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Action im Gartenidyll! Kompost versus Komplott. Helen sucht ihr Heil im Garten, Berta will die Weltwirtschaft vom Übel befreien. In diesem top-aktuellen Roman prallen zwei moderne Weltbilder aufeinander, plus eine Wiener Familiengeschichte. Hände hoch, Geld oder Umwelt? Lachen erlaubt, Grübeln auch. Helen Cerny lebt zurückgezogen in ihrem Stadthaus und widmet ihr Leben dem liebevoll angelegten Garten und ihrer Komposttoilette. Das aktuelle Weltgeschehen interessiert sie nicht mehr, bis - ihr gegenüber eine neue Nachbarin einzieht. Berta ist das genaue Gegenteil von Helen, sie will die Welt durch Taten und Aktionen verändern. Bald dringen irritierende Schlagzeilen ins Gartenidyll, ein Waffenlobbyist erleidet einen Jagdunfall, Pensionsvorsorgefonds werden gehackt, die Aufregung nimmt schier kein Ende. Der ganz große Knall kommt, als Helens Freundin Toni zu einem alternativen Sommerfestival im Garten einlädt ... Parallel zum Geschehen in der Gegenwart erzählt Nadja Bucher Helens Familiengeschichte. Eine Generation folgt der nächsten und trägt doch immer schwere Rucksäcke mit den Altlasten der vorigen mit sich. Einmal mehr bewahrheitet sich die ewige Gewissheit: Alles ist anders, als man denkt.
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Seitenzahl: 581
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NADJA BUCHERlebt in Wien. Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Wien und Sussex/UK. Poetryslammerin, performt Kurzgeschichten mit starken dramatischen Einschlägen, war »Mademoiselle Bücher« bei der Satire-Show Dienstag nach Vorschrift im Theater Forum Schwechat und Mitglied der Lesebühne Dogma. Chronik.Arschtritt. gemeinsam mit Markus Köhle und Mieze Medusa. Wurde für ihren Debütroman Rosa gegen den Dreck der Welt mit der Autorenprämie 2011 vom BMUKK ausgezeichnet. Erhielt 2011 das Startstipendium für Literatur.
Nadja Bucher
Roman
Alle Schlagzeilen (außer den von der Autorin hinzugefügten) sindDer Standard online von November 2011 bis November 2012 entnommen.
Familienverzeichnis
VERHÖRPROTOKOLL, ANTONIA STRABECK, 24. JULI 2012:
1915
FORTSETZUNG VERHÖRPROTOKOLL, 24. JULI 2012
1930
FORTSETZUNG VERHÖRPROTOKOLL, 24. JULI 2012
1939
1944
FORTSETZUNG VERHÖRPROTOKOLL, 24. JULI 2012
1945
FORTSETZUNG VERHÖRPROTOKOLL, 24. JULI 2012
FORTSETZUNG VERHÖRPROTOKOLL, 24. JULI 2012
1945
FORTSETZUNG VERHÖRPROTOKOLL, 24. JULI 2012
1955
FORTSETZUNG VERHÖRPROTOKOLL, 24. JULI 2012
1965
1970
1975
FORTSETZUNG VERHÖRPROTOKOLL, 24. JULI 2012
1980
1985
FORTSETZUNG VERHÖRPROTOKOLL, 24. JULI 2012
1987
Leo
1998
FORTSETZUNG VERHÖRPROTOKOLL, 24. JULI 2012
2005
2006
2010
Epilog
2012
Nadja Bucher bei Milena
Nadja Bucher bei Milena
+++ Bildung einer Übergangsregierung in Griechenland +++ Skandal um Schmiergeld bei Waffenkauf +++ Klage wegen Vergewaltigung gegen Ex-IWF-Chef trotz Geldangebot nicht zurückgezogen +++ Drastischer Sparkurs in Frankreich +++ Italiens Minister-präsident tritt zurück +++ UniCredit schreibt zehn Milliarden Euro Verlust +++
5.11.
Die langweiligen Bewohner von gegenüber sind weg. Ausgezogen. Das lächerliche Fensterbild klebt noch an der Scheibe. Schaue (fast) den ganzen Tag aus dem Fenster – und merke nichts vom Auszug? Wann haben die gepackt? Wo waren die Umzugskartons? Wo der Übersiedlungstransporter? Müssen sich einfach geschlichen haben, unauffällig wie sie waren.
Die leere Wohnung schaut sympathisch aus. Harmlos. Unschuldig. Bietet Raum für Spekulationen: Wann kommen neue Mieter? Wie werden sie sein? Wieder Leute, die beim Einsetzen der Dämmerung die Jalousien runterlassen, als hätten sie was zu verbergen in ihrem Vater-Mutter-Kind-Leben? Die Wohnung liegt schräg gegenüber, etwas tiefer als meine, wie ein Puppentheater, auf dem alles spiel- und denkbar ist. Beinahe aufregend.
Toni hat heute Morgen einen ansehnlichen Haufen Tannenreisig in die Einfahrt gelegt. Obenauf eine Karte: »Von der Wiener Stadtgärtnerei«. Decke damit Zuckerhut, Brokkoli und Endivien zu. Die ersten Frostnächte sind im Anmarsch. Passend dazu kommt am Nachmittag die Holzlieferung. Staple einen Kubikmeter Buchenscheiter in meinen Geräteraum. Nehme einen vollen Korb nach oben.
Toni schaut abends vorbei. Essen Palatschinken mit Karfiolfüllung. Bedanke mich für das Reisig. Heizen Ofen an. Freue mich über neue Asche für meine Toilette.
8.11.
Knacken heute Vormittag die Früchte meines alten Herrn, des Nussbaums. Anstrengend. Muss fünfmal zum Kompost gehen, bis alle Schalen entfernt sind g müssen in tiefere Schichten eingearbeitet werden, sonst dauert die Zersetzung zu lange. Toni verzieht sich währenddessen in ihre Wohnung und kommt gegen zwei mit einer Apfel-Zeller-Suppe vorbei. Lässt nichts zu wünschen übrig. Als Nachtisch gibt es Nussbeugerl. Unsere Walnüsse sind aromatisch und fettig, freue mich auf kommende Nussnudeln, Nussstrudel, Kekse und mehr aus Tonis Backstube. Der alte Herr steht nun abgeerntet mit braunen Blättern im Garten g nichtsdestoweniger majestätisch.
Höre am Nachmittag »Tonspuren«, später »Dimensionen«. Lese dazwischen. Verdauung beinahe tadellos: wurstartig geformt, mit Furchen.
10.11.
Die Räume drüben sind noch immer leer. Wie ein Vogelnest, das auf den Frühling und neue Bewohner wartet. Oder warte nur ich?
Kontrolliere Lageräpfel im Geräteraum. Verkoche weiche Äpfel zu Mus und Kompott. Wohnung duftet herrlich nach Zimt, Gewürznelken und Sternanis. Als Toni zum Mittagessen mit Rotkraut und Erdäpfelknödeln ankommt, steigt heimeliger Schimmer in ihre Pupillen.
