Diebstahl mit Sockenschuss - Allyson Snow - E-Book
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Allyson Snow

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Beschreibung

Eine Urkunde? Auf ollem Papier und mit Schnörkel?! Gibt’s die nicht als PDF-Datei?

Die Bürgermeisterin Elvira Rotstein des kleinen Städtchens Jeverhaven hat ein Problem: Ein milliardenschwerer Konzern möchte sich mit tausenden Arbeitsplätzen in dem Ort  ansiedeln, doch bevor der Deal unter Dach und Fach gebracht werden kann, muss Elvira die Urkunde vorlegen, die Jeverhaven das Stadtrecht bescheinigt.
Doch was tun, wenn sich das Dokument unglücklicherweise in England befindet und die Herausgabe verweigert wird?
Elvira Rotstein schmiedet einen raffinierten Plan und überredet ihre eigene Nichte Luisa, die Urkunde zu klauen.

Für Luisa wird aber nicht nur der Diebstahl zur Herausforderung.  Nein, auch der mysteriöse (und bedauerlicherweise ausgesprochen attraktive) Ryan, der sich Luisa plötzlich an die Fersen heftet, macht ihr einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Denn seine ständige Nähe hat deutliche Auswirkungen auf ihr Denkvermögen und ihr rationales Verhalten …


Leserstimmen von Bookrix

"Ah, ich erinnere mich nicht, wann ich das letzte Mal so gelacht habe!" – avalon

"Herrlich! Dein Buch ist einfach ein einziges Lesevergnügen. Meine Güte, was für eine Verfolgungsjagd! James Bond hätte es nicht besser gekonnt." – Britannia

"In deinem turbulenten Buch, jonglierst du beeindruckend mit Worten. Manchmal musste ich grinsen und manchmal auch laut lachen. Ich freue mich schon auf mehr solch amüsante Bücher." – Alica

 

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Allyson Snow

Diebstahl mit Sockenschuss

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Diebstahl mit Sockenschuss

 

 

 

Alles, was du dir vorstellen kannst, ist real.

 ― Pablo Picasso ―

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

Verrückte Bürgermeisterinnen, verrückte Pläne

 

Luisa schwante Ungutes. Diesen Kampf konnte sie nicht gewinnen. Nicht, wenn sich Elvira Rotstein etwas in den Kopf gesetzt hatte und diesen flehenden Blick aufsetzte. Luisa konnte einen Bären an der Leine spazieren führen, George Clooney um seine Telefonnummer bitten oder sich ins Weiße Haus hineinflirten (wenn auch nur in die Besenkammer), aber ihrer Tante etwas abschlagen, wenn diese den Blick aufsetzte … Keine Chance. Luisa liebte ihre Tante über alles. Eine Tatsache, die dieses Miststück zu jeder Gelegenheit schamlos ausnutzte.

Trotzdem schüttelte Luisa so beharrlich den Kopf, dass ihre blonden Locken flogen. „Du spinnst doch!“

„Das ist allseits bekannt und kein Grund ausfallend zu werden“, erwiderte Elli. (Niemand, der noch bei Trost war, würde es wagen, den Namen Elvira zur Gänze auszusprechen. Elli hasste es.)

„Aber, das ist absolut verrückt!“, versuchte Luisa dem Unausweichlichen zu entkommen. Der rettende Sprung durchs Fenster war leider keine Möglichkeit. Auch wenn man darüber streiten konnte, was besser war: sich das Genick zu brechen oder sich zu diesem Himmelfahrtskommando überreden zu lassen.

Seit etwa einer halben Stunde versuchte sie Luisa zu einem Plan zu überreden, den sie sich sturzbetrunken ausgedacht haben musste.

Damit sich der Konzern Dyran Emerson mit mehreren tausend Arbeitsplätzen auf dem Gebiet der Stadt Jeverhaven ansiedeln konnte, musste Elli die Urkunde vorlegen, mit der im Jahre 1704 Jeverhaven das Stadtrecht verliehen wurde. Doch leider hatten Ellis Vorgänger die Urkunde schlichtweg verramscht. Oder besser gesagt: Sie hatten sie im Zweiten Weltkrieg verloren. Denn die Urkunde war nicht vom Erdboden verschwunden. Nach Ellis Worten befand sie sich im britischen Nationalarchiv in London, einem Gebäude, das mit Kameras, den modernsten Sicherheitsvorkehrungen und sicherlich einer Menge schießwütiger Sicherheitsleute ausgestattet war.

Luisa straffte sich, so gut es in diesem Sessel ging. „Ich werde nicht in das Nationalarchiv eines fremden Landes marschieren und für dich eine Urkunde klauen!“ Das sagte sie mit solcher Inbrunst, dass sie Gefahr lief, von dem glatten Ledersessel herunterzurutschen. „Für wen hältst du mich? X-Men? Batman? Oder wie sie alle heißen?“

Sie war Privatdetektivin, Herrgott noch mal! Und Luisa besaß genügend Einsicht, um vor sich selbst festzustellen, dass sie nicht einmal eine sonderlich gute war. Keine von diesen Krimidetektiven, die durch Zufall in Morde, Verschwörungen und andere Verbrechen hineinstolperten, mit Sachverstand und logischem Denken den Täter ermittelten und ihn zu einem Geständnis verleiteten.

Luisas Job bestand größtenteils darin, untreuen Ehemännern hinterherzulaufen, sich an ihr Fensterbrett zu hängen und sie so lange zu beobachten, bis sie sie in flagranti erwischte. Oder zu überprüfen, ob der neue Buchhalter einer Firma ein Drogendealer in Teilzeit war. Die Voraussetzungen für diesen Job waren denkbar schlecht.

 „Du meinst wohl eher Supergirl“, steuerte ihre Tante gerade der Unterhaltung bei, und Luisa verdrehte die Augen.

Pah! Luisa war zwar blond wie Supergirl, besaß ebenso blaue Augen, aber niemals würde sie freiwillig so ein Cheerleaderkostüm aus feuchten Männerträumen anziehen.

„Ich bin vermutlich auch die einzige Bürgermeisterin ohne Stadturkunde. Bitte, Luisa, du musst sie mir besorgen“, flehte Elli. „Grundgütiger, müssen meine Vorgänger unfähig gewesen sein! Wie kann man eine Stadturkunde einfach so aus der Hand geben?! Elender Mist, verfluchter. Zum Glück sind meine Vorgänger allesamt tot, sonst könnten sie sich jetzt etwas anhören!“ Immer wieder schlug Elli mit dem Löffel gegen das feine Porzellan ihrer Tasse. So lange, bis es zerbrach.

Luisa seufzte abgrundtief und warf die Rolle Küchenpapier, die Elli aus gebotenem Grund immer in ihrer Nähe hatte, auf den ausgelaufenen Kaffee. Ellis rüder Umgang mit ihren Tassen hatte zur Folge, dass das Geschirr im Rathaus halbjährlich ausgetauscht werden musste.

Nun schwamm Ellis Getränk einer großen Pfütze auf dem Schreibtisch. Elli versuchte vergeblich, die wichtig wirkenden Dokumente vor der Brühe zu retten. Hoffnungslos. Mit einem Schulterzucken warf sie diese samt den durchweichten Blättern der Küchenrolle in den Papierkorb, bevor sie den Mund öffnete, um eine weitere aufgebrachte Tirade folgen zu lassen.

„Stell dir vor: 2.400 Arbeitsplätze in den ersten zwei Jahren, und weitere eintausend in den Jahren danach.“ In Ermangelung einer neuen Tasse, die sie zerstören konnte, rührte Elli gedankenverloren in der Luft. „Irgendein Vollidiot aus deren Führungsetage hat sich in den Kopf gesetzt, dass sie sich in einer Stadt ansiedeln, und nicht in einer Gemeinde. Was glauben die eigentlich? Dass Stadt Jeverhaven ein Künstlername ist? Jedenfalls bestehen sie auf die blöde Urkunde. Und zwar im Original. Entweder die, oder sie suchen sich eine Stadt, die eine Urkunde hat!“

„Und warum nimmst du nicht einfach die Urkunde, die hinter dir hängt?“ Luisa deutete auf den Bilderrahmen hinter Ellis Schreibtisch und fing den geworfenen Löffel gerade rechtzeitig auf, bevor er gegen ihre Stirn krachte.

Die Ausstattung des Bürgermeisterbüros war herrlich. Luisa liebte die alten Möbel, die wuchtigen Sessel und alten Schinken, Pardon, Gemälde an der Wand. Und auch eine Urkunde hing hier, auf der groß und mit tausenden Schnörkeln das Wort „Jeverhaven“ zu lesen war.

„Mädchen, du willst Privatdetektivin sein? Diese Urkunde habe ich innerhalb einer Stunde mit Photoshop zusammengebastelt!“

Beleidigt krauste Luisa die Nase.

