4,99 €
„Das alles spielte keine Rolle, denn nichts hatte eine Bedeutung ohne sie“ Es war einmal eine junge Diebin, die trug stets einen Mantel aus rotem Samt, woraufhin der junge Jägersmann Falk sie nur noch Rotkäppchen nannte… Arabella verfolgt von je her ein Ziel: Sie will als die beste Diebin der Dolchsturzgilde in die Legenden eingehen. Als sie von einem magischen Juwel erfährt, wittert sie ihre große Chance. Doch nicht nur das plötzliche Verschwinden des Großmütterchens und der sagenumwobene Nebelwolf machen ihr das Leben schwer. Ein vergifteter Apfel könnte ihr Ende bedeuten. Während Falk Bekanntschaft mit den sieben Zwergen macht, bricht Arabella in den dunkeln Wald auf. Ein Unterfangen, das sie und ihre Welt für immer verändern wird…
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Jessica Strang
Stapenhorststraße 15
33615 Bielefeld
www.tagtraeumer-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Text: © Hannah Sternjakob
Buchsatz: Hannah Sternjakob
Lektorat: Stefan Friesel
Korrektorat: Jenny Völker
Umschlaggestaltung: Hannah Sternjakob
Bildmaterial: © Shutterstock.com
© depositphotos.com
ISBN 978-3-946843-82-5
Alle Rechte vorbehalten
© Tagträumer Verlag 2020
1. Auflage
DIEBE DER
DOLCHSTURZGILDE
ES WAR EINMAL ...
ARA & FALK
MÄRCHEN SIND FÜR
ALLE DA ...
WEIL JEDER VON UNS TRÄUMEN DARF.
GEFÜHLE SIND NICHTS WEITER ALS EINE SCHWÄCHE – EIN WOHLIG WARMER DUNST, DER DEN VERSTAND VERNEBELT.
– ARABELLA
»Es war einmal, vor langer, langer Zeit ...«
Arabella verdrehte ihre Augen und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Ein dumpfes Klatschen erklang, gefolgt von einem tiefen Seufzen.
Missmutig drehte Arabella ihren Kopf nach rechts und betrachtete die dutzenden Kinder, die mit einer jungen Gouvernante im tanzenden Schatten einer Linde saßen.
Ara wusste, dass diese Geschichten, die so begannen, immer von demselben handelten: Ein naives Mädchen, das von einem Scharlatan hinters Licht geführt wird ... Im Verlauf des Märchens taucht dann der Held auf, der auf einem weißen Schimmel reitet und eine schillernde Rüstung trägt. Natürlich rettet er die Schöne, die von Adel oder sogar eine Prinzessin ist, und lebt mit ihr glücklich bis an ihr Lebensende.
Männer müssen nie vor irgendwas beschützt werden, schoss es ihr durch den Kopf. Immer sind es unbeholfene junge Damen, die in Not geraten ...
Arabella biss sich bei dem Gedanken auf die Unterlippe. Zugegeben, nicht alle Frauen konnten sich so gut verteidigen wie sie, aber dennoch gab es den Erwachsenen nicht das Recht, ihren Kindern ein falsches Weltbild zu vermitteln. Denn Frauen konnten alles, was Männer auch konnten, häufig sogar besser!
Mit geballten Händen widerstand Arabella dem Drang, sich umzudrehen und in die andere Richtung zurückzulaufen. Um auf den Sonntagsmarkt zu gelangen, der auf dem großen Platz vor dem Schloss stattfand, musste sie an dem Kinderhort vorbei. Natürlich könnte sie einen anderen Weg nehmen, alle der unzähligen, verwinkelten Gassen Gamoas führten irgendwann zum Königsschloss, doch da sie heute ohnehin schon spät dran war, sollte sie besser den direkten Weg einschlagen.
Arabella ließ gerade die Kirche hinter sich, die mit ihren weiß getünchten Wänden den Inbegriff von Unschuld vermittelte. Die goldene Glocke hoch oben im Kirchturm kündigte an, dass es bereits zehn Uhr war. Wenn Ara das Großmütterchen nicht verärgern wollte, musste sie sich beeilen und die Füße in die Hand nehmen.
Das Sonntagsritual, das mit einem Glas Wein und einem Stück Kuchen begann, war für das Großmütterchen Gretel so heilig, wie Gott es für die Kirche war.
Wein und Kuchen bis spätestens elf Uhr!
An den anderen Wochentagen begnügte sich Gretel damit, dass es erst am Abend ein Glas Wein und etwas Süßes gab.