»Wir kochen Kerzen ein«, beschließt sie. »Darf ich ein paar von der Gruppe einladen?«, fragt sie, obwohl sie meine Antwort genau kennt: auf keinen Fall! Toni kann es nur darauf ankommen, mich aus der Reserve zu locken. Sie hat nach dem Essen zwei Kundinnen, danach machen wir uns über ihre (unzähligen) Kerzenreste her. Schmelzen sie ein, reinigen das flüssige Wachs, fügen getrocknete Rosenblätter von meinen Stöcken bei, gießen es in Kuchen- und Muffinsbackformen, bringen Dochte an und lassen sie am Fensterbrett zu Kerzen auskühlen. Jetzt riecht es hier endgültig wie auf dem Weihnachtsmarkt. Ein weiterer Grund, nicht rauszugehen.
11.11.
Entferne am Vormittag neben dem Komposthaufen die Grasnarbe bis zur Sandschicht. Hebe Sand aus und schütte ihn im Geräteraum auf. Lege geerntete Karotten, Rote Rüben, Zeller und Fenchel darauf, schlage sie in Sand ein, befeuchte das Ganze. Sollte bis Ende Jänner halten.
Bringe getrocknete Kräuter aus dem Klohäuschen und Kürbis aus der Vorratskammer für das Mittagessen nach oben und verwandle beides zu Kräuterkürbis. Toni bringt Weißbrot mit. Wir essen relativ wortlos. Frage Toni, was los sei. Sie sagt, sie mache sich Sorgen um mich. Zwei Jahre seien schon um und sie frage sich, wie lange ich mich noch einschließen werde. Erkläre ihr, mich nicht einzuschließen. Ganz im Gegenteil, bin mit meinem Körper, meinem Kot, meinem Garten ganz in den Kreislauf des Lebens eingebunden. (Muss das so formulieren, damit Toni es »annehmen kann.«) Sie nickt und meint: »Okay, ich weiß, ich darf nicht ungeduldig sein.« Da sie diese Selbstermahnung bei jeder Gelegenheit mantragleich wiederholt, ist längst klar: Sie ist ein äußerst ungeduldiger Mensch.
Am Nachmittag: Schichte Äste von ausgelichtetem Apfel- und Kirschbaum in die ausgehobene Grube neben dem Kompost. Mähe ein Viertel der Blumenwiese mit der Sense. Streue Schnitt über Äste. Dann kommt umgedrehte Grasnarbe darauf. Vergrabe meinen Goldtopf diesmal nicht unter dem Blumenfeld, sondern entleere ihn über der Mitte. Meine humane Erde ist wunderbar trocken und kleinteilig. Beginne zu sinnieren: Wir sind alle die gleichen Scheißer, doch der Meinung, jeder mache besondere Haufen. Am schlimmsten sind die, die den Anschein erwecken wollen, sie würden überhaupt nicht scheißen. Welch gänzlich asoziale, unmenschliche Lebewesen.
14.11.
Wohnung gegenüber weiterhin leerstehend. Wie lange wird das noch so sein? Und wie wird sie sich nach dem Neubezug verändern? Die Räume schauen zu mir herüber (eigentlich schaue ich, aber es kommt mir umgekehrt vor), als würde alles möglich sein:
Eine Familie könnte einziehen. Sie würden ein Zimmer mit Blau, Rosa, Gelb zum Kinderzimmer ausmalen, das andere Zimmer zum Wohn-Schlafraum der Eltern machen. Würde die Familie beim Frühstück-, Mittag- und Abendessen beobachten können. Sähe das Kind krank im Bett liegen oder vor dem Fernseher hocken. Ein Single könnte einziehen. Hometrainer und Fernsehcouch würden ins Wohnzimmer gestellt werden. Hinter dem abgedunkelten Schlafzimmer träfe wechselnder Frauenbesuch ein, der am Tag danach von mir begutachtet würde.
Die Wohnung gegenüber dient mir als unentgeltliche Peep-Show, erlaubt mir grenzenlose Mutmaßungen. Ist das Ausdruck meiner Langeweile oder meiner Begabung, mich in Kleinigkeiten zu verlieren?
Reche Laub unter Obstbäumen zusammen → lasse dünne Laubschicht auf Wiese zurück als wärmende Hülle und zwecks Rascheleffekts beim Drübergehen. Verteile verrotteten Kompost auf abgeerntete Beete. Nur mehr in zwei Beeten ist Wintergemüse, Lollo Rosso und Batavia unter Reisig, der Rest lagert in Vorratskammer. Binde Tannenzweige um Rosensträucher. Schneide Salbei und Thymian ab, binde sie zu Sträußen und hänge sie zum Trocknen ins Klohäuschen. Grabe Kräuterballen aus und setzte sie in Töpfe. Stelle sie zu mir auf das Küchenfenster.
Zu Mittag bringt Toni warmen Apfelstrudel und einen Korb Brennholz aus der Gerätekammer mit. Heizen schon um zwei ein, um es gemütlich zu haben → Nebeneffekt: Aufstockung des Aschevorrats für das Humusklo.
Den Abend verbringt Toni mit ihrer Altengruppe → FKK in Oberlaa. Sie fragt selbstverständlich, ob ich mitkommen will. Weshalb sollte ich mir den Anblick von nackten Alten antun? Toni fragt sicherlich nur aus Freude an bösartigem Spaß, als reine Provokation. Bleibe zuhause und höre Radio, ein Feature über Biodiversität in der Stadt. Bin müde von der Gartenarbeit, gehe früh schlafen.
15.11.
»Sie waren glücklich wie Kinder im Planschbecken.« So Tonis Resümee zum gestrigen Badeausflug. »Mit der Zeit haben sich die jüngeren Badegäste an unseren Anblick gewöhnt. Sie waren sogar erleichtert, alte Menschen zu beobachten. Die haben gespürt, dass auch sie in dreißig, vierzig Jahren so aussehen und dass sie dann froh sein werden, noch baden und ihren Körper im Wasser erleben zu können.«
»Die waren einfach erleichtert, dass deine Alten nicht inkontinent sind. Die Leute ekeln sich doch beim Anblick von Ausscheidungen. Außerdem sind Urin und Kot im Chlorwasser ja wirklich nutzlos.« Muss so etwas sagen, damit Toni nicht gänzlich in ihre Wohlfühlwelt abdriftet. Sie lacht auf meinen bissigen Kommentar und stachelt zurück, ich hätte wohl auch Probleme mit den untrüglichen Zeichen der Menschlichkeit, dem Verfall des Körpers. Weshalb sonst sollte ich ihre Altengruppe derartig meiden?
»Meine Liebe, wie du weißt, konfrontiere ich mich sehr wohl und zwar inständig mit meiner eigenen Sterblichkeit. Täglich verlässt mich ein Teil meines Körpers in Form von abgestorbenen Zellen und Verdauungsenzymen. Ich brauche deine Alten nicht, um zu wissen, dass mein Kot, wie dereinst mein toter Körper, nur dazu dient, die Erde fruchtbar zu halten.« Toni lächelt mich an. »Du mich auch, Schätzchen«, sagt sie, »irgendwann krieg ich dich schon raus aus deinem Schneckenhaus.« Kann mich nicht zurückhalten und muss erwidern: »Mein Schneckenhaus hat drei Stockwerke, einen großen Garten, bietet alles, was ich zum Leben brauche und steht im 8. Bezirk in der Lerchengasse.« Worauf Toni laut schnauft und das Gespräch beendet mit: »Du meine Güte, dann sperr dich eben ein. Ich wollte dir nur sagen, dass du was verpasst hast und es dir im Schwimmbad gefallen hätte, aber dann halt nicht, okay. Ich werde dich nie wieder fragen, hab’s verstanden. Ende und Themenwechsel.« Tonis gute Laune bleibt natürlich trotzdem ungebrochen. Nach dem Essen (Kohl mit Erdäpfeln und Spiegelei) geht sie in ihre Praxis.