„Hör auf damit, du siehst aus wie ein Ferkel“, mahnte ihre Tante. Luisa gab es ungern zu, aber Elli hatte recht. Nicht damit, dass Luisa aussah wie ein Ferkel, wenn sie die Nase rümpfte (Frechheit!), sondern damit, dass die gefälschte Urkunde bei genauerem Hinsehen und mit korrekt sitzenden Kontaktlinsen wirklich eine schlechte Fälschung war. Sogar das Wasserzeichen von einem der verwendeten Bilder konnte Luisa erkennen.

Trotzdem hing diese mittelmäßige Fotomontage mit unnachahmlicher Selbstverständlichkeit neben einem alten Bild von einer offiziellen Feierlichkeit auf einem Schiff hinter dem Schreibtisch der Bürgermeisterin.

„Was ist das eigentlich für ein Schiff?“, fragte Luisa und fing sich einen tadelnden Blick von Elli ein.

„Mädchen, wo warst du im Geschichtsunterricht?“

„Ich habe mit einem Jungen auf der Toilette geknutscht“, erwiderte Luisa mit einem unschuldigen Lächeln.

„Prioritäten, mein Kind. Prioritäten.“ Elli schüttelte enttäuscht den Kopf.

Luisa kannte ihre Schwächen, Elli hatte sie ihr oft genug in ihrer Pubertät aufgezählt.

„Einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ging Jeverhaven eine Kooperation mit England, um die Ausbildung junger Matrosen zu fördern. Das Schiff ist eines von drei englischen Schulschiffen, die es damals gab. Soweit ich weiß, ist dieses das Einzige, das heute noch existiert und genutzt wird“, erklärte Luisas Tante geduldig, bevor ihre Augen angriffslustig blitzten. „Du willst doch nur vom Thema ablenken.“

Schade, es hätte funktionieren können.

Luisa bemühte sich, nicht bereits mit ihrem Tonfall das Denkvermögen Ellis anzuzweifeln.

„Wenn du weißt, dass die Urkunde in England ist, warum fragst du nicht jemanden in England, ob sie dir die Urkunde geben können?“ 

„Mädchen, für wie blöd hältst du deine Tante eigentlich? Ich habe in der Botschaft gebettelt, geflucht und geheult, aber nichts! Sie behaupten, sie hätten die Urkunde nicht. Aber ich war in London! Ich habe sie ausgestellt im Nationalarchiv gesehen! Und einen Termin bekomme ich in der britischen Botschaft überhaupt nicht mehr. Man lässt mich stundenlang warten, ohne auch nur den Anstand zu besitzen, mit mir zu sprechen!“

Ungläubig hob Luisa ihre Augenbrauen. Elli war bei dem Botschafter abgeblitzt? Schwer zu glauben. Es handelte sich schließlich um Elli! Elli war nicht das Sinnbild einer typischen (Ex-)Blondine mit naiven blauen Augen, sehr zum Leidwesen ihrer politischen Gegner. Mit Mitte fünfzig war Elli noch lange nicht bereit, sich der Rolle als Großmutter für Luisas Nachwuchs zu fügen. (Ein Glück, denn Luisa war von Kindern so weit entfernt wie die Eisbären von den Pinguinen.) Den zunehmend grauen Haaren begegnete sie rigoros. Sie färbte sich ihren blonden, schulterlangen Bob stahlgrau. Mit ihren politischen Gegner ging sie nicht weniger zimperlich um. Diese wurden zwar nicht umgefärbt, dafür provozierte Elli liebend gern pressewirksame Tobsuchtsanfälle.

 Seit Jahren hielt sie sich wacker in ihrem Amt als Bürgermeisterin und war nicht gewillt, dieses zu räumen. Erst wenn sie ein hübsches Häuschen fand, in dem sie ihren Ruhestand verbringen wollte.

Da ihre Ansprüche bereits mehrere Architekten und Immobilienmakler in den Wahnsinn getrieben hatten, würde ihre Tante wohl noch mit neunzig Jahren den Bürgermeistersessel blockieren und diesen höchstens mit Rollen ausstatten lassen, um barrierefrei das Rathaus in seinen Grundfesten erschüttern zu können. Ihre Tante bekam alles, was sie wollte.

 „Und wann genau bist du auf die glorreiche Idee gekommen, mich in ein fremdes Land zu schicken, damit ich die Urkunde aus einem mir völlig unbekannten Museum stehle?“, fragte Luisa und setzte sich auf ihre Hände. Die Versuchung, sofort aufzustehen und sich an Ellis versteckter Bar zu vergehen, wurde zunehmend übermächtig. Elli besaß das unerklärliche Talent, die Menschen ihrer Umgebung in den Alkoholismus zu treiben.

Ihre Tante faltete die Hände auf ihrem Schreibtisch und sagte: „Als ich den Botschafter einen Bastard nannte und man mich hinauswarf.“

 

„Freut mich, dass dich das erheitert“, murrte Elli verärgert und warf Luisa glücklicherweise anstatt der Kaffeekanne lediglich böse Blicke zu.

Doch Luisa konnte nicht anders. Sie lachte so schallend, dass ihre Bauchmuskeln von der Anstrengung bald zu schmerzen begannen.

Allein die Vorstellung! Ihre Tante war im Gegensatz zu Luisa recht klein und wog ungefähr genauso viel wie Luisa. Nur, dass sich bei Luisa alles auf eine Körpergröße von 1,78 Meter verteilte. Ellis Körperwachstum stoppte in deren Pubertät hingegen bei knappen 1,60 Metern, um sich dann mit dem gleichen Maßstab in die Breite weiterzuentwickeln. Allein ihr Erscheinungsbild schuf bereits einen resoluten Eindruck, ihr stimmliches Volumen umso mehr.

War es Luisa also zu verdenken, dass sie herzlich lachte, wenn sie sich vorstellte, wie der unvorsichtige Herr Botschafter, vermutlich ein gestandener englischer Gentleman wie er im Buche stand, zu seinem Entsetzen ihrer hartnäckig wartenden Tante in die Arme lief? Und zu seinem Leidwesen auch noch alles verstand?

Denn für Elli war es ein Leichtes, sowohl auf Deutsch als auch in englischer Sprache zu wettern, sodass die ehrwürdigen Zylinder bebten. Kurz gesagt: Luisas Gehirn lieferte ihr die buntesten Bilder, die alles andere als zweckdienlich waren, um sich wieder zu beruhigen.

Luisas hemmungsloses Gelächter lockte auch Ellis Sekretärin herein. Unter dem Vorwand, nachsehen zu wollen, ob ausreichend Kaffee und einsatzfähige Tassen vorhanden waren, mogelte sich Sandy in das Büro und prüfte akribisch, ob noch Scherben herumlagen.

„Sie machen mich nervös, wenn Sie neben mir stehen und mir auf die Bluse starren. Ich weiß, dort ist ein Kaffeefleck. Es ist bereits völlig ausreichend, wenn sich meine Nichte absonderlich verhält!“, schimpfte Elli und bedeutete ihrer Sekretärin, sich ebenfalls zu setzen.

„Entschuldige bitte“, krächzte Luisa, während sie nach Atem rang und sich Luft ins Gesicht fächelte. Doch Reue suchte man in ihrer Stimme vergebens.

Elli antwortete mit einem Schnauben, bevor sie Luisa streng musterte. „Also, klaust du mir jetzt die Urkunde? … Ich meine, wir holen uns zurück, was uns gehört!“

Luisa stöhnte innerlich auf. Sie hatte es gewusst, aus dieser Nummer kam sie nicht mehr heraus. „Wie ich schon sagte, ich bin nicht Superwoman.“

„Supergirl heißt das“, korrigierte Elli verärgert. „Und ich bin enttäuscht. Ich dachte, ihr Privatdetektive wärt die Söldner der modernen Zeit.“

„Nein, ich glaube, das trifft eher auf Berufsverbrecher zu“, gab Luisa trocken zurück.

„Wo ist der Unterschied?“

Luisa richtete sich kerzengerade auf und hoffte auf einen spontan erscheinenden Heiligenschein. „Im Einhalten der Gesetze!“ Obwohl man in ihrem Fall eher sagen sollte: Im versuchten Einhalten der Gesetze.

„Ich wüsste nicht, dass es im Sinne des Gesetzes ist, andere zu verfolgen und sich in ihren Büros und Wohnungen umzusehen, um an Informationen zu kommen, die ein anderer haben will“, gab Luisas Tante zurück und streckte angriffslustig ihr Kinn vor.

„So etwas mache ich nicht!“, rief Luisa aus. Gut, das war gelogen, aber es tat ohnehin nichts zur Sache!

Himmel, sie lebten doch nicht mehr in einer Zeit, in der man sich für ein Paar Dollar oder Euro die Kalaschnikow umschnallte und auf jeden schoss, auf den das Geldbündel zeigte. Okay, vielleicht waren sie noch in diesem Zeitalter, aber dafür eindeutig auf dem falschen Kontinent, im falschen Land und in der falschen Stadt. „Privatdetektive sind keine Auftragsmörder!“

„Du sollst ja auch niemanden umbringen“, erwiderte Elli, deren Kinn nun Richtung Boden zeigte.

