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Von Diskussionen zum (Un-)Sinn von iPad-Klassen bis zum Hype um generative KI weckt kaum ein Thema so großes Interesse in Schule und Lehrkräftebildung wie die Digitalität. Was meint Digitalität aber genau? Und warum ist der Bereich auch jenseits technischer Fragen so zentral für Lehrkräftebildung und Unterricht? Küplüce bearbeitet diese Fragen mit einer systematischen Begriffsklärung und fachlichen Verortung von Digitalität in der Fremdsprachendidaktik. Darüber hinaus werden mit den Perspektivlinien Entgrenzung, Automatisierung und Adaptivität Beispiele gegeben, wie sich das Thema konkret auf den Unterricht auswirken kann. Schließlich analysiert die Studie das zentrale Konstrukt digitalitätsbezogener Vorstellungen empirisch und gibt Hinweise, wie diese die Interpretation und Bewertung von Digitalität beeinflussen und sogar Auswirkungen auf Motivation und Unterrichtshandeln haben könnten.
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Seitenzahl: 596
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Can Küplüce
Digitalität in Englischunterricht und Lehrkräftebildung
Mixed-Methods-Studie zu digitalitätsbezogenen Vorstellungen angehender Englischlehrkräfte
Anhang online verfügbar unter https://files.narr.digital/9783381129218/Zusatzmaterial.pdf
DOI: https://doi.org/10.24053/9783381129225
© 2024 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISSN 0175-7776
ISBN 978-3-381-12921-8 (Print)
ISBN 978-3-381-12923-2 (ePub)
Über die Arbeit an den Forschungsprojekten DiAL:OGe und DigiGO und die Anbindung an die Fachdidaktik Englisch wie auch an die AG Schulforschung der Ruhr-Universität hatte ich das große Glück, mit zahlreichen talentierten Wissenschaftler*innen in Kontakt zu kommen. Die Interdisziplinarität und Kollegialität hat dabei nicht nur meine Zeit in Bochum, sondern vor allem auch diese Dissertationsschrift geprägt. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um einigen Personen, die mich begleitet haben, besonders zu danken.
Mein erster Dank gilt Markus und Gabi, die während der Betreuung jederzeit den richtigen Grad an Anleitung und Vertrauen gefunden haben. So konnte ich in der Dissertation schon früh meinen eigenen Weg gehen, meinen eigenen Zugang finden und, ja, vielleicht auch das eine oder andere Mal meine eigenen Fehler machen. Trotz dieser Freiheit habe ich mich im Forschungsdschungel nie verloren gefühlt und konnte auf eure Erfahrung und Kompetenz zählen, sollte ich mich mal wieder zu sehr in ein viel zu spezifisches Detail verbissen haben. Ich danke euch sehr, dass ihr in den letzten Jahren meine Arbeit so gut begleitet habt.
Im selben Atemzug möchte ich außerdem den zahlreichen Dozierenden an der Ruhr-Universität danken, die ich über die Jahre meines Studiums sehr schätzen gelernt habe. Ganz besonders möchte ich dabei Angelika Thiele hervorheben, die es wie keine zweite Person geschafft hat, mein Interesse an der Didaktik zu wecken. Ich hoffe, dass ich irgendwann Lehre gebe, die auch nur halb so inspirierend ist, wie es deine war.
Die Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität war aber vor allem von meinen direkten Kolleg*innen geprägt. Hier möchte ich zuerst meinen Dank an die anderen Promovierenden der Englischdidaktik aussprechen, Sina, Alex, Sebastian und Nils, die alle meine Höhen und Tiefen gefasst über sich haben ergehen lassen. Das muss die Ref-Erfahrung sein.
Nicht nur in der Englischdidaktik, auch in der AG Schulforschung habe ich mich schnell zuhause gefühlt. Stellvertretend möchte ich hier vor allem Denise und Grit hervorheben, die meine Arbeit in den letzten Jahren fachlich und menschlich enorm bereichert haben. Auch danke ich dir, Philipp, dass du die endlosen Interpretationsstunden für DigiGO zu einer Erfahrung gemacht hast, die ich nicht missen möchte.
Für DiAL:OGe möchte ich außerdem Joana und Carla erwähnen, die nicht nur die Organisation des Verbundprojekts ermöglicht haben, sondern auch jede verspätete (und oft auch noch falsch ausgefüllte) Abrechnung mit einer Engelsgeduld entgegengenommen und korrigiert haben. Ohne euch würde ich wahrscheinlich immer noch an den Anträgen sitzen.