Sitze im Garten und atme den frischen Duft von kalter Luft, Hausbrand, Herbstmoder und schläfriger Brache ein. Das Sonnenlicht, das schräg in den Hof fällt, ist noch warm und weich, aber kaum verschwindet es, zieht Frost aus der Erde hoch. Die Stadtgeräusche außerhalb des Hofs werden langsamer, genau wie die Rufe der Spatzen aus dem Holunderstrauch. In meinem Klo-Häuschen ist Restwärme zwischen den getrockneten Kräutern gespeichert, aber bald werde ich im dicken Mantel kacken müssen, weil Winter durch die Holzbretter fährt.
Drüben nichts Neues: Wohnung leer, dunkel, ein Möglichkeitsraum.
+++ Ausscheiden der Griechen aus dem Euro? +++ Ex-Innenminister unter Korruptionsverdacht +++ Wirtschaftswachstum für 2012 in EU minus 0,5 Prozent +++ außergerichtliche Einigung im Vergewaltigungsprozess von Ex-IWF-Chef fallen gelassen – Anklage wegen Zuhälterei aufrecht +++ 600 Milliarden Euro für Italien +++
(Zeichenerklärung:
–
Gedankenpause
...
Zögern / Unsicherheit
[...]
Frage des ermittelnden Staatsanwalts)
Mein Name ist Antonia Strabeck. Ich bin 30. Shiatsu-Therapeutin und Trauerund Sterbebegleiterin. Ehrenamtlich leite ich eine Seniorengruppe. Wohnhaft in 1080 Wien, Lerchengasse 19, Tür 2.
[...] Meine Beziehung zu Helen Cerny? – Geht’s also um sie, oder was? Das ganze Theater wegen Helen? Das kann nicht Ihr Ernst sein, oder? Sie haben diese Wahnsinnsaktion wegen Helen gestartet? Was soll das? Was wollen Sie von ihr?
[...] Okay, okay, hab verstanden, keine Sorge, ich kooperiere mit Ihnen, ich beantworte ja Ihre Fragen. Aber verwunderlich ist das Ganze schon, etwas überdimensioniert, wenn Sie mich fragen.
[...] Ja, gut, also ... meine Beziehung zu Helen? – Kann als beste Freundin, Aufpasserin oder Unterhalterin bezeichnet werden. [...] In der Wohnung neben ihr, seit bald drei Jahren. Ich seh sie fast täglich, kümmere mich um sie. Also – ich versuche es zumindest. [...] Kennen tu ich sie seit der Volksschule.
[...] Nein, meistens bleibt sie zuhause. Ich kann sie nur selten, eigentlich so gut wie nie nach draußen locken. [...] An die frische Luft geht sie schon. Sie ist jeden Tag in ihrem Garten. Aber das Haus verlässt sie nicht. [...] Sie sagt, die Welt da draußen interessiere sie nicht, außerdem habe sie alles, was sie benötigt. In Wahrheit ist das Problemfeld natürlich etwas komplexer. [...] Ich erledige ihre Einkäufe. Es handelt sich nur um Kleinigkeiten. Obst und Gemüse baut sie im Garten an, da ist sie ziemlich autark. Alle zusätzlichen Nahrungsmittel und so was wie Bücher und Brennholz besorge ich. Also an materiellen Dingen hat sie alles, was sie braucht.
[...] Das wollen Sie wissen? Sind Sie sicher? Na ja ... ufff ... die Erklärung würde lange dauern. [...] Okay, also, Helen hat da so ihre eigene Philosophie, würd ich sagen. Sie ist jetzt keine Menschenhasserin in dem Sinn. Sie hat eher so eine leichte Verachtung parat, gemischt mit dem Wunsch im menschlichen Auf und Ab nicht mitmachen zu müssen. Was bei ihren bisherigen Erfahrungen nicht weiter verwundert. Aber völlig wurscht ist ihr das Außenleben auch wieder nicht. Also, sie liest viel, hört Radio, surft im Internet und von mir erfährt sie, was sich rund um ihr Haus so tut. Helen schaut nicht den ganzen Tag gegen die weiße Wand, so dürfen Sie sich das nicht vorstellen. Sie nimmt schon am Geschehen teil. Aber mit Abstand. Verstehen Sie?
[...] Tagesablauf? – normal, würd ich sagen. Aufstehen, duschen, frühstücken ... na ja, da gibt’s was, das wird für Sie absonderlich klingen. Helen hat eine Komposttoilette im Garten – die ist quasi Hauptbestandteil ihrer Philosophie. Sie wissen, was das ist? [...] Genau, man trennt Kot von Urin, und gewinnt dadurch nach einiger Zeit Humus. Perfekten Dünger. Das ist Helen sehr wichtig. Eigentlich ist das das Einzige, was ihr wichtig ist.
[...] Nein, einer geregelten Erwerbsarbeit, wie Sie das nennen, geht sie nicht nach. Ihr gehört ja das Haus, sie lebt von den Mieteinnahmen. [...] Na ja, sie ist die meiste Zeit in ihrer Wohnung oder sie arbeitet im Garten. Hauptberuflich macht sie Scheiße, würde Helen sagen.
+++ 66,9 Millionen Überstunden in Österreich nicht abgegolten +++ weitere Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs gegen Ex-IWF-Chef erhoben +++ Millionäre könnten Griechenland retten +++ 2011 wurden 1,7 Billionen US-Dollar für Rüstung ausgegeben +++ 25 Millionen Menschen in der EU ohne Job +++
Magda Wegmayer gingen im Alter von sechs Jahren, während sie die Hand ihrer Mutter Magdalena hielt, die Augen auf. Obwohl sie in diesem Moment gar nicht viel sehen konnte. Sie stand inmitten einer jubelnden Menge, in der sich außer Hintern, Anzugschößen, Mänteln und Damenhandtaschen nicht viel auf ihrer Augenhöhe tat. Manchmal sah sie zu ihrer Mutter hinauf, die sich auf die Zehenspitzen stellte, um über die Köpfe vor ihr zu schauen. Magdalena Wegmayer wollte den Augenblick nicht versäumen, da Kaiser Franz Joseph I. in seinem offenen Landauer vorbeifahren würde. Sie wollte anlässlich seines 85. Geburtstags bei ihm sein. Dieses historische Zusammentreffen würde bald eintreten, das konnte Magdalena spüren. Freudige Anspannung lag in der Luft, ausgesandt von fiebernden Menschen, die ihrem Kaiser auch in schweren Kriegszeiten – oder jetzt erst recht – bedingungslosen Rückhalt und Treue schenkten. Gleich werde er kommen, versicherte Magdalena Wegmayer ihrer Tochter. »Jetzt kann’s nicht mehr lang dauern, ich glaub, dort vorn seh ich ihn schon.«
Magda hatte diese plumpe Vertröstung am heutigen Tag bereits mehrmals vernommen und als schlichtweg falsche Prophezeiung eingestuft. Sie nahm die Aufregung ihrer Mutter wahr und ernst, konnte sie allerdings nach Ablauf einer zweistündigen Wartefrist nicht mehr nachvollziehen. Inmitten von Rückenansichten erkannte sie, dass das Erscheinen des ergrauten, backenbärtigen Kaisers, egal ob jetzt, in drei Stunden oder gar nicht, keine Auswirkung auf ihr zukünftiges Leben haben würde. Abgesehen davon, dass sie nachhause gehen könnte, sobald er vorbeigefahren war.