Arabella beschleunigte ihre Schritte und lief an dem Kinderhort vorbei. Hierher brachten Eltern ihren Nachwuchs, der noch zu klein war, um im Haushalt, im Geschäft oder auf dem Feld mit anzupacken. Eine Erfahrung, die Arabella nie gemacht hatte. Ihr war es verwehrt geblieben, im Schatten eines Baumes zu sitzen und Geschichten zu lauschen. Aber dafür wäre gar keine Zeit gewesen.
Ihre Kindheit hatte darin bestanden, das Stehlen, Schleichen und das Flunkern zu erlernen, um letzten Endes ein vollwertiges Mitglied der Dolchsturz-Gilde zu werden. Eine Diebin, flink, gerissen und geschickt bei allen Aufträgen, die ihr zugeteilt wurden.
Seit sich Arabella zurückerinnern konnte, half sie Großmütterchen Gretel beim Einholen von diversen Gütern - der Oberbegriff für alles, das essbar war, glänzte oder sich sonst irgendwie zu Geld machen ließ.
»Die Sieben Zwerge lebten in dem Wald, der ganz Gamoa umrundet. Ihr Zuhause lag unter der Erde, der Eingang zu ihrem Reich lag zwischen sieben Eichen ...«, erzählte die Frau mit der melodischen Stimme weiter.
»Wie sah es da unten aus?«, fragte ein kleiner Junge.
»Es ist nur sehr wenig darüber bekannt ...«, flüsterte die Gouvernante so leise, dass Arabella es fast nicht verstanden hätte. »Nur Wenigen war es gestattet, einen Fuß in ihr unterirdisches Reich zu setzen.«
Ein Raunen ging durch die Kindermenge und Ara schüttelte amüsiert den Kopf.
»Erzähl uns eine Geschichte vom Nebelwolf!«, forderte eines der Kinder, ein Junge mit zerzaustem rotem Haar.
»Aber diese Geschichte ist doch noch gar nicht fertig!«
»Wir wollen noch das Ende hören!«, protestierte ein Mädchen mit quietschender Stimme und zwei geflochtenen Zöpfen.
»Das Ende ist doch immer dasselbe ...«, raunte Arabella leise und atmete tief ein. Mit großen Schritten ließ sie den Kinderhort, der sie an ihr verkorkstes Leben erinnerte, hinter sich.
Bevor Arabella durch den Torbogen schritt, der die Grenze vom Tuchviertel ins Händlerviertel markierte, hielt sie abrupt an. Sie wusste, sich umzudrehen war eine schlechte Idee, doch sie konnte nicht anders. Ein Ziehen breitete sich in ihrer Brust aus, als sie ihren Blick ein letztes Mal über die Kinder schweifen ließ. Egal, wie sehr sie sich dagegen wehrte, die dabei empfundene Eifersucht brodelte tief in ihr ...
Es war nicht so, dass sie den Kindern ihr Glück nicht gönnte, es war viel mehr der Wunsch, sich an solche unbeschwerten Kindertage erinnern zu können.
Wenn sich Arabella zurückerinnerte, dann schmerzten ihre Knie vom Krabbeln durch Kanalisationen und andere dreckige Löcher. Jahrelang hatten blaue Flecken, zugezogen durch das Kampftraining, das sie bei Hänsel, dem Bruder des Großmütterchens, absolviert hatte, ihren schmächtigen Kinderkörper übersät.
Noch heute konnte sie deutlich die dunkle Stimme in ihrem Kopf hören, die jedes Mal, wenn sie sich über die Schmerzen beschwerte, sprach: »Das Einzige, was du tun musst, ist, besser werden. Werde schneller, beweglicher und stärker.«
Und Arabella wurde besser ...
Sie wurde die Beste.
Arabella richtete den Kragen ihres roten Mantels und lief weiter. Im Schatten des Torbogens war es deutlich kühler als dort, wo die Herbstsonne das Kopfsteinpflaster erwärmte. Eine Ratte sprang Arabella über die Füße, die erschrocken einen Ausweichschritt nach links machte. So eine kleine Lappalie sollte sie nicht aufschrecken lassen, doch sie war viel zu sehr in ihren Gedanken versunken.
Hänsel und Gretel hätten sie sicherlich getadelt, weil sie so unaufmerksam war. Hatte sie nicht beigebracht bekommen, dass jegliche Art von Emotionen hinderlich waren? Sie beeinflussten einen unterbewusst und schränkten die Fähigkeiten ein.
Gefühle brachten nichts mit sich außer Ärger.
Auch wenn Arabella gut darin war, ihre Empfindungen zu verstecken, gelang es ihr nicht, sie zu unterdrücken. Momente wie diese, in denen sie alleine unter einem Torbogen entlangmarschierte, waren perfekt dafür, sich wenigstens für einen kurzen Moment ihren Gefühlen hinzugeben.
