7,99 €
In diesem zahnschmelzzerstörenden Abenteuer wird die Mutter unserer Heldin Kassandra entführt: von einem unheimlichen Gourmet- Koch und Chokolatier, dem blinden Senor Hugo. Nur gegen die legendäre magische Stimmgabel will er sein Opfer wieder freigeben. Werden Kass und Max-Ernest das sagenumwobene Instrument finden, bevor es zu spät ist? Und werden sie das schreckliche Geheimnis lüften, das den Erfolg der berühmten Schokolade von Senor Hugo begründet?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 312
Pseudonymous Bosch
Dieses Buch ist gar nicht gut für dich
Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis
Zeichnungen von Sabine Völkers
Für India und Natalia, wenn sie alt genug sind
1. Auflage 2011 Text copyright © Pseudonymous Bosch © für die deutsche Ausgabe: Arena Verlag GmbH, Würzburg 2011 Umschlag: Frauke Schneider Zuerst erschienen unter dem Titel »This book is not good for you« bei Little, Brown and Company Hachette Book Group, USA New York 2009 Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-401-80156-8
www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de
Inhalt
Kapitel fünfzehn – Ein Amuse-Bouche
TEIL EINS – Vorspeise
Kapitel eins – Kisten über Kisten
Kapitel eins, Teil zwei – Noch mehr Schachteln
Kapitel zwei – Täuschend süß
Kapitel drei – Das Clownscamp
Kapitel vier – Blutschokolade
Kapitel fünf – Die Küche der Sinne
Kapitel sechs – Der zweite Handschuh
Kapitel sieben – Ein Stich im Dunklen
Kapitel acht – Alles andere als okay
TEIL ZWEI – Der Hauptgang
Kapitel neun – Allein zu Hause
Kapitel 10 – Der Caca – Junge
Kapitel 11 – Ein trockenes, krächzendes Hüsteln
Kapitel zwölf – Schon wieder Schachteln
Kapitel zwölf, Teil zwei – Die Antiquitäten-Karawane
Kapitel dreizehn – Der Angriff der Killerzwerge
Kapitel vierzehn – Preiselbeersaft
Kapitel sechzehn – Weit weg von Abidjan
Kapitel siebzehn – Ein Essen im Familienkreis
Kapitel achtzehn – Vogelbeobachtung
Kapitel neunzehn – Transportprobleme
Kapitel zwanzig – Ein unsichtbares Kapitel
Kapitel einundzwanzig – Willkommen in der Wildniswelt
Kapitel zweiundzwanzig – Eine Küchenhexe, ein Feuerwehrschlauch und eine Überraschung aus der Schweiz
Kapitel dreiundzwanzig – Ein tierisches Alphabet
Kapitel vierundzwanzig – Katzenfutter
Kapitel fünfundzwanzig – Ein überirdischer Genuss
Kapitel sechsundzwanzig – Kleine braune Perlen
Kapitel siebenundzwanzig – Lebendig begraben
Kapitel achtundzwanzig – Der Pavillon
Kapitel neunundzwanzig – Das Zelt des Hofnarren
TEIL DREI – Nachspeise
Kapitel dreißig – Ein Samurai im Regenwald
Kapitel einunddreißig – Schokoladenschreiber
Kapitel dreißig – Teil zwei – Der Samurai schlägt zurück
Kapitel einunddreißig, Teil zwei – Ein Samurai in geheimer Mission
Kapitel zweiunddreißig – Mom
Kapitel dreiunddreißig – Schlechte Nachrichten
Kapitel vierunddreißig – Schokoladenbraune Schneebälle
Kapitel fünfunddreißig – Die Stimmgabel
Kapitel sechsunddreißig – Ein Löwenbaby aus Plüsch und ein purpurroter Strohhalm
Kapitel siebenunddreißig – Die Wahrerin des Geheimnisses
Anhang
Mmmmm … knackt beim Mund … zarter Brombeer Grundnote … Mmmm … Prise Zimt und … Karda ritze? … samtweich am süß … lieblich im Ab muss unbedingt noch mal
Reinbeißen … zergeht im geschmack mit erdiger ja … dazu eine kräftige mom? Oder doch eher Lak-Gaumen … nicht zu gang … Mmmmm … ich probieren …Uaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaah . . . . . .!
Ach, du bist es. Dem Himmel sei Dank.
Einen Augenblick lang dachte ich schon, es wäre … Egal, es spielt keine Rolle, was ich dachte.
Die Frage ist: Was fange ich jetzt mit dir an?
Weißt du, ich bin nämlich nosch nischtt gnnss fertisch …
Entschuldigung, ich habe mit vollem Mund geredet. Was ich eigentlich sagen wollte: Ich bin noch nicht ganz fertig und habe jetzt keine Zeit für dich. Ich bin sehr beschäftigt. Hast du das Schild nicht gesehen, auf dem klar und deutlich NICHT STÖREN steht?
Was ich hier mache? Etwas sehr Wichtiges, so viel steht fest.
Also gut, wenn du’s unbedingt wissen willst: Ich esse Schokolade. Nein, nicht was du denkst! Glaub mir, es ist harte Arbeit. Und nur im Dienste der Forschung.
In diesem Buch geht es um Schokolade. Und du willst dosch nischtt – Entschuldigung, ich konnte nicht anders, ich musste noch ein Stück naschen –, du willst doch nicht, dass ich über etwas schreibe, von dem ich keinen blassen Schimmer habe, oder?
Wie bitte? Das würde dich in meinem Fall nicht sonderlich überraschen?
Na toll. Vielen Dank für das Vertrauen.
Lass es dir gesagt sein: Ich bin nicht mehr der Angsthase von Bücherschreiber, der ich früher einmal war, und ich lasse mich von dir nicht dumm anreden. Ich habe jetzt andere Leser. Dankbare Leser. Leser, die wissen, was man einem Autor schuldet.
Nimm zum Beispiel diese extra große Schachtel mit extra dunkler, extra teurer, extra feiner Schokolade, die ich gerade esse. Nicht dass ich damit angeben will, aber ein glühender Verehrer hat sie mir geschenkt.
