Fjoergyns Labyrinth - Hannah Sternjakob - E-Book

Fjoergyns Labyrinth E-Book

Hannah Sternjakob

0,0

Beschreibung

Immer weiter breitet sich die Zivilisation auf Tallin aus und drängt den dort lebenden Naturgeist Fjoergyn in das Dickicht der Wälder. Als er erbarmungslos zurückschlägt, lässt er sich nur durch einen Pakt besänftigen. Fjoergyn teilt das Land durch ein lebendes Labyrinth, das ebenso wild ist, wie die Natur selbst. Mitten hinein stürzt die kranke Anouk, deren junges Herz vor Sehnsucht brennt. Als der Naturgeist seinen Tribut fordert, trifft Anouk eine fatale Entscheidung und erfährt, was sich hinter der Barriere aus Wurzeln und Blättern verbirgt. Anouk gerät zwischen die Fronten, doch ist ein friedliches Miteinander von Mensch und Natur überhaupt möglich?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 401

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Teil 1
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Teil 2
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 10
Kapitel 12
Kapitel 13
Teil 3
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Teil 4
Erdina – Asche
Kapitel 26
Erdina- Ewig
Kapitel 27
Erdina – Funken
Kapitel 28
Kapitel 29
Nachwort
Weitere Bücher der Autorin

Teil 1

»Ein Ende ist auch immer ein neuer Anfang.«

»Doch was ist, wenn es nicht endet?«

»Alles hat ein Ende.«

»Auch der Kampf zwischen Mensch und Natur?«

Prolog

Das salzige Wasser der Weltenmeere spülte die Menschheit an die felsige Küste von Tallin. Schon von weitem hatten die Möwen die Schiffe erspäht und kündigten deren Ankunft mit lauten Schreien an. Dutzende der weiß gefiederten Vögel saßen auf einem toten Baumstamm, der im seichten Wasser trieb und von den Wellen hin- und hergeschaukelt wurde. Die Insel lag nordwestlich des restlichen Menschenreichs und schien unbewohnt. Weit und breit war keine Spur von Zivilisation zu erkennen.

Ulf Tyr war der Erste seiner Zeit, der seinen Fußabdruck mit einem knirschenden Laut auf einer der feinen, weißen Sandbänke Tallins hinterließ und damit einen kleinen, roten Krebs unter einen Stein jagte.

Während die restlichen Männer noch dabei waren, die vielen Beiboote mit dick geknüpften Seilen und lauten Rufen an Land zu ziehen, lief Ulf den Strand entlang. Sein Herz machte einen Sprung, als er die Vegetation unweit der Sandbank entdeckte und ihm bewusst wurde, auf was er hier gestoßen war. In keiner Aufzeichnung, die er kannte, hatte es jemals ein Seemann gewagt, so weit nach Nordwesten zu segeln. Angeblich trieben riesige Monster, sogenannte Titanen dort ihr Unwesen und zogen Schiffe in den Abgrund des Meeres, sobald sie auch nur in die Nähe dieser sagenumwobenen Insel segelten. Doch Ulf interessierte sich mehr für die Geschichten über die seltenen Pflanzen und Tiere, die es auf dieser Insel geben sollte. In manchen von ihnen sollte sogar pure Magie innewohnen.

Ulf stöhnte und streckte seine Glieder in alle Himmelsrichtungen. Zwar war die Überfahrt ruhig gewesen, bis auf eine Gruppe Wale, die einmal das Boot gestreift hatte, aber trotzdem lang und kräftezehrend. Unweit entfernt erblickte er eine kleine Bucht und sein Herz begann wild in seiner Brust zu hämmern. Der nach Salz und Wildheit duftende Wind peitschte dem jungen Anführer die kinnlangen Haare um die Ohren. Triumph glänzte in seinen Augen, genauso wie es die Sonne tat, als sie auf die Oberfläche des salzigen Wassers traf.

»Nivalk …«, flüsterte er vor sich her, während er die Gischt spürte, die sich in feinen Spritzern auf seine Haut legte. »Dort wirst du erbaut werden und unter meiner Führung zu der reichsten Inselstadt des ganzen Menschenreichs aufsteigen.«

Tränen der Freude und des Erfolges kämpften sich an die Oberfläche und Ulf betrachtete den Standort seiner Stadt durch einen Tränenschleier. Konnte er dort am Horizont nicht schon den ersten Turm erkennen? Und die lange, dunkle Hafenmauer, die in das Meer ragen und an der sich die Wellen brechen würden …?

Wie lange hatte er von diesem Moment geträumt? Zwar war Ulf erst Anfang zwanzig, aber dennoch kam ihm die Zeit endlos vor.

Ulf wandte sich ab und beobachtete die Schiffe, die nach und nach die Insel ansteuerten. Muscheln brachen unter den schweren Stiefeln der Männer, als sie auch das letzte Boot stöhnend an den Strand schoben.

Es vergingen einige Tage, an denen die Menschen Tag und Nacht damit beschäftigt waren, Fässer, Kisten und Gerätschaften an Land zu hieven. Gräser und Blumen wurden zerdrückt und das sägende Geräusch der Maschinen löste bald das Zwitschern der Vögel ab, die auf der Insel zuhause waren.

Die Menschen schlugen ihre Äxte in die raue, fingerdicke Rinde der uralten Bäume, die so viele Lebenslinien in ihrem Stamm verzeichneten, dass es Stunden dauern würde, sie alle zu zählen. Verfrachtet und verkauft wurden das wertvolle Holz und die süßen Früchte in die restliche Welt.

Durch die hohe Nachfrage vergrößerte sich die Hauptstadt in rasanter Schnelligkeit und immer weitere Dörfer sprossen aus dem fruchtbaren Boden. Mehr und mehr Menschen wollten auf der sogenannten goldenen Insel leben, denn gut bezahlte Arbeit gab es genug. Bäume wurden gefällt, Stein abgetragen und Tiere gejagt. Jägersmänner töteten die Tiere und zogen ihnen die Haut ab, um letzten Endes das Fleisch verwesen zu lassen. Der Pelz war vor allem in den nördlichen Regionen des Menschenreichs sehr gefragt. Noch nie hatten die Menschen dort ein wärmeres Fell als das eines Opalwolfes gesehen.

Die Gründerfamilie Tyr stieg zu einer der wichtigsten Familien des Inselreichs auf und der Hafen von Nivalk wurde bald ein beliebtes Handelsziel. Schiffe legten im Minutentakt an und ab und sorgten dafür, dass Männer von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang damit beschäftigt waren, Schiffe ein- und auszuladen.

Mit der Zeit jedoch verschwanden die Opalfüchse und es gab immer weniger Bäume, die gefällt werden konnten. Die Arbeit wurde härter, doch der Strom an Menschen, die auf der Insel leben wollten, brach nicht ab. Jene, die keine Arbeit fanden, baten ihre Dienste in Bordellen oder als Schuhputzer an. Einige schickten ihre Kinder in die Wälder, um nach merkwürdig aussehenden Wurzeln zu graben. Diese wurden dann am Hafen als potenzsteigernde Medizin verkauft und genossen eine hohe Beliebtheit.

In den Dörfern im felsigen Norden wurde immer mehr Bergbau betrieben, wohingegen im Osten Fischersiedlungen aus dem Boden schossen.