Ich möchte an dieser Stelle außerdem den Studierenden und Expert*innen danken, die mit großer Bereitschaft an der Studie teilgenommen haben. Dieses Engagement ist gerade zu der Zeit der Lockdowns und angesichts der zahlreichen Einschränkungen während der Erhebung nicht selbstverständlich gewesen und ich bin entsprechend überaus dankbar für die gute Kooperation.
Es haben noch viele weitere Wissenschaftler*innen meine Arbeit direkt bereichert. Dazu zählen die Personen, die mit (fast immer) konstruktivem Feedback meine Forschung auf den zahlreichen Konferenzen und Kolloquien kommentiert haben, andere Promovierende der Fremdsprachendidaktik, mit denen ich Freude und Leid der Promotion teilen durfte, und die Gutachter*innen, die meine ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen begleitet haben. Nie war mir so klar wie jetzt, dass Wissenschaft ein in erster Linie kollaborativer Prozess ist.
Auch wenn ich längst nicht alle Personen aufzählen kann, die auf diese oder ähnliche Weise meine Arbeit begleitet haben, möchte ich mich außerdem namentlich bei den Personen bedanken, die in den letzten Monaten Auszüge meiner Arbeit gelesen und in mühevoller Einzelarbeit kommentiert haben. Ohne eure vielen (VIELEN) Anmerkungen wäre diese Arbeit nur halb so gut. Vielen Dank Simon, Leonie F., Leonie M., Nadine, Basti und Cosima.
Ein paar von euch haben aber nicht nur die Überarbeitungsphase, sondern den ganzen Prozess begleitet. Leonie M., dir danke ich ganz besonders, dass du als wissenschaftliche Hilfskraft die Arbeit von der ersten Idee bis zur finalen Abgabe tatkräftig unterstützt hast. Von den Transkripten über die Codierungen bis zu den Diskussionen bin ich dir für jeden einzelnen deiner vielfältigen Beiträge enorm dankbar.
Ein ganz ausdrücklicher Dank gebührt an dieser Stelle auch dir, Basti. Ohne deine unzähligen und wertvollen Impulse und die endlosen Sessions vor und/oder nach der Arbeit würde ich wahrscheinlich noch in diesem Moment fluchend vor der Epistemic Network App sitzen. Danke, dass du mir immer und immer wieder geholfen hast, Einsen und Nullen voneinander zu unterscheiden.
Neben dem professionellen Kontext dürfen meine Familie und meine weiteren Freunde natürlich nicht fehlen, die die Arbeit vielleicht nicht fachlich beeinflusst, aber mit ihrer emotionalen Unterstützung überhaupt erst ermöglicht haben. Danke, dass ihr mich daran erinnert habt, auch zwischendurch von diesem Schreibtisch aufzustehen.
Zu guter Letzt bleibt nur noch der Person zu danken, die beides tut. Die meine Arbeit fachlich bereichert hat und mich unermüdlich unterstützt. Liebe Cosima, vielen Dank für jedes Gespräch, jede wortlose Umarmung, für alle kleinen Dinge im Alltag und alle großen Momente. Ohne dich wäre ich nicht, wer ich bin – weder wissenschaftlich noch persönlich. Was auch immer die nächsten Jahre bringen, mit dir zusammen begegne ich ihnen gerne.
„Could I interest you in everything – all of the time?”
– Bo Burnham (Welcome to the Internet) –
4K
Kreativität, kritisches Denken, Kollaboration und
Kommunikation
BdP
Besonders dichte Passagen
BIP
Blended intensive programme
BMBF
Bundesministerium für Bildung und Forschung
CALL
Computer assisted language learning
DFG
Deutsche Forschungsgemeinschaft
DiAL:OGe
Digitalisierung in der Ausbildung von Lehramtsstudierenden: Orientierung und Gestaltung ermöglichen
DigCompEdu
European framework for the digital competence of educators
DPACK
Digitality-related pedagogical and content knowledge
EFT
Epistemic frame theory
ENA
Epistemic network analysis
ERT
Emergency remote teaching
ICALL
Intelligent computer assisted language learning
ICC
Intercultural communicative competence
ICILS
International computer and information literacy
ICR
Intercoder-reliability
ISQIA
Inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse
KI
Künstliche Intelligenz
KMK
Kultusministerkonferenz
LA
Learning analytics
LABG
Lehrerausbildungsgesetz NRW
LVZ
Lehramtszugangsverordnung
MALL
Mobile assisted language learning
MLA
Multimodal learning analytics
MOOC
Massive open online courses
MSB
Ministerium für Schule und Bildung
MT
Machine translation
NMT
Neural machine translation
OECD
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(Organisation for Economic Co-operation and Development)
OER
Open educational resources
QIA
Qualitative Inhaltsanalyse
RBMT
Rule-based method of machine translation
RQ
Research question
SMT
Statistical machine translation
SPSS
Sammeln, Prüfen, Sortieren, Subsumieren
TPACK
Technological pedagogical and content knowledge
VE
Virtual exchange