»Für P. B. – den besten Schriftsteller der Welt«, stand auf dem Zettel, der dabeilag.
Wie bitte? Das muss ein Trick sein? Das kann niemand ernsthaft von mir behaupten und es auch so meinen?
Okay, raus jetzt, und zwar sofort! Ich kriege dieses Buch nie fertig, solange du hier herumsitzt und mich beleidigst.
Ich sag dir was: Auf meinem Schreibtisch liegt ein Kapitel, das ich gerade abgeschlossen habe. Es soll eigentlich viel später in dem Buch kommen, aber du kannst es genauso gut jetzt gleich lesen, während ich … weiterforsche.
Es ist dann wie ein Prolog, ein Amuse-Bouche, wenn du so willst – ein sogenannter Gaumenkitzler vor dem richtigen Essen.*
Da wir gerade vom Essen sprechen: Welche Schokolade soll ich als Nächstes probieren? Karamellnougat oder Himbeersahnecreme …?
Ene, mene, miste …
* In einem schicken Restaurant lässt der Küchenchef oft ein Amuse-Bouche servieren, ehe er oder sie das Hauptgericht aufträgt. Aus dem Französischen übersetzt heißt es so viel wie Erfreue den Mund. Ich weiß nicht, wie’s dir geht, aber mein Mund kann viel Freude vertragen.
Kapitel fünfzehn
Ein Amuse-Bouche
Ein Vogel steckte seinen Kopf durch die eisernen Gitterstäbe und zupfte das Mädchen am Arm. Der Vogel war leuchtend grün und hatte rotes Brustgefieder, einen gelben Schopf und große, flehende Augen.
»Geduld, mein Freund!«, sagte das Mädchen. »Meine Güte, bist du ein gieriger Vogel!«
(In Wahrheit sprach das Mädchen französisch und sagte »Patience, mon ami! Zut alors, tu es un oiseau avide!« Aber auf Französisch klingt es nicht ganz so höflich.)
Lachend öffnete das Mädchen die Hand, in der ein kleines Stückchen Schokolade lag – die Schokolade war so samtig braun wie ihre zarte Haut.
Der Vogel verschlang den Bissen, dann starrte er sie bittend an.
»Tut mir leid, das war alles, was ich heute ergattern konnte.«
Der Vogel krächzte – schwer zu sagen, ob aus Dank oder aus Protest – und flog davon; sein langer Schwanz flatterte im Wind.
»Eigentlich solltest du mir etwas zu essen bringen. Ich bin diejenige, die im Vogelkäfig sitzt!«, rief ihm das Mädchen nach, während er im dichten Urwald verschwand.
Niedergeschlagen setzte sie sich wieder auf den Stapel alter Zeitungen, die ihr als Bett dienten – und die ihre einzige Unterhaltung in ihrer betonierten Zelle waren. Der Vogel war ein Plagegeist, doch seine Besuche waren der Höhepunkt ihres Tages. Jetzt hatte sie nichts mehr, worauf sie sich heute noch freuen konnte.
»Beeil dich, Simone!« Eine der Wächterinnen, eine kräftige, griesgrämige Frau namens Daisy, trat zu ihr an den Käfig. »Sie brauchen dich wieder.«
Jetzt schon?, wunderte sich Simone. Es war doch erst eine Stunde vergangen, seit sie zum letzten Mal dort gewesen war.
Sie warteten im Verkostungsraum auf sie.
Wie immer saßen sie alle drei auf hohen silbernen Stühlen hinter einem langen Marmortisch. Wie immer trugen sie blütenweiße Labormäntel und blütenweiße Handschuhe.
Sie hatten sich ihr nie vorgestellt, aber Simone hatte ihnen Namen gegeben. Den braun gebrannten Mann mit den silbernen Haaren hatte sie Doktor genannt. Die schöne blonde Frau mit dem starren Lächeln war die Barbie-Puppe. Und der Blinde mit der dunklen Sonnenbrille war der Pirat.
Sie waren wie ein Tribunal. Wie drei Richter.
Allerdings warteten sie darauf, dass Simone ein Urteil sprach.
Sie setzte sich auf eine niedrige Steinbank ihnen gegenüber, wo sie sich erst recht wie eine Zwergin vorkam.
Jedes Mal lief es nach dem gleichen Muster ab. Zuerst musste sie ein Glas Wasser trinken. Das Wasser war zweimal destilliert, damit auch nicht die geringste Spur von Mineralien zurückblieb, hatten sie ihr erklärt. Es war absolut geschmacklos und diente dazu, ihren Gaumen zu reinigen.
Dann setzte ihr der Pirat auf einem reinweißen Teller ein kleines Stück Schokolade vor.
Ein Palet d’Or nannte er es. Ein Goldkissen.*
Und dann warteten sie schweigend darauf, was Simone sagen würde.
Sie behaupteten nämlich, Simone sei eine Superzunge. Jemand, der doppelt so viele Geschmacksknospen wie üblich auf der Zunge hat. Aber Simone wusste, dass es nicht nur an ihren Geschmacksknospen lag.** Denn so weit sie sich zurückerinnerte, konnte sie die feinsten Geschmacksunterschiede erkennen.
Ist der Honig aus Orangenblüten oder aus Kleeblüten? Klee. Brombeere oder Stachelbeere? Stachelbeere. War es Zitronenthymian oder Zitronenstrauch? Weder noch. Es war Zitronengras.
Sie war wie eines dieser Wunderkinder, die eine Sinfonie aus dem Gedächtnis spielen können, kaum dass sie zum ersten Mal an einem Klavier sitzen. Simone hatte das Gegenstück zum absoluten Gehör: den absoluten Geschmack.
Deshalb saß sie nun hier, in diesem kalten Raum, so weit weg von zu Hause und blickte auf das Palet d’Or. Es war dunkel, beinahe schwarz, und es glänzte seidig.
Vorsichtig biss sie ein Eckchen ab und schloss die Augen.
Seit Wochen schon musste sie immer dunklere Schokoladensorten probieren. Einige waren so schokoladig, dass sie fest waren wie getrockneter Lehm. Einige hatten einen derart intensiven Geschmack, dass es ihr durch und durch ging wie ein Schock.