Das Land schrie, doch niemand wollte es hören …

Innerhalb eines Jahrzehntes hatten es die Menschen geschafft, mehr als die Hälfte des grünen, dichten Waldes abzuholzen. Pflanzen und Tiere starben, weil sie keinen Platz mehr zum Leben hatten. Sie gerieten in Vergessenheit, als auch der Letzte ihrer Art starb und einsam zu Grunde ging.

Wo waren die Bäume und Bestien hin, die Fjoergyn über die Jahrhunderte erschaffen hatte? Wild, frei und groß wie Berge waren jene Titanen, die Fjoergyn einst hatte entstehen lassen. Schwer wie Blei, doch ungefährlich für jene, die im Einklang mit der Natur lebten.

Während sie bei Regen über die aufgeweichte Erde wanderten, drückte ihr Gewicht sie nach unten und ließ kleine Teiche entstehen. Anmutig, wunderschön und voller Magie …

Wo sie waren? Die Antwort war eine leichte. Ausgerottet, tot und für alle Zeit vom Erdboden gefegt. Und wofür? Damit die Menschen ihre mächtigen, glatten Hörner und Knochen verkaufen konnten, um sich in Gold und anderen Dingen zu wälzen, die für das Leben keine Bedeutung hatten. Die Federn haben sie Fjoergyns Geschöpfen aus der Haut gerissen, und ihre Herzen, die vor wilder Magie nur so tobten, auf ewig verstummen lassen.

Warum hörten sie nicht auf den Fluss und die kleinen Vögel zwischen den Baumkronen?

Was war mit dem schäumenden Meer und den Walen, die tot an die Strände gespült wurden?

Hunderte seiner Kinder hatte Fjoergyn geopfert, um die Menschheit zu warnen, während er Stürme geschickt hatte und die Erde erzittern ließ. Nun sollte kein Mensch mehr vor Fjoergyns Rache sicher sein …

Mit Hausschuhen aus Schurwolle und in kuschelige Morgenmäntel gehüllt, traten die Menschen auf die Gassen von Nivalk. Das laute Läuten der Glocken, das nun an den Wänden hallte, hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Verwundert blickten Groß und Klein, Alt und Jung sich in die verschlafenen Gesichter. Noch nie zuvor mussten die Glocken geläutet werden, die in sieben Türmen verteilt in der Stadt aufgehängt worden waren.

Ein markerschütternder Knall ließ Staub und Kiesel von den Wänden regnen. Die darauffolgenden Schreie mischten sich unter das hallende Geräusch der Glocken, doch nicht mehr lange, und die Schreie der Menschen würden verstummen. Genauso wie es dem Gesang der Vögel und dem Zirpen der Grillen ergangen war.

Der aufkommende Wind trug die Jammerlaute durch die Stadt. Der Horizont wurde zunehmend dunkler und die Luft roch nach Salz und tobender Wildheit. Ein Sturm kam auf und in der Ferne zuckten die ersten Blitze durch die immer dicker werdende Wolkendecke.

Der Wind trug die knurrenden Geräusche von Fjoergyns Soldaten bis hoch zu einem Berg, auf den sich Ulf Tyr geflüchtet hatte. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht und fassungslos starrte er auf die Stadt, die dem Untergang geweiht war.

Eine Welle schlug auf das Land auf, schwarz und höher als jeder Turm der Stadt. Dabei gab sie einen ohrenbetäubenden Knall von sich. Menschen wurden durch die Straßen und Gassen von Nivalk gespült, als wären sie Fische, die gerade aus riesigen Bottichen auf die Ladefläche eines Boots geschüttet wurden.

Holz splitterte, Steine schlugen aufeinander. Die Welle riss Mauern nieder und entwurzelte die Bäume, die die sonst so belebte Hafenpromenade säumten. Das Rauschen des Wassers, das immer weiter in das Landesinnere drängte, verschluckte die Schreie der Menschen, die um ihr Überleben kämpften.

Die erste Träne der Verzweiflung lief dem Menschen, der dort einsam und verlassen im Gras kniete, über die Wange.

»Was willst du? Ich tue alles!«, rief er in den Himmel und faltete bittend die Hände. Selbst als seine feuchten Haare ihm ins Gesicht und in die Augen peitschten, wagte er es nicht, sich zu rühren. Es verging eine Ewigkeit, bis er sich schnaufend zusammensacken ließ.

»Ein Opfer.«

»Was …?« Erschrocken fuhr er herum. »W-Wer ist da?«, presste der Mensch ehrfürchtig hervor. »F-Fjoergyn?«

»Ihr Menschen seid so dumm!«, schallte es in hundert verschiedenen Stimmen, von denen nur ein Bruchteil menschlich sein konnte. »Fjoergyn ist überall …«

»Ich … Ich möchte es wiedergutmachen«, presste der Mensch unsicher hervor. »Ich sehe ein, dass wir es übertrieben haben. Wie können wir für unsere Sünden bezahlen?«

»Mit eurem Blut … Ein Opfer zu jeder neu anbrechenden Jahreszeit.«

»Wie?! Aber wie soll ich das meinem Volk erklären?«

»Mensch, ich empfehle euch, Fjoergyns Gnade nicht auf die Probe zu stellen!«

»J-Ja … Natürlich nicht!« Ulf nahm augenblicklich eine gebeugte Haltung ein. »Wir werden es so machen, wie ihr es gesagt habt. Nur bitte, verschont uns.«

»Ich werde mein Reich vor eurer Habgier schützen. Jedenfalls das, was davon übrig ist …«, ertönte es in flüsternden Stimmen über die Anhöhe.

Einen Moment später legte sich der Sturm. Das Wasser zog sich zurück aus den Gassen der Stadt und offenbarte, welch eine Kraft dort gewütet hatte.

»Ich … Ich danke euch!«, rief Ulf Tyr aus, als er spürte, dass der Regen nicht mehr auf seinen Rücken prasselte und eine beängstigende Stille eintrat.

Während der neue Tag anbrach und sich der Himmel am Horizont rosa färbte, saß Ulf noch immer auf dem Hügel und starrte in den Wald, in den das Wesen verschwunden sein musste. Nebelschliere bildeten sich auf dem noch feuchten Gras, während Ulf dabei zusah, wie sich Barrieren aus Dornen, Sträuchern und Bäumen auftaten. Die vielen verschiedenen Gewächse wucherten ineinander, bildeten Durchgänge und Lücken, um letzten Endes wieder zu verschmelzen.

Der Wald lebte und formte einen Irrgarten.

Eine Barriere zwischen Mensch und Natur.

Ein Mahnmal, das an jene Nacht erinnern sollte.

Fjoergyns Labyrinth.

Kapitel 1

Es zischte laut, als das Bratfett der Wurst, die auf einem Stock aufgespießt war, im Feuer landete.

»Komm, Anouk, beiß mal rein!«, feixte Myron und hielt mir die Kalbswurst unter die Nase. Auffordernd blickte er mich mit seinen blauen Augen an und grinste. Obwohl es dunkel war, reichte der Schein des Lagerfeuers aus, um die kleine Narbe an der rechten Seite seiner Unterlippe zu sehen. Myron war mein älterer Bruder und noch ein Kind gewesen, als er sich die kaum sichtbare Narbe zugezogen hatte. Viel zu schnell war er damals mit seinem selbstgebauten Schlitten unterwegs gewesen, als dieser sich überschlagen hatte und Myron drei Meter weiter im Schnee gelandet war. Unglücklicherweise hatte er mit seiner Lippe einen Stein getroffen. Ich wusste noch genau, wie wütend Mutter auf ihn gewesen war, weil seine Kleidung blutig gewesen war und sie die Wunde hatte nähen müssen.