Die Relevanz von Digitalisierung und Digitalität für Englischunterricht und Lehrkräftebildung wird von unterschiedlichen Akteur*innen, etwa aus der Fach- und der allgemeinen Didaktik, den Bildungswissenschaften und der Bildungspolitik, unter Bezug auf mehrere Schwerpunkte begründet. So betonen Diskurse im Bereich der Fremdsprachendidaktik seit Jahrzehnten (siehe z. B. bereits Ritter, 1996; Rüschoff, 1993) die Relevanz der Digitalisierung für den Fremdsprachenunterricht. Insgesamt wird für fremdsprachliche Unterrichtsfächer in aktuelleren Arbeiten etwa auf Potenziale der Individualisierung (Strasser, 2021, S. 85), der effektiveren Vermittlung fremdsprachlicher Kompetenzen (Surkamp, 2017, S. 245–246) und auch auf die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Selbstverständnis der Disziplin (siehe z. B. Grünewald, 2019; Schildhauer & Bündgens-Kosten, 2021) verwiesen. Im Bereich der allgemeinen Didaktik deklarierte Klafki bereits in den frühen 90er Jahren Digitalisierung, im Sinne neuer „Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien“, als epochales Schlüsselproblem (1991, S. 59–60). Bildungswissenschaftliche Arbeiten nennen als Gründe für die Bedeutsamkeit der Digitalisierung etwa die kollaborativen, kommunikativen und multimodalen Affordanzen digitaler Technologien (Albrecht et al., 2020, S. 19–20), während bildungspolitische Positionspapiere sich auf die Entwicklung digitaler Kompetenzen als zwingende Voraussetzung für einen erfolgreichen Bildungs- bzw. Berufsweg (KMK, 2017, S. 4) oder auf die Flexibilisierung von Bildungswegen und die Notwendigkeit technologischer Innovation beziehen (KMK, 2021, S. 4).1 Die Aussage, dass die Digitalisierung als bedeutsame Entwicklung für die in der vorliegenden Untersuchung fokussierten Disziplinen und Perspektiven aus Fachdidaktik, Bildungswissenschaft und -politik gilt, scheint also auf den ersten Blick fast trivial. Komplexer gestaltet sich hingegen die Frage, welche Konsequenzen sich aus den postulierten Potenzialen und den verbundenen didaktischen, bildungswissenschaftlichen und -politischen Zielsetzungen für die Lehrkräftebildung im Allgemeinen und für die Englischlehrkräftebildung im Besonderen ableiten lassen. Es scheint zumindest so weit Einigkeit zu bestehen, als dass Lehrkräfte und in Konsequenz die Lehrkräftebildung für den „digitalen Wandel“ (Petko et al., 2018, S. 161) eine entscheidende Rolle übernehmen sollen (vgl. Sailer et al., 2021; Waffner, 2020). Die Antwort darauf, wie genau diese Rolle aussieht und wie Lehrkräfte darauf vorbereitet werden sollen, wird hingegen innerhalb, aber auch außerhalb fachdidaktischer Diskurse vielschichtig ausgehandelt.
Für alle Disziplinen gilt dabei, dass aufgrund der postulierten Potenziale der Digitalisierung, aber auch vor dem Hintergrund zahlreicher identifizierter Herausforderungen (Blin & Munro, 2008; Fütterer et al., 2021; Huwer et al., 2019; Otto, 2017), hohe Anforderungen an die (universitäre) Lehrkräftebildung gestellt werden. Diese soll (Englisch-)Lehrkräfte u. a. zu digitalen Kompetenzen befähigen (Capparozza & Irle, 2020), die Nutzung digitaler Technologien für lernerzentrierte, kollaborative Lernszenarien schulen (EVALUATE Group, 2019) und eine offene Haltung bzw. Einstellung gegenüber Digitalisierung fördern (Sauro & Chappelle, 2017; Wang et al., 2018). Die Herausforderung für die universitäre Lehrkräftebildung ergibt sich allerdings nicht allein aus den hohen Ansprüchen, sondern vor allem auch aus der Entwicklung des Digitalisierungsverständnisses selbst und der dadurch hohen Fluktuation an geforderten Kompetenzen, Inhalten und Methoden von und für Lehrkräfte(n). So bleibt der Begriff Digitalisierung trotz oder gerade aufgrund seiner Omnipräsenz mehrdeutig und unklar (Brinda et al., 2019; Dander, 2020). Ein Beispiel für diese Mehrdeutigkeit sind bereits die Ausführungen bis zu diesem Punkt. So ließe sich durchaus kritisieren, dass sich die genannten Potenziale der Digitalisierung vor allem auf technisch-mediale und optimierende Perspektiven bezogen haben. Vor diesem Hintergrund sollen Lehrkräfte beispielsweise in die Lage versetzt werden, digitale Medien lernförderlich einzusetzen (Schädlich, 2019, S. 207) und die Selbstständigkeit der Schüler*innen im Umgang mit digitalen Medien zu fördern (Rösler, 2010, S. 286). Zentral für die jüngere Entwicklung im Diskurs um Digitalisierung in den für die Untersuchung relevanten Disziplinen ist aber, wie im Folgenden diskutiert wird, die zunehmende Abkehr von einem (rein) medialen Digitalisierungsverständnis hin zu einem ganzheitlichen, (lern-)kulturellen Verständnis von Digitalität (Stalder, 2019).