Aber diese hier war anders. Sie war die Über-Schokolade. Die Quintessenz von Schokolade.
Es war das Beste, was sie je gekostet hatte.
Und das Schlimmste zugleich.
Tränen strömten ihr übers Gesicht, als alle Gefühle, die sie in ihrem ganzen Leben gekannt hatte, auf einmal auf sie einstürmten.
Der Geschmack der Schokolade – die Geschmäcker genau genommen, denn die Schokolade schmeckte nach so vielen Dingen – versetzte sie wieder zurück in ihre Kindertage. Auf die alte Kakao-Plantage ihrer Familie im Regenwald.
Erinnerungen an die knorrigen Wurzeln der Kakao-Bäume und den feuchten, angenehmen Duft der Erde blitzten auf …
Sie dachte an die Blüten, an diese kleinen rosaroten Blüten, die das ganze Jahr über leuchteten … nicht auf den Zweigen, sondern direkt auf dem Stamm der Kakao-Bäume … als wäre jeder einzelne Baum an blumigen Masern erkrankt …
Und sie erinnerte sich an die Früchte … rot und gelb, wie flammende Sonnenuntergänge … sie sahen aus, als könnten sie außerirdische Sporen oder Nesseln enthalten, die böse Feen geschickt hatten … aber innen drin war das süße, klebrige Fruchtfleisch, das sie so gerne zwischen den Händen zerdrückte und zermatschte …
Und erst die Samen … sie konnte nicht glauben, dass man aus diesen bitteren, kleinen Samenkörnchen etwas so Wundervolles wie Schokolade machen konnte … aber bald schon konnte sie die einzelnen Arten der Kakao-Bäume auf den ersten Blick unterscheiden … die zierlichen Criollos, die roten Forasteros …*
Wie glücklich war sie damals auf der Farm gewesen. Und wie sicher und geborgen!
Und dann war dieser schreckliche Tag gekommen … der Tag, an dem die drei vornehmen Fremden auftauchten und sie fragten, woher sie sich so gut mit Schokolade auskannte … und die ihre Geschmackssicherheit in höchsten Tönen lobten … und ihr ein schönes Leben für die Zukunft versprachen …
Und dann hatte man sie, obwohl sie weinte, ihren Eltern weggenommen …
Und allmählich dämmerte es ihr, dass sie eine Gefangene war …
Dass das Leben, das sie führte, nicht mehr ihr Leben war …
»Es funktioniert!«, frohlockte die Barbie-Puppe. »Seht euch ihr Gesicht an!«
»Sie scheint … darauf anzusprechen«, sagte der Doktor etwas zurückhaltender. »Simone, kannst du uns sagen, was du da schmeckst? Was du siehst?«
»Ja, sag es uns!«, drängte der Pirat und ballte seine behandschuhte Hand. »Habe ich endlich mein Rezept gefunden? Ist das meine Schokolade?«
Simone machte den Mund auf und wollte antworten, doch –
Sie sah nichts mehr. Sie hörte nichts mehr. Sie spürte nicht einmal mehr ihren Arm.
Ihr schwanden die Sinne.
Sie wollte schreien, aber sie brachte keinen Ton hervor.
Was ging mit ihr vor?
Welches furchtbare Zeug hatte sie soeben gegessen?
* Palet d’Or heißt genau genommen »Palette« oder »Scheibe aus Gold.« Aber ich finde, »Goldkissen« klingt romantischer.
** Um herauszufinden, ob du auch eine Superzunge bist, mach den Test, der im Anhang dieses Buchs beschrieben ist.
* Da Simone auf einer Plantage aufgewachsen ist, weiß sie natürlich, dass Schokolade aus den Kakao-Samen hergestellt wird. Du wist schon festgestellt haben, dass die meisten Menschen zu den Kakao-Samen Kakao-Bohnen sagen. Eine ausführlichere Liste von Schokoladen-Begriffen findest du im Schokolossar im Anhang dieses Buchs.
TEIL EINS
VORSPEISE
Kapitel eins
Kisten über Kisten
Hatschi!«
Max-Ernest nieste so heftig, dass seine Stachelfrisur noch fünf Minuten später zitterte.
»Hey, hast du’s bemerkt – habe ich geblinzelt?«
Er blickte auf seine Freundin Kass hinunter, die neben ihm kauerte. Ihre spitzigen Ohren spitzten über ihren langen Zöpfe durchs Haar.
»Ich habe gelesen, dass man jedes Mal blinzelt, wenn man niest. Deshalb versuche ich immer, meine Augen offen zu lassen.«
»Tut mir leid, ich hab nicht hingesehen …«, murmelte Kass.
Schon seit Längerem hatte sie es sich angewöhnt, die Hälfte von dem, was Max-Ernest sagte, zu überhören. Wenn man die beste Freundin des redseligsten Jungen in der ganzen Stadt ist, kann diese Fähigkeit überlebenswichtig sein.
»Und was, bitte, haben Tütensuppen und Schädlingsbekämpfungsmittel miteinander zu tun …?«
Sie versuchte, die Aufschrift zu lesen, die auf einen Pappkarton gekritzelt war, aber das meiste war durchgestrichen:
Klempner-BedarfTeddybären und SpielzeugmäuseBoxhandschuhe und OperngläserGetrocknete Blumen, Fliegen zum Fliegenfischen,getrocknete Fliegen (echt)Parkscheine
Thunfisch in Dosen/Tütensuppen/Schädlingsbekämpfungsmittel
»Oh, oh, ich glaube, ich muss – hatschi!« Max-Ernest nieste wieder. »Das sind die Staubmilben, ich bin dagegen allergisch.«
Kass schob die Schachtel beiseite, denn es war nicht die, nach der sie suchte, und stand auf. Jetzt war sie gut einen halben Kopf kleiner als ihr Kamerad.