An der Hand ihrer Mutter gewann Magda eine weitere Erkenntnis. Es musste zu den Grundeigenschaften von Männern gehören, abwesend zu sein und andere auf sich warten zu lassen. Für diese Einsicht zog Magda im Alter von sechs Jahren eine Parallele zwischen dem alten Kaiser und dem Mann, an den sie sich als Schatten erinnern konnte. Ein Schatten, der, an den Türrahmen gelehnt, Pfeife geraucht hatte. Magdalena Wegmayer behauptete, dieser Schatten sei ihr Gatte und Magdas Vater gewesen. Aber für Magda war er eine offene Uniformjacke im Gegenlicht, und stinkender Pfeifenrauch. Eine Erinnerung, die zunehmend vager wurde, und von der ihr nur noch beißender Tabakgeruch in der Nase hing. Außer diesem Gestank verband Magda mit Familie noch ihre große Schwester Frieda, ihren Bruder Max, ihre Mutter, die zwei kleinen Geschwister und Oma und Opa. Diese sieben Personen waren schon immer um sie gewesen. Der rauchende Schatten in Uniform war vor einer Ewigkeit von über einem Jahr verschwunden und sollte nicht wiederkommen.
Was Magda anstiftete, die Augen zu öffnen und weitere Gedankenschritte zu setzen, war das widersprüchliche Verhalten ihrer Mutter.
Magdalena Wegmayer war vierzig Jahre alt, hatte schneeweißes Haar und sah so alt aus, dass Magda die Entstehungsgeschichte um ihre uneheliche Schwester Frieda nicht glauben konnte. Denn ihre Mutter sollte einmal dichtes schwarzes Haar am eigenen Kopf getragen haben, dafür kinderlos und jung gewesen sein. Alles Dinge, die Magdas scharfer Verstand anzweifelte. Schließlich bedingte diese Vorstellung, dass es eine Zeit vor ihr und ihren Geschwistern gegeben hatte, eine Zeit, lange bevor der Pfeife rauchende Mann in Uniform verschwand, ja noch bevor er überhaupt in das Leben ihrer Mutter getreten war. In diesen unerdenklichen Zeiten sollte Magdas Mutter noch Waschek geheißen haben und ein schönes Mädchen gewesen sein. Schön, aber vor allem arm. So arm wie ihre Eltern, die ihrerseits auch von armen Eltern abstammten.
Magdalena Waschek wurde mit kindlichen zwölf Jahren in den Dienst zu Herrschaften geschickt. Damit fiel sie ihrer Familie nicht mehr zur Last. In ihrer Anstellung als Hausmädchen verdiente sie ein Bett in einer schäbigen Kammer, die sie mit drei anderen Mädchen teilte, Arbeitskleidung und einmal im Jahr ein neues Paar Schuhe. Zweimal täglich eine warme Mahlzeit obendrein. Magdalena Waschek hatte es mit ihrer Anstellung gut getroffen. Sie sprach ihren Dienstgeber mit »Herr Graf« an, machte dabei einen Knicks und schaute zu Boden. »Wennst immer das tust, was der Herr dir anschafft, kommst gut durch«, lautete der erste Ratschlag ihrer Zimmerkollegin. Aber Magdalena kam nicht lange gut durch. Denn der Herr Graf hatte nicht nur demütige Knickse und schüchterne Blicke bei seinen Dienstboten gern, sondern auch langes schwarzes Haar an hübschen Mädchen. Außerdem bevorzugte er außerehelichen, aber innerhäuslichen Geschlechtsverkehr. Seine Hände erreichten Magdalena im Korridor, schlangen sich fest um ihren Dienstmädchenkörper, drängten sie in sein Arbeitszimmer. Nachdem Magdalena einige Monate mit den innigen Umarmungen des Herrn Grafen gut durchgekommen war, gehörte sie plötzlich nicht mehr zum innerhäuslichen Inventar und musste gehen. Denn ihr gewölbter Bauch war eine Zumutung für die Gräfin, und auch der Graf spielte lieber mit rosigen Mädchenkörpern als mit dreckigen Windeln.
Magdalena Waschek zog wieder zu ihren Eltern. Sie wohnten zu acht auf dreißig Quadratmetern. Ohne feste Anstellung, aber mit wachsendem Bauchumfang tagelöhnte sie als Putzfrau. »Sie hot a Haus – zum Wosch’n«, witzelten die Nachbarn. Magdalenas Eltern machten ihr keinerlei Vorwürfe. »Aufpassen hättest sollen«, hörte sie von ihren Eltern nie. Menschen wie die Wascheks konnten sich aufpassen nicht leisten, und niemand passte auf sie auf. Diesbezüglich hatten sie einschlägige Erfahrungen gesammelt. Der Bauch ihrer Tochter verhieß, dass auch künftige Generationen diese sammeln würden. Daher keine Vorwürfe von Magdalenas Eltern. Und auch keine Zukunftsängste. Zukunft und Vorsicht war etwas für andere Leute, nicht für Familie Waschek. Magdalena beurteilte die Gesamtsituation freilich etwas differenzierter. Immerhin hatte schon ein Graf Gefallen an ihr gefunden. Deshalb war sie wegen des neuerdings um sie schwadronierenden Soldaten Matthias Wegmayer nicht aufgekratzt. Soldat Wegmayer, der in ihrer Straße wohnte und von allen »Hias« genannt wurde, vergötterte Magdalena. Mit jedem Zentimeter Bauchumfang mehr. Schon als sie als kleines Mädchen in dreckiger Kleiderschürze Pfitschigogerl gespielt hatte, fühlte er sich zu ihr hingezogen. Blieb aber barfuß mit kurzen Hosen in fünf Metern Respektabstand stehen, während sie mit anderen Mädchen am Gehsteig saß und Kupfermünzen gegen die Mauer springen ließ. Matthias wollte nichts anderes, als ihr zahnlückiges Lachen sehen. Doch immer, wenn sie zu ihm hinüberblickte, versiegte ihr Lachen schlagartig, und damit Matthias’ Ausblick auf ihre Zahnlücken. Als er sie Jahre später mit vollständiger Zahnreihe und einem vorgewölbten Bauch in das Wohnhaus ihrer Eltern gehen sah, packte ihn der Mut. Matthias Wegmayer hatte von ihrem Debakel mit dem Herrn Grafen gehört. Aber er kannte keine bürgerlichen Standesdünkel, in ihm pochte unerklärliche Liebe für dieses exzahnlückige Wesen.
»Wie geht’s Ihnan?« Mit dieser wenig originellen, obendrein in Magdalenas Zustand unangebrachten Frage näherte er sich ihr.
Sie saß auf einer Holzbank im Hinterhof, starrte gedankenverloren vor sich hin.
»Geht«, sagte sie, der es besser gegangen wäre, hätte Hias sie nicht angeredet.
»Gut, schen«, sagte er, was das Gespräch nicht wesentlich ankurbelte. »I muss dann wieder in die Kasern’«, meinte er nach einer längeren Pause, in der er neben Magdalena stand, und diese überlegte, wie lange er das noch stumm aushalten würde.