Bei einem Themenbereich wie dem der Digitalisierung und Digitalität, der die für die (Englisch-)Lehrkräftebildung relevanten Disziplinen auf so vielfältige Art beeinflusst (Küster, 2019, S. 130), und den damit verbundenen über viele Jahre andauernden Diskurslinien kommt erschwerend hinzu, dass die eben benannte Begriffsverschiebung weder linear noch einheitlich geschieht (Brinda et al., 2019, S. 26; Dander, 2020). So muss bei der Beantwortung der Frage nach der Relevanz für Englischunterricht und Lehrkräftebildung beachtet werden, dass verschiedene Verständnisse von Digitalisierung und Digitalität, dem Digitalen oder Post-Digitalen nebeneinanderstehen und in ihren Interpretationen unterschiedliche Perspektiven vorstellbar machen.
Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es zu beleuchten, wie vielschichtig der Diskurs um Digitalisierung und Digitalität in Fachdidaktik und Bildungswissenschaft bearbeitet wird und wie komplex die daraus resultierenden Begriffsverständnisse sind. Darüber hinaus wird außerdem empirisch nachgezeichnet, wie sich die begriffliche Unschärfe in den Vorstellungen von Studierenden des Master of Education widerspiegelt und in einer Beziehung mit der Bewertung digitaler Technologien in unterrichtlichen Kontexten steht. Vorstellungen (siehe Kapitel 5) bilden auch, aber nicht ausschließlich aufgrund der außergewöhnlichen Ausgangssituation der Studie den Fokus der Erhebungen. So ergeben sich im Verlauf der Untersuchung Hinweise darauf, dass Vorstellungen die Interpretation und Bewertung von Digitalisierung und Digitalität beeinflussen und sogar Auswirkungen auf Motivation und Unterrichtshandeln haben könnten. Die Arbeit diskutiert und systematisiert speziell das Konstrukt der digitalitätsbezogenen Vorstellungen und grenzt sich dabei in Anlehnung an Huwer et al. (2019) und unter Verwendung des Konzepts der Kultur der Digitalität von der Nutzung des Begriffs digitalisierungsbezogen ab.2 Es wird darüber hinaus aus Fachperspektive nachgezeichnet, dass der eigentlich für die Pandemie ausgerufene Digital Turn der Lehrkräftebildung3 nur dann vollzogen wird, wenn die auf diese Art wirkmächtigen digitalitätsbezogenen Vorstellungen transformiert werden.
Erst vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zum Verständnis von Digitalisierung, Digitalität und digitalitätsbezogenen Vorstellungen wird deutlich, wieso die eingangs getroffene Aussage, dass Digitalisierung eine bedeutsame Entwicklung für Fremdsprachenunterricht und Lehrkräftebildung sei, nicht trivial ist. Nicht, weil die grundsätzliche Bedeutsamkeit der Digitalisierung in Frage gestellt wird, sondern weil sowohl Begriffsinterpretation als auch Konsequenzen des Konzepts – auch innerhalb der einzelnen Fachdidaktiken – höchst variabel sind. Wenn Lehrkräftebildung also ihren Beitrag zur Ausbildung von Lehrkräften zu digitalen Agents of Change (Pantić et al., 2022; Gerlach & Fasching-Varner, 2020; Viebrock, 2018) leisten soll, gilt es zunächst genau zu erarbeiten, warum Digitalisierung – auch neben einem technisch-medialen Optimierungsgedanken – für (Englisch-)Unterricht und Lehrkräftebildung so bedeutsam ist. Diese Frage schließlich erhält eine besondere Brisanz vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie.