»Ach ja, wie konnte ich auch nur eine einzige deiner hundert Allergien vergessen?«
»Was willst du damit sagen? Es sind nur dreiundsechzig – jedenfalls, so viel ich weiß«, verbesserte sie Max-Ernest, der nicht verstand, dass sie es ironisch gemeint hatte. »Also, ich bin gegen Weizen, Walnüsse, Erdnüsse, Pekannüsse, Erdbeeren, Schalentiere allergisch … ach ja und natürlich gegen Schokolade!«
»Komm schon«, sagte Kass und wandte sich einer Kiste zu, die hinter der stand, die sie eben in Augenschein genommen hatte. »Willst du mir jetzt helfen, dieses Ding zu finden, oder nicht?«
Es war Sommer und Kass arbeitete nachmittags im Antiquitätenladen ihrer Großväter:
DER FEUERLADEN
ALLES, WAS SIE NIEMALS JEMALS BRAUCHEN KÖNNEN!
So stand es auf der Werbetafel am Eingang.
Wie sich die Leser bestimmter unnennbarer Bücher erinnern werden, war der Laden im Erdgeschoss eines alten, aus roten Ziegelsteinen erbauten Feuerwehrhauses untergebracht. Kass’ Großväter, Larry und Wayne, wohnten im Stockwerk darüber und mit jedem Tag stopften sie mehr Sachen in den Laden. Noch im letzten Jahr, so erinnerte sich Kass, war genug Platz gewesen, um zwischen den Regalen hin- und herzugehen. Jetzt musste man über Berge von Gerümpel steigen, nur um von einer Ecke des Raumes in die andere zu gelangen.
Kass hatte ihrer Mutter gesagt, dass sie im Feuerladen arbeiten wolle, um sich Geld für ein neues Fahrrad zu verdienen, aber das stimmte nicht ganz. Es war jedenfalls nicht der einzige Grund.
In Wahrheit hatte sie sehr viel wichtigere Beweggründe.
Sie suchte eine Schachtel. Eine ganz bestimmte Schachtel, von der sie wusste, dass sie irgendwo im Laden ihrer Großväter sein musste. Und in Anbetracht der Tatsache, dass sich in dem Laden mindestens tausend Schachteln befanden, ganz zu schweigen von den vielen Dingen, die sich nicht in Schachteln befanden, schätzte sie, dass sie den ganzen Sommer brauchen würde, um genau die Schachtel zu finden, die sie suchte.
Heute waren ihre Großväter mit Sebastian, ihrem Hund, zum Tierarzt gegangen und Kass nutzte die Zeit, um mit doppeltem Eifer zu suchen. Max-Ernest hatte sich gnädigerweise bereit erklärt, ihr dabei zu helfen.
Genauer gesagt, er hatte zögernd zugestimmt, ihr Gesellschaft zu leisten.
Er war schon an die Quixoterien seiner Überlebenskünstler-Freundin gewohnt, ob sie nun unter dem Schulhof nach Giftmüll suchte oder nach Killerschimmel unter der Cafeteria-Spüle.* Aber diese Suche, davon war er überzeugt, war besonders aussichtslos.
»Warum glaubst du, dass diese Schachtel immer noch hier ist?«, fragte er und rührte sich nicht vom Fleck, sprich von dem Stapel alter Nachschlagewerke, auf dem er saß.
»Du kennst doch meine Großväter – sie werfen nie etwas weg.« Kass machte die Schachtel zu und nahm sich eine weitere vor.
Max-Ernest sah sich im Laden um und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, deine beiden Großväter haben eine obsessive Zwangsstörung. Das ist krankhaft.«
Kass platzte der Kragen. Sie liebte Larry und Wayne und konnte es nicht leiden, wenn jemand die beiden kritisierte – außer ihr selbst. »Muss denn jeder immer gleich gestört sein? Können sie nicht einfach alten Plunder mögen?«
»Und weshalb fragst du sie nicht einfach, wo diese Schachtel ist?«
»Bist du verrückt? Sie würden es sofort meiner Mutter erzählen.«
»Aber wir wissen ja nicht einmal, wie das Ding aussieht. Das Ganze ist doch völliger Unsinn …«
»Ich weiß, dass Nicht wegwerfen! darauf steht. Und ein Loch ist in den Karton gebohrt.«
»So als wollte man eine Katze darin transportieren?«
»Max-Ernest!«
»Schon gut, schon gut.«
Was Gefühle betrifft, kannte Max-Ernest sich nicht sehr gut aus, weder, was seine eigenen, noch, was die Gefühle anderer anging. Aber er bemerkte, dass Kass’ Ohren – und die waren immer ein verlässliches Barometer – knallrot anliefen.
Die Schachtel war ganz offensichtlich ein heikler Punkt.
Nämlich, dass ihre Mutter gar nicht ihre richtige Mutter war.
Dass sie Kass adoptiert hatte.
Dass Kass ein Findelkind war, wie ihre Großväter zu sagen pflegten.
Dass Kassandra nicht ihr richtiger Name war.*
Die Geschichte war nämlich die:
Eilzustellung
Die Ankunft von Baby Kassandra
Es ist noch gar nicht so lange her, an einem Ort, der gar nicht so weit entfernt ist, da lebten zwei Männer, die noch gar nicht so furchtbar alt waren.
Diese Männer hatten eine solche Sammelleidenschaft, dass ihr Zuhause bis an die Decke mit Krimskrams und Schnickschnack und überhaupt mit diesem und jenem vollgestopft war.
Die Nachbarn, die die einnehmenden Gewohnheiten der beiden Männer kannten, stellten ihnen immer Schachteln auf die Treppe. Ihr Heim war die Endstation für viele Dinge. Üblicherweise befanden sich in den Schachteln kaputte Musikinstrumente oder Geschirr zweiter Wahl oder Kleidung, die zu klein geworden war.
Sachen. Dinge. Zeug.
An einem schicksalhaften Tag jedoch öffneten die beiden Männer eine Schachtel, die sie auf der Treppe gefunden hatten, und entdeckten etwas ganz und gar Ungewöhnliches. Anstelle von Babykleidung fanden sie ein Baby darin.
Ein wirkliches. Lebendiges. Atmendes. Baby.
Die Männer wussten nicht, was sie tun sollten. Natürlich würden die meisten Menschen ein Baby behalten wollen. Aber so gutherzig diese beiden Männer auch waren, sie wussten doch, dass es schwierig und gefährlich war, ein Kind in ihrem Heim großzuziehen. Es gab viel zu viele Sachen, an denen es ziehen und stochern und die es abbrechen konnte, an denen es sich verbrennen und verletzen und sich schaden konnte.