Sie seufzte, als sie an ihre Vergangenheit dachte. Daran, dass sie nichts weiter als ein Bastard war ...
Der König, der ihr Vater sein sollte, war vor Jahren bei einem Jagdausflug verschollen. Ihre Mutter war angeblich die schönste Hure aus ganz Gamoa gewesen, doch auch sie hatte Arabella nie kennengelernt ...
Arabella war sich sicher, hätte Großmütterchen Gretel, die damals schon ein gefühltes Jahrhundert alt war, sie nicht aufgenommen, hätten die Söldner nicht nur ihrer Mutter die Kehle durchgeschnitten ...
Die Mörder, die die Königin auf das gerade frisch geborene Kind und die verhasste Hure angesetzt hatte, waren aus dem ganzen Umland gekommen. Man sollte meinen, es würde viel Überwindung kosten, einem Neugeborenen die Kehle durchzuschneiden, aber falsch gedacht - es war lediglich eine Frage der Motivation ...
Eine hohe Belohnung und der Wunsch der Königin hatten ausgereicht, um unzählige Söldner anzulocken, die in Scheunen, Bordellen, in Kisten und Fässern nach dem Neugeborenen gesucht hatten.
Gretel aber hatte Arabella in ein Tuch gewickelt und sich um den Bauch geschnürt. Es hatte ausgesehen, als wäre das frisch geborene Kind eine zusätzliche Speckrolle, von denen sie ohnehin ein paar trug.
Bei dem Gedanken musste Arabella grinsen.
Gretel hatte all ihr Vertrauen in das Neugeborene gelegt und gehofft, dass es keinen Ton von sich gab. Hätte sie auch nur einmal gequengelt, hätten die Söldner nicht nur Arabella, sondern auch Gretel umgebracht, die sie seit dem Tag, an dem sie sprechen gelernt hatte, oft einfach nur Großmütterchen nannte.
Mit einem leichten Kopfschütteln vertrieb Arabella die Gedanken an ihre Vergangenheit. Gerade als sie aus dem Schatten des Torbogens trat, drang ein spitzer Schrei an ihr Ohr.
»Dieb! Haltet den Dieb!«, heischte eine kratzige Frauenstimme, die Arabella sofort erkannte.
Die Spiegelhändlerin – eine der besten Freundinnen der Königin. Sie verzierte ihre Spiegelrahmen mit den schönsten und wertvollsten Edelsteinen.
Ara schlug die große Kapuze ihres blutroten Mantels zurück und strich ihre hellen Haare hinter die Ohren. Sie vernahm scheppernde Rüstungen und einen Tumult, der immer lauter wurde. Arabella seufzte und drückte den leeren, geflochtenen Weidenkorb gegen die Brust. Sieht ganz so aus, als hätte irgendein Idiot die Wachen in Aufruhr versetzt, dachte sie und schürzte missmutig die Lippen. Großmütterchen wird wohl mit ihrem gehaltvollen Frühstück noch warten müssen, bis sich die Lage wieder beruhigt hat.
Arabella verlangsamte ihren Schritt. Sie hob den Kopf und betrachtete die vielen Türme des Schlosses, die über den Dächern der Stadt emporragten.
Das prunkvolle Schloss der Königin stand im Herzen der Hauptstadt Gamoa. Rundherum säumten Geschäfte, Bäckereien und Händler die Gassen des Königreichs. Am äußeren Rand der Stadt, kurz bevor die Bäume des Waldes die Baumkronen in den Himmel reckten, begann sich das Bauernviertel zu erstrecken. Dort lebte Arabella mit dem Großmütterchen und dem etwa gleichaltrigen Falk.
Die Sonne spiegelte sich in einem der hohen Turmfenster und reflektierte das Licht, von dem Arabella geblendet wurde.
Seit Tagen schon kundschaftete sie die Gegend um das Schloss aus. Vor allem die Eingänge der Dienstboten interessierten sie. Arabella wusste mittlerweile ganz genau, wann welche Wachen patrouillierten, wann sie Schichtwechsel hatten und was sie gerne zu Mittag aßen.
Aras Plan war es, verkleidet als Magd in das Schlossinnere zu gelangen, um sich dann von der Küche aus weiter hoch in die Bibliothek zu schleichen. Dort, im südlichen Turm, der von außen fast komplett mit Efeuranken überwuchert war, sollte der Schreiberling der Königin alle wichtigen Unterlagen aufbewahren. Arabellas Ziel war es, dort etwas über den Amethyst herauszufinden, um den sich die Gerüchte in letzter Zeit häuften.
Zwei Wochen war es nun her, dass die Königin die Sieben Zwerge zu lebenslanger Knechtschaft verurteilt hatte. Die Winzlinge waren dabei erwischt worden, wie sie sich unbefugten Zugang zu dem Schloss verschaffen wollten. Angeblich waren sie schuld daran, dass immer mehr Menschen im Wald verschwanden, und nun trachteten sie auch der Königin nach dem Leben.