»Nein, danke, Myron«, betonte ich gespielt höflich und strich mir eine Strähne meiner langen, schwarzen Haare hinter die Ohren. »Hey, Ragnar, ist noch was vom Wein da?«, fragte ich und wandte mich dem besten Freund meines Bruders zu, der mir genau gegenüber auf einem Holzstumpf saß und an einer seiner Holzfiguren herumschnitzte.

Ragnar legte seine Utensilien in den Schoß und beugte sich nach hinten. Stöhnend bekam er die Flasche zu greifen und hielt sie ins Licht der Flammen. Durch das grünliche Glas, in dem sich das Feuer spiegelte, sah ich den dunklen Wein schwappen. Die Flasche war noch fast halb voll.

»Übertreib es aber nicht wieder …«, murmelte Myron und biss in den Zipfel seiner Bratwurst.

»Ja, ja …«, murmelte ich und rollte mit den Augen.

Auffordernd hielt ich Ragnar meinen Krug entgegen, den er großzügig füllte und mir zuzwinkerte, ehe er Myron und sich selbst einen weiteren Schluck gönnte und sich wieder sein Messer und das Stück Holz schnappte.

»Warum trinkst du eigentlich nichts, Elza?« Erschrocken löste Elza den Griff um den Oberarm meines Bruders und schaute mich verwundert an. Die beiden waren nun schon über ein Jahr ein Paar und immer noch unzertrennlich. Ich hatte sie beim Träumen gestört. Ihre Augen waren bis eben auf das Feuer gerichtet gewesen, auf das sie in Gedanken versunken gestarrt hatte.

»Ich muss morgen früh aus den Federn«, sprach sie und setzte sich aufrecht hin. Sie räusperte sich leise, ehe sie fortfuhr. »Ich kann morgen meinen ersten fertiggeschneiderten Unterrock präsentieren! Ist das nicht klasse? Ich bin so aufgeregt!« Kichernd und mit großen Augen blickte sie in die Runde, doch außer Elza hatte niemand von uns was für edle Stoffe übrig.

Myron und ich trugen von Haus aus eher praktische Kleidung und hatten kein Geld für diese Art von Vergnügen. Ragnar, dessen Vater Ulf Tyr und der somit ein direkter Nachkomme der Gründerfamilie war, hatte wohl etliche gutsitzende Hemden und Hosen aus feinen Stoffen, machte sich aber nichts aus solchen Dingen.

»Ich kann aber morgen früher gehen. Wir müssen immer noch auf die neuen Stoffbahnen warten, die von den südlichen Inseln geliefert werden sollen …«, berichtete Elza, doch anstatt ihr aufmerksam zuzuhören, blieben mein Blick und meine Gedanken bei Ragnar hängen.

Im Gegensatz zum Rest seiner Familie war Ragnar einfach gestrickt. Er brauchte nicht viel, um glücklich zu sein. Wahrscheinlich war das der Grund dafür, warum er der beste Freund meines Bruders war.

Mein Herz krampfte sich bei diesem Gedanken schmerzhaft zusammen. Ragnar war bescheiden und gutherzig. Lachte gerne und brachte heimlich den besten Wein aus der Hauptstadt mit. Sein hellbraunes Haar hatte er bis vor kurzem noch deutlich länger getragen, doch der Blick aus seinen silbern glänzenden Augen war der gleiche. Ob er sich in mich verliebt hätte, wenn ich nicht unheilbar krank gewesen wäre?

»Anouk …? Anouk?!« Ich bemerkte Elza erst, als sie vor mich trat und mir damit den Blick auf Ragnar versperrte. »Hörst du mir überhaupt zu?!« Ihre Hände hatte sie in die Hüften gestemmt. Ich musste den Kopf in den Nacken legen, um ihr in ihr makelloses Gesicht zu blicken. Ihre blauen Augen leuchteten selbst jetzt, wo sie mit dem Rücken zum Feuer stand. Als sie sich zu mir runterbeugte, streiften mich ihre langen, lockigen, blonden Haare, die stets nach einer anderen Blumensorte rochen. Sie liebte die Seifen und Düfte, die nur in der Hauptstadt zu kaufen waren.

»Ich werde jetzt gehen, es ist schon spät«, verkündete Elza an die beiden Männer gerichtet. »Und wir zwei treffen uns morgen Mittag unter der großen Eiche!« Elza beugte sich noch ein Stück weiter zu mir herunter. »Ich muss dir unbedingt was erzählen …«, flüsterte sie mir zu und hatte dabei deutlich Mühe, ruhig zu bleiben. Ich nickte und musste lächeln, als sie mir zuzwinkerte. Was sie wohl zu berichten hatte?

»Warte, ich begleite dich«, sprach Myron und klopfte sich den Dreck von der geflickten, braunen Hose. »Ragnar, wenn ihr noch bleibt, dann pass bitte auf Anouk auf, ja?«

»Na klar, kannst dich auf mich verlassen«, versprach Ragnar und verabschiedete die beiden mit einer ausladenden Handbewegung.

»W-Was? Ich bin alt genug, um selbst auf mich aufzupassen!«, zischte ich empört und stand auf, um Myron wütend anzufunkeln. Ich hasste es, wenn er mich wie ein Kind behandelte.

Elza nickte mir zu. »Mach dir keine Sorgen, Myron …«, sprach Elza mit ruhiger Stimme, ehe er etwas darauf antworten konnte. »Sie ist doch mit Ragnar hier, er passt schon auf sie auf.«

Kaum hatte Elza den Satz ausgesprochen, stieg mir die Hitze in die Wangen. Erst jetzt bemerkte ich, was es heißen würde, wenn die beiden sich verabschiedeten. Ragnar und ich wären alleine unter dem Sternenhimmel, im Schein des Feuers und mit einer fast halbvollen Flasche Wein. Doch war ich dafür bereit und vor allem war es mein Herz? Könnte es ertragen, gebrochen zu werden?

»Ich … Ich denke, ich werde auch gehen … «, stammelte ich.

»Bist du dir sicher? Es ist noch Wein da und ich würde dir Gesellschaft leisten.« Ragnar hob fragend die Augenbrauen und zuckte mit den Schultern.

»Das ist lieb, aber ich bin müde … «, schwindelte ich, »ein anderes Mal vielleicht.«

»Hm, okay. Ich bleib noch etwas und mach später das Feuer aus. Eine gute Nacht euch allen.«

»Gute Nacht …« Ich unterdrückte einen Seufzer und lief Elza und Myron nach, die ein paar Schritte vor mir gingen und sich in den Armen lagen, während sie sich irgendwelche Liebesschwüre in die Ohren säuselten.

Myron hielt in der rechten Hand die Fackel, mit der er den Weg ausleuchtete. Den linken Arm hatte er um Elzas Schultern gelegt. Es dauerte nur ein paar Minuten von der Anhöhe aus zu dem kleinen Dorf Rotkern. Dort lebten wir etwas abseits mit unseren Eltern in einem alten Bauernhaus, das Myron gerade erneuerte.

Bereits nach den ersten Schritten begann ich meine Entscheidung anzuzweifeln. Doch was sollte ich tun? Ich wusste, dass Ragnar nett zu mir war, weil ich die Schwester seines besten Freundes war. Vielleicht mochte er mich sogar, aber nie würde er mich so mögen wie ich ihn. Mit ihm allein unter dem Sternenhimmel zu sitzen, würde meine Gefühle zu ihm nur verstärken. Schon jetzt wusste ich, dass er mir irgendwann das Herz brechen würde.