Luisa konnte deutlich hören, wie ihre Tante in den Tiefen der Schreibtischschubladen wühlte. „Stell sofort den Gin wieder weg!“

Sandy sah enttäuscht über Luisas Eingreifen aus. (Sie und Elli becherte gern hin und wieder, natürlich nach der Arbeitszeit … Wurden sie doch erwischt, wurde der arme Wicht, der unglücklicherweise hereingeplatzt war, zum Mittrinken verdonnert.) Aber zu Luisas eigenem Erstaunen befolgte Elli brav den Befehl und legte die halbvolle Flasche Gin wieder in das Schubfach ihres Schreibtisches.

„Du sollst nur die Urkunde stehlen“, seufzte Elli und warf einen bedauernden Blick in Richtung ihres alkoholischen Geheimfachs.

„Ich stehle nicht“, erwiderte Luisa streng. Sie lieh sich höchstens etwas aus. Manchmal fand sie auch die Zeit, diese Leihgabe zurückzubringen.

Elli setzte ein süßes, unschuldiges Lächeln auf, das ihr Luisa am liebsten sofort wieder aus dem Gesicht schütteln würde. „Da hat mir unser Polizeichef Brinkmann etwas anderes erzählt.“

Luisa stieß frustriert die Luft aus. Sandy hingegen versuchte, ihr Prusten mit einem Hustenanfall zu tarnen.

Das war der Nachteil an einer Stadt wie Jeverhaven. Jeder wusste alles. Die Sekretärin gehörte praktisch zur Familie, der Polizeichef ebenso. Luisa war nicht hier geboren, aber sie liebte diesen Ort. Sie war Elli auch noch immer dankbar, dass diese sie bei ihrem Umzug vor fünfzehn Jahren nicht in der zweifelhaften Obhut von Luisas Mutter zurückgelassen hatte, sondern sie mit sich nahm.

Jeverhaven war eine gemütliche Stadt. Wirklich. Es war wie ein einziges großes Wohnzimmer. Mit 20.451 Einwohnern war sie nicht zu groß und auch nicht so klein, um mit jedem per Du zu sein. Der Marktplatz wartete im Zentrum mit dem obligatorischen Springbrunnen auf. Vielfältige Geschäfte säumten die verzweigten Einkaufsstraßen mit den Restaurants.

Aber die Stadt war eindeutig nicht groß genug, um zu verhindern, dass ihre neugierige Tante des Öfteren auf den tratschsüchtigen Polizeichef stieß und dieser sie über die Verfehlungen ihrer Nichte aufklärte.

Andererseits war der Fakt, dass besagter Polizeichef Luisa bereits seit ihrem elften Lebensjahr kannte und unerklärlicherweise väterliche Gefühle für das verrückte Küken (seine Worte, nicht ihre) hegte, auch bisher der Grund gewesen, der sie vor einer Anzeige wegen Hausfriedensbruch bewahrte. Gab es doch einen Hauseigentümer, der gegen Luisa Anzeige erstattete, dann ging die Anzeige auf wundersame Weise bei der Bearbeitung verloren.

Luisa legte den Kopf in den Nacken und die Hand über die Augen. Sie hätte von hier wegziehen sollen, als sie noch die Gelegenheit und genügend Geld hatte. Aber was hätte es genützt? Elli hätte sie bis nach Bangladesch verfolgt, wenn sie etwas wollte.

Elli beugte sich über ihren Schreibtisch und setzte einen beschwörenden Blick auf, vor dem jede Kobra mit Verstand sofort flüchten würde. „Wir haben alle Vorteile auf unserer Seite.“

„Ach ja?“, fragte Luisa widerwillig. Welche Vorteile sollten das sein? Die Hoffnung, nach einer Verurteilung wegen Diebstahls nach Deutschland ausgeliefert zu werden, weil sich Großbritannien nicht bereit erklärte, deutsche Verbrecherinnen in ihren Gefängnissen durchzufüttern?

„Niemand weiß, was wir planen. Also haben wir den Überraschungseffekt auf unserer Seite. Du bist eine ganz passable Einbrecherin, wie ich mir sagen ließ, jedenfalls wenn du dir Mühe –“

„Was heißt hier ganz passable Einbrecherin?“, unterbrach sie ihre Tante beleidigt. „Ich bin besser als ganz passabel. Aber niemand ist so gut, um ins britische Nationalarchiv zu kommen! Und selbst wenn, es dauert ewig, das richtige Dokument zu finden.“

„Jetzt lass mich doch mal ausreden“, gab Elli vorwurfsvoll zurück. „Die Urkunde lagert nicht in den Kellern des Nationalarchivs, sondern wird in einer Ausstellung zum Zweiten Weltkrieg in einem gesonderten Flügel gezeigt. Ich kann dir den genauen Standort sagen. Dort habe ich vor zwei Wochen die Urkunde gesehen. Die Ausstellung läuft noch vier Wochen. Du musst also nicht suchen, sondern nur holen.“

Sinnierend sah Luisa auf ihre Hände. Der pinkfarbene Nagellack (Jaja, sie wusste es selbst. Blonde Haare, pinke Fingernägel – Hallo, Klischee. Aber sie standen ihr nun mal.) begann bereits, ein wenig abzublättern, und wie immer, wenn sie grübelte, schabte sie diesen ein wenig ab.

In das Nationalarchiv einzubrechen, war theoretisch möglich. Der Punkt, an dem es unweigerlich scheitern würde, war der, an dem die Sucherei begann. Es existierte ein Zeitfenster von höchstens zehn Minuten, um sich etwas zu holen. Wusste man nicht, wo die Urkunde gelagert wurde, dann war nie im Leben genügend Zeit vorhanden, um sie zu suchen.

Dieses Problem war aber gelöst. Luisa benötigte lediglich einen Zugang zu den Kameras. Und eine Idee, wie sie die anderen Sicherheitsvorkehrungen umging. Doch diese Ideen konnte sie erst entwickeln, wenn sie sich die Sicherheitsvorkehrungen angesehen hatte.

Und zum Auskundschaften war die Ausstellung wiederum ideal, obwohl sie das Thema des Zweiten Weltkrieges nicht sonderlich interessant fand. Eine Ausstellung über amerikanisches Wrestling würde ihr mehr zusagen. Keine zerfetzten Leichen und zerbombten Ruinen, sondern heile (zu Beginn des Kampfes jedenfalls), muskelbepackte Männerkörper.

„Luisa!“

Die strenge Nennung ihres Namens riss Luisa aus dem herrlichen Tagtraum. Sie war single! Sie konnte träumen, von wem sie wollte!

„Vielleicht könnte ich mitkommen? Ich kann dir sagen, wo die Urkunde ist“, mischte sich Sandy schüchtern ein.

Luisa traute ihren Ohren kaum. „Du hast Sandy mit hineingezogen?“

„Sie liegt mir wenigstens nicht mit ständigen Zweifeln in den Ohren“, erwiderte Elli spitz.

„Ich kann das nicht allein. Es braucht mindestens zwei“, entgegnete Luisa. „Und nein! Sandy wird mir nicht helfen!“

Der vorwurfsvolle Blick aus Sandys hellbraunen Augen ließ Luisa das Herz bluten, doch sie blieb standhaft. Sandy war mit ihren zweiundzwanzig Jahren lediglich vier Jahre jünger als Luisa und alt genug, selbst zu entscheiden, wie sie ihr Leben ruinieren wollte. Aber Luisa wollte nicht daran beteiligt sein. Es reichte, wenn Elli ihre eigene Nichte zu Straftaten anstiftete.

„Das heißt also ja?“ Ellis Stimme nahm dabei plötzlich eine höhere Tonlage an, sodass Luisa und Sandy im Gleichtakt erschrocken zusammenfuhren. Sie schien Luisas Fehler, sich mit einem kurzen Gedankengang auf den Plan einzulassen, sofort als Zustimmung zu werten.

„Ich habe noch nicht Ja gesagt“, protestierte Luisa. „Was ist, wenn ich erwischt werde? Dann gehe ich ins Gefängnis!“

Und dort konnte sie kein amerikanisches Wrestling mehr schauen. Ihre Tagträume würden schnell die Inspiration verlieren. Ja, sie hatte seltsame Prioritäten, aber was blieb einem mit einer solchen Tante auch anderes übrig?

„Ach was, ich habe nachgelesen. Das gibt nur eine Bewährungsstrafe“, wischte ihre Tante dieses Argument mit einer wegwerfenden Geste beiseite.

Doch noch immer wollte sich Luisa nicht zu einem Ja durchringen. Auch wenn es vielleicht theoretisch möglich war – Theorie und Praxis lagen so weit auseinander.