So sehr in der gesamten Arbeit argumentiert wird, dass die Schärfung der Begriffe Digitalisierung und Digitalität in der Lehrkräftebildung und die Bearbeitung digitalitätsbezogener Vorstellungen gerade post-Covid eine zentrale Rolle für die Lehrkräftebildung unter Bedingungen der Digitalität spielen, so sehr ist die Genese der Studie in der Pandemie zu begründen. Da die Betrachtung der krisenhaften Erhebungssituation darüber hinaus einen guten Ausgangspunkt für das Verständnis der Anlage und der Relevanz des Studiendesigns bietet, soll vor der eigentlichen Gliederung der Arbeit kurz ihrer Genese in Zeiten der pandemiebedingten Online- und Hybridlehre Rechnung getragen werden.
(#5) Ich muss ehrlich gesagt sagen […], das ist alles wirklich irgendwie an mir vorbeigegangen. ähm (.) und höchstens kriege ich immer nur mit, dass es so ein leicht depressiver Sumpf wird, wo man eben einfach nur noch versinkt […] Spaß macht das wirklich nicht mehr. Also da ist mir nichts wirklich in Erinnerung geblieben. (K2_i11_111121_F1, Pos. 10)
Dieses ernüchternde Resümee zieht eine der in der Studie interviewten Englischstudierenden in Bezug auf die Erfahrungen aus Studium und Schulpraktika während der Pandemie. So drastisch auch die Formulierung, scheint der grundlegende Tenor vor dem Hintergrund der zahllosen dokumentierten Herausforderungen der Lehre (in Schulen und in Universitäten) zur Zeit der pandemiebedingten Einschränkungen, insbesondere von 03/2020 bis 02/2023,1 wenig überraschend. Wenn an dieser Stelle allerdings betont wird, dass auch die vorliegende Studie in dieser krisenhaften Zeit (Reintjes et al., 2021) entstanden ist, geschieht das nicht etwa, um auf die zusätzlichen Herausforderungen bei ihrer Durchführung hinzuweisen. Ganz im Gegenteil, und auch in ausdrücklicher Abgrenzung zu dem einleitenden Zitat, ist zu betonen, dass die außergewöhnliche Erhebungssituation die Studie – trotz aller Widrigkeiten in Konzeption und Datensammlung – enorm bereichert hat. So wäre das Fazit, dass „nichts wirklich in Erinnerung geblieben“ sei, für die Zeit der Pandemie schon allein deswegen fatal, da aus Sicht der Lehrkräftebildung einzigartige Erkenntnisse generiert werden konnten, die auch oder gerade post-Covid ihre Relevanz entfalten. Um zu verstehen, wie ausgerechnet diese auch in der Arbeit selbst als einzigartig beschriebene Situation wertvolle Erkenntnisse für einen spezifisch anderen Kontext (also die Zeit post-Covid) liefern kann, ist es besonders hilfreich, kurz die Ausgangslage der Studie zu skizzieren.
Als Teil des BMBF-geförderten Verbundsprojekts DiAL:OGe (Digitalisierung in der Ausbildung von Lehramtsstudierenden: Orientierung und Gestaltung ermöglichen) stand der Kontext der digitalitätsbezogenen universitären Lehrkräftebildung für die Studie bereits früh fest. Dass bereits zu Beginn des Projekts im März 2020 ein Großteil der universitären Lehre ausschließlich digital bzw. online stattfinden musste, schien somit vor dem Hintergrund des Forschungsinteresses ein Glücksfall. Gleichzeitig ließ sich in den Umständen ein Spannungsverhältnis beobachten, was auch den Fokus auf digitalitätsbezogene Vorstellungen zusätzlich begründet. So wurde, auch in der eigenen Lehre im Bereich der Englischdidaktik, schnell der grundlegende Unterschied zwischen einer digitalisierten oder digitalen Lehre in einem weiten Verständnis und dem während der Pandemie bestehenden Emergency Remote Teaching (ERT) (Hodges et al., 2020) deutlich. Dabei scheint es gerade zu Beginn der Pandemie problematisch, durchgeführte Lehre als digitale Lehre im weiteren Sinne zu bezeichnen, war sie doch durch un- bzw. kaum geplante Umsetzung und organisatorische Probleme gekennzeichnet. Dies ermöglichte kaum das eigentlich notwendige „Reimagining“ (ebd.) für digitale Lehre (Code et al., 2020). Gleichzeitig war es für die Studierenden durch das ERT zwar scheinbar offensichtlich, dass das Thema Digitalisierung äußerst bedeutsam sei, viel weniger eindeutig erschien allerdings, wieso. Mehr noch, die Begründung für die Bedeutsamkeit der Digitalisierung wurde von den Studierenden in den eigenen Seminaren nicht etwa in den zuvor genannten Diskursen gesehen, sondern in den Erfahrungen der Covid-19-Pandemie. Damit wurde ein disconnect zwischen dem grundlegenden Unterschied zwischen digitaler Lehre und ERT auf der einen und der Wahrnehmung der Studierenden auf der anderen Seite deutlich: Für die Studierenden schien während der Covid-19-Pandemie das Verständnis von digitalisierter (/digitaler) Lehre und ERT zu verschmelzen. Trotz der Lehre im digitalen Raum während Corona ist ERT aber vor dem Hintergrund des Notfallcharakters, der die pädagogisch-didaktische Durchdringung der Lehre einschränkte, gerade nicht die Form von Digitalisierung, die den Diskurs seit Jahrzehnten bestimmt. Diese Art der Lehre ist darüber hinaus noch viel weniger die Form von Digitalität, die den Diskursen seit Stalders Ausführungen zur Kultur der Digitalität, aber vermutlich auch in den kommenden Jahren, ihre enorme Dynamik verleiht.