Vermutungen wurden angestellt, dass sie es jedoch in Wirklichkeit auf einen Amethyst abgesehen hatten, der wertvoller war als jedes andere Juwel im ganzen Königreich.
Es war bekannt, dass Zwerge keine geborenen Diebe waren, aber ihre Hingabe zu Edelsteinen war nicht zu leugnen ... aber würden sie deswegen jemanden töten?
Arabella spürte tief in sich, dass etwas anderes dahinterstecken musste.
Morgen, wenn die Hilfsarbeiter im Schloss ihren ersten Tag antraten, dann würde sie mehr darüber herausfinden.
Zwei Soldaten der königlichen Garde rauschten mit ihrer auf Hochglanz polierten Rüstung an Arabella vorbei. Sie sah mit ihrem auffälligen roten Mantel, dem herzförmigen Gesicht und den großen Augen so unschuldig aus, dass die Wachen ihr nicht mehr als einen Augenaufschlag an Aufmerksamkeit schenkten. Immerhin hatten sie einen Dieb zu fassen und waren nicht auf der Suche nach einem einfachen Mädchen, das einen Weidenkorb in den zierlichen Fingern hielt. Sie war nur auf dem Weg zum Marktplatz, um dort ihr auf ehrliche Art und Weise verdientes Geld auszugeben.
Ein Grinsen zuckte an Arabellas Mundwinkeln.
Neugierig darauf, wer so früh am Morgen schon den Marktplatz unsicher machte, lief sie eilig an dem Bäckerladen, der Taverne und der Schneiderei vorbei, und fand sich im Nu vor dem Brunnen wieder, der die Mitte des großen, gepflasterten Platzes zierte.
Abwartend presste sie ihre Lippen aufeinander und verengte die Augen zu Schlitzen, während sie zwischen den Menschenmassen nach einem bekannten Gesicht Ausschau hielt.
Ob es jemand von der Diebesgilde war oder ein Langfinger, der auf der Durchreise war? Jedenfalls würde Arabella diesem unbegabten Streuner die Leviten lesen – sie hatte keine Lust darauf, dass die Anzahl der Wachen erhöht wurde, nur weil ein Dieb, der sein Handwerk nicht beherrschte, zu dumm zum Stehlen war.
Gamoa war das Jagdgebiet der Dolchsturz-Gilde. Ein Zusammenschluss der besten Diebe der Stadt und mit Großmütterchen als Anführerin die legendärste Diebesgilde, die es jemals gegeben hatte.
Während Arabellas Augen weiterhin durch die Menge streiften, blieb ihr Blick an ein paar hellen Steintreppen kleben. Zwei Löwenskulpturen am Fuße der Treppe und immergrüne Büsche zierten den Aufstieg zum königlichen Schloss. Auf jeder dritten Stufe stand ein Soldat, der einen langen, spitzen Speer über der Schulter trug und stocksteif geradeaus schaute. Der königsblaue Umhang war das Einzige, das sich in der milden Brise bewegte.
Wo hast du dich versteckt ..., dachte Arabella, während sie weiterhin Ausschau nach dem Dieb hielt.
Falk presste den Oberkörper gegen die fest geschnürten Strohballen, zwischen denen er sich versteckte. Mit einem zielgerichteten Griff an seinen breiten Ledergürtel überprüfte er, ob seine Beute noch am rechten Fleck steckte.
Eigentlich war es eine blöde Idee gewesen, so unvorbereitet zuzuschlagen, doch als er gesehen hatte, wie die Spiegelhändlerin ihre neuen Waren ausgelegt hatte, war ihm der kleine Handspiegel sofort ins Auge gefallen. Die Händlerin hatte das Stück gerade in die dafür vorgesehene Auslage geräumt. Filigrane Ranken und Blätter waren in das silberne Metall geschlagen worden und die vielen kleinen Rubine darin glänzten in der Morgensonne.
Er war perfekt ... Falk hatte nicht anders gekonnt – er hatte einfach zuschlagen müssen!
Während ein paar Soldaten an ihm vorbeirannten und er die kratzige Stimme der Händlerin schreien hörte, hielt er die Luft an. Die Dame hatte so ein schrilles Organ, dass Falk für einen Moment glaubte, sein Trommelfell würde platzen.
Falk verzog sein Gesicht. Wenn das Großmütterchen herausfand, dass er so leichtfertig gehandelt hatte, würde ihm mit Sicherheit etwas Schlimmeres als ein schmerzender Gehörgang drohen.
