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Thekla schwimmt in offenen Gewässern, auch bei eisigen Temperaturen. Sie versteht es als ganzkörperlichen Erkenntnisprozess und versucht in der winterlichen Landschaft sich selbst und dem Verhältnis von Leib und Seele, Natur und Geist auf den Grund zu gehen. Während sie in das atemberaubend klare Wasser eintaucht und mit der Gewalt der Kälte umgeht, findet sie zu einem Gefühl von Freiheit und Autonomie. Dann begegnet sie einem entlaufenen Tiger.
Marion Poschmann gelingt es, Wahrnehmungen und Einsichten ihrer Figur im kunstvollen sprachlichen Ausdruck verschmelzen zu lassen, so wie sich in diesem höchst gegenwärtigen Text auch Milieustudie und Legende, Erzählung und Dichtung durchdringen. Freie und gebundene Verse gipfeln in einer modernen Adaption des Leichs, des mittelalterlichen, virtuos gereimten Meistergedichts.
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Seitenzahl: 56
Veröffentlichungsjahr: 2025
Marion Poschmann
Die Winterschwimmerin
Verslegende
Suhrkamp
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Die Autorin dankt dem Land Berlin für ein Arbeitsstipendium.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Im deutschsprachigen Hauptprogramm: Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2025.
Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025
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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Umschlagabbildung: Buchmalerei von Simon d'Orléans aus De arte venandi cum avibus. Die Kunst mit Vögeln zu jagen von Kaiser Friedrich II, um 1300. Foto: akg-images
eISBN 978-3-518-78214-9
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Den Tiger suchen
Den Spuren folgen
Flammen-Dithyramben
Den Tiger träumen
Dem Tiger begegnen
Den Tiger zur Seite wissen
Schattentagebuch
Langmut, die (gehoben)
Sanftmut, die
Unmut, der (gehoben)
Einmut, die (veraltet)
Anmut, die
Missmut, der
Großmut, die
Schwermut, die
Wankelmut, der (gehoben abwertend)
Hochmut, der
Zagemut, der (veraltet)
Demut, die
Gleichmut, der oder die
Löwenmut, der
Frevelmut, der (poetisch)
Wagemut, der
Frohmut, der (gehoben)
Wehmut, die (gehoben)
Kleinmut, der (gehoben)
Edelmut, der (gehoben)
Übermut, der
Bangmut, die (veraltet)
Freimut, der (gehoben)
Elegie
Winterwasser
Quellen
Informationen zum Buch
Lanzettblätter, gelb,
auf dem Wasser, so kreiseln die Uferweiden
dem Winter entgegen. Das rundliche Laub
der Erle ist schon auf den Grund gesunken,
die Linden sind länger schon kahl
und das Zittern der Espen
hat sich auf die blitzende Fläche gelegt,
kommt in Wellen, ebbt ab, kommt zurück.
Erste Nachtfröste, deutliches Licht,
November, die Sonne genau auf Augenhöhe
im Brennpunkt zwischen den Häuserreihen,
weit hinten, am Ende der Schlucht.
Dezemberlicht, vom Regen geschluckt,
in die Pfützen gesogen, zerfressen vom See.
Letzte Reste.
Das Bodenlose.
Fermentationsprozesse.
Kälte hat eingesetzt. Klarheit.
Das Wasser ist schwarz.
Thekla hat es von Paula, und Paula von ihrer
Großmutter Chris, der Kanalschwimmerin.
Einfache Tatsache gegen jedwede Gewohnheit:
Man kann bei beliebiger Temperatur draußen baden,
man braucht keine Hilfsmittel, braucht keine Schutzschicht,
erst recht keinen Anzug aus Neopren.
Vorausgesetzt nicht einmal kontinuierliches Training,
nur einfaches Weiterschwimmen vom Sommer zum Herbst.
Dann erlebt man im Winter das Wunder:
Der Körper passt sich an kalte Umgebungen an.
Paula hat es ihr vorgemacht:
Kleider abgelegt, einfach ins Wasser gegangen,
ein ungemütlicher Schneeregen fiel, und
Thekla war restlos begeistert, sie sah fasziniert,
wie leicht Konventionen zerbrachen.
Die dünne Decke des zivilisierten Verhaltens
gab umstandslos nach wie die erste zarte Eisschicht
auf einer Pfütze im Herbst.
Sie steht auf den abgefallenen Blättern des Jahres,
sie lehnt sich am Stamm an und hängt ihre Kleider
Stück für Stück über den kräftigsten Ast.