Diese Diskrepanz noch verstärkend, erschienen (und erscheinen) mit dem Fokus auf digitale Lehre während Corona, verstanden hier als die Lehre im digitalen Raum bzw. Onlinelehre, vielfältig wissenschaftliche Beiträge, die den Digitalisierungsschub während der Corona-Pandemie betonten (vgl. z. B. Kerres, 2020a; König & Greffin, 2021; Reintjes et al., 2021). Dass es einen (technisch-medialen) Digitalisierungsschub gab, soll dabei nicht abgestritten werden. Vor dem Hintergrund der Überlegungen zur Uneindeutigkeit des Begriffs, und insbesondere vor dem Hintergrund der Verschärfung durch den disconnect zwischen der Vermischung digitaler Lehre und ERT in der Wahrnehmung der Studierenden, kann die Aussage allerdings herausfordernde Implikationen nach sich ziehen. So entstand ein, zumindest aus Perspektive der Lehrkräftebildung im Fach Englisch, problematisches Spannungsverhältnis: Zum einen schien Digitalisierung eine trotz aller Bemühungen zuvor unerreichte und direkt erlebbare Signifikanz für das Lehren und Lernen erhalten zu haben. Gleichzeitig beschränkte sich diese Erlebbarkeit durch das ERT auf eine spezifische Form digitalen Lernens und Lehrens. Dieser Unterschied wurde zugleich durch fehlende andere Erfahrungen der Studierenden und Beschreibungen der Pandemie als digital turn in Teilen des bildungspolitischen und auch fachdidaktischen Diskurses (z. B. BMBF, 2021; Lütge & Merse, 2021) verdrängt. Mit anderen Worten: die Vorstellung von digitaler Lehre beschränkte sich für Studierende auf ERT und damit auf ein Verständnis von Digitalisierung als die (erzwungene) Substitution analoger Strukturen im digitalen Raum (vgl. Puentedura, 2006). Eine Begriffsinterpretation, die der zuvor skizzierten Begriffsverschiebung auf das ganzheitliche, soziokulturelle Konzept der Digitalität, das zunehmend in den Fokus der fachdidaktischen und bildungspolitischen Perspektiven rückt (siehe auch Kapitel 2.3), geradezu diametral entgegensteht.
Vor dem Hintergrund der beiden bis hierhin ausgeführten Stränge, den theoretisch-konzeptionellen Überlegungen zum Begriff und der Betrachtung des komplexen Diskurses auf der einen Seite und den Beobachtungen der Entwicklungen zu ERT und digitaler Lehre im Bereich der Englischdidaktik auf der anderen Seite, entstand schließlich der Fokus der Untersuchung auf digitalitätsbezogene Vorstellungen. In Anbetracht der Frage, ob die Beobachtung auch empirisch nachgezeichnet und die komplexen Beziehungen zwischen Erfahrungen, Vorstellungen und Digitalität dargestellt werden können, drängten sich zwei Schwerpunkte auf, deren Relevanz im Verlauf der Arbeit weiter ausformuliert und -differenziert wird:
Welche Vorstellung haben angehende Englischlehrkräfte von Digitalisierung und Digitalität?
In welcher Beziehung stehen diese Vorstellungen zu den pandemiebedingten Erfahrungen?