Alle Mädchen waren verrückt nach Ragnar. Er sah nicht nur gut aus, sondern war auch der einzige Sohn der Gründerfamilie Tyr. Jedes Mädchen träumte davon, in der Burg zu leben, schöne Kleider zu tragen und Ragnar Kinder zu schenken, die die gleichen silbernen Augen haben würden wie er.

Warum konnte ich nicht einfach gesund sein?

Ich hasste mich und meinen Körper dafür und mein Herz krampfte sich zusammen. Ich musste Tränen unterdrücken, die sich den Weg nach oben kämpften.

Er mochte mich, doch lieben würde er mich nie.

Kapitel 2

Aufgeregt sah ich in Richtung Nivalk. Die Hauptstadt, die an die endlose See angrenzte, sah von hier so winzig aus. Schon oft hatte ich versucht, die vielen Türmchen, die zwischen den roten Ziegeldächern hervorstachen, zu zählen. Doch nie gelang es mir. Anders als Elza und Ragnar, waren weder ich noch mein Bruder je in der Hauptstadt gewesen, doch wenn man ihnen Glauben schenken konnte, musste sie riesig sein.

Als meine Eltern vor Jahren hierhergekommen waren, um sich ein neues, besseres Leben aufzubauen, legten sie am Hafen Nivalks an. Seit diesem Tag haben die beiden nie wieder einen Fuß in die Hauptstadt gesetzt. Viel zu gefährlich für dich, sagten sie immer.

Angeblich besaß die Stadt mehr verwinkelte Gässchen und Straßen, als sie Türme hatte. Unvorstellbar für ein krankes Dorfkind, das in der Stadt nichts zu suchen hatte.

Ohne Einladung oder dringendes Anliegen wurden einem die Stadttore seit ein paar Jahren eh nicht mehr geöffnet. Angeblich weil sich ohnehin schon genug Huren, Diebe und Bettler in der Stadt rumtreiben würden. Ob mich Ragnar mitnehmen würde, wenn ich ihn fragte?

Was für ein Glück Elza doch hatte, bei der Stadtschneiderin in die Lehre gehen zu können. Sie musste gleich zu sehen sein. Ungeduldig biss ich mir auf die Unterlippe. Der Gedanke daran, was sie mir zu berichten hatte, hatte mich die halbe Nacht wachgehalten. Und die andere Hälfte hatte ich von Ragnar geträumt. Als ich mich selbst bei diesem intimen Gedanken erwischte, rieb ich mir die Oberarme, um das kribbelnde Gefühl aus meinen Gliedern zu vertreiben. Hoffentlich wollte Elza nicht nur von einem neuen Stoff oder Schnittmuster berichten …

Schon seit ich denken konnte, war Elza meine beste Freundin, doch seitdem sie die Lehrstelle zur Schneiderin in Nivalk angenommen hatte, dauerte es immer eine Ewigkeit, bis wir uns am Nachmittag treffen konnten.

Elza liebte schöne Kleider und wollte unbedingt bei der besten Schneiderin des Inselreichs in die Lehre gehen. Diese lebte dort, wo die Gutbetuchten residierten. In der Hauptstadt.

Eine gute Sache hatte das Ganze. Durch die Lehrstelle lernte sie Ragnar kennen und brachte ihn eines Tages mit nach Rotkern. Mein Bruder war sofort begeistert von dem rebellischen Sohn, der sich dagegen sträubte, sich über andere Menschen zu stellen, und der ein gutes Mahl zu schätzen wusste, auch wenn er es nicht auf einem silbernen Tablett serviert bekam.

Ragnar verbrachte lieber Zeit mit dem gewöhnlichen Volk, als an irgendwelchen Banketts und anderen Feierlichkeiten teilzunehmen. Schon nach kurzer Zeit war ich mindestens genauso begeistert von Ragnar, wie Myron es war.

Zu Fuß dauerte es eine gute Stunde bis zur Hauptstadt, die an der Küste lag. Gähnend pflückte ich ein Gänseblümchen, ehe ich mich mit dem Rücken ins Gras legte und in das Astwerk des einsamen Baumes blickte. Ich beobachtete das Blattwerk, das das Sonnenlicht auffing und in den verschiedensten Grüntönen schimmerte. Friedlich wiegten sich die Blätter in der Brise, die sanft durch das Astwerk strich.

Seufzend legte ich mir den Blütenkopf des Gänseblümchens auf die Nase und roch daran. Dabei schloss ich die Augen. Meine Lehre bei der Dorfapothekerin würde im Herbst beginnen. Schon jetzt kannte ich all die Kräuter, Pflanzen und Wurzeln, die auf der Insel Tallin wuchsen. Ich wusste, wie sie rochen, schmeckten und welche Kräfte in ihnen steckten. Außerdem war es ja nicht so, dass meine Eltern nicht alles versucht hätten, um meine Lungen zu heilen. Unzählige Kräuter und Pflanzen hatte ich schon inhaliert, doch nichts vermochte die meist blutigen Hustenanfälle zu lindern. Ich wurde mit der Lungenkrankheit geboren und sie würde mein Ende bedeuten.

In letzter Zeit kam es immer häufiger vor, dass ich aufgrund eines Hustenanfalls in Ohnmacht fiel. Während Myron sich um Hof und Haus kümmerte, wurde ich wegen meiner Krankheit so gut wie möglich geschont. Alle hatten Angst, dass ich einen weiteren Hustenanfall erleiden würde, wenn ich mich zu sehr anstrengte. Jeder sah in mir einfach nur das kranke, zerbrechliche Mädchen. Dabei war ich doch noch so viel mehr …

Ich vertrieb den Gedanken, indem ich mit den Handflächen über das Gras fuhr. Die Spitzen der Grashalme kitzelten angenehm und schafften es sogar, mir ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern.

Als ich mich nach einer Weile wieder aufrichtete, sah ich Elza auf mich zukommen. Sie schlenderte offenbar gut gelaunt auf dem Feldrain zwischen zwei Weizenfeldern an einer großen Birke vorbei.

Der Weidenkorb, den sie bei sich trug, schaukelte vor und zurück. Als sie mich sah, hob sie ihre Hand zum Gruß und ihr Gang beschleunigte sich abrupt. Ihre goldenen Locken hüpften dabei auf und ab.

»Anouk! Hallo!«, rief sie, und obwohl sie noch ein Stück entfernt war, konnte ich deutlich ihr Lächeln sehen, das sie auf ihren Lippen trug.

Ich winkte ihr zu und stand ächzend auf. Wir trafen uns an der Bank, die aus zwei einfachen dicken Balken bestand und am Wegrand im Schatten der Eiche stand.

»Was hast du denn da hinten gemacht?«, fragte Elza. Missmutig zog sie die Augenbrauen zusammen.

»Du meinst auf der Wiese?«

»Ja!« Stöhnend hievte Elza ihren Korb auf die Bank. Er musste ziemlich schwer sein, vermutete ich jedenfalls. Manchmal stellte sich Elza auch einfach nur an.

Auf dem Körbchen lag ein weiß-rot kariertes Tuch, das verhinderte, dass ich einen Blick hineinwerfen konnte. Ob der Inhalt etwas mit der Neuigkeit zu tun hatte, die sie erzählen wollte?

