr vollkommen egal war, ob sich dieses Biest Cornelia amüsierte oder nicht. Sie verstand sowieso nicht, warum ihr Sohn Jonas immer noch zu Matthes hielt – nach dem Vertrauensbruch in der Freundschaft. Außerdem begegnete er auf diese Art und Weise immer wieder seiner einstigen Angebeteten, die kurze Zeit später sogar eine zweite Verlobung – nun eben mit Matthes – durchzog. Da verstehe noch einer die jungen Leute! Man verlobte sich doch nicht so mir nichts, dir nichts heute mit diesem und morgen mit jenem. Das war fast schon inflationär.

„Alles klar“, ging Maren zum Ende des Gespräches über. „Dann wünsche ich dir einfach gute Besserung. Kannst dich ja momentan nicht mal richtig verwöhnen lassen, wenn ich das korrekt in Erinnerung habe. Sind eure Männer nicht mit den Booten unterwegs?“

„Genau. Alle Welt macht Urlaub!“

„Tschüss also und nochmals gute Besserung!“

„Danke ...“

Dir auch, hatte Monika noch nachsetzen wollen, aber im richtigen Augenblick die Taste zum Beenden des Gespräches gedrückt.

TAPETENWECHSEL

Die letzte Renovierung lag schon fast zwei Jahre zurück. Renate hatte sich bereits seit Monaten unwohl gefühlt, nachdem sie erste Gebrauchsspuren an einer Wand entdeckt hatte. Irgendjemand aus der Familie musste eine Mücke oder ein anderes Insekt an der Flurwand erschlagen haben. Und dann vielleicht eine Spur von Schimmel in einigen Ecken. Sie hatte nicht nur ein Auge, sondern auch eine Nase dafür. Außerdem war sie eine langfristige Organisatorin und Planerin, wie Martin immer meinte – in allen Dingen des Lebens.

Die einstige Ausbildung als Hauswirtschafterin hatte Spuren hinterlassen und sie sehr geprägt, selbst wenn sie nicht sonderlich stolz darauf war. Aber zu ihrer Zeit war die Sache mit dem Abitur und einem anschließenden Studium eben noch nicht für so viele angesagt, und bei ihren Eltern schon gar nicht.

„Wenn du mal heiratest, brauchst du den ganzen Schwindel nicht“, hatte sie noch ihren Vater im Hinterkopf. Damit war der Wunsch nach einer weiteren Ausbildung auch abgetan. Was sollte sie ihre Zeit mit Lernen vertrödeln?!

Ganz so abwegig war die Sache mit dem Zuviel an Feuchtigkeit in dieser Gegend nicht. Es regnete meist reichlich, und der fette, schwere Boden nahm die Nässe zwar auf, behielt sie aber auch bei sich. Gelegentlich verwandelten sich die Wiesen in ausgedehnte Seenlandschaften, und die Wege dazwischen waren kaum noch begehbar. Nicht nur Altbauten hatten mit den Auswirkungen zu kämpfen, auch in neuen Häusern schlich sich rasch die Feuchtigkeit ein. Da konnte man tun, was man wollte: isolieren, dämmen, lüften ...