Und Luisa wollte wirklich nicht ins Gefängnis! Es war sicherlich angenehm, nicht arbeiten zu müssen und genügend Zeit für Bücher und Tagträumereien zu haben, während einem das Essen gebracht wurde, aber nein danke. Da lebte sie lieber in einer etwas größeren, unaufgeräumten Wohnung und bangte am Ende des Monats, ob das erhaltene Honorar für die Miete und einen Schokoriegel reichte.

„Mädchen, ich mach mir vor Spannung gleich in meinen neuen Anzug. Jetzt sag schon Ja!“, flehte ihre Tante.

Schweigend kaute Luisa auf ihrem Daumennagel herum. Nein, nein, sie wollte wirklich nicht!

„Schau mich nicht so an!“, kommentierte Luisa gequält den Blick ihrer Tante, der jeden Hund neidisch werden lassen würde.

„Ich würde Nein sagen“, flüsterte Sandy und bewies damit den Verstand, der bei Luisa zunehmend von der Abenteuerlust und der Liebe zu ihrer Tante überstimmt wurde.

„Ja, ich will“, sagte Luisa schließlich. „Oh Mist, worauf lasse ich mich nur ein!“

Das Jauchzen ihrer Tante war sicherlich im gesamten Rathaus zu hören. Nun ja, nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches. Die einzige Bürgermeisterin ohne die Urkunde zu ihrer Stadt war zugleich die verrückteste und vergnügteste, die Luisa jemals gesehen hatte.

Hoffentlich kam Elli niemals auf die Idee, für den Posten als Bundeskanzlerin zu kandidieren. Nur der Himmel wusste, mit welchen Ideen sie die anderen Staatsoberhäupter von ihren Bürostühlen schubsen würde.

 

 

„Verflucht, Ryan, ich muss mir unbedingt eine andere Reinigung suchen! Mein Smoking ist schon wieder eingelaufen!“

„Sir, ich denke, es liegt daran, dass Sie den Diätplan Ihres Arztes nicht einhalten.“

„Ach, dieser Quacksalber, was weiß der schon? Der steckt mit meiner Reinigung unter einer Decke!“

„Haben Sie mich gerufen, um mir das zu sagen?“

„Nein, nein, nicht deswegen. Ryan, ich habe eine besondere Aufgabe für Sie.“

„Ich soll doch nicht etwa wieder eine dieser Tänzerinnen für Sie beschatten?“

„Das war für unser Land absolut notwendig. Sie hätte schließlich eine Spionin sein können!“

„Sie waren eifersüchtig, Sir, und wollten wissen, ob sie einen Freund hat.“

„Deswegen bin ich Botschafter, und Sie mein Sicherheitschef. Ich weiß, was für unser Land wichtig zu wissen ist, und Sie finden es für mich heraus.“

„Und für Großbritannien war es absolut notwendig zu wissen, ob der Mitbewohner der kleinen Tänzerin schwul, ihr Freund oder ihr Bruder war?“

„Jetzt hacken Sie doch nicht ständig darauf herum, Ryan. Konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche. Erinnern Sie sich an diese unsägliche Medusa von Bürgermeisterin?“

„Die, die Sie als uneheliches Kind einer Ziege und eines Chamäleons betitelt hat?“

„Ich glaube mich zu erinnern, dass sie nicht den Begriff ‚uneheliches Kind’ verwendete, sondern einen anderen. Aber ja, die meine ich.“

„Dann ist es also die Bürgermeisterin, von der Sie nach drei Gläsern Portwein meinten, sie hätte Feuer im Hintern und Sie würden sie zu gerne mal zum Essen ausführen?“

„Macht Ihnen das eigentlich Spaß, Ryan?“

„Nicht im Geringsten, Sir. Ich möchte lediglich sichergehen, dass ich die Lage korrekt erfasse.“

„Warum zucken Ihre Mundwinkel dann? Jetzt behaupten Sie nicht, es wäre dieses mysteriöse Muskelleiden, das in Ihrer Familie liegt!“

„Doch, das ist es. Soll ich Ihnen Ihr Asthmaspray holen? Sie schnaufen.“

„Danke, das Schnaufen liegt nicht an meinem Asthma! Hören Sie zu. Sie waren ja so freundlich, das Büro der werten Dame unauffällig mit einigen technischen Finessen auszustatten.“

„Das nennt man ‚Wanzen’, Sir.“

„Ich finde, das ist ein unschönes Wort. Wer kommt denn nur auf die Idee, einer solch praktischen Erfindung den Namen von Ungeziefer zu geben? Nein, sagen Sie nichts! Wie auch immer. Wir haben gehört, dass Mrs Rotstein ihre Nichte Luisa Freyr beauftragt hat, die Urkunde aus dem Nationalarchiv in London zu stehlen. Beschatten Sie das Mädchen. Aber so, dass sie es auch merkt.“

„Ist das nicht ein wenig ineffizient?“

„Um Informationen zu sammeln sicherlich, aber in erster Linie wollen wir versuchen, das Mädchen von irgendwelchem Unsinn abzuhalten. Die meisten werden bereits nervös, wenn sie sich verfolgt fühlen. Das lenkt sie vom Eigentlichen ab.“

 

 

Kapitel 2

Brich ein, bring Glück herein

 

„Bitte lass mich mit einbrechen!“, flehte eine Stimme hinter Luisa.

Luisa zuckte zusammen, ließ ihr Handy fallen und knallte mit der Stirn gegen den Türknauf. Ihr Herz raste wie ein Güterzug auf Speed. Ebenso wie ihre Gedanken. Der Anflug einer Erinnerung an einen Selbstverteidigungskurs sorgte dafür, dass Luisa versuchte, aus der Hocke noch oben zu schießen. Dabei verlor sie endgültig das Gleichgewicht und landete unsanft auf ihrem Allerwertesten. Die Schachtel mit Dietrichen knallte scheppernd auf dem Boden. Die Hand auf ihre Brust gepresst, blieb Luisa einfach liegen und starrte zu der jungen Frau hinauf, die sich über sie beugte.

Teufel noch eins! Warum hatte sie vor zwei Jahren ihren Modeljob aufgegeben? Täglich einem zudringlichen Auftraggeber eine runterzuhauen, war tausend Mal besser. Als Privatdetektivin würde sie nur dreißig Jahre alt werden, bevor sie an einem Herzinfarkt starb. Verursacht durch Ellis Assistentin!

„Was machst du denn nur?“, fragte Sandy und streckte ihr die Hand hin, damit sich Luisa daran nach oben ziehen konnte.

„Nicht so laut. Hilf mir lieber!“, maulte Luisa.

In dem dämmrigen Licht ihres Handys versuchte Luisa, die herunter gefallenen Dietriche wieder einzusammeln. Gerade war sie dabei gewesen, sich Zugang zu der heimlichen Zweitwohnung eines untreuen Ehemannes zu verschaffen.

Die Zielwohnung lag im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses. Sehr umsichtige Menschen schienen hier nicht zu wohnen, denn die Haustür war nicht abgeschlossen gewesen, und so bestand die einzige Herausforderung darin, die Wohnungstür zu knacken. Oder in der Kunst, nicht von Ellis Assistentin zu Tode erschreckt zu werden, die in der Tat schleichen konnte wie eine Mischung aus Indianer und Ninja. Ihre schwarze Kleidung ließ sie beinahe vollständig mit der Dunkelheit im Treppenhaus verschmelzen und bildete damit einen deutlichen Kontrast zu Luisas neongelben T-Shirt. Sollte sie jemand erwischen, so würde sich dieser lediglich an die grässliche Farbe ihrer Kleidung erinnern, jedoch nicht an ihr Gesicht.

Noch immer hämmerte das Herz in Luisas Brust, und in ihrem Kopf herrschte die typische Leere, wie sie nur ein Schock herbeiführen konnte.

„Du solltest besser mit deinen Utensilien umgehen“, tadelte Sandy und wies dabei eine beängstigende Ähnlichkeit zu Elli auf.

„Du solltest dir dringend einen neuen Job suchen. Du klingst wie meine Tante“, ächzte Luisa und hockte sich erneut vor die Wohnungstür. „Woher wusstest du eigentlich, wo ich bin?“

Sandy streckte hochmütig ihr Kinn vor. „Ich mag deine Tante.“

Himmel, wenn sich Sandy Elli als Vorbild auserkoren hatte, dann hatten sie bald alle ein enormes Problem. Noch jemanden wie ihre Tante würde diese Welt eindeutig nicht ertragen können.

„Bitte sag mir, dass du nicht so werden willst wie sie.“

„Sie hätte jedenfalls keinen Satz Dietriche fallen lassen“, erwiderte diese schnippisch.

Luisa rammte den passenden Dietrich so fest in das Schloss der Wohnungstür, dass sie sich mit dem Werkzeug beinahe ins Handgelenk stach.