Zum Glück kam damals gerade eine Freundin der beiden zu Besuch. Diese Freundin, eine sehr kluge und sehr erfolgreiche, aber auch eine sehr einsame Frau, hatte ihnen kurz zuvor erzählt, wie sehnlich sie sich ein Kind wünschte. Deshalb beschlossen sie, dass das Baby fortan ihr Kind sein sollte.
Die Freundin hieß Mel, eine Abkürzung für Melanie, und sie war es, die Kass’ Mutter werden sollte. Am selben Tag beschlossen die beiden Männer, der eine hieß Larry, der andere hieß Wayne, dass sie Kass’ Großväter werden würden. Und seitdem lebten sie glücklich und zufrieden. Jedenfalls beinahe.
Als Kass zum ersten Mal von ihrer Herkunft erfuhr, war sie geneigt, ihrer Mutter zu verzeihen, dass sie nicht früher etwas davon gesagt hatte. Sie wusste, ihre Mutter wollte auf gar keinen Fall, dass auch nur die kleinste Kleinigkeit zwischen sie träte. Und die Tatsache, dass Kass ein Adoptivkind war, konnte man nun wahrlich nicht als Kleinigkeit bezeichnen.
Doch als die Wochen ins Land gingen, wurden die Gefühle, die Kass ihrer Mutter entgegenbrachte, immer schroffer statt milder. Denn als Kind einer alleinerziehenden Mutter hatte sie sich oft gefragt, wer wohl ihr Vater war. Nun musste sie sich auch noch fragen, wer ihre Mutter war.
Das Schlimmste daran aber war, dass ihre Mutter überhaupt nicht verstehen konnte, warum Kass so hartnäckig wissen wollte, wer ihre Eltern waren. Ihre leiblichen Eltern, wie Kass sie zu nennen pflegte. Oh ja, ihre Mutter sagte zwar, sie empfände Mitgefühl für Kass. Sie sagte, sie hätte Verständnis. Doch sie tat rein gar nichts, um ihr zu helfen.
War man ordentlich adoptiert wie alle anderen Kinder, konnte man mal eben zur Adoptionsbehörde marschieren und nach den Namen der leiblichen Eltern fragen. (»Natürlich erst, wenn man achtzehn ist«, erklärte ihre Mutter immer wieder. »Bis dahin sind die Aufzeichnungen unter Verschluss«). Aber weil Kass auf einer Treppe gefunden worden war, gab es keine Behörde, bei der man sich hätte erkundigen können.
In diesem Fall blieb einem nur eines übrig: Man heuerte einen Detektiv an.
Ihre Mutter war natürlich dagegen, sogar dann noch, als Kass anbot, ein ganzes Jahr lang auf ihr Taschengeld zu verzichten.
Deshalb beschloss Kass, wie schon so oft, selbst den Detektiv zu spielen.
»Hilf mir, bitte«, sagte Kass. »Du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn man nicht weiß, wer die eigenen Eltern sind. Du hast leicht reden, deine Eltern streiten sich andauernd wegen dir.«
»Ich hab doch gesagt, ich mache mit, oder nicht?«
Max-Ernest untersuchte übertrieben umständlich eine Schuhschachtel, die vor ihm auf einem Regal stand. »Glaubst du, ein Baby würde hier reinpassen?«
»Nein.«
»Und wenn es ein Zwergenbaby wäre?«
»Weißt du, was – warum haust du nicht einfach ab?«
Ehe Max-Ernest etwas darauf erwidern konnte, machte es laut:
Rumms!
Es klang, als wäre etwas Schweres auf den Boden gefallen. Darauf folgte ein lautes, hartnäckiges Klopfen an der Haustür.
* Quixoterie heißt so viel wie idealistisch oder romantisch bis an die Grenze des völlig Absurden. Das Wort ist von der Hauptfigur von Cervantes’ Roman Don Quixote abgeleitet, einer Figur, die stets unmögliche Herausforderungen meistern will. Welche Ehre, wenn man so berühmt ist, dass sein Name zu einem festen Begriff wird! Wenn ich so darüber nachdenke, dann steht mein Name, Pseudonymous, in den meisten Wörterbüchern …
* Wenn du meine anderen Bücher gelesen hast, dann weißt du natürlich schon längst, dass Kassandra ohnehin nicht ihr richtiger Name ist. Alle Namen meiner Figuren sind erfunden, es sind Decknamen, die die wahre Identität der handelnden Personen schützen sollen. Das Problem hier ist, dass der Name, den Kass für ihren richtigen Namen gehalten hat, der Name, mit dem Kass durchs Leben ging, der Name, bei dem sie ihre Freunde nannten und auch sie selbst – ein Name, den ich niemals aufdecken werde –, dass dieser Name ebenfalls nicht Kass’ richtiger Name war.
Kapitel eins, Teil zwei*
Noch mehr Schachteln
Rumms!!
Noch mal. Und es hört nicht auf zu klopfen.
»Wer ist das?«, flüsterte Max-Ernest. »Ich dachte, der Laden ist geschlossen.«
Kass zuckte die Schultern und bemühte sich, gelassen zu wirken. Aber sie ließ die Schachtel, die sie gerade inspiziert hatte, fallen und stand auf. »Wahrscheinlich jemand, der sein altes Gerümpel vor der Tür meiner Großväter ablädt, wie üblich.«
Rumms!
Diesmal war es noch lauter. Beide zuckten zusammen.
»Ja, aber wenn es doch etwas anderes ist?«, fragte Max-Ernest und blickte gebannt zur Eingangstür. »Dann haben wir keine Zeit mehr, der Mieheg-Gesellschaft eine Nachricht zu schicken.«
Kass’ Ohren kribbelten alarmiert, als er die Geheimorganisation erwähnte. »Psst! Du weißt nicht, wer zuhört.«
»Genau darauf will ich ja hinaus«, flüsterte Max-Ernest. »Vielleicht steht die Mitternachtssonne draußen vor der Tür. Wer weiß?«
Kass sah ihn an, ihre Ohren wurden kalt.