Auf diesem Unterhaltungsniveau verharrten beide einige Wochen. Bis Magdalena ihn ab und zu anlächelte, was Matthias auch ohne Zahnlücken gefiel. Er fasste mehr Mut, erzählte ihr von seiner Arbeit beim Militär, malte ihr sein künftiges Leben aus, fragte endlich, ob er sie dicht neben sich auf dieses Bild zeichnen dürfte. Aber an Magdalena hatte schon ein Graf Gefallen gefunden, da war ihr ein Hias nicht ganz recht. Allerdings war das Interesse des Herrn Grafen relativ kurz und folgenschwer gewesen. Deshalb schaute sie sich Matthias nochmals genauer an. Er war nicht fesch, aber auch nicht übel, hatte ein regelmäßiges Einkommen, war kein Säufer, weder kriminell noch gewalttätig und offenkundig bis über beide Ohren in sie verliebt. Sie heirateten im Jahr 1905, kurz nachdem Magdalena ihre uneheliche Grafen-Tochter Frieda entbunden hatte. Zwei Jahre später kam Max auf die Welt, 1909 Magda, danach noch Maria und Ludwig.
Und im Jahr 1915 stand Magda neben ihrer Mutter Magdalena Wegmayer, die ihre Hand aus Vorfreude auf den 85-jährigen Kaiser Franz Joseph I. derartig fest drückte, dass sich Magdas Fingerspitzen leicht bläulich färbten. Doch Magda beklagte sich nicht. Vielmehr dachte sie darüber nach, weshalb sie auf einen alten Mann warten musste. Und die Antwort auf diese Frage wäre tatsächlich aufschlussreich gewesen. Weshalb war es für Magdas Mutter von Bedeutung, einem alten Mann in Uniform zuzuwinken? Magdalena Wegmayer, die auf dreißig Quadratmetern mit fünf Kindern und zwei Bettgehern wohnte, hatte nichts mit jemandem gemein, der eine Winter- sowie eine Sommerresidenz plus mehrere Jagdschlösser besaß. Warum wurde sie in Erwartung, ihn zu sehen, so nervös? Magdas Hand tat weh. Sie blickte hinunter zu ihren Sonntagsschuhen, die sie wegen des feierlichen Anlasses ausnahmsweise am Samstag anziehen durfte. Der linke Schuh drückte. Obwohl anzunehmen war, dass beide Füße gleich gewachsen waren, drückte Magda eindeutig der linke Schuh mehr als der rechte. Magda schaute zu ihrer Mutter hoch. »Gleich, mein Schatz, gleich, jetzt dauert’s nimmer lang.«
Die Rückenansichten, Gesäß- und Handtaschen auf Magdas Augenhöhe langweilten sie. Magda dachte an ihren Bruder Max. Der saß sicher schon zuhause, hatte seine Beute vom Schwarzmarkt mit den Kleinen geteilt und spielte mit ihnen. Er stellte die einzige Ausnahme in Magdas Männerbild dar. Zwar war er oft unterwegs, und Magda musste häufig auf ihn warten, doch sie wusste, was er während seiner Abwesenheit tat. Er hamsterte und kam verlässlich mit Essen nachhause zurück. Das machte ihn einzigartig. Darüber hinaus war er Magdas Bruder und nur zweieinhalb Jahre älter als sie, galt somit gar nicht als richtiger Mann.
Was ihre Halbschwester Frieda tat, konnte Magda nur raten. Frieda gefielen Dinge, die sonst niemanden interessierten. Aus dem Fenster schauen, im Bett liegen und an die Decke starren, stumm dasitzen, den Leuten beim Reden zuhören. Frieda war still und unauffällig. Meistens wurde sie von ihren Geschwistern übersehen. Alle in der Familie fanden Frieda etwas schrullig. Man vermutete, dass höchstwahrscheinlich ihr blaues Blut schuld daran war. Aber egal wo sich Frieda gerade befand oder was sie machte, es konnte dieses Herumgestehe in der Menschenmenge an Sinnlosigkeit gar nicht übertreffen, war Magda überzeugt.
»Da Magda, schau, da vorn!«, schrie ihre Mutter. Magda wurde hochgehoben und sah doch nur Schultern und Nackenhaare. »Vivat, Vivat!«, wurde gerufen. Ihre Mutter winkte irgendwem, den Magda nicht sehen konnte, heftig. Die allgemeine Spannung entlud sich in fanatischem Jubel. Wie außer sich schwenkten Menschen ihre Arme in der Luft. Dann ebbte der Freudentaumel jäh ab, Hände sanken auf ihre alltägliche Hängeposition herab, nur das Lachen in den Augen und das Strahlen um die gebleckten Zähne hielten etwas länger an.
»Zerstreuen Sie sich! Bitte auflösen, es gibt nix mehr zum Schauen«, wurden Magda und ihre Mutter von einem Wachmann aufgefordert, die Herrengasse zu verlassen. Schon wenige Minuten, nachdem Kaiser Franz Josephs Prunkwagen, vom Kohlmarkt kommend, in die Hofburg eingefahren war, verteilten sich die wartenden Menschen auf angrenzende Straßen. Magdalena Wegmayer, die mit ihrer Tochter aus Platzmangel knapp vor dem Café Central gestanden war, hatte das eben erlebte geschichtsträchtige Ereignis aufgewühlt. Mit belegter Stimme verkündete sie: »Jetzt geh’ma auf einen Kaffee.«
Sie spazierten am Café Griensteidl vorbei, auch am Demel, gingen weiter, bis sie das Café Korb betraten. Nun spürte auch Magda Freude in sich aufsteigen, aber jetzt gab es auch allen Grund dazu. Denn bald käme eine Tasse heißer Schokolade, ganz sicher, würde bei Magda bleiben, bis sie die Köstlichkeit verzehrt hätte. Sie würde nicht in weiter Ferne ungesehen vorüberziehen.
Magdas kleines, rotbäckiges Gesicht glänzte hinter dem Schlagobersgupf ihres Kakaohäferls. Plötzlich stellte sich der Umkehrschluss zu ihrer Theorie ein: Wer auf abwesende Männer wartet, geht leer aus. An Gegenstände musste man sich halten. Da brauchten nur einige Münzen hingelegt zu werden, schon kam fantastische heiße Schokolade samt meisterhaft geformtem Schlagobers. Ganz für sie allein. Sie verstand ihre Mutter nicht. Wie konnte die nur stundenlang auf einen alten Mann warten, der sie nicht kannte und dem sie egal war? Weshalb tat sie das und freute sich obendrein? Nein, sie verstand ihre Mutter nicht. Die Welt aber umso mehr. In dieser Welt ging es darum, was man hatte, und was man dafür bekam. Nicht darum, worauf man wartete und nicht bekam. Münzen und Papierscheine spielten dabei eine entscheidende Rolle. Hatte man genügend davon, hatte man auch alles andere. Klar wie Getreidekaffee war das. Magda tauchte ihren langstieligen Löffel in das Schlagobers. Behutsam wie beim Mikadospielen achtete sie darauf, die Schokoladeraspeln auf der weißen Masse nicht zu erschüttern, sondern sie auf ihren Löffel zu häufen. »Wenn ich groß bin, hab ich so viel Geld, dass ich jeden Tag heiße Schokolade trinken kann. Vielleicht sogar zwei am Tag«, sagte Magda zuversichtlich.