So früh sich allerdings vor dem Hintergrund des angeschnittenen Diskurses und der Beobachtungen zu Beginn der Pandemie ein generelles Forschungsinteresse formulierte, so komplex gestaltete sich schließlich die Ausarbeitung in genaue Forschungsfragen und deren empirische Bearbeitung. Neben forschungspragmatischen Gründen, die sich vor allem auch durch die Pandemiebedingungen selbst ergaben, lag das auch an den Begriffen Digitalisierung bzw. Digitalität und dem Konstrukt Vorstellungen. So wird sich zeigen, dass nicht nur Digitalisierung, sondern auch das Konstrukt Vorstellungen inter- und intradisziplinär zahlreiche Ausprägungen und Ausformulierungen vereint, die eine empirische Bearbeitung herausfordernd gestalten. Dass darüber hinaus mit der Fremdsprachendidaktik und der Bildungswissenschaft zwei disziplinäre Perspektiven eingenommen werden, ist vor dem Hintergrund des „Querschnittsthemas“ (MSB, 2022, S. 4) Digitalisierung gut begründbar, verkompliziert das Vorgehen aber zusätzlich. Das gilt insbesondere, da trotz möglicher Permeabilität (Schmenk, 2019, S. 28–29) fachliche Besonderheiten berücksichtigt werden sollten.
Aus dieser Anlage ergibt sich somit bereits hier ein zusätzliches Ziel der Untersuchung, das sich im Vergleich zur Bearbeitung des Forschungsinteresses auf einer zweiten Ebene verorten lässt:
In erster Linie gilt es einen theoretisch-konzeptionellen Rahmen zu Digitalisierung bzw. Digitalität und dem Konstrukt Vorstellungen zu erarbeiten, um darauf aufbauend ein passendes empirisches Forschungsdesign für das Forschungsinteresse zu konzipieren, durchzuführen, dessen Ergebnisse zu analysieren und schließlich für die digitalitätsbezogene (Englisch-)Lehrkräftebildung nutzbar zu machen.
Außerdem soll deutlich werden, dass nicht trotz, sondern gerade aufgrund der Pandemie einzigartige Erkenntnisse generiert werden konnten, die nicht nur in, sondern gerade post-Covid Relevanz für die digitalitätsbezogene (Englisch-)Lehrkräftebildung beanspruchen können. Dabei gilt es insbesondere auch den Mehrwert des multiperspektivischen wie auch mehr-methodischen Zugangs zu digitalitätsbezogenen Vorstellungen für die Englischdidaktik zu verdeutlichen.
Zur Bearbeitung dieser beiden grundlegenden Ebenen wie auch zu ihrer in den folgenden Kapiteln beschriebenen Ausformulierung, Kontextualisierung und Spezifizierung ist die Untersuchung in insgesamt 11 Kapitel eingeteilt. Eine Kurzbeschreibung der Kapitel inklusive ihrer Position und Ziele im bzw. für den Forschungsprozess erfolgt im nächsten Abschnitt, bevor Kapitel 2 die theoretische Rahmung beginnt. Diese Struktur dient insgesamt dem Ziel, die essenzielle Rolle des Konzepts der Digitalität für (Englisch-)Unterricht und Lehrkräftebildung auszuarbeiten und zu kontextualisieren, um schließlich die Rolle digitalitätsbezogener Vorstellungen für die Transformation der Lehrkräftebildung unter Bedingungen der Digitalität in der Fremdsprachen- bzw. Englischdidaktik und in ausgewählten bildungswissenschaftlichen Positionen zu verorten.
In einem Mixed-Methods-Design behandelt die vorliegende Untersuchung in 11 Kapiteln Fragen zu digitalitätsbezogenen Vorstellungen, deren Beziehung zur Covid-19-Pandemie und ihrer Relevanz für die (Englisch-)Lehrkräftebildung unter Bedingungen der Digitalität. Der theoretische Teil leistet dabei die Begriffsklärung zu Digitalisierung, Digitalität, dem Konstrukt Vorstellungen wie auch einiger verwandter Begriffe. Dort werden außerdem disziplinäre Perspektiven (Fremdsprachen- bzw. Englischdidaktik und Bildungswissenschaft) geschärft und synthetisiert. Der empirische Teil beginnt mit der Genese der Forschungsfragen und der Erläuterung des gewählten Mixed-Methods-Designs. Anschließend wird zunächst der qualitative und schließlich der quantitative Zugang inklusive der Ergebnisse aus beiden Zugängen vorgestellt, um abschließend beide Zugänge miteinander zu kombinieren und in ihrer Synthese zu diskutieren. Die Darstellung endet nach einem Fazit mit einem kurzen Ausblick zu offenen Anknüpfungspunkten und insbesondere denjenigen Fragen, die sich im Anschluss an die Forschungsergebnisse stellen. Zur besseren Übersicht werden alle Kapitel im Folgenden kurz hinsichtlich ihrer Rolle und Position im Forschungsprozess zusammengefasst.