»Auf dich gewartet … Was denn sonst?«, fragte ich sie.

»Aber hier ist doch eine Bank! Anouk, schau dich doch mal an … Dein schönes Kleid!« Verwundert blickte ich an mir herab und bemerkte erst jetzt die grün-braunen Grasflecken, die sich in den Stoff, der irgendwann mal weiß gewesen sein musste, gedrückt hatten. Ich stöhnte und rollte mit den Augen.

»Ach, Elza …«

»Ja, ja, ich weiß schon. Aber mein Herz blutet eben, wenn ich sehe, wie du manchmal mit deinen Gewändern umgehst …«

»Gewänder?!« Ich musste laut auflachen. »Du meinst wohl eher Lumpen!« Elza stimmte in mein Lachen ein und nahm mich in den Arm.

Nachdem sie mir zweimal über den Rücken gestrichen hatte, wandte sie sich schließlich von mir ab und ließ sich auf der Bank nieder.

»Komm, setz dich zu mir, Anouk.« Freudig klopfte sie auf das Holz neben sich. Ich nickte, befreite ihr zuliebe mein Kleid von den restlichen Grashalmen und sank neben ihr auf die Bank.

»Wie geht es dir, Elza?«

»Gut, danke, und dir?«, auffordernd blickte sie mich an.

»Auch gut, nur neugierig!«

»Ach, du willst sicher wissen, wie es heute lief …«

»Ehm. Ach ja, mit diesem … Rock?«

»Unterrock«, korrigierte sie mich, zwinkerte mir dabei aber zu. »Fantastisch!«, fuhr sie fort. »Die Lehrmeisterin meinte sogar, er sei besser als die von den Mädchen, die schon seit zwei Jahren in der Lehre sind. Kannst du dir das vorstellen?« Ihre blauen Augen leuchteten vor Stolz. »Ich soll aber nicht damit prahlen und es jedem erzählen …«

»Und warum erzählst du es dann mir?«, zwinkerte ich ihr zu und erntete einen bösen Blick.

Entschuldigend zuckte ich mit den Schultern und sog meine Unterlippe ein. Ich hoffte, dass sie mir nicht böse war. Mich interessierte dieses ganze Schneidereizeug recht wenig und anstatt über den Rock zu reden, wartete ich auf die Neuigkeiten, die sie vor mir geheim hielt. Ich freute mich von Herzen für meine Freundin, dass sie etwas gefunden hatte, das ihr solch einen Spaß bereitet, auch wenn ich die Leidenschaft nicht teilte.

»Na, weil du nicht jeder bist, du dumme Nuss!« Elza funkelte mich grimmig an und schnalzte mit der Zunge. »Ich würde dir alles anvertrauen! Das ist auch der Grund, warum ich mich heute unbedingt mit dir treffen wollte … «

Na endlich!

»Ich bin ganz Ohr!«, rief ich nun deutlich interessierter und rückte dicht an Elza heran. Neugierig streckte ich die Finger nach dem Tuch aus, das mir die Sicht in den Korb verweigerte. Kurz bevor ich das Tuch zwischen die Krallen bekam, hielt mich Elza mit ihrem Arm zurück.

»Hey! Nicht so schnell, meine Liebe!«, mahnte sie. Grummelnd wich ich zurück und schob die Unterlippe nach vorne. »Für das, was wir vorhaben, müssen wir gestärkt sein. Da ich weiß, wie gefräßig Myron ist, dachte ich, wir treffen uns hier und du darfst zuerst zugreifen …« Grinsend zog sie das Tuch zur Seite und zum Vorschein kamen ein Dutzend kleine Törtchen, die allesamt mit Früchten und Zuckerguss verziert waren.

»Elza! Das kannst du dir doch gar nicht leisten!«

»Und ob ich das kann …« Sie grinste mich breit an.

»Mein Unterrock war so gut geschneidert, dass er direkt verkauft werden konnte. Ich hab sogar ein paar Groschen von dem Erlös abbekommen! Von meinem Anteil habe ich uns was mitgebracht.« Sie griff nach dem Henkel des Korbs und zog ihn sich auf den Schoss. »Immerhin seid ihr diejenigen, die mich immer unterstützen.« Elza zuckte mit den Schultern, während ich sie erstaunt anstarrte. Die Worte bewegten mich so sehr, dass ich aufpassen musste, dass mir nicht eine Träne über die Wange lief.

»Du … Du bist unglaublich, Elza«, flüsterte ich.

»Und du musst hungrig sein! Also, ich bin es jedenfalls! Los, greif zu.

Kapitel 3

Der Weidenkorb von Elza war deutlich leerer geworden, als wir unseren Hof erreichten. Schon von weitem sahen wir Myron, Ragnar und meinen alten Vater, dessen Rückenschmerzen ihn wieder in den Wahnsinn treiben mussten. In gebückter Haltung stand er etwas abseits und beobachtete die beiden jungen Männer, wie sie unsere zwei Stuten an die Lastenkutsche spannten.

»Oh nein, ich hatte gehofft, dass die beiden sich erst morgen auf den Weg machen würden, damit Myron uns die Pferde für unseren Ausflug ausleihen kann … «, seufzte Elza neben mir.

»Wo willst du denn mit mir hin?«, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Abrupt blieb ich stehen und stemmte die Hände in die Hüften. »Sag schon!«, forderte ich Elza auf, die keine Anstalten machte stehenzubleiben.

»Lass dich überraschen!«, rief sie über die Schulter und ich sah zu, wie ihre Schritte schneller wurden. Ich blieb stehen, doch schon nach kurzer Zeit gab ich kopfschüttelnd auf und lief ihr nach. Immerhin hatte ich ja nichts zu verlieren. Ich sollte glücklich sein, Menschen um mich zu haben, die mein kurzes Leben mit Abenteuern füllten.

Ragnar bemerkte uns als Erster. Er strich gerade über das kurze graue Fell der Stute, das in der Sonne glänzte, während Myron die Lederriemen kontrollierte.

»Hey!«, rief er und machte Myron mit einer lässigen Kopfbewegung auf uns aufmerksam. Das Gesicht meines Bruders strahlte, als er Elza sah und nur wenige Momente später einen Kuss von ihr aufgedrückt bekam.

Während Elza ihren Korb auf die Erde sinken ließ und sich in den Armen von Myron verlor, lugte ich verstohlen zu Ragnar hinüber und bemerkte, dass er mich ebenfalls ansah. Sofort wandte ich den Blick zu Boden und spürte, wie mir die Hitze in den Kopf stieg. Wohin mit meinen Beinen? Wohin mit meinen Armen? Wie gern würde ich ihn einfach nur umarmen …

Während ich mir leicht auf die Lippe biss und meine Arme hinter dem Rücken verknotete, bemerkte ich, wie Ragnar auf mich zukam. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, dass mein Herz noch schneller schlagen konnte, doch mit jedem weiteren Schritt, den er auf mich zukam, wurde ich eines Besseren belehrt.

»Anouk … «, sprach er leise und berührte mit seiner kräftigen Hand meinen Rücken. Allein mit dieser kleinen Berührung brachte er mein Blut zum Kochen und ich spürte ein verlangendes Ziehen im Unterleib. Ich hob den Kopf und starrte in seine Augen, die glänzten wie flüssiges Silber.

»Und ich werde ignoriert? Was hab ich nur falsch gemacht bei deiner Erziehung!?«, rief mein Vater in einem Ton, der deutlich machte, dass er nur scherzte.