»Ich wünsch dir’s«, sagte Magdalena, in Gedanken noch bei dem unscharfen, weißhaarigen Backenbart in der Kutsche. Gemälde, die sie von ihm gesehen hatte, unterstützten Magdalenas Vorstellungskraft. Sie kam sich an jenem Samstag in ihrem Sonntagsgewand, weit weg von dreckigen Stiegenhäusern, frei vor. Frei zu träumen. Magdas Äußerung hielt sie für kindliche Begeisterung für alles Süße, erkannte darin nicht die tiefe Erkenntnis ihrer Tochter.
Magdalena blickte lächelnd über ihre Tochter hinweg. Die löffelte konzentriert heiße Schokolade in sich hinein und behielt den Mantelkragen ihrer Mutter im Visier. An dessen Revers steckte eine Brosche. Quarzstifte glitzerten in Spektralfarben. Ihre Mutter musste Regenbogenstückchen zu einem Strauß gebündelt haben, dachte Magda. Wie schön die Brosche im Licht des Kaffeehauslusters schimmerte! Sie streckte ihre Hand nach der Brosche aus und berührte sie. Ihre Mutter öffnete die Nadel der Brosche und zog sie aus dem Revers. Magda nahm den Regenbogen mit beiden Händen in Empfang. Für einen solchen Schatz ließ sie sogar ihre Schokolade außer Acht.
»Ist das ein Stück vom Himmel?«, fragte sie, obwohl sie wusste, dass das kaum der Fall sein konnte. Denn wenn diese Brosche tatsächlich aus Regenbogen gemacht worden wäre, würde sie sich viel weicher anfühlen. Denn der Himmel und alles, was sich darin befand, waren weich. Das wusste jeder. Wolken, Wind, Regen, Schnee, Nebel. Alles weich. Auch Regenbogen.
»Nein, das sind Kristalle«, antwortete Magdalena und liebte ihr Kind für dessen Ahnungslosigkeit der Welt gegenüber.
Magda drehte die Brosche in ihren Händen. Mit dünnen Fingern fuhr sie jede Kante des Kristalls ab. »Wenn ich groß bin, hab ich auch so eine schöne Brosche.« Magda überlegte, wie hoch der Münzhaufen wohl gewesen sein musste, der dieses Schmuckstück gekauft hatte. Wahrscheinlich nicht sehr hoch, sonst wäre die Brosche nicht in den Besitz ihrer Mutter gelangt.
»Wennst groß bist, schenk ich sie dir, damitst dich immer an den heutigen Tag erinnerst.«
Magda streichelte noch ein wenig über den Regenbogen, dann durfte ihn ihre Mutter wieder am Mantelkragen befestigen. Magdas Stiellöffel kratzte zufrieden am Boden des Kakaohäferls. Sobald die Brosche ihr gehörte, würde sie sie in einer Schatztruhe aufbewahren. Nur sie würde sie herausnehmen und bewundern dürfen. Das allerdings würde sie oft tun.
+++ Euro-Bonds für sechs stärkste Triple-A-Eurostaaten +++ Korruption in Österreich nimmt zu +++ Gläubiger sollen bei Sanierungsfällen »angemessene« Verluste erleiden +++ Waffen-Lobbyist wegen Geldwäscheverdachts angeklagt +++ Rezession von IWF für 2012 prognostiziert – nur noch 3,3 Prozent Wachstum +++
15.12.
Ein Bananenkarton steht drüben. Neben der Wohnzimmertür an der Wand. Die Wohnung seit Wochen leer. Plötzlich ein Bananenkarton. Heißt das, jetzt zieht wer ein? Wer hat den Karton hingestellt? Wann? Muss in der Nacht passiert sein. Wer bringt schon nachts seine Umzugskisten in eine neue Wohnung? Seltsam nachtaktives Verhalten. Den ganzen Tag über taucht niemand auf. Die Spannung bleibt.
16.12.
Der angenehme Möglichkeitsraum, den die leere Wohnung erzeugt, setzt sich als körperliche Spannung in mir fort. Will die nächste Kartonlieferung nicht versäumen und lege mich auf die Lauer, das heißt, starre bis spät in die Nacht aus dem Fenster und betrachte die völlige Regungslosigkeit der dunklen Wohnung gegenüber. Traue mich aber nicht, meinen Platz hinter dem Fenster zu verlassen (habe extra einen Sessel hingestellt, um verdeckt, aber bequem beobachten zu können), denn gerade in einem unachtsamen Moment könnten die neuen Bewohner ihr Domizil betreten.
Werde mit der Zeit doch müde, vor allem wird mir kalt. Verlasse meinen Späherposten, überstelle mich ins Bett. Stehe nach kurzem Schlaf schon wieder vor dem Fenster. (Die Neugier lässt mir keine Ruhe.) Blicke auf eine Hausfassade, aus der schwarze Rechtecke zurückglotzen. Ziehe meinen Mantel über den Pyjama und schlüpfe in Stiefel (Temperaturen sinken täglich). Gehe hinunter zu meinem Holzhäuschen. Die Nacht ist still, selbst mein Urin rinnt leise in die Glasflasche. Verbrenne mein Klopapier in der Steinschale neben dem Klositz, aber es scheint dem Feuer zu eisig zu sein, um leidenschaftlich zu lodern. Es blitzt nur kurz auf, schnappt nach Luft, erstirbt zu kalter Asche. Gehe wieder rauf und stelle mich hinter das Fenster. Gegenüber keine Veränderung. Lege mich ins Bett. Erwache um acht Uhr. Drüben im Halbdunkel der Karton unverändert.
Toni bringt Kipferl zum Frühstück und Powidl aus unseren Zwetschken. Die Marmelade schmeckt nach Sommer, Süße und dem munteren Wispern grüner Blätter im Sonnenlicht. Vermisse meinen üppigen Garten schon Mitte Dezember → wie die nächsten Monate überstehen?
Beziehe meinen Posten hinter dem Fenster, sobald Toni in ihre Praxis geht. Drüben tut sich nichts. Lege mich auf das Sofa, höre »Von Tag zu Tag«, ein Blick hinüber → nichts. Halte ein kurzes Nickerchen → nichts. In diesem Rhythmus vergehen die Stunden. Drüben keine Fortschritte, auf meiner Straßenseite zähe Müdigkeit. Meine Neugier schlägt in Langeweile um. Auch mein Stuhlgang gestaltet sich träge: Die Entleerung selbst geht zwar leicht vonstatten, aber bis dorthin braucht es längeres Warten → mein Darm passt sich eben den allgemeinen Umständen an.
17.12.
Wache um vier Uhr auf, muss Wasser lassen. Die Kälte auf meiner Toilette macht mich munter. Kann im Bett nicht wieder einschlafen. Schaue aus dem Fenster. Bilde mir ein, drüben neben dem Bananenkarton etwas zu sehen. Etwas Eckiges. Ärgere mich. Habe die Lieferung schon wieder verpasst. Warte am Fenster. Nichts tut sich. Niemand betritt die Wohnung. Mir wird kalt. Gehe ins Bett und schlafe bis neun. Nach dem Aufstehen gleich zum Fenster. Neben dem Bananenkarton liegt wirklich etwas: zusammengebundene Holzbretter. Schaue in kurzen Abständen hinüber → keine Veränderung. Frühstücke. Schaue rüber → nichts. Stehe vom Sofa auf. Blicke rüber → nichts. Mache ein kleines Mittagsschläfchen, wache gegen drei Uhr auf, schaue hinüber: Endlich! Meine neue Nachbarin!