Bisher war keiner der anderen Bewohner durch das Treppenhaus gelaufen, und auch der Nachbar schien im Urlaub zu sein. Anders konnte sie sich nicht erklären, dass er trotz der Geräuschkulisse noch nicht die Polizei gerufen hatte. Sandys Stimme war so unauffällig wie eine Herde Elefanten am Nordpol! Ob ein Mord ebenso wenig auffallen würde?

Luisas Finger bebten immer noch von dem Schreck, den ihr Sandy versetzt hatte. Sie würde Sandy davon zu gern ein wenig zurückgeben. „Ja, sie hätte ein Brecheisen genommen und wäre dann zwei Minuten später vor der Polizei davongerannt. Das beantwortet aber nicht meine Frage: Woher wusstest du, wo ich bin?“

„Pscht!!! Nicht so laut“, zischte Sandy. „Ich bin dir gefolgt.“

„Du bist mir gefolgt?!“

„Es ist ziemlich einfach, dir zu folgen.“

Autsch, das war nicht unbedingt ein Kompliment für eine Privatdetektivin.

„Warum hast du mich nicht angesprochen?“

„Weil du mich nie freiwillig mitnimmst!“, erwiderte Sandy redlich empört.

Genau in diesem Moment fiel Luisa wieder ein, warum sie Sandy höchstens zu Beschattungen mitgenommen hatte. Wenn man stundenlang in einem Auto sitzen musste, war Gesellschaft, die ständig redete, der ideale Zeitvertreib. Bei Einbrüchen konnte man bei Sandys Sirenenstimme praktisch selbst die Polizei rufen.

Luisas Finger verkrampften sich. Jedoch leider nicht um Sandys Hals, sondern um den Dietrich.

„Aus gutem Grund“, blaffte Luisa zurück. „Du bist viel zu laut!“

„Wer flüsterte denn so laut, dass man es auch noch in drei Kilometern Entfernung hört? Außerdem: Wie lange brauchst du für die Tür?“

Just in diesem Moment ertönte ein leises Klicken. Luisa schüttelte ihre Finger und drückte gegen die Tür, die sich leise knarrend einen Spalt öffnete. „Du bleibst hier.“

Sandy zwirbelte eine ihrer langen Haarsträhnen zwischen den Fingern. „Und wenn mich jemand sieht?“

Bedauerlicherweise hatte Sandy damit nicht unrecht. Es dürfte auch dem unaufmerksamsten Nachbar auffallen, wenn eine junge Frau im Dunkeln im Treppenhaus von einem Bein aufs andere trat und beständig auf eine Wohnungstür starrte. „Dann komm eben mit rein“, seufzte Luisa resigniert.

„Wonach suchen wir eigentlich?“, flüsterte Sandy im Gegenzug.

„Wenn ich das wüsste“, erwiderte Luisa und schloss die Tür hinter ihnen.

„Kondome?“

„Himmel, nein!“

„Aber wie kann man sonst beweisen, dass er untreu ist?“

„Das ist abstoßend. Das klingt, als würde mein Job aus dem Einsammeln von Kondomen bestehen“, erwiderte Luisa angewidert und schüttelte sich.

„Ich würde eher sagen, du bist Fotografin. Du machst ziemlich viele Bilder“, sagte Sandy.

Auch damit lag die Sekretärin richtig. Der einfachste Beweis für die Untreue des Ehepartners war ein Foto. Luisa könnte mittlerweile eine Ausstellung mit knutschenden Pärchen eröffnen. Doch wer würde die sehen wollen? Die Männer waren meist um die vierzig. Was sie an Haaren zunehmend verloren, legten sie an Gewicht zu. Meistens verdeckten sie damit auf den Bildern ohnehin die Frauen.

„Meine Kundin weiß, dass ihr Mann untreu –“

„Und da lebt der Mistkerl noch?“, rief Sandy empört dazwischen. „Ich weiß was, wir schenken deiner Kundin ein Nudelholz. Aber eines mit diesen Metallspitzen.“

„Das wirst du nicht tun!“ Am Ende gefiele ihrer Kundin dieser Gedanke und ginge wegen Mordes an ihrem Ehemann ins Gefängnis. Nein, das durfte nicht sein. Luisa hatte vergessen, Vorkasse zu verlangen. Das vergaß sie leider sehr oft. Kein Wunder, dass ihr der Vermieter ständig Mahnungen an die Wohnungstür klebte.

„Warum nicht?“

„Es ist ihr egal, dass er untreu ist. Sie ist es selbst.“

„Holla“, murmelte Sandy und Luisa beleuchtete endlich mit dem Handy die nähere Umgebung.

Der Flur war klein und wie gewöhnlich mit einer Garderobe und einem Schuhschrank ausgestattet. Vorsichtshalber öffnete Luisa die Klappen und ließ ihre Finger an der Innenseite der Fächer entlanggleiten. In den letzten Jahren waren ihr die seltsamsten Verstecke untergekommen. „Er lässt sie Verträge und Transaktionen unterschreiben. Aber erklärt nie, was es ist. Das geht nun ein halbes Jahr, und sie ist misstrauisch geworden“, fügte sie hinzu.

„Und sie hat nun endlich mal den Verstand besessen, das Dokument zu lesen?“, warf Sandy süffisant ein.

„Ja.“

Es stand ihr nicht zu, über die Intelligenz ihrer Auftraggeberinnen zu urteilen. Achim Polloch hatte seiner Frau das Dokument geschickt untergeschoben. Es enthob ihn jeglicher Haftung, die allein auf seiner Frau, Maria Polloch, lastete. Das Haus, in dem das Ehepaar wohnte, gehörte ihr, aber es war bis zum letzten Cent mit Hypotheken belastet.

Luisa bedeutete Sandy, sich eines der Zimmer anzusehen, während sie sich der Tür am Ende des kleinen Flures zuwandte.

„Hier ist das Schlafzimmer“, meldete Sandy, die eine Tür geöffnet hatte. „Iiih, ist das eklig.“

Der spitze Aufschrei ihrer Komplizin begleitete Luisa in das kleine Arbeitszimmer, allerdings kümmerte sie sich nicht darum.

Das Arbeitszimmer war nicht größer als eine Abstellkammer, jedoch bis oben hin mit Akten vollgestopft. Luisa seufzte leise. Die Hoffnungslosigkeit auf Anhieb etwas Wichtiges in diesem Wust von Dokumenten zu entdecken, versetzte ihrer Motivation einen beträchtlichen Schlag. Wenn sie nicht durch Zufall die entscheidenden Belege fand, würde sie noch fünf bis sieben Mal hier einbrechen müssen.

Ein Krachen im Flur ließ darauf schließen, dass Sandy auf der Flucht zu Luisa mit dem Schuhschrank gestoßen war und der Schrank offenbar gewonnen hatte.

„Der hat benutzte Kondome in seinem Schlafzimmer liegen“, jammerte Sandy. Selbst im Schein des Handylichtes wirkte Sandy blass und krank. Ein kleines Fünkchen Schadenfreude glomm in Luisa auf und ließ ihre Mundwinkel zucken. Machte sie das zu einem niederträchtigen Menschen?

„Bist du in Erbrochenes getreten?“, fragte Luisa amüsiert, und Sandy schüttelte entsetzt den Kopf. „Dann schätze dich glücklich.“

Luisa ignorierte Sandys Würgen und wandte sich den Papieren zu. Sie durchwühlte Rechnungen, Lieferscheine, Verträge, Kreditzusagen und Werbebriefe. Dieser Mann brauchte dringend eine Sekretärin! So wie die Post einging, schien er sie hier abzulegen. Briefe waren teilweise noch ungeöffnet. Ordner waren unleserlich beschriftet und enthielten weitere Rechnungen. Kreuz und quer tummelten sich Dokumente von fünf Jahren. Die erwähnten Firmennamen würde sie später recherchieren. Nur Kontoauszüge fand sie leider keine.

Sicher konnte man nur in einem sein: Was auch immer dieser Mann tat, entweder er aß sehr viel Fisch oder besaß selbst ein Fischerei-Unternehmen. Sie fand Listen mit Fischarten, Gewässern, Abfischgebieten, Zuchtinformationen und Verträge, die die Fischer und den Vertrieb betrafen. Ein Notizbuch enthielt zwar unzählige Zahlen, aber keinen Bezug. Seiten waren herausgerissen worden und hatten einen ausgefransten Rand hinterlassen. Luisa hatte keine Ahnung, wonach sie eigentlich suchte. Sie stocherte im Dunkeln und hoffte auf einen toten Fisch, der nicht nur einen fiesen Geruch, sondern auch eine Erkenntnis mit sich brachte.

„Luisa!“, rief es hinter ihr.

Frustriert warf Luisa einen Stapel Weihnachtskarten zurück auf den Schreibtisch. „Nicht jetzt!“

Ihr schwirrte der Kopf von den Informationen, die sie auf den einzelnen Dokumenten zu sehen bekommen hatte. Sie spürte, wie ihr Gehirn träge seine Rädchen in Bewegung setzte, und versuchte, die einzelnen Puzzlestückchen zusammenzufügen. Aber sie bekam das entscheidende einfach nicht zu fassen.