»Ach ja, die Liebe … «, seufze er und grinste süffisant vor sich hin.

»Vater!«, rief ich und schnalzte mit der Zunge.

»Guten Tag, Herr Smulda«, murmelte Elza zwischen zwei Küssen meinem Vater entgegen, der daraufhin lächelnd den Kopf schüttelte. Verlegen presste ich die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und sah Ragnar ein letztes Mal in die Augen, bevor ich zu meinem Vater lief, um ihn zur Begrüßung in den Arm zu nehmen.

»Ich würde dich doch niemals ignorieren, Vater.«

»Das will ich auch schwer hoffen, mein Liebling«, flüsterte er, als er mich in den Arm nahm und mir einen Kuss auf den Kopf drückte.

Mittlerweile konnten sich auch Elza und Myron voneinander lösen und die drei Männer machten sich über die verbliebenen Törtchen her. Elza ermahnte sie, mindestens eines für meine Mutter übrig zu lassen, die gerade frische Milch vom Nachbarhof besorgte.

Mein Vater ging zurück ins Haus und brachte die restlichen zwei Törtchen in Sicherheit. Ich war mir nur nicht ganz sicher, ob beide für meine Mutter gedacht waren.

Bis auf ein paar Hühner, zwei Pferde und ein Kätzchen, das in der Scheune die Mäuse fing, hatte sich meine Familie dem Anbau von Gemüse gewidmet. Das Jahr begann mit Porree und Brokkoli. Im Sommer und Herbst ernteten wir überwiegend Karotten, Tomaten und Kohlrabi. Das Gemüse war jedoch lange nicht so interessant wie die pelzigen Tiere des Nachbarhofs. Oft waren Myron und ich als Kinder auf dem benachbarten Hof unterwegs gewesen und hatten die Kühe und Schweine gestreichelt, die dort in den Ställen oder auf einer der großen Weiden untergebracht waren.

»Ich glaube, wir sollten so langsam aufbrechen. Bis nach Keplan ist es ein weiter Weg«, überlegte Myron laut und blickte in den Himmel, um den Sonnenstand zu kontrollieren.

»Keplan? Das Dorf am Steinbruch? Was macht ihr denn dort?«, wollte ich wissen und runzelte die Stirn.

»Du hast es ihr nicht erzählt?«, fragte Myron erstaunt und legte seine Stirn in Falten, während er zu Elsa sah, die ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste.

»Noch nicht …«, gestand Elza und blies sich beiläufig eine blonde Locke aus der Stirn. »Ich wollte es aber gleich machen.« Elza verschränkte die Arme vor der Brust.

»Da hat wohl jemand die Überraschung versaut«, lachte Ragnar, der sich zu meiner Verwunderung nun auch noch in das Gespräch einmischte.

»Du weißt, was hier vor sich geht?!«, keifte ich Ragnar schärfer an, als es notwendig gewesen wäre.

»Ehm, ja.« Ragnar zuckte mit den Schultern.

Nach und nach machte sich auf den drei Gesichtern ein Grinsen breit, doch leider entfachten die fröhlichen Mienen der drei in mir nichts weiter als Wut. Zornig ballte ich meine Hände zu Fäusten. Tränen stiegen in meine Augen und ich musste den Kloß, der sich in meinem Hals sammelte, herunterschlucken.

Was bewegte die drei dazu mich auszuschließen? Anscheinend rechneten sie schon damit, dass ich bald nicht mehr bei ihnen sein würde, und hielten es nicht mehr für nötig mich einzuweihen. Ich kam mir ausgestoßen vor und fühlte mich wie ein Fremdkörper.

Ich bemühte mich, mich zusammenzureißen, doch egal wie sehr ich auch meine Fingernägel in die Handinnenflächen drückte, es gelang mir nicht, die Tränen zurückzuhalten. Als mir der erste salzige Tropfen die Wange hinunterlief, wich das Grinsen der drei einem erschrockenen Gesichtsausdruck.

»Ich finde es echt gemein, dass ihr Geheimnisse vor mir habt!«, gab ich schluchzend von mir. Verwirrt schauten sie sich gegenseitig an und liefen dann auf mich zu.

»So ist das doch gar nicht … «, sprach Elza sanft.

»Es sollte eine Überraschung sein«, ergänzte Myron.

»Ihr schließt mich aus!«

Auch wenn ich verstand, warum die drei mein Empfinden nicht nachvollziehen konnten, zügelte das nicht die Trauer in mir. In ihren Augen schien ich zu übertreiben, dennoch konnte ich nichts dagegen tun, dass ich eben so empfand, wie ich es tat.

Fest umschlang die Traurigkeit mein Herz auf eine absurde Weise, die wohl nur Menschen verstehen konnten, die bereits mit ihrem Leben abgeschlossen hatten. Dabei dachten die Meisten immer, dass sich Gleichgültigkeit einschlich. Aber nur weil ich wusste, dass ich nur noch wenige Jahre zu leben hatte, machte das aus mir keine gefühllose Hülle.

Ja, ich übertrieb in den Augen der anderen, aber was sollte ich gegen die Gefühle tun, die in mir tobten?

Gerade als ich meinen Empfindungen Luft machen wollte und tief einatmete, spürte ich, wie meine Kehle sich plötzlich rau und trocken anfühlte. Ich erschrak und bekam einen Hustenanfall, der nach nur einem Augenblick schon so heftig war, dass ich mich an der steinernen Hauswand festhalten musste, um nicht umzufallen.

»Scheiße!«, rief Myron und hielt mich an der Taille. »Ragnar, hol sofort etwas Wasser. Elza, geh in ihr Zimmer. Im Regal neben ihrem Bett … «

»… steht die Salbe!«, ergänzte Elza und sprintete los.

Immer wieder zuckte mein Oberkörper zusammen. Die keuchenden Geräusche, die ich von mir gab, und das Rauschen von Blut in meinen Ohren waren das Einzige, das ich hörte. Mir fiel es immer schwerer, zwischen dem Husten Luft zu holen. Mir wurde schwindelig und ich krallte meine Finger fester in das Mauerwerk, das nun von roten Blutsprenkeln überzogen war. Ich spürte, wie der Griff um meine Hüfte fester wurde und dass mir jemand die Salbe, die mir helfen sollte, besser zu atmen, unter die Nase strich.

»Anouk …«, hörte ich die Stimme von Ragnar flüstern. »Versuch, durch die Nase zu atmen!«

Als ich den Schwindel vertreiben konnte und der Husten mir nach und nach mehr Zeit gab, um zu atmen, nahm ich einen großen Schluck Wasser aus dem Becher, den mir Ragnar entgegenstreckte.

Das Wasser lief mir an den Mundwinkeln herunter und mischte sich mit dem Blut, das mir an den Lippen und dem Kinn klebte. Als ich Ragnar in die Augen sah, wischte ich mir mit dem Handrücken den Mund trocken und schämte mich abgrundtief.

»Es geht schon wieder … «, sprach ich und drückte meinen Bruder ein Stück von mir weg, der sicherheitshalber immer noch die Hände um meine Hüften gelegt hatte.

»Was ist hier los?«, fragte Vater, der erschrocken aus dem Haus gestürmt kam. Als er mich ansah, wurden seine Augen riesig. »Anouk, mein Kind!«, rief er erschrocken und legte besorgt seinen Arm um mich.