Max-Ernest hatte recht. Die entsetzliche Wahrheit war nämlich die: Sie hatten ihre Feinde so gründlich vertrieben, dass sie jetzt nicht mehr wussten, wo diese überhaupt waren. Es war schon Monate her, seit sie die heimtückischen Anführer der Mitternachtssonne, Madame Mauvais und Dr L. zum letzten Mal gesehen hatten; damals waren sie von einem Friedhof auf einem hohen Berggipfel mit einem schwarzen Hubschrauber davongeflogen und trotz aller Anstrengungen war es der Mieheg-Gesellschaft nicht gelungen herauszufinden, wohin dieser Hubschrauber geflogen war.
Diese hinterhältigen, gehässigen und äußerst niederträchtigen Giftmischer konnten überall sein.
»Vielleicht haben sie die ganze Zeit nur darauf gewartet, dass deine Großväter weggehen«, fuhr Max-Ernest fort. »Und nun packen sie die Gelegenheit beim Schopf und rächen sich an uns.«
Kass sagte kein Wort, das war aber auch gar nicht nötig.
Sie warteten noch ungefähr eine Minute – es kam ihnen viel länger vor –, aber es gab kein Rumms mehr vor der Tür. Sie hörten nur noch das übliche Tick und Tack und Kling und Klang der vielen alten Uhren und all der anderen wunderlichen Sachen, mit denen der Laden vollgestopft war.
Schließlich schlichen sie auf Zehenspitzen zur Eingangstür.
Klirr!
Sie erstarrten. Diesmal kam das Geräusch aus dem Inneren des Ladens.
Waren es Einbrecher?
Sie nahmen sich bei der Hand und drehten sich langsam um (ob sie dabei nach der Herkunft der Geräusche Ausschau hielten oder nach einem guten Versteck, weiß ich nicht).
Da zeigte Max-Ernest auf die Tür …
Zu seinen Füßen lagen die Scherben eines Keramik-Hahns, den er umgestoßen hatte. Deshalb also der Lärm. Na ja, der letzte Lärm jedenfalls. Das laute Klirren. Das Rumpeln und das Klopfen harrten noch einer Erklärung.
Sie warteten eine Minute. Nichts geschah.
Kass öffnete die Eingangstür einen Spalt weit …
Beide atmeten erleichtert auf.
Kass’ erste Vermutung war richtig gewesen: Drei Pappschachteln standen auf dem Treppenabsatz.
Nun mussten sie doch nicht gegen die Mitternachtssonne kämpfen. Wenigstens nicht gleich.
»Sehen wir mal nach«, sagte Kass und schüttelte fachmännisch eine Schachtel nach der anderen. »Schuhe … hoffentlich stinken sie nicht allzu sehr … Hemden, voller Flecken vermutlich … Zeitschriften …«
Nachdem sie mühevoll nach einer Lücke gesucht hatte, in die sie die neuen Errungenschaften hineinzwängen konnte, setzte Kass die Suche nach der Schachtel fort, die ihr allererstes Zuhause gewesen war.
Max-Ernest setzte sich inzwischen wieder auf seinen Stapel aus Lexika und wühlte in der neuen Schachtel mit den Zeitschriften. Es waren alle möglichen Zeitschriften, einige waren noch ziemlich aktuell, andere waren Jahre alt. Zu seinem großen Bedauern waren keine über Rätsel oder Zauberei oder Naturwissenschaften darunter (das waren, der Reihenfolge nach, die Dinge, die ihn am meisten interessierten).
Er wollte die Schachtel wieder verschließen, als ihm eine Zeitschrift in die Hände fiel, die ganz zuunterst lag.
»He, schau dir das an. Die ist von letzter Woche.«
»Wir? Seit wann interessierst du dich für Wir?«, lachte Kass. »Steht doch nur Unsinn und Promi-Klatsch drin. Kennst du überhaupt irgendwelche Promis?«
»Die Skelton Sisters kenne ich …«
Er ging zu Kass und hielt ihr die Zeitschrift unter die Nase.
Auf der Titelseite der Wir waren zwei magere blonde Mädchen abgebildet: die beiden Zwillings-Teen-Superstars, die unter dem Namen Skelton Sisters bekannt waren – und die zufällig auch zwei der jüngsten Mitglieder der Mitternachtssonne waren. (Die meisten Mitglieder der Mitternachtssonne waren bedeutend älter, genau genommen viele Hundert Jahre älter.) Die Mädchen grinsten dümmlich in die Kamera und eine von beiden hielt ein Baby auf dem Arm, aber so weit weg von sich wie nur möglich.
Kass feixte. »Sieht aus, als hätte das Kind sie gerade vollgepinkelt.«
Sie schlug die Zeitschrift auf und stieß auf einen Artikel mit der Überschrift
Die twinhearts in Afrika
Die jüngste Rock-Tournee der Skelton Sisters ist für einen wohltätigen Zweck.
Ein doppelseitiges Foto zeigte die Zwillinge, wie sie neben einer Nonne im weißen Ordenskleid standen. Um sie herum hatte sich ein Dutzend grinsender Kinder geschart.
Und im Hintergrund war ein leuchtend grüner Vogel mit langem Schwanz zu sehen, der soeben in den Urwald flog.