Sie ist schlank, hat erdäpfelfarbige kurze Haare, trägt weite Hosen und eine Winterjacke. Sie stellt eine zweite Kiste neben den Holzbrettern ab, richtet sich auf, dreht sich nach hinten und verlässt die Wohnung. Nach kurzer Zeit kommt sie aus dem Hauseingang, geht die Straße entlang, verschwindet um die Ecke. Kann ihr Gesicht nur im Halbprofil sehen. Sie muss in meinem Alter sein.
Toni schaut um sechs zum Abendessen vorbei. Bringt Adventkekse mit. Hat sie mit ihrer Altengruppe gebacken. Ich hätte mitgehen sollen, sagt sie, es war so irrsinnig lustig, es hätte mir sicher gutgetan. Sie gibt einfach nicht auf.
Beobachte die gegenüberliegende Fensterreihe. Muss wissen, wie es weitergeht.
18.12.
Jetzt macht Auflauern wieder Freude! Die sportliche junge Frau entschädigt mich für alle ereignislosen Stunden hinter meinem Fenster. Heute: der ganz große Einzug! Sie fährt mit einem Kleintransporter vor, parkt in meiner Einfahrt, schaltet die Warnblinkanlage ein und schleppt eigenhändig – alleine! – ihre Habseligkeiten in den 1. Stock (haben die drüben einen Lift?). Gut, viel hat sie nicht zu tragen: zwei Holzsessel, ein Futon, etliche Kisten und Schachteln (aus Plastik und Karton). Das war’s. Sie dürfte karg leben.
Es zeichnet sich folgende Raumeinteilung ab: Das Zimmer mit zwei Fenstern, direkt gegenüber meinem Wohnzimmer, dürfte auch ihre Tagesaufenthaltsstätte werden → aus den Holzbrettern ist ein Tisch geworden, der steht mit den zwei Sesseln vor dem Fenster. Im Zimmer daneben (mit nur einem Fenster) liegt ihr Futon. Von den hinteren Räumen der Wohnung ist das Vorzimmer ein Stück weit einzusehen. Auch dort lassen sich keine Materialschlachten erkennen. Ihre Kisten sind beinahe gleichmäßig auf beide Zimmer verteilt. Darin dürften sich Bücher, Textilien und Kleinkram befinden. Alles in überschaubaren Mengen. Sie hat noch nicht viel ausgepackt. Sie trägt dieselbe Kleidung wie gestern: weite Hosen, festes Schuhwerk, Winterjacke, heute zusätzlich Handschuhe und Wollmütze über den kurzen Haaren. Ihre Bewegungen sind energisch, zielstrebig und herzhaft (vor allem das Zupacken). Sie braucht eine Stunde, um den Transporter auszuräumen. Dann steigt sie ein und fährt weg. Taucht den restlichen Tag nicht mehr auf. Natürlich seltsam, aber: Ihre Raumeinnahme erinnert mich an Bakterien, die den Darm eines Neugeborenen besiedeln.
19.12.
Frühstück mit Toni. Beziehe danach Posten hinter meinem Fenster. Gegenüber erscheint meine neue Nachbarin in gewohntem Outfit. Sie zieht ihre Winterjacke aus und legt sie auf den Tisch. Darunter trägt sie einen langärmeligen Kapuzensweater. Sie öffnet den Reißverschluss, ich sehe ein enges T-Shirt mit Aufdruck. (Auf die Entfernung nicht lesbar → überlege, mir einen Feldstecher zuzulegen. Verwerfe die Idee. Sie bräuchte nur einmal zu mir herüberschauen – und ich wäre kompromittiert.) Bisher hat sie allerdings noch keinen Blick nach draußen (oder zu mir) geworfen. Sie läuft nur beständig beschäftigt durch ihre Wohnung. Ihr Körper ist geschmeidig, tigerhaft, wirkt stets absprungbereit, was natürlich mit ihren Schuhen zu tun haben kann → die lässt sie in der Wohnung an.
Aus einem der Kartons zieht sie einen Laptop, legt ihn auf den Tisch, daneben ein paar Bücher. (Kann die Titel nicht lesen → vielleicht doch Feldstecher?) Am Boden neben ihrem Futon stapelt sie weitere Bücher, stellt eine kleine Leselampe darauf. In allen von mir einsehbaren Räumen hängen Stromkabel von der Decke. Sie montiert Fassungen und schraubt Glühbirnen ein. Einige Zeit sitzt sie vor ihrem Laptop. Ihr Gesicht blickt Richtung Fenster (aber nicht zu mir). Glaube plötzlich, sie sieht mich doch, weil sie aufsteht und nach vor geht. Sie greift an die Fensterscheibe, entfernt aber nur das lächerliche Bildchen der Vorgänger und setzt sich wieder hinter ihren Laptop. Sie hat mich nicht gesehen. Ihr Bildschirm ist von mir abgewandt, dafür schaut ihr Gesicht in meine Richtung. Sie hat eine glatte Stirn unter den kurzen, nach vor gelegten Haaren; helle Haut, schmale Augen, gerade Nase. Ernst und konzentriert wendet sich ihr Gesicht knapp oberhalb des aufgeklappten Laptops zur Seite, wenn sie in ihre Bücher blickt, dann wieder nach vor auf den Bildschirm. Ist sie Journalistin? Oder Studentin, die an einer wissenschaftlichen Arbeit schreibt? Bleibe hinter meinem Fenster unentdeckt → sitze geduckt und beobachte aus unterer Fensterecke hervor. Bin ziemlich unauffällig, aber wenn sie auf die Idee käme zu schauen, könnte sie mich sehen.
Sollte mich um Laub, Mulchen und Lagerbestände kümmern, aber das muss warten, meine Nachbarin von gegenüber ist derzeit wichtiger (zumindest interessanter).
Beim Abendessen ist Toni müde. Setzen uns vor den Kamin. Sie veranstaltet morgen eine Klang-Aroma-Licht-Session, kündigt sie an. Fragt, ob ich mitmachen möchte? Erkläre ihr, dass ich keine Lust dazu habe. Sie akzeptiert meine Ausrede und lässt mir wie immer eine Tür offen: »Falls du dir’s anders überlegst, du weißt ja, wo du mich findest.« Werde es mir sicher nicht anders überlegen. Denn zusätzlich zu meiner fehlenden Lust mangelt es mir auch an Zeit → muss schließlich meine neue Nachbarin beobachten.
20.12.
Um neun ist gegenüber noch immer der Rollladen im Schlafzimmer unten. Sie ist wohl kein Morgenmensch. Obwohl sich die Vormieter-Familie meine gesamte Verachtung wegen ihrer nächtlichen Verbarrikadierung zugezogen hat, kann ich im Fall meiner neuen Nachbarin nachvollziehen, dass sie nicht vor den Augen aller (speziell vor meinen) schlafen möchte und ihre Jalousie unten lässt. Würde es wahrscheinlich genauso machen, wenn mein Schlafzimmer zur Straße hinausginge.
Toni bringt Fenchelkuchen mit. Mache Kakao. Sie freut sich auf den Nachmittag und ihre Therapiestunde. Mein Nachmittag enttäuscht mich → meine Nachbarin von gegenüber trägt Jogginghosen und ein schlabbriges T-Shirt, sitzt vor ihrem Laptop und trinkt Kaffee. Plötzlich verschwindet sie im hinteren Teil der Wohnung (Bad?) und kommt nach einiger Zeit umgezogen ins Zimmer zurück. Sie trägt bekanntes Ensemble: weite Hose, Schuhe, Jacke, Wollmütze. Holt sich einen Rucksack aus einem der Kartons, packt ihren Laptop hinein und verlässt die Wohnung. Mehr tut sich nicht.