»Es geht schon wieder …«, säuselte ich und wischte mir erneut den Mund ab. »Elza, begleitest du mich bitte? Ich würde mich gerne waschen.«

»Aber natürlich!«

Schnell kam sie auf mich zu und legte ihre Hand um meine Taille. Nur murrend ließ mein Vater von mir ab. Um nicht tatenlos dazustehen, begannen die Männer die Erde und Steine mit Wasser zu überschütten, um die Spuren meines Hustenanfalls zu beseitigen. Besser so, denn Mutter würde nur wieder in Tränen ausbrechen, wenn sie wüsste, dass ich schon wieder einen Anfall gehabt hatte. Ich war froh darüber, dass sie gerade nicht hier war.

Ich atmete ein weiteres Mal tief ein, um sicherzugehen, dass alles wieder in Ordnung war, und öffnete die Tür. Ich hielt in der Bewegung inne, damit ich nicht in Elza lief, die direkt vor der Tür stand. Sie blickte mich besorgt an und legte entschuldigend ihre Hand in die meine.

»Myron baut uns ein eigenes Haus. Er wird es zwischen der Scheune und eurem Elternhaus auf der Anhöhe errichten. Ragnar weiß es nur vor dir, weil Myron ihn gefragt hat, ob er ihm hilft.« Elza lächelte. »Steine sind schwer … «, stellte sie überflüssigerweise fest und drückte meine Hand.

»Das sind fantastische Neuigkeiten!«, rief ich aus und mein Herz machte einen Satz, als ich daran dachte, dass meine Freundin in Zukunft nur einen Katzensprung von mir entfernt wohnen würde. »Ich freue mich sehr für euch, Elza!« Ohne ihre Hand loszulassen, küsste ich sie auf die rechte Wange.

»Ich wollte es dir wirklich sagen, Anouk. Ich wollte dich überraschen. Ich hab doch gesagt, dass ich dir was erzählen möchte …«

»Ich weiß schon, Elza.« Um sie zu beruhigen, strich ich ihr mit meinem Daumen über ihre Fingerknöchel. »Ich reagier manchmal etwas merkwürdig, das weißt du doch …«, entschuldigend presste ich die Lippen aufeinander und legte die Arme um meine Mitte. »Es tut mir leid.«

»Mir tut es auch leid. Ich wollte nicht, dass du dich ausgeschlossen fühlst.«

»Es ist nicht deine Schuld. Du wolltest mir nur eine Freude machen und mich überraschen.«

»Das kann ich vielleicht immer noch … «, flüsterte sie fast beiläufig, doch ich bemerkte ein gefährliches Blitzen in ihren Augen.

»Wie meinst du das?«

»Na ja«, murmelte sie und schaute über die Schulter, um sicherzugehen, dass uns niemand zuhörte. »Es gibt da noch ein Geheimnis, das niemand weiß. Nicht mal Myron.« Auffordernd zwinkerte sie mir zu.

»Und du willst es mir erzählen?«

»Ja. Aber zuerst möchte ich den geplanten Ausflug mit dir machen.«

»Das klingt sehr geheimnisvoll, ich bin echt gespannt. Wollen wir gleich los?«

»Meinst du? Wir können es auch verschieben, wenn es dir nicht gut geht.«

»Elza … «, seufzte ich und ließ ihre Hand los, um meine Hände in die Hüften zu stemmen und sie mit einem mahnenden Blick zu mustern. »Bitte behandle nicht auch du mich wie ein Kleinkind. Wenn ich sage, dass es mir gut geht, dann ist das auch so!«

»In Ordnung!«, sprach Elza und ihr besorgter Blick wich einem Gesichtsausdruck, der vor Freude strahlte. »Dann lass uns losgehen!«

Kapitel 4

Es dauerte eine Ewigkeit, die Männer davon zu überzeugen, dass es mir besser ging. Nur durch Elzas Unterstützung ließen uns die Vertreter des männlichen Geschlechts ziehen. Sie verzichteten nicht darauf, uns einen besorgten Blick zuzuwerfen, als wir das Haus verließen.

Wir liefen an Feldern vorbei und durchquerten sogar das verlassene Holzfällerdorf Gotschnagrat. Nach einiger Zeit mussten wir Steinen ausweichen, die mal zu Häusern, Mauern und anderen von Menschen erbauten Bauwerken gehört hatten. Längst vergessene Trümmer. Seit der Katastrophe vor zwei Jahrzehnten wagte es kein Mensch mehr, so nah an Fjoergyns verwunschenem Labyrinth zu leben. Unmut machte sich in mir breit. Was wollte Elza hier?

Je weiter wir durch die Ruinen schlichen, desto mehr spürte ich, wie aufgeregt ich war. Obwohl es warm war und die Sonne schien, überzog jedes Mal eine Gänsehaut meine Arme, wenn ich meine Finger über einen der grauen Steine gleiten ließ.

Efeu schlängelte sich um die morschen Holzbalken, die noch zum Teil über den halb stehenden Hausruinen hingen. Das Moos wuchs am Fuße der Steine empor und es sah so aus, als würde sich die Natur wieder das zurückholen, was mal ein Teil von ihr gewesen war, bevor es durch menschliche Hand in die zweckdienlichen Passformen verarbeitet worden war.

»Wie weit ist es noch?«, fragte ich Elza und drückte mich zwischen zwei noch jungen Bäumen vorbei, die hier ihre Wurzeln schlugen. Die Blätter waren glatt und hellgrün und die Zweige Ware noch so flexibel, dass sie sich ohne Probleme von mir wegdrücken ließen.

»Wir sind gleich da!«, versprach sie in einem Ton, der sich zwar leicht genervt anhörte, aber in dem auch ein leichtes, kaum merkbares Zittern mitschwang.

Hoffentlich kannte Elza den Weg …

Schließlich folgte ich ihr weiter und lief an einer in Stein gemeißelten Frau vorbei, die einen Krug auf den Schultern trug. Durch das hohe Gras, das in einer Art steinernem Becken wuchs, hätte ich die schöne Figur fast übersehen, doch nun trat ich näher an sie heran und kämpfte mir den Weg durch die hohen, lanzenartigen Gräser.

»Das muss mal der Dorfbrunnen gewesen sein …«, murmelte ich vor mich hin und zupfte das Gras etwas zur Seite, damit ich freie Sicht auf die Figur hatte.

Der halbnackten Frau fehlten einige Finger und die Nasenspitze. Ein Stück des Kinns war ebenfalls abgebrochen, dennoch konnte ich erahnen, wie schön der Brunnen mit dieser Figur einmal gewesen sein musste. Vorsichtig strich ich über den rauen Stein des Kruges, in den sogar ein Muster gemeißelt war.

»Anouk? Kommst du?«, hörte ich Elza rufen und erschrak, als genau in diesem Moment eine riesige Spinne aus dem Inneren des Kruges krabbelte. Ich war so nah an die Figur herangetreten, dass ich die kleinen Härchen an den Beinen hätte zählen können. Ich schrie vor Schreck, taumelte nach hinten und plumpste mit dem Gesäß ins hohe Gras.

»Anouk!«, rief Elza und fand mich nur eine Sekunde später im hohen Gras liegend. »Ist alles okay?«, fragte sie besorgt. Ich zog die Augenbrauen nach oben und schürzte missmutig die Lippen.

»Ja …«, murrte ich, und als Elza erkannte, dass es mir offensichtlich gutging, bemerkte ich das schelmische Grinsen auf ihren Lippen.

»Ich ruh mich nur aus … «, murmelte ich, stand auf und klopfte mir den Dreck von meinem Kleid.