Kass las die Bildunterschrift laut vor:
Romi und Montana Skelton mit Schwester Antoinette im Waisenhaus der Liebenden Herzen an der Elfenbeinküste. Das Waisenhaus, das sich selbst unterhält, betreibt eine Kakao-Plantage, auf der alle Kinder mit anpacken. »Es ist ein wundervolles Erlebnis für die Kleinen, genau wie Unterricht an der frischen Luft«, sagt Schwester Antoinette. »Und nach getaner Arbeit gibt es natürlich Schokolade für alle!«
Kass blickte von der Zeitschrift auf und schüttelte den Kopf. »Glaubst du wirklich, dass sie dem Waisenhaus einen Besuch abgestattet haben? Wenn ja, dann sind sie nur für die Fotos dorthin gefahren … Hey, warte mal … diese Nonne kennen wir doch!«
»Das bezweifle ich«, antwortete Max-Ernest. »Ich kenne keine Nonnen. Das heißt, vielleicht kenne ich ja eine Nonne, ohne dass ich es weiß.«
»Tja, diese Nonne kennst du.«
Max-Ernest starrte ungläubig drein. »Oh nein, ist das die, von der ich glaube, dass es sie ist?«
Kass nickte aufgeregt. »Kannst du dir jemanden vorstellen, der weniger als Nonne geeignet ist als Madame Mauvais?«
»Also haben wir die Mitternachtssonne doch noch gefunden. Wie findest du das?«
Kass grinste. »Wie ich das finde? Ich finde, das müssen wir gleich allen erzählen!«
»Was wollt ihr uns erzählen? Wir brennen vor Neugier!«
Verdutzt blickten sie von der Zeitschrift auf. Großvater Wayne und Großvater Larry waren durch den Hintereingang gekommen und jetzt standen sie direkt neben ihnen und lächelten.
Es war kein sehr beruhigender Anblick.
Larry und Wayne hatten sich während des letzten halben Jahres einen Bartwuchswettbewerb geliefert und beide sahen sie ziemlich verlottert aus, um es milde auszudrücken. (Larry bürstete seinen Bart mit Inbrunst, Wayne flocht seinen zu zwei langen Zöpfen – aber weder das eine noch das andere verbesserte ihr Aussehen unbedingt.)
Sebastian, ihr altersschwacher, blinder Dackel, schlief in einer Trageschlaufe für Kleinkinder, die sich Großvater Larry um den Hals gebunden hatte. Hundegeifer troff über Larrys Arm.
»Also, heraus mit der großen Neuigkeit.«
»Ach nichts«, stotterte Kass. »Nur Klatsch, weißt du. Das ist so ein Klatschmagazin.«
Großvater Wayne betrachtete die aufgeschlagene Zeitschrift. »Sind das diese Mädchen, wie heißen sie doch gleich, die Skelett Sisters?«
»Skelton, nicht Skelett. Aber sie sind grauenhaft genug«, schnaubte Larry. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was meine Enkelin an diesen Gören interessant finden könnte.«
Kass wollte sich schon verteidigen, aber stattdessen lächelte sie ihren Großvater verlegen an. »Es ist nur, damit ich auch weiß, worüber die anderen in der Schule so reden. Damit sie mich nicht für ganz so verrückt halten. Tut mir leid, ich weiß, es ist dumm und kindisch …«
Sie würde mit dem Missfallen ihrer Großväter leben müssen. Aber heute hatten sie und Max-Ernest eine sehr wichtige Entdeckung gemacht. Vielleicht war es nicht genau die Entdeckung, auf die sie aus waren, aber in gewisser Weise war sie viel bedeutender.
»Wie geht es Sebastian?«, fragte Kass, um das Thema zu wechseln.
»Oh, der wird schon wieder – nicht wahr, Sebastian?« Larry tätschelte den Kopf des Hundes.
Der Hund bellte unentschlossen und ließ seinen Geifer auf Max-Ernest tropfen, der ihn eiligst wegwischte.
»Hautschuppen. Sind im Speichel. Dagegen bin ich allergisch«, erklärte er ungefragt.
Spät nachts erhielten fünf Leute – ein pensionierter Zauberer, ein öffentlich bestellter Rechnungsprüfer, ein arbeitsloser Schauspieler, eine Geigenlehrerin und ihr Schüler – alle die gleiche E-Mail von einer gewissen Miss Ardnassak:
Auf der Suche nach der Sonne? Günstige Urlaubsgelegenheit! Nur ein Tag!
Jeder, der ihnen über die Schulter geblickt hätte, hätte diese Nachricht für Werbung gehalten. Für eine dieser Massen-EMails. Aber die Empfänger wussten, dass es alles andere war als das.
Die Nachricht bedeutete, dass Kassandra etwas über die Mitternachtssonne in Erfahrung gebracht hatte.
»Urlaubsgelegenheit« war das Geheimwort, mit dem die Mieheg-Gesellschaft ein Treffen einberief.
»Günstig« hieß, dass das Treffen dringend war.
»Nur ein Tag« bedeutete, dass das Treffen schnellstmöglich stattfinden sollte, nämlich schon am allllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll …
* Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich die Ereignisse, die im Laden von Kass’ Großvätern ans Tageslicht kommen, in einem oder in zwei Kapiteln darlegen sollte. Deshalb habe ich ein Kapitel mit zwei Teilen daraus gemacht. Nach dem Motto »Geteiltes Leid ist halbes Leid«.
Kapitel zwei
Täuschend süß
Aaah, mir tut der Kopf weh!
Was ist passiert? Ist es schon Nacht?
Ich muss mitten im letzten Satz eingeschlafen sein.
Keine Sorge, ich wollte ohnehin nicht mehr viel schreiben. Nur »allernächsten Tag«.
Ich frage mich, weshalb ich so aus den Latschen gekippt bin. Zu viel Schokolade? Ich muss zugeben, es wäre nicht das erste Mal.
Hmmm. Ich könnte schwören, diese Blätter hier lagen auf einem Stapel. Was haben sie jetzt auf dem Fußboden zu suchen?
War jemand hier gewesen?
Hey, du glaubst doch nicht etwa …?
Ich frage mich …
Wenn eine gewisse Person oder gewisse Personen herkommen und die Seiten auf meinem Schreibtisch lesen wollten, während ich arbeite, wie würden sie das anstellen? Wie würden sie mich aus dem Weg schaffen? Würden sie mir vielleicht eine Schlaftablette – sagen wir mal, in einer Geschenkbox mit Schokolade schmuggeln?
Was hast du vorhin gesagt? Dass das mit der geschenkten Schokolade ein Trick war? Komisch, wie sicher du dir dabei warst. Fast so, als wüsstest du etwas, das du mir nicht sagen willst.
Nicht dass ich dir Vorwürfe mache.
Oder doch?
Du weißt ja, die Leute warnen die Kinder andauernd davor, von Fremden, die sie nicht kennen, Süßigkeiten anzunehmen. Aber keiner warnt uns Erwachsene davor, Süßigkeiten von fremden Kindern anzunehmen.