Auf Verständnis für seine Tat konnte er nicht hoffen, dabei hatte er keine Zeit gehabt, die Gegend vernünftig auszukundschaften. Zwei hochgeborene Damen waren bereits auf den Stand zugekommen und Falk hatte gewusst, wenn er jetzt nicht zugreifen würde, wäre dieses Prachtexemplar, ehe er bis drei zählen konnte, verkauft.
Ein kurzes Abwägen hatte reichen müssen und da die Damen von Soldaten der königlichen Garde flankiert gewesen waren, hatte er es einfacher gefunden, den Handspiegel vom Verkaufstresen zu stehlen, anstatt sich später mit den Lanzenträgern herumzuärgern.
Falk unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Das Stroh, das in der Sonne golden glänzte, stach Falk überall, sogar durch die Kleidung. Überall juckte es, er konnte es kaum erwarten, hier rauszukommen.
Als das Scheppern der vorbeirauschenden Soldaten verstummt war, hörte er es gackern. Falk hob die dunklen, dichten Brauen und schaute über sich. Ein großes, braunes Huhn hatte es sich auf dem oberen Heuballen gemütlich gemacht und streckte Falk seinen Hintern entgegen. Vermutlich durchsuchte es das Stroh, das es mit den Krallen durchkämmte, nach etwas zu fressen.
»Wenn du jetzt kackst, reiße ich dir jede Feder einzeln aus und verspeis dich zum Mittag ...«, nuschelte er und schaute argwöhnisch zu dem Huhn, das die Drohung wohl verstanden hatte. Mit einem lauten Gackern trat es den Rückzug an und ließ dabei einen Regen aus Stroh, das in der Sonne golden schimmerte, auf Falk hinunterrieseln.
»Verdammtes Vieh«, maulte er und horchte, um sicherzustellen, dass niemand in der Nähe war.
Er widerstand dem Drang, sich zu kratzen, und schloss die Augen, während er sich konzentrierte und horchte. Als nichts mehr zu hören war und die Chancen gutstanden, sich ungesehen davonzumachen, schälte er sich zwischen den Heuballen hervor. Um sicherzugehen, dass keine Wache mehr in der Nähe war, beugte er sich leicht nach vorne und prüfte die schmale Gasse, indem er nach rechts und links schaute. Niemand war mehr in der Nähe, nur das laute Maulen der Händlerin konnte er noch in der Ferne hören. Falk atmete tief durch und schüttelte den dunklen Mantel aus. Puh, das ging noch mal gut!
Gerade als er sich auf den Weg zurück nach Hause machen wollte, um dort seine Beute in Sicherheit zu bringen, sah er das Rotkäppchen auf dem Marktplatz stehen. Scheinbar war sie in Gedanken. Ihre verengten Augen und ihr verzogener Mund deuteten jedenfalls darauf hin. Sie schien ihn noch nicht bemerkt zu haben, was kein Wunder war. Selbst bei Tag war Falk so leichtfüßig unterwegs, dass er für die meisten nichts weiter als ein herumhuschender Schatten war.
Falk strich sich das dunkelbraune Haar aus dem Gesicht und steuerte mit langen Schritten und mit einem Grinsen auf den Lippen auf den Marktplatz zu.
MIT LEERER BLASE RENNT MAN SCHNELLER.
– FALK
»Hey Rotkäppchen!«
Arabella stöhnte auf und rollte mit den Augen.So nannte sie nur einer ... »Falk, hey ...«
»Hast du Großmütterchens Mahl schon besorgt? Heute ist Sonntag, Wein und Kuchen, wenn mich nicht alles täuscht«, feixte er.
Arabella schüttelte ungläubig den Kopf. Falk wusste genau, dass Großmütterchen Gretel jeden Sonntag Wein und Kuchen frühstückte.
Arabella schenkte ihm ein schwaches Lächeln. »So wie jeden Tag, nur sonntags ein bisschen früher ...«, sprach sie und strich sich über die Nasenwurzel. »Irgendein Idiot hat den ganzen Marktplatz in Aufruhr versetzt.«
»Ach wirklich?« Falk hob unschuldig die Hände in die Luft und zwinkerte Arabella zu.
»Du musst doch die Spiegelhändlerin gehört haben, ihre Stimme ist einmalig.«
»O ja, das hab ich!« Falk schlug lässig seinen schwarzen Kapuzenmantel mit den grünen Applikationen nach hinten und deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf seinen breiten Gürtel. Ein aufwendig verzierter Handspiegel steckte dort.