Werfe mich in mein Blauzeug und kümmere mich um den Kompost im Garten. Entdecke Schneckeneier (katapultiere sie mit der Schaufel über die Gartenmauer). Sammle Laub ein. Ein Teil kommt auf den Kompost, ein anderer daneben (für Igel, die noch keinen Winterplatz gefunden haben). Muss kurz mein Klohäuschen aufsuchen – alles bestens, nicht zu weich und nicht zu hart. Mal sehen, ob das in den kommenden Wochen der mangelnden Bewegung so bleibt. Im Vorratslager bei Obst und Gemüse alles fein. Reinige und öle Spaten, Sense, Harke, Sauzahn und hänge sie im Geräteraum auf (die nächsten Wochen wird es keine Verwendung für sie geben). Sehe Tonis Therapie-Kolleginnen kommen, verhalte mich ruhig und werde übersehen.
Bin bei Einbruch der Dunkelheit (16 Uhr) wieder in der Wohnung, aber drüben ist noch alles finster und leer. Esse früh zu Abend (Käsebrot und Tee), höre eine »Dimensionen«-Sendung im Radio über den Einfluss internationaler Konzerne auf die europäische Politik. Blick hinüber: Meine Nachbarin sitzt in einigem Abstand vor ihrem Laptop. Der steht am Tisch. Ihre Beine ruhen auf einem zweiten Sessel, den sie schräg vor sich hingestellt hat. Vermutlich schaut sie sich einen Film an. Ihr blasses Gesicht dient den matt-blauen Strahlen aus dem Bildschirm als Leinwand. Bei jedem Szenenwechsel zuckt ihr Wohnzimmer in neuem Lichtschein auf. Ihre schlanke Figur wirkt schemenhaft gespenstisch, gleichzeitig aber auch präsent, weil sie sich vor dem flackernden Hintergrund als heller Kontrast scharf abhebt. Wie eine Trutzburg in der Flut der Eindrücke.
22.12.
Ihre Garderobe leidet definitiv nicht an Überangebot. Auf einem Wäscheständer (ist mir beim Wohnungsbezug nicht aufgefallen), der neben dem Tisch vor dem Fenster steht, hängt ihre Kleidung: drei Hosen (khaki, militärgrün, dunkelblau), einige Langarm-Shirts, zwei Kapuzensweater. Sie steuert in Jogginghosen und engem Shirt durch die Wohnung. Trotz des Outfits wirkt sie wie immer sehr aufgeweckt und geschäftig. Ein Häferl steht neben dem Laptop, der gleich nach dem Aufstehen hochgefahren wurde. Meine Nachbarin ist heute durchgehend zuhause (und in Jogginghosen → weil alles andere trocknen muss?). Sie sitzt vor dem Computer, tippt, schlägt in Büchern nach (die immer zahlreicher werden und in der ganzen Wohnung verstreut sind). Dann legt sie sich ins Bett und liest. Der Bücherstapel neben ihrem Futon wächst und vermehrt sich.
Langsam wird mir die Beobachtung meiner Nachbarin zur lieben Gewohnheit. Sie ist wie ein Aquarium für mich, nur dass ich nicht gegen ihr Glas klopfen kann. Merke, dass ich sie beinahe unablässig beobachte. Kurze Abwesenheiten ihrerseits (gestern tagsüber nicht daheim) kann ich zwar ohne Nervosität überstehen, sie machen mich allerdings unfroh.
Sinniere über das allgegenwärtige Möbelstück Kleiderständer: Es befindet sich in nahezu jeder Wohnung, ist immer im Weg, steht dominant-hässlich herum und fristet trotzdem ein unbeachtetes Dasein. Haben sich seiner jemals Design-Wettbewerbe oder Lifestyle-Magazine angenommen? Glaube nicht. Eher liegt die Hauptanforderung an diesen Gegenstand in seiner Fähigkeit, verschwinden zu können. In Nischen, Abstellräumen oder hinter Vorhängen. Da zeigt der Kleiderständer deutliche Parallelen zu Scheiße: Die muss auch aus dem Blick der Zivilisation verschwinden. Wird mit unvernünftiger Wasserverschwendung durch ein aufwendiges Kanalsystem weggespült. Sollte am besten gar nicht vorhanden sein.
Frage mich außerdem, wie das Haus der Nachbarin an der Rückseite ausschauen mag. Im hinteren Teil der Wohnung, dem Vorzimmer, ist neben der Tür ein Fenster zu sehen, durch das manchmal Licht fällt. Bilde mir ein, dahinter kahle Äste zu erkennen. Müsste mich eigentlich daran erinnern, habe doch etliche Abende gemeinsam mit Leo im Gastgarten des Eckrestaurants verbracht. Die teilen sich den Hof mit dem Gegenüber-Haus. Habe aber keine Ahnung mehr davon → sollte damals Leo meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben? Werde wohl meine Wohnung verlassen müssen, um meiner Erinnerung nachzuhelfen.
28.12.
Den Restaurantbesuch hätte ich mir sparen können. Aber wenigstens ist nun das Rätsel des Vorzimmerfensters geknackt: Holz-Pawlatschen führen direkt in den ersten Stock. Dadurch kann das Vorzimmerfenster meiner Nachbarin freien Blick in den Hof bieten, in dem eine uralte Platane steht → kahle Äste! Diese Erkenntnis ist aber definitiv nicht die Mühe des auswärtigen Abendessens wert. Zumindest hat Toni die Genugtuung, mich aus der Wohnung gelockt zu haben. Aber nach der Hof-Begehung hätte ich den Rest des Abends auch in meiner Wohnung verbringen können. Wäre besser gewesen, aber egal. Heute dafür eher massig-flüssiger Stuhlgang → dem Rotwein sei Dank. Schaufle eine Extraportion Asche in den Tontopf, damit mein Geschäft trocken bleibt.
+++ Europäer arbeiten zu wenig und zu kurz +++ Warnung von Moody’s vor Abstufung für Wien, London, Paris +++ Griechische Wirtschaft bricht massiv ein +++ Notenbank rechnet mit 1,5 Prozent BIP-Rückgang für Italien +++ Parteienförderung in Österreich wird verdoppelt +++ Berater erhielt 500.000 für seine Leistung +++
[...] Veränderung? Ob ich an Helen eine Veränderung wahrgenommen habe? – Na ja, das ist vielleicht nicht das richtige Wort. Vor ein paar Monaten war Helen plötzlich ... lebendiger, würd ich sagen. Wacher. Aber gleichzeitig auch ... verwirrter. Als wäre sie geistig woanders. Als würde sie was beschäftigen. [...] Nein, ich hab nicht nachgefragt. Wenn sie nicht von sich aus erzählt, kann man das vergessen, da erfährt man nichts. Ich hab mir auch nicht allzu viel dabei gedacht. War halt so ein Eindruck von mir. Erst wie sie meinen Vorschlag, ins Restaurant zu gehen, angenommen hat, war ich überrascht. Sie hat sogar darauf bestanden, zum Italiener an der Ecke zu gehen. Was mir ein bissl ungeheuer war. Das war doch Helens und Leos Stammwirt. Ich hab ungute Erinnerungen und niedergeschlagene Stimmung befürchtet. Melancholie, vielleicht sogar einen Rückfall. Aber Helen wollte unbedingt.
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