All diese niedlichen Kinder, die Schokolade oder Süßigkeiten auf der Straße verkaufen, um sich damit ihr Taschengeld aufzubessern – woher wollen wir wissen, was sich in diesen Schokoriegeln verbirgt? Von dieser schändlichen Einrichtung, die nur dazu da ist, nichts ahnende Kunden zu verlocken, glasierte Leckereien zu kaufen, will ich gar nicht erst reden. Diese Einrichtung, die sich Konditorei nennt.
Erwachsene, nehmt euch in Acht: Wenn ein Kind euch vergiften will, ist das wahrhaftig ein Kinderspiel. Es braucht nur ein Stück Kuchen dazu.
Was dich betrifft, du scheinst zur schlimmsten Sorte von Lesern zu gehören. Zu denen, die ans Ende blättern, um zu sehen, wie alles ausgeht, ohne das ganze Buch lesen zu müssen. Zu denen, die vor nichts zurückschrecken, wenn sie nur kriegen, was sie wollen.
Zu der Sorte von Lesern, die nicht einmal davor zurückschreckt, den Autor unter Drogen zu setzen!
Man sollte dich einsperren.
Okay, vielleicht sollte ich mich abregen. Ich gerate allzu leicht in Rage. Schließlich kann ich es ja nicht beweisen, dass du der Übeltäter bist. Noch nicht.
Und ich muss dich ja wohl für unschuldig halten, solange deine Schuld nicht erwiesen ist, stimmt’s?
In der Zwischenzeit betrachte dich als gewarnt. Ich werde der Angelegenheit noch auf den Grund gehen. Wer auch immer hier in meinem Zimmer war und die Blätter durchwühlt hat, ich werde ihn oder sie erwischen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.
Bis dahin, zurück zum Buch.
Kapitel drei
Das Clownscamp
Keine Sorge, gnädige Frau, wir werden gut auf ihre zwei Camper aufpassen. Heute steht doch Seiltanzen auf dem Programm, hab ich recht, Mickey?«
»Mach keine Witze, Morrie – du weißt doch, das ist viel zu gefährlich für die Kinder! Heute üben wir, wie man sich in einen Volkswagen quetscht. Oder ist es Luftballonsverknoten? Ja, genau, das ist es…Ballons für Anfänger…für uns Hanswurste ist das immer die erste Lektion.*
Kass’ Mutter klammerte sich am Lenkrad fest und blickte mit gemischten Gefühlen auf die beiden Clowns, die von draußen durch die Seitenscheibe auf sie herabgrinsten.
Wie bei jedem Komiker-Duo, das etwas auf sich hält, war Mickey groß und dünn, während Morrie klein und dick war. Aber beide waren gleichermaßen schmuddelig, man konnte kaum sagen, ob die Farbe in ihren Gesichtern vom Clown-Make-up oder von den Resten eines Hotdog stammte.
Mickey hatte sich Kass unter den Arm geklemmt, Morrie hatte sich Max-Ernest geschnappt. Kein sehr beruhigender Anblick für eine Mutter.
»Okay, Mel – zufrieden?«, fragte Kass. (In letzter Zeit war Kass dazu übergegangen, ihre Mutter bei ihrem Vornamen zu nennen, statt Mom zu sagen oder, was ihrer Mutter noch lieber gewesen wäre, Mommy.)
Ihre Mutter seufzte. »In Ordnung, aber denkt daran, wir treffen uns hier um Punkt zwei. Wir haben noch diesen Kurs am Nachmittag, vergiss das nicht.«
Sobald Kass’ Mutter weggefahren war, machten sich Kass und Max-Ernest von den Clowns los.
Mickey schüttelte entzückt seine rote Perücke. »Clownscamp? Was für eine verrückte Idee! Ich frage mich, ob man damit Geld machen könnte …«
»Hey, beeilt euch lieber. Ich möchte zum Luftballonknoten nicht zu spät kommen«, sagte Morrie augenzwinkernd.
»Hm, weißt du, wo es ist?«, fragte Kass leicht verlegen.
Es war das erste Mal, dass sich die Mieheg-Gesellschaft traf, seit Pietro entschieden hatte, das Zaubermuseum, ihr langjähriges Quartier, aufzugeben (die Mitternachtssonne hatte dort eingebrochen!), und jetzt wussten weder sie noch Max-Ernest genau, wohin sie gehen sollten.
Mickey zeigte auf die andere Seite des unbefestigten Parkplatzes, wo ein breit gestreiftes Zirkuszelt im Wind knatterte. Daneben standen ein paar marode, kleinere Zelte. Sie sahen aus, als könnten sie jeden Augenblick in sich zusammenfallen.
»Das Zelt, das am weitesten vom großen Zirkuszelt entfernt ist. Da findet die Nebenvorstellung statt.«
»Danke«, sagte Kass. Leise fügte sie hinzu: »Haltet die Augen offen. Achtet auf jeden, der Handschuhe trägt …«
»Keine Angst«, beruhigte sie Morrie und warf sich in die Brust. »Kein vergammelter, alter Giftmischer wird an diesem Clown vorbeikommen!«
Mit verschmitztem Grinsen zog Morrie ein Gewehr aus seiner ausgebeulten Karohose und richtete es auf einen unsichtbaren Angreifer.
Aus dem Lauf schoss ein rotes Fähnchen, auf dem P E N G ! stand.
Im Inneren des Nebenzelts stand eine Reihe Klappstühle auf dem blanken Erdboden vor einer kleinen Bühne, die auf der einen Seite schon ganz schief war und bei der einige Bretter fehlten.
Fast den ganzen Morgen über hatte ein schlanker Junge mit wirren Haaren auf der Bühne gestanden und Geige gespielt. Es war eine lange und anstrengende Geigenstunde gewesen. Er hatte so lang und so angestrengt gespielt, dass seine Finger schon bluteten.
Jedenfalls kam es ihm so vor. Auf jeden Fall waren seine Finger rot.
Sie waren wund. Eindeutig wund.
Und das Schlimmste war, er durfte nur Tonleitern spielen. Und das schon seit drei Monaten. Obwohl er längst kein Anfänger mehr war.