Arabella schürzte die Lippen und zog die hellen Brauen nach oben. »Du warst also der Idiot ...«, stellte sie trocken fest. »Das mit dem Stehlen üben wir dann noch mal. Aber zugegeben, ein schönes Stück ...«
»Na ja, zumindest hat die Händlerin es erst gemerkt, als ich schon verschwunden war. Ich denke, es geht schlechter.«
»Dann bist du jetzt offiziell auf der Stufe eines achtjährigen Mitglieds der Dolchsturz-Gilde. Ich gratuliere dir!«
»Danke!«
»Gerne! Wo hast du dich versteckt? In einem Heuhaufen?« Arabella zupfte ihm ein paar trockene Halme von den Schultern und aus dem dunklen Haar.
»Gut kombiniert!«
»Spar dir deinen Spott, Falk ...«, säuselte Arabella, woraufhin Falk sie mit einem fragenden Blick musterte. Mit einer Kopfbewegung warf Arabella ihr Haar zurück und lief an ihm vorbei, um den Weinstand anzusteuern.
Immerhin schien sich der Trubel langsam, aber sicher gelegt zu haben. Arabella erkannte, dass sich die Spiegelhändlerin noch immer mit hochrotem Kopf aufregte. Mit beiden Händen gestikulierte sie wild in der Gegend herum und formte diese dabei immer wieder zu Fäusten. Ob sie dem Soldaten gleich ins Gesicht boxen würde?
Ara hielt inne, um das Schauspiel weiterzuverfolgen.
Es gab keine Person, die ihr so auf die Nerven ging, wie diese Frau. Sie war die Mutter ihrer einzigen Freundin und immer auf der Suche nach Gründen, warum Arabella sie nicht mehr besuchen durfte, und das nur, weil sie im Bauernviertel wohnte und die Anderen sich das Maul darüber zerrissen. Man könnte glauben, dass ihr der Ruf wichtiger war als das Wohl ihrer eigenen Tochter.
Als Falk einen Schritt auf sie zumachte und ihr mit seiner großen Statur den Weg versperrte, funkelte Arabella ihn wütend an, doch er tat nichts weiter, als die Arme vor seiner breiten Brust zu verschränken. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie sich vergaß – warum nahm Falk ihr nun die Sicht auf das Spektakel? Erst wollte er ihr unter die Nase reiben, was für ein geschickter Dieb er war, und jetzt hatte er nichts Besseres zu tun, als sie zu provozieren.
»Was soll das, Falk?«, zischte sie und runzelte die Stirn.
»Du denkst wohl, du bist in allem besser als ich ...«, säuselte er.
»In den meisten Dingen schon, ja.« Arabella lächelte schwach. »Im Nervenrauben scheinst du jedoch die Oberhand zu haben ...«, stellte Ara fest und stellte sich auf die Zehenspitzen, um über Falks Schulter blicken zu können.
Falk lachte auf. »Weißt du eigentlich, wie viele Nerven ich schon wegen dir verloren hab?«, prustete er los, während sein Grinsen immer breiter wurde. »Im Nervenrauben bist du diejenige, die gewinnt.«
»Also gewinne ich immer ...«, sprach Arabella selbstbewusst und warf sich die blonden Haare über die Schulter. Eitel reckte sie den Hals und umrundete Falk mit großen Schritten.
»Von was träumst du bitte nachts ...«, säuselte er und ließ Arabella gewähren.
»Das werde ich dir sicherlich nicht verraten«, raunte sie beim Davongehen. Mit einem Zwinkern drehte sie sich noch mal um, streifte dabei eine Frau in lila schimmerndem Brokat, die einen empörten Ton von sich gab und den Kopf schüttelte. Die gutbetuchte Frau, die auf dem Markt gerade ihren Einkauf erledigte, schnalzte abwertend mit der Zunge, wandte sich dann aber wieder ab. Grinsend rieb Arabella den rot leuchtenden Apfel, den sie bei dem Zusammenstoß unauffällig aus dem Weidenkorb gezogen hatte, an dem Stoff ihres Mantels sauber.
Falk musste grinsen. Dieses Mädchen war in vielerlei Hinsicht unglaublich ...
Herzhaft biss sie in den Apfel und präsentierte Falk den Ring, der seit wenigen Sekunden in ihrem Besitz war und nun ihren Daumen zierte.
»Wie du meinst, Rotkäppchen!«, rief Falk ihr nach, nur eine Sekunde später war sie in der Menschenmasse verschwunden.
Während Arabella die gutmütige, dickbusige Mara ansteuerte, zupfte ein Lächeln hartnäckig an ihren Mundwinkeln, das sie nur schwer unterdrücken konnte. Manchmal war Falk fast gut in ihren Wortgefechten, die sie sich ständig lieferten, doch so taff wie sie würde er niemals sein.
Ihre Lederstiefel, die mit dem breiten Absatz über das Kopfsteinpflaster rauschten, kamen erst vor Großmütterchens Lieblingsstand zum Stehen.