„Ist es gut, wenn die Polizei vorm Haus parkt?“

Mit einem Ruck hob Luisa den Kopf und stürzte zu Sandy, die am Küchenfenster stand. Tatsächlich parkten zwei Streifenwagen vor dem Haus. Beamte stiegen aus und ließen ihren Blick über die Straße schweifen, bevor sie nach oben sahen. Oh nein, nein, nein! Das war nicht gut!

„Au!“, protestierte Sandy, als Luisa sie vom Fenster wegriss, und rieb sich den verzerrten Arm. Die Wahrscheinlichkeit, dass man sie draußen sehen konnte, war zwar gering, aber Luisa ging lieber kein Risiko ein.

„Was machen wir denn jetzt?“, flüsterte Sandy hektisch.

„Wir hauen durchs Fenster ab!“

Luisa wusste nicht, ob es ihr peinlich sein sollte. Aber sie verließ Wohnungen, in die sie einbrach, öfters über das Fenster als wieder durch die Wohnungstür.

„Bist du irre? Wir sind im zweiten Stock!“

„Das hättest du dir überlegen müssen, bevor du mir gefolgt bist!“, erwiderte Luisa unbeeindruckt.

Eine Haltung, die sie zwar recht passabel nach außen hin zur Schau stellen konnte, jedoch absolut nicht dem Aufruhr in ihrem Inneren entsprach. Sie durften sich nicht auf frischer Tat ertappen lassen. Das konnte nicht einmal der Polizeichef Brinkmann unter den Tisch fallen lassen. Sie nutzte seine väterlichen Gefühle ihr gegenüber ohnehin viel zu sehr aus!

Das Schlafzimmer lag auf der Rückseite des Hauses, und dort riss Luisa das Fenster auf, bevor sie einen Blick nach unten wagte. Die Beamten hielten sich anscheinend noch auf der Vorderseite auf. Der Boden begann vor ihren Augen zu verschwimmen, und Luisa zog es vor, die Lider geschlossen zu halten, während sie sich auf das Fensterbrett schwang.

„Mach die Augen wieder auf!“, brüllte Sandy neben ihr.

Luisa zuckte über den unerwarteten Lärm so heftig zusammen, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor. Augen öffnen? Einen Teufel würde sie tun! Luisa tastete suchend nach dem Rahmen des Fensters und hielt sich daran fest. „Ich habe Höhenangst!“

„Das hättest du dir überlegen müssen, bevor du in eine Wohnung im zweiten Stock einbrichst!“

Luisa hörte bereits das Gepolter der Männer im Treppenhaus. Sie öffnete die Augen nur so weit, wie es absolut nötig war, und tastete nach dem Regenrohr. Luisa schickte tausend Gebete zum Himmel, das Glück möge ihr keine Falle stellen. Bitte, bitte, an diesem Bau und an dieser Wasserleitung sollte nicht gepfuscht worden sein.

Ein fester Griff, ein kleiner Ruck und jede Menge Verzweiflung katapultierten Luisa wie ein Äffchen an das Rohr. Vorsichtig rutschte sie ein Stück nach unten. Das Metall schabte ihre Hände auf, aber sie würde auch mit blutigen Fingern niemals dieses Regenrohr loslassen. Die Beine presste Luisa so fest wie möglich an das Rohr, ebenso wie ihre Lider aufeinander. Sie hörte Sandy immer wieder ein bestimmtes (unschönes) Wort flüstern.

Stück für Stück arbeitete sich Luisa nach unten und landete schließlich mit beiden Beinen auf dem geheiligten Boden. Zum Glück waren ihre Knie zu wacklig, um dem Verlangen nachzukommen, den Boden zu küssen. Stattdessen lehnte sie sich an die Hauswand. Der kühle, feste Stein beruhigte etwas ihr klopfendes Herz und ihre flatternden Nerven, die ihr während der Kletterpartie unablässig ihr Testament diktiert hatten.

„Los jetzt“, rief Luisa nach oben und stellte sich unter Sandy. Wenn das Mädchen schon aus dem zweiten Stock stürzte, dann würde Luisa alles tun, damit sie weich landete. Auch wenn sie dann wohl selbst ein paar Wochen im Krankenhaus verbringen müsste.

Doch Sandy schaffte es ebenfalls an das Rohr. Wie ein nasser Sack ließ sie sich daran herunterrutschen, um dann Luisa zitternd in die Arme zu fallen.

„Nie wieder. Nie, nie, nie, nie, nieeeemals wieder“, stammelte Sandy.

Luisa konnte ihr insgeheim nur zustimmen. Nie wieder. Auch wenn es bei ihr ein lediglich ein Wunschtraum bleiben würde. Egal wie oft man bereits an Fassaden und Regenrinnen heruntergeklettert war – man gewöhnte sich niemals an Höhenangst, Panik und zitternde Knie. Lediglich das Übergeben hinterher hatte sie inzwischen aufgegeben.

„Ich gratuliere. Sie haben es tatsächlich aus der Wohnung geschafft“, ertönte eine männliche Stimme hinter ihnen aus der Dunkelheit. Luisa schoss so schnell herum, sodass sie Sandy versehentlich von sich fortstieß und auf den Hintern katapultierte.

Angestrengt versuchte Luisa mehr von dem Mann zu erkennen, der sich dort im Schatten der Mauer verborgen hielt. Aber sie sah lediglich den groben Umriss. Eine hohe, schlanke Gestalt.

„Sind Sie Polizist?“, fragte sie und hoffte, nicht allzu hysterisch zu klingen.

„Nein“, sagte dieser tiefe Bass, der zudem noch einen englischen Akzent offenbarte. „Aber ich habe Handschellen.“

„Nix wie weg, das ist ein verrückter Perverser“, rief Sandy dazwischen, die sich wieder aufrappelte.

Luisas Gehirn bekam keine Chance, die Informationen zu verarbeiten oder gar die richtigen Schlüsse zu ziehen. Aber sie fand Sandys Idee hervorragend genug, um mit ihr das einzig Richtige zu tun. Luisa folgte ihrem Shirt, das Sandy ihr beinahe vom Leibe riss, um sie mit sich zu ziehen, und gab Fersengeld.

 

 

„Wollen Sie wirklich Steuergeld verschwenden und darauf bestehen, dass ich Luisa im Auge behalte?“

„Ist das wieder eine von Ihren rhetorischen Fragen, Ryan?“

„Nein.“

„Oh.“

„Nun, Sir?“

„Gefällt sie Ihnen denn nicht?“

„Was hat das damit zu tun?“

„Sie sind doch sonst nicht abgeneigt, einer Frau nachzusteigen.“

„Mit Verlaub, Sir, Sie scheinen mich mit sich selbst zu verwechseln.“

„Gut, das stimmt. Sie steigen tatsächlich wenigen Frauen nach. Aber Luisa sollten Sie im Blick behalten. Ich glaube, das Mädchen wird noch versuchen, uns Ärger zu bereiten.“

„Sie hat es beinahe geschafft, sich verhaften zu lassen, bevor sie auch nur den Flug nach England gebucht hat. Es war lediglich ihr Glück, dass die Polizisten zu dumm sind, sich unauffällig einem Tatort zu nähern.“

„Oh, wie das?“

„Sie haben direkt vor der Wohnung geparkt. Genau genommen hätten sie auch gleich das Blaulicht einschalten können …“

„Ryan, ich meinte Luisa. Nicht die Polizisten.“

„Sie ist in eine fremde Wohnung eingestiegen, und ein aufmerksamer Nachbar rief die Polizei.“

„Ein aufmerksamer Nachbar oder ein vergnügungssüchtiger Brite?“

„Ich weiß nicht, ob der Nachbar Brite ist.“

„Ryan!“

„Gut, dann ist der Nachbar eben Brite. Sie hatte mehr als zehn Minuten Zeit gehabt. Ich habe gerade einmal fünf für das Büro der Bürgermeisterin gebraucht.“

„Ja, Sie haben sich in dem Büro wirklich Zeit gelassen. Ich habe mir beim Schmiere stehen beinahe in die Hose gemacht.“

„Das nennen Sie Schmiere stehen? Sie haben in einem Café Wein getrunken.“

„Aber das Café lag genau gegenüber vom Rathaus. Was denken Sie, was geschehen wäre, wenn Mrs Rotstein mich gesehen hätte?“

„Ich hätte es liebend gern herausgefunden.“

 

 

Kapitel 3

Von Stalkern und Nekrophilen

 

Mit einem leisen Stöhnen kletterte Luisa aus ihrem Bett. Ihre Muskeln schmerzten noch immer von der gestrigen Klettereinlage und dem anschließenden Sprint.