»Schon klar …«, meinte Elza und verschränkte die Arme vor ihrer üppigen Brust. »Ist es wenigstens gemütlich mitten in dem Dreck?«

»Das ist doch nur Gras, Elza«, säuselte ich und verdrehte die Augen. »Aber nein, nicht wirklich …« Stöhnend begann ich mich aufzurappeln. Ich klopfte die letzten Erdkrümel von meinem Kleid und fuhr mir ein paarmal mit den Fingern durch das Haar, so lange, bis es wieder glatt und grasfrei war. »Ich bin erschrocken«, begann ich zu erklären. »Aus dem Krug da vorne ist ‘ne Spinne gekrabbelt, deren Körper größer war als meine Faust.«

»Iiih … «, entfloh es Elza so laut und schrill, dass ich mir fast die Ohren zugehalten hätte. Sie rümpfte die Nase und sah sich vorsichtig um. »Meinst du, das Vieh ist noch hier?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Ähm …«, mit der Rechten deutete ich hinter Elza, während ich die Linke vor den Mund hob. Doch anstatt einen offen stehenden Mund zu verbergen, versteckte ich nur mein gehässiges Grinsen dahinter.

»Was?! Ist sie auf meinem Rücken?« Panisch sprang Elza in die Luft und versuchte, die Spinne, die gar nicht auf ihr saß, abzuschütteln. »Mach es weg, mach es weg!«, schrie sie.

»Wir müssen aus dem hohen Gras, schau, da vorne ist ein Pfad zu erkennen, der aus diesen Ruinen führen muss.«

Ohne auch nur ein Wort zu sagen, sprintete Elza los und vergaß dabei sogar, ihr Kleid in die Höhe zu hieven. Es dauerte nur wenige Momente, bis wir das Steintor oder das, was davon übrig war, passierten und den schmalen Pfad erreichten.

Wir ließen die porösen, bröckelnden Steinquader hinter uns, und als ich Elza sah, wurde mein Grinsen breiter. Ihre Haare waren unordentlich und ihr Kleid war verrutscht. Ein ungewohnter Anblick, der Elzas Schönheit jedoch nicht im Geringsten schmälerte. Ich zupfte einen langen Grashalm aus ihren verwuschelten blonden Locken.

»Oh, war doch nur Gras«, stellte ich fest und versuchte dabei, so erstaunt wie möglich zu klingen.

»Gras?!«

Unschuldig zuckte ich mit den Schultern und blickte sie fragend an, doch Elza durchschaute mich.

»Das gibt Rache!«, versprach sie mir in einem scharfen Ton, der aber durch ihre schelmisch lächelnden Lippen entschärft wurde. »Warte nur ab.« Sie zwinkerte mir zu und stach mir mit ihren Fingern in die Rippen, woraufhin ich ihr kindlich die Zunge rausstreckte.

Lachend hakten wir unsere Arme ineinander und folgten dem Pfad, der weiter in Richtung des Labyrinths führte. Vereinzelte Bäume und Sträucher säumten die Straße oder das, was davon übrig war. Im besten Fall ein schmaler Trampelpfad, wenn überhaupt.

Als wir einige Schritte gegangen waren, blieb ich kurz stehen, um meinen Blick ein letztes Mal über die Dorfruine schweifen zu lassen.

Ich hatte gelesen, dass Gotschnagrat einst ein florierendes Dorf gewesen war. Hier waren in einer großen Schreinerei Möbel gebaut worden und es hatte mindestens zwei Sägewerke gegeben. Als ich die Augen schloss, war mir fast so, als könnte ich die Sägen hören und den Geruch von frisch geschlagenem Holz riechen. Der süße Duft von uralten Fichten und Steinholz. Als ich spürte, wie Elza an meinem Arm zog, öffnete ich wieder die Augen.

»Was machst du denn da, ist alles in Ordnung?«

Ich betrachtete die zusammengefallenen Gebäude und die noch recht jungen Bäume, die zwischen den Ruinen wuchsen. Traurig, dass es so weit hatte kommen müssen.

»Wie schlimm es damals wohl gewesen ist …?«, sprach ich meinen Gedanken laut aus und spürte, dass Elza von mir abließ und ihren Kopf ebenfalls in Richtung Gotschnagrat drehte.

Ich legte die Stirn in Falten. »Wie lange die Menschen wohl noch für ihre Fehler von damals bezahlen müssen?«

Noch heute fanden die Opferrituale statt, bei denen sich Fjoergyn ein Tribut aus den Inseldörfern erwählen durfte.

»Was wohl mit den Auserwählten passiert …?«, murmelte ich.

»Ich glaube, so genau will ich es gar nicht wissen! Jedenfalls nichts Gutes«, stellte Elza fest, wandte sich ab und lief weiter.

Wann stand eigentlich das nächste Ritual an? Ich legte die Stirn in Falten und versuchte, mich zu erinnern, wann Rotkern das letzte Mal an der Reihe gewesen war.

Ich kam nicht drauf, aber ich wusste, dass sich einiges ändern würde, wenn Ragnar an der Macht war. Schon jetzt war er ein besserer Mensch, als es seine restliche Familie je hätte sein können. Er fand immer die richtigen, mahnenden Worte, um seinen Vater davon abzuhalten, die Natur weiter auszubeuten. Ich war mir sicher, dass sich die Katastrophe von damals schon wiederholt hätte, wenn er nicht wäre. Seit seine Mutter gestorben war, hatte er die Aufgabe übernommen, Ulf Tyr wenigstens ein Quäntchen Vernunft einzupflanzen.

Menschen vergaßen zu schnell, wenn der Gedanke von Gold sich in ihren Herzen und in den Verstand einnistete. Er machte sie blind für die Dinge, die wirklich wichtig waren.

Ein wehmütiges Seufzen entglitt mir. Hatte ich noch das Glück, unter der Herrschaft von Ragnar Tyr leben zu dürfen?

»Anouk, ist das dein Ernst? Du erschreckst mich fast zu Tode und jetzt bist du diejenige, die ihren Hintern nicht in Bewegung setzt … hopp, hopp!«

»Jaaa«, stöhnte ich und verdrehte die Augen. »Ich komm ja schon!«

Kapitel 5

Je weiter wir dem staubigen Pfad folgten, desto näher steuerten wir auf das grüne Labyrinth zu, das aus Bäumen, Wurzeln und Sträuchern bestand. Der Wind strich durch die Äste, die so ineinander verwachsen waren, dass es unmöglich war, auch nur einen Blick hinter die dichte Barriere zu werfen. Undurchdringlich – bis auf den ersten Tag jeder neu anbrechenden Jahreszeit. Nur an diesen Tagen öffnete Fjoergyn seine Pforten in sein Reich, um seine Tribute entgegenzunehmen.

Bei dem Gedanken daran, was mit den Menschen hinter der Barriere passieren musste, wurde mir übel. Das zunehmend lauter werdende Knarzen des ständig wachsenden Labyrinths steuerte ebenfalls zu meiner Übelkeit bei. Jedes Mal wenn ich hörte, wie Holz splitterte, zuckte ich zusammen und ein kalter Schauer kroch mir die Wirbelsäule empor.

Wehmütig dachte ich an die Menschen, die Fjoergyn bereits zu sich geholt hatte, und Schwermut umschloss mein Herz. Ein besonders lautes Geräusch ließ mich zusammenzucken und vertrieb die Traurigkeit aus meinem Herzen.