Wein und Gebäckspezialitäten der Familie Berggut stand auf dem langen Holzschild an der Stirnseite des ausladenden Standes. Rechts und links hing es an einer dünnen Eisenkette an dem Dach des Standes und quietschte, als es vom Wind hin und her geschaukelt wurde.
Arabella betrachtete wie so oft die filigranen Weinranken, die in das helle Holz der Auslage geschlagen worden waren, und sich an den Trägersäulen emporschlängelten. Sie verzierten den Stand bis hoch auf das leicht angewinkelte Dach, das den Stand vor Wind und Wetter schützte.
Mara, die älteste Tochter der Familie Berggut, rückte gerade ein paar Wein- und Apfelmostflaschen in die richtige Position. Präzise achtete sie darauf, dass Kunden das Etikett gut lesen konnten. Es war eindeutig, wie stolz sie auf ihr Familienunternehmen war.
Maras Familie gehörte der Großteil der südlichen Weinberge. Dort gediehen zig verschiedene Rebsorten, von der eine besser als die andere war. Die meisten kleineren Weinbauern hatten ihre Grundstücke, auf dem die Reben in reihenförmiger Ausrichtung den Berg entlangwuchsen, an die königliche Familie verkauft, doch die Berggut-Familie beharrte auf ihrem Anrecht auf den Grund. Wahrscheinlich war das einer der Gründe, warum Großmütterchen die Weine der Familie bevorzugte. Vor allem eine Sorte, die Hagendorn genannt wurde und besonders lieblich schmeckte, hatte es ihr angetan. Auf genau solch eine Flasche hatte es Arabella heute abgesehen.
Zwischen den Gefäßen hatte Mara helle und dunkle Weintrauben platziert, die Lust auf mehr machen sollten. Zumindest klappte das bei Mara, die ab und an die ein oder andere Traube zwischen ihren vollen Lippen verschwinden ließ. Mit ihren großen blauen Augen schaute sie sich unschuldig um und strich ihre Schürze, die sie um die üppigen Hüften gebunden hatte, glatt, bevor eine Traube in ihrem Mund landete.
Arabella kam schon so lange hierher, dass sie jede Geste der jungen Händlerin mit Leichtigkeit deuten konnte. Wenn sie die Hand in den Nacken legte und ihren Blick über die Anrichte schweifen ließ, überlegte sie gerade, welche Leckerei als Nächstes in ihrem Rachen verschwinden würde. Wenn sie unruhig von einem Fuß auf den anderen trat, musste sie dringend mal aufs Klo und wartete darauf, dass ihre Mutter, die bessere Augen als ein Adler hatte, sie ablöste. Am hilfreichsten fand Arabella jedoch, dass sie sich nervös auf der Unterlippe herumkaute, sobald Wachen in der Nähe waren.
Natürlich hatte Mara nichts zu verstecken. Nun ja, bis auf die Gefühle, die sie für Leander, einen der jungen Wachmänner in der Ausbildung, hegte vielleicht. Arabella kam es fast so vor, als könnte Mara die Soldaten riechen. Eine Eigenschaft, aus der sie nur zu gerne ihren Nutzen zog.
Doch jetzt tat Mara nichts weiter, außer den nächsten Kunden anzulächeln, der direkt auf ihren einladenden Stand zumarschierte.
Hinter der rundlichen Verkäuferin sah Arabella ein paar bereits zurechtgeschnittene Stücke des Nusskuchens liegen. Das Gefühl, das Arabella durchströmte, kurz bevor sie einen Diebstahl begann, war mit nichts auf dieser Welt zu vergleichen.
Ihr Herz schlug schneller und sie fühlte sich, als wären ihre Sinne tausendfach geschärft worden. Sie nahm sogar das leise Summen der Fliegen wahr, die um den Kuchen kreisten und von Mara mit einer hastigen Handbewegung verscheucht wurden.
Ob Arabella wegen dem Stehlen jemals ein schlechtes Gefühl hatte?
Nein.
Selbst wenn Ara ein Gewissen hätte, würde sie sich keine Gedanken machen. Offensichtlich war die Familie nicht darauf angewiesen, jeden Taler dreimal umzudrehen. Es machte keinen Unterschied, wenn die ein oder andere Ware in Arabellas Körbchen, statt in dem Rachen von Mara landete.
Arabella wartete geduldig ab, bis sich einige Kunden um den Stand versammelt hatten. Die junge Verkäuferin war alleine am Tresen. Es war unmöglich, alle vier gut zugänglichen Seiten bei einem hohen Kundenandrang im Auge zu behalten.
Ara spitzte die Ohren, als ein Edelmann an die Stirnseite des Standes trat. Als dieser um eine Weinprobe bat, wusste Arabella, dass der Moment gekommen war.