Sandy galt als vorerst von der Abenteuerlust geheilt. Mit allerlei Schimpfwörtern versprach sie Luisa noch während der Flucht vor dem unheimlichen Unbekannten, sich nie wieder über ihren öden Bürojob zu beklagen und sich von fremden Wohnungen fernzuhalten. Oder überhaupt im Dunkeln nach draußen zu gehen.

Luisa hingegen verschwendete sehr viel mehr Gedanken an ihren Kaffee, der soeben aus der Maschine in eine Tasse lief, als an den Unbekannten. Auch in kleinen Städten gab es Spinner, die zu gern Frauen erschreckten. Nur Polizisten konnten Luisa Ärger bescheren. Und der Mann ihrer Kundin. Zwar war die Gestalt des Mannes im Dunkeln nur schemenhaft zu erahnen gewesen, doch war er eindeutig zu groß, um der Ehemann ihrer Auftraggeberin zu sein. Und Achim Pollochs Stimme war auch nicht so tief und kräftig. Der Mann ihrer Kundin gehörte stimmenmäßig in die Kategorie piepsiger Eunuch.

Kurzum, es gab Wichtigeres zu erledigen. Luisa brauchte Hilfe, wenn sie den Auftrag ihrer Tante erfüllen wollte. Und diese Hilfe durfte nicht mehr alle Tassen im Schrank haben. Von den verbliebenen musste im Übrigen mindestens die Hälfte zerbrochen sein.

„Hey Ábel.“ Luisa lachte, als sie am anderen Ende der Telefonleitung ein verschlafenes „Echt jetzt? Um die Uhrzeit?“ vernahm. Ábel pflegte eine eigene Ansicht von dem Begriff „Früh am Morgen aufstehen“. Meist fiel er erst halb zwei am Nachmittag aus den Federn.

„Ich hoffe, du hast einen guten Grund. Ich habe gerade mal neun Stunden geschlafen. Das reicht nicht annähernd“, maulte Ábel unbeirrt und mit einem leichten Nuscheln. Er gähnte vernehmlich, und sie hatte Mühe, den Drang zu unterdrücken, ihm es aus Sympathie gleichzutun.

„Wenn du hörst, was ich dir vorschlage, fällt dir deine Guten-Morgen-Zigarette aus dem Gesicht“, versprach Luisa und erntete ein amüsiertes Schnauben.

„Schätzchen, das schaffst du nicht.“

Oh, und ob sie das schaffen würde!

„Was würdest du davon halten, in das britische Nationalarchiv einzubrechen?“, fragte sie und lauschte in die Stille hinein. Das Klicken eines Feuerzeugs war zu hören. Und nach wenigen Augenblicken auch Ábels Stimme.

„Heute das britische Nationalarchiv und morgen das Schlafzimmer des amerikanischen Präsidenten. Ich pack schon mal mein Set Dietriche ein, mehr werden wir dazu nicht brauchen“, erwiderte er nun spöttisch.

„Ábel, das ist mein Ernst!“

„Was gibt es denn im Schlafzimmer des Präsidenten so Interessantes?“, fragte Ábel neugierig, und Luisa verdrehte die Augen. Der fehlende Schlaf beeinträchtigte eindeutig Ábels Denkvermögen. Ihr Freund war doch sonst auch nicht so schwer vom Begriff.

„Nichts!“, rief Luisa laut in das Telefon. Vielleicht weckte ja ihr Gebrüll seine Lebensgeister.

„Dann geht’s nur ums Prestige?“

„Ábel! Ich will in das Nationalarchiv einbrechen!“

„Da gibt’s kein Schlafzimmer.“

Wäre Ábel jetzt hier und nicht in Paris, würde sie ihn gehörig durchschütteln. Ábel war ein Spezialist, wenn es um den Einbau von Sicherheitstechnik ging. Aber noch besser war er darin, die Systeme zu umgehen und sie auszutricksen. Manchmal brach er in fremde Häuser ein, um den Bewohnern am nächsten Tag als Vertreter für Alarmanlagen über den Weg zu laufen. Rein zufällig, versteht sich.

Bislang wunderte sich niemand über den Zusammenhang. Vielleicht, weil Ábel niemals etwas stahl. Höchstens etwas zu essen oder ein Bier. Denn er vergaß des Öfteren das Einkaufen. Ábel spielte den Bewohnern der Häuser lieber Streiche, indem er Dinge umräumte. Die Fernbedienung lag anschließend in der Butterdose, während eine Suppenkelle die Toilettenbürste ersetzte. Die Toilettenbürste wiederum fand der verwunderte Suchende dann beispielsweise im Schirmständer.

Und Ábel liebte Herausforderungen. Seit Jahren tüftelte er daran, den perfekten Plan für einen Einbruch in Fort Knox auf die Beine zu stellen. Das brachte ihm bereits zwei Mal den zweifelhaften Besuch der CIA ein. Anstatt sich jedoch gewarnt zu fühlen, sah Ábel dies als Bestätigung an und tüftelte weiter.

„Hör zu, ich brauche etwas aus dem Nationalarchiv in London. Wäre es theoretisch möglich, dort einzubrechen und eine Urkunde zu stehlen?“, bohrte Luisa weiter.

Wenn Ábel es für möglich befand, dann war es auch möglich. Zwar vielleicht nicht für sie, aber ganz sicher für Luisas Vorbilder – die Oceans Eleven. Vielleicht sollte sie sich den Film zur Vorbereitung ansehen und dann ein wenig von George Clooney träumen?

„Nicht nur theoretisch, chérie. Auch praktisch. Ábel kriegt dich überall rein. Musst nur bisschen trainieren. Hab gehört, du bist ein bisschen aus der Form geraten“, holte Ábels Beleidigung sie wieder aus ihren schwärmerischen Gedanken.

Luisa musste zu ihrer Schande gestehen: Sie warf tatsächlich einen prüfenden Blick in den Spiegel in ihrem Flur. Ábel hatte sie zuletzt vor einem Jahr gesehen.

Der gebürtige Pariser war als „Austauschstudent“ für drei Wochen in ihre Detektei gekommen, und seine erste Amtshandlung bestand darin, sämtliche Computer und Warnsysteme lahmzulegen, um anschließend auf ihre Kosten die neueste Technik zu shoppen. Luisa hatte viel gelacht, noch mehr von ihm gelernt, und sie war beinahe pleite gewesen, als Ábel wieder zurück in seine Heimat zog. Aber nein, ihrer Meinung nach hatte sie in dem letzten Jahr kein Gramm zugelegt.

„Keine Ahnung, wer dir das gesteckt hat“, erwiderte Luisa.

„Ich weiß schon, wie wir uns dort umsehen können. Wir hacken Pokemon Go und sehen uns alles gemütlich vom Sofa aus an“, sinnierte Ábel versonnen.

„Oder wir gehen einfach hin.“

„Wenn du so langweilig sein willst …“, erwiderte Ábel mit hörbar sinkender Begeisterung.

„Du kannst ja trotzdem das Spiel hacken“, munterte Luisa ihren Freund auf. „Ich fliege morgen nach London. Dein Flug geht bereits heute Abend. Es wurden für uns in einem Hotel zwei Zimmer reserviert. Holst du mich morgen vom Flughafen ab?“

„Na, klar, mon amour. Pack die Kletterausrüstung ein.“

Ábel lachte herzlich über Luisas verzweifeltes „Oh nein, bitte nicht“, aber er versprach, pünktlich zu sein. Ein Versprechen, welches in Luisa eine zarte Beunruhigung weckte.

Das letzte Mal als Ábel versprochen hatte, pünktlich zu sein, war er mit vier Stunden Verspätung eingetroffen. Und das war noch wenig gewesen. Das Mal davor waren es fünf Tage und davor sogar ganze zwei Wochen! Welcher Mensch brachte es auf zwei Wochen Verspätung? Aber davon ließ sich Luisas Optimismus nicht bremsen.

Beschwingt durch das Telefonat mit ihrem besten Freund, widmete sich Luisa dem zweiten Punkt auf ihrer heutigen Aufgabenliste. Sie recherchierte in den Weiten des freien (und nicht so freien) World Wide Web, um herauszufinden, in welcher Verbindung die Fischfirmen zu ihrem aktuellen Beschattungsobjekt passten.

Das Ergebnis war ernüchternd und niederschmetternd. Fischereiunternehmen mit dem Namen „Atlantic Seafood“ gab es dutzende Male. Jeder kleine Fischer schien sich mit diesem kreativen Namen zu schmücken.

Die zweite Firma führte sie immerhin auf eine nichtssagende Website, die im Grunde lediglich aus dem Namen „Northern Fish and Seafood“ bestand. Ein blauer Schriftzug auf violettem Untergrund. Himmel, der Designer musste doch blind gewesen sein!

Frustriert und mit von der ungewöhnlichen Farbkombination nachhaltig geschädigten Augen beendete Luisa ihre Recherche, indem sie ihren Laptop zuklappte. Es würde ihr nicht erspart bleiben, noch einmal in der Wohnung von Achim Polloch vorbeizusehen.