Daunenjacke, Hose, Pullover. Die Socken
stopft sie tief in die Schuhe. Spürt mit den bloßen Füßen,
wie trockenes Laub isoliert. Wie es die feuchte Kälte
des Erdbodens abhält. Hitzeillusion, seltsames
Glück. Unterwäsche über den Ast,
der Körper der schneidenden Luft ausgesetzt.
Ihr Badeanzug bewirkt da nicht viel.
Sie tritt über nasse Sande ans Ufer.
Kälte schließt sich um ihren Körper,
umfasst sie, durchdringt die Extremitäten,
lässt ihre Finger ertauben, die Füße.
Kälte dringt durch die äußeren Hautschichten vor,
ist erst ein Brennen, ein Stechen, ein Schmerz,
dann ist die Haut fast gefühllos geworden, sie spürt,
wie die Oberhaut neutralisiert wird, die Lederhaut,
wie weit die Kälte in sie hineinwandert.
Bindegewebe, Fettgewebe. Dann jener Hitzeball, innen,
wobei sie nicht wüsste, wo innen beginnt.
Es ging darum, sich von allem freizumachen,
den Regeln der Großstadt, den Zwängen, dem Alten,
sich wieder – als ließe sich wirklich von »wieder« sprechen,
als gäbe es hier ein gültig gebliebenes Früher –
sich also wieder auf die Natur, auf den freien Himmel
und dessen Gewässer einzulassen.
Es war ein natürlicher Vorgang,
zugleich völlig ausgefallen, extrem.
Sie wusste, dass sie ein Tabu überschritt,
sobald aus dem Straßenbild die kurzen Ärmel
und die kurzen Hosen verschwanden, all die
Spaghettiträger auf freien Schultern, die bloßen
Zehen, die nackten Knie. Welches Gebot sie verletzte,
blieb vage: Sittenwidrigkeit? War es die Anmaßung,
Temperaturen nicht gelten zu lassen? Dass sie es wagte,
die Jahreszeiten in Frage zu stellen, die Ruhe
des Winters zu stören und ungehörig
einfach ins Wasser zu gehen? Man tat es nicht,
sie aber tat es. Sie provozierte Passanten
mit eigener Hitzeentwicklung: Das Ärgernis blieb,
dass sie Gewalten und Mächte der ewigen Sonne
mit ihrem eigenen Körper ersetzte.
Goethe hat es von Hufeland, der Mediziner
empfahl ihm die Wasserkur. Goethe hackt folgsam
die Eisschicht der Ilm auf, er überwindet sich,
wie er sich stets seinen Ängsten und seiner
Abneigung stellte. Freibad der Aufklärung,
Lob der Antike: keinerlei heidnischer Sündenpfuhl,
kein Bad des Teufels in offener Landschaft,
vielmehr die Ahnung athletischer, unbekleideter
Leiber, im weißlichen Marmor verfestigt,
im eigenen Glanz.
Thekla hat es von Paula, sie hat es ihr nachgemacht,
aber sie fragt sich, wenn sie zum See fährt,
was diese Handlung über sie aussagt. In welcher Lage
muss sie sich befinden, um etwas auszuüben,
was die Bezeichnung Extremsport durchaus verdient?
Tampere, Kaupinoja-Sauna:
Sie sitzen, Damen und Herren gemischt,
in Badeanzügen, mit Wollmützen, auf nassem Holz.
Im Atem des Nachbarn Kardamomkuchen und Zimt,
es ist dunstig im Raum, und dann sind sie draußen,
sie dampfen, wenn sie an der Leiter anstehen, langsam
dem See entgegenklettern, kurz eintauchen,
schnell wieder hoch. Sie dampfen, bleiben noch etwas
im Freien, ein Handtuch um ihre Schultern gelegt.
Polar Bears, Coney Island:
Die kreischenden Kostümierten beim Neujahrsschwimmen,
ihre Erregung, ihr Überschwang, ihr Oszillieren
zwischen den flatternden Fahnen, den Ringelhemden,
ihr plötzliches Rennen, doch wie auf der Stelle,
das Wasser bremst aus, stoppt sie alle,
versetzt sie in Zeitlupe, dann geht es prustend zurück,
mit den Armen schlagen sie um sich, spritzen ans Ufer,
schütteln sich ab am eiskalten Strand.
Sie trinken Birnen- und Estragonlimonade im
ältesten Winterbadeverein der Vereinigten Staaten,
sie pflegen die alteuropäische Tradition
des Saunierens, nur ohne Sauna. Dies eine Praxis,
die um neunzehnhundert eingeführt wurde von
russischen Immigranten, aus Heimweh.
Auch Alexander Puschkin, der Dichter, auch Ilya Repin,
der Künstler, auch Iwan Pawlow, der Physiologe,
Entdecker des konditionierten Reflexes