Mara nickte dem Kunden freundlich zu. Ihre roten Locken hüpften dabei auf und ab. Eilig griff sie nach den kleinen Probiergläschen und füllte diese mit den offenen Weinen, die auf einem rustikalen Fass angerichtet waren.
Der Edelmann trat näher an den hölzernen Tresen und schaute dabei zu, wie Mara die rote Flüssigkeit in die Gläser fließen ließ. Mit einer Handbewegung forderte Mara den Mann, der in eine gelbe Brokatrobe gehüllt war, dazu auf, einen Schluck zu nehmen.
Der Edelmann roch an dem Wein, hob das Glas gegen die Sonne und goss sich schließlich die rote Flüssigkeit in den Rachen. Arabella betrachtete die goldenen Applikationen auf seiner Kleidung. Für einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie nicht lieber ihn bestehlen sollte. Vermutlich war er ein Ausgesandter, der für eine Hoheit eines anderen Königreiches im Ausland Wein einkaufte. Seine Kleidung schien hochwertig zu sein, also war es die Taschenuhr, die er in der linken Hosentasche stecken hatte, vermutlich auch.
Obwohl das goldene Kettchen verführerisch aus der Tasche hing und es ihr wirklich schwerfiel zu widerstehen, verwarf sie die Überlegung.
Der Edelmann griff nach einer der Flaschen und studierte die Aufschrift, dabei zwirbelte er seinen langen Oberlippenbart. »Wo wird diese Rebsorte angebaut?«, fragte er interessiert.
Mara begann zu strahlen. Sie sog die Luft tief in ihre Lungen und verfiel in einen Redefluss. Geübt sah Arabella noch mal unauffällig in alle Richtungen, ehe sie einen Schritt weiter nach links machte. Geschmeidig umschloss ihre linke Hand den Flaschenhals, während sie sich schon mitten in einer Drehung befand. Kaum hatte sie sich einmal um die eigene Achse gedreht, war die Flasche Hagedorn schon in ihrem Weidenkorb verschwunden. Mit einer gekonnten Bewegung aus dem Handgelenk legte sie das rotkarierte Tuch über den Korb.
Arabella widmete sich der linken Seite des Standes, wo die frisch gebackenen Kuchen und Törtchen ausgelegt wurden. Schon von weitem konnte man den Geruch von Zimt und Zucker riechen. Kaum zu glauben, dass der Duft noch intensiver werden konnte, sobald man sich näherte. Arabella bückte sich ein Stück nach unten und sog die Gerüche in sich auf.
Der Apfelkuchen, der noch warm zu sein schien, stand direkt neben dem Nusskuchen und ließ Arabella das Wasser im Mund zusammenlaufen. Es gab nichts Besseres als einen knackigen, süßen Apfel!
»Möchtest du ein Stück?«
Arabella hob den Kopf. »Gerne!« Ara lächelte und nickte Mara kurz zu, die schon dabei war das Stück Kuchen in Butterbrotpapier zu wickeln.
Als Mara lächelte, wurden ihre ohnehin schon aufgeplusterten, rosigen Wangen noch dicker, was Arabella niedlich fand. Sie mochte Mara und vielleicht hätten die beiden in einer anderen Welt sogar Freundinnen sein können.
Arabella drückte Mara einen Silbertaler in die Hand.
»Ich bin gleich wieder bei Ihnen!«, rief sie dem Edelmann zu, während sie in ihrem Beutelchen nach dem Wechselgeld suchte. Als Mara sich wieder zu Arabella wandte, war ein weiteres Stück Kuchen schon längst in dem Weidenkorb verschwunden.
Ara hob die Hand zum Abschied und drapierte anschließend das rot-weiß karierte Tuch neu über das Körbchen, ehe sie auf dem Absatz kehrtmachte, um in das Bauernviertel zurückzukehren. Sie war ohnehin schon viel zu spät dran und mit Großmutter war nicht gut Kirschen essen, wenn sich ihr Sonntagsritual verzögerte.
Mit langen Schritten verließ Arabella das weitläufige Händlerviertel. Dabei achtete sie darauf, trotz ihres schnellen Ganges nicht zu sehr aufzufallen. Wer wollte schon freiwillig schlafende Hunde wecken?
Arabella zwinkerte sogar einem Soldaten zu, der auf Patrouille war und an ihr vorbeischlenderte. Sie grüßte den Apotheker und den Schmied. Irgendwann legte sie den Kopf in den Nacken, um am Sonnenstand die Zeit abzuschätzen.
»Viel zu spät«, nuschelte sie, ehe Arabella auf den Trampelpfad abbog, der sie zu ihrem Zuhause führte.