 

Langsam schob Luisa ihr Fahrrad auf den Gehweg. Gedanklich stellte sie ihre Tagesplanung auf. Wenn sie morgen nach England flöge, würde sie den heutigen Abend für einen weiteren Einbruch nutzen können. Achim Polloch verließ stets pünktlich um achtzehn Uhr das Büro. Meist in der Gesellschaft seiner Sekretärin, die es vorzog, mit ihrem in mehrfacher Hinsicht geliebten Chef die Rückbank des Wagens zum Beben zu bringen und dann nach Hause zu fahren. Vielleicht fuhr Polloch ja mit ihr? Dann wäre der Weg in seine Wohnung für Luisa frei. Und die Zeit bis zu seinem Feierabend konnte sie für einen Besuch im Einkaufszentrum nutzen.

Eine leichte Brise fuhr durch ihre blonden Locken, als sie sich auf ihr Fahrrad schwang und losfuhr. Erstaunt registrierte Luisa das Auto neben sich. Neben ihr fuhr ein weißer BMW, der gut und gerne ein Indianerdorf in Gänze transportieren könnte. Sämtliche Scheiben waren getönt und verhinderten den Blick auf den Fahrer. Ein solcher Wagen verkehrte sonst nicht in den Straßen von Jeverhaven. Die Leute hier liebten praktische Fahrzeuge, ein bisschen verbeult, aber liebevoll gepflegt.

Mit einem Schulterzucken trat Luisa in die Pedale. Der Wagen folgte ihr in langsamem Tempo. Was denn? So breit war sie auf ihrem Fahrrad nun auch wieder nicht. Er könnte sie locker überholen! Fand da jemand das Gaspedal nicht?

Ein paar Straßen weiter wünschte sie sich, es wäre nur das. Immer wieder drehte sie sich nach hinten um. Und immer war der weiße BMW in ihrer Nähe. Allein die Tatsache, dass er nicht versuchte, sie von der Straße zu fegen, beruhigte sie. Wenn auch nur wenig.

Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass dieser Fahrer nicht zufällig den gleichen Weg wie sie wählte und dabei auch noch Probleme mit dem Gas hatte.

Eine Ahnung, die sich bestätigen sollte, als sie vor dem Einkaufszentrum hielt. Wie sie erwartet hatte, stoppte auch der weiße Straßenkreuzer auf dem Parkplatz. Erneut in ihrer Nähe. Allerdings tat ihr der Fahrer nicht den Gefallen auszusteigen. Noch nicht.

Erst als sie sich von ihrem Fahrrad entfernte und sich dem Eingang des Einkaufszentrums näherte, stieg ein hochgewachsener Mann aus dem Auto.

Luisa war selbst nicht sonderlich klein, aber dieser Mann musste beinahe zwei Meter groß sein. Seine Haare waren kurz geschnitten und so blond wie ihre. Die Augen verbarg er hinter einer verspiegelten Sonnenbrille. Und um das Bild zu komplettieren, trug er einen schwarzen Anzug, der die trainierte Gestalt seines Trägers unverschämt vorteilhaft betonte. Er sah aus wie James Bond. Nur ohne die abstehenden Ohren. Luisa musste zugeben, dass ihr James Bond vermutlich niemals eine solche Heidenangst einjagen könnte.

Vielleicht war das doch alles eine Nummer zu groß für sie. Sie hatte doch erst gestern mit Elli gesprochen! Wie konnte es sein, dass man ihr bereits jetzt jemanden auf den Hals hetzte? Hm, na ja, wie fand man solche Dinge wohl heraus? Entweder hatte einer von Ellis Mitarbeitern das Gespräch belauscht und sie verpetzt, oder man beobachtete Elli.

„Sie blockieren die Tür“, riss eine weibliche Stimme Luisa aus den Überlegungen, und sie fuhr herum.

Eine ältere Dame trommelte mit ihrem Birkenstocklatschen auf den Boden und blickte Luisa vorwurfsvoll über den Rand ihrer Omabrille an. Und dahinter stand die attraktivere Version von James Bond. Gelassen lehnte sich dieser gegen die Wand und musterte die beiden Frauen.

Nur mit einer imaginären Ohrfeige gelang es Luisa, sich von seinem Anblick loszureißen und endlich die Freundlichkeit zu besitzen, nicht mehr im Weg zu stehen. Eilig öffnete sie die Tür und schlängelte sich in dem schnellsten Tempo, das ihr einziges Paar Manolos zuließ, durch die Menschen.

Doch Luisas Hoffnung, er würde sie verlieren, zerschlug sich gründlich. Sie sah sich soeben die Auslage im Buchladen an, da spürte sie deutlich seinen Atem in ihrem Nacken kitzeln. Das konnte doch nicht wahr sein!

In einem Anflug von Mut (und darüber genervt, dass ihr vor Nervosität bereits schlecht wurde) packte Luisa einen schweren Bildband über London und drehte sich damit und mit sehr viel Schwung herum. Leider erwies er sich nicht nur als anhänglich, sondern auch als reaktionsschnell. Er wich ihr rechtzeitig aus. Auf ihr gemurmeltes „Schade“ und ihren finsteren Blick reagierte er mit einem belustigten Schnauben. Mistkerl.

Immerhin hielt er auf dem Weg in die Krimiabteilung zwei Schritte Abstand zu ihr. Ein kleiner Teilerfolg, der Luisa ein triumphierendes Lächeln auf die Lippen zauberte. Als sie dort einen fünfhundertseitigen Thriller in den Händen wog, war ihr neuer Schatten plötzlich verschwunden. Luisas Lächeln wurde deutlich spöttischer.

Leider beging sie einen entscheidenden Fehler. Sie legte den schweren Thriller beiseite, entschied sich lediglich für einen Reiseführer und reihte sich damit in der Schlange an der Kasse ein. Offenbar war das schmale Büchlein über Londons Sehenswürdigkeiten nicht beeindruckend genug, um das James-Bond-Double nachhaltig zu verschrecken.

Gerade dachte Luisa darüber nach, ob sie unauffällig einen Schritt zurücktreten sollte, um dem aufdringlichen Mann ihren Absatz in den Fuß zu bohren, da spürte sie seine Hände auf ihrer Taille. Luisa entfuhr ein fragendes Ächzen.

Umdrehen, Knie anheben, reinrammen, kreiste es in ihrem Gehirn, und mit jeder Faser ihres Herzens wünschte sie sich, sie könnte dieser Aufforderung nachkommen. Sie würde wirklich gern. Aber nicht nur, dass sich die Finger dieses Mannes erschreckend gut anfühlten. Luisa fühlte noch deutlich etwas anderes. Ihr Stalker trug eine Pistole! Er presste sich so fest an Luisa, dass sie deutlich die Waffe in ihrem Rücken spüren konnte.

Plötzlich bekam sie wieder Gefühl in ihren Beinen. Mit einem blitzschnellen Hechtsprung in eine andere Richtung wollte sie sich vor ihm in Sicherheit bringen. Doch er legte den Arm um ihre Taille und riss sie so fest zurück, dass sie gegen ihn taumelte und sich an dem Revers seines Sakkos festhalten musste, um auf den Beinen zu bleiben. Der Hilfeschrei blieb ihr in der Kehle stecken. Heraus kam nur entsetztes Gurgeln. Ihr fehlten sämtliche Worte. Sie zitterte, nein, sie bebte in seinem Arm.

Stück für Stück schob er sie vor sich her, bis sie mit dem Bezahlen an der Reihe war. Wortlos starrte sie den Kassierer an, flehte ihn mit den Augen an, er möge doch die Polizei rufen. Wenn es ihr schon die Sprache verschlagen hatte, dann ihm doch hoffentlich nicht! Sie wusste, was man bei einem Überfall machen musste. Theoretisch. Treten, beißen, schreien. Aber ihr Körper hatte offenbar abgeschaltet.

Der Kassierer hatte nicht etwa einen spontanen Anruf bei der Polizei für Luisa übrig, sondern lediglich das Lächeln eines Mannes, der diese überglücklichen Pärchen, die nie die Finger voneinander lassen konnten, deutlich satthatte. Wie betäubt ließ sie zu, dass ihr Verfolger den Reiseführer zwischen ihren Fingern hervorzog und ihn gemeinsam mit einem Geldschein über den Tresen reichte. Das Piepsen des Kassenscanners ließ sie zusammenzucken, ebenso wie das Rascheln der Tüte, in die der Reiseführer gesteckt wurde. Sie war sich nicht einmal bewusst, dass sie die Tüte entgegennahm und sich völlig mechanisch in Bewegung setzte, um das Geschäft zu verlassen. Nur eines wusste sie: Hätte ihr Verfolger nicht vor dem Laden endlich seine Finger von ihr genommen, wäre sie in Ohnmacht gefallen.