Kapitel 2 leitet den theoretischen Teil der Untersuchung ein und nimmt dafür die begrifflichen Überlegungen der Einleitung auf. Zu diesem Zweck wird der in der Einleitung angeschnittene begriffliche Wandel zur Digitalität historisch hergeleitet und in fremdsprachendidaktischen und bildungswissenschaftlichen Diskursen verortet. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Konzept der Kultur der Digitalität, das den theoretischen Rahmen und das Begriffsverständnis der gesamten Arbeit prägt. Zudem erfolgt eine Positionierung im fachlichen Diskurs der Englischdidaktik und eine kritische Abgrenzung von technisch-medialen Positionen der Betrachtung von Digitalisierung und Digitalität.
Nachdem der theoretisch-konzeptionelle Rahmen des Begriffs gesetzt wurde, gibt Kapitel 3 mit der Ausarbeitung von Perspektivlinien konkrete Beispiele für die Implikationen der theoretischen Konzeptionalisierung. Unter den drei gewählten Perspektivlinien Entgrenzung, Adaptivität und Automatisierung werden einige Fragen eruiert, die Digitalität in ihren technologischen, vor allem aber (lern-)kulturellen Entwicklungen an (Englisch-)Unterricht und Lehrkräftebildung stellt. Ziel ist es, den Rahmen bzw. die Reichweite digitalitätsbezogener Fragen darzustellen und die abstrakteren begrifflichen Ausführungen des vorangehenden Kapitels in den Fachkontext zu übersetzen.
Mit dem Übergang in das 4. Kapitel verschiebt sich der Fokus von allgemeinen Ausführungen zu Digitalisierung und Digitalität zur Betrachtung der (Englisch-)Lehrkräftebildung und der Rolle der Lehrkraft unter Bedingungen der Digitalität. Dazu werden zunächst, ergänzend zu den Perspektiven aus Kapitel 2 und 3, bildungspolitische Erwartungen und Forderungen an Unterricht unter Bedingungen der Digitalität dargestellt. In einer Parallele zu den vorigen Kapiteln wird auch hier der zunehmende Fokus der Perspektive Digitalität anstelle eines technisch-medialen Verständnisses von Digitalisierung nachgezeichnet. Aus den bildungspolitischen Beschreibungen und in Synthese mit den zuvor dargestellten fachlichen Perspektiven werden schließlich die Anforderungen an (Englisch-)Lehrkräfte und in Konsequenz an die universitäre Lehrkräftebildung eruiert. Dabei wird deutlich, dass in den vergangenen Jahren neben Wissen und spezifischen fachlichen und technischen Kompetenzen zunehmend auch eine bestimmte Form von Haltung (Mindset, Überzeugung, belief, Vorstellung) als Erfordernis der Lehrkräftebildung postuliert wird. Dass gleichzeitig nur unzureichend spezifiziert wird, was genau diese Begriffe beinhalten (und wie die Haltung bzw. ihre begriffliche Ausdifferenzierung vermittelt werden soll), schafft die Überleitung zur weiteren Begriffsdiskussion im fünften Kapitel.
Kapitel 5 weist zu Kapitel 2 dahingehend Parallelen auf, dass mit Vorstellungen ein weiterer Begriff in den Mittelpunkt rückt, der aufgrund des uneinheitlichen Diskurses einer inhaltlichen Ausdifferenzierung bedarf. Durch einen kurzen historischen Abriss des akademischen Diskurses zu Lehrkräftebildung und teacher cognition wird dabei deutlich, dass die begriffliche Ausdifferenzierung eine Vielzahl von unterschiedlichen Ausprägungen hervorbringt. Darüber hinaus ist zu bemängeln, dass kein einheitliches Verständnis dazu besteht, wie die Begriffe miteinander in Beziehung stehen. Ausgehend von diesem Desiderat wird eine ausführliche Systematisierung der Begriffe beliefs,Vorstellungen und subjektive Theorien für den Bereich der (Englisch-)Lehrkräftebildung vorgenommen. Hier werden insbesondere Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Vorstellungen, auf denen im Folgenden der Fokus der Untersuchung liegt, und beliefs thematisiert, die gerade im internationalen Diskurs den Bereich der Lehrkräftebildung prägen (Pajares, 1992; Phipps, 2010). Zugleich wird, auch vor dem Hintergrund der Erhebungssituation, argumentiert, dass der Begriff Vorstellungen wegen seiner variableren zeitlichen Dimension Begriffen wie Haltung, Überzeugung oder belief vorzuziehen ist. Ausgehend von den Überlegungen zu begrifflicher Abgrenzung und entsprechenden Voraussetzungen der empirischen Erhebung kann so über die Ausarbeitung des theoretischen und begrifflichen Rahmens der Übergang zu Fragen des Studiendesigns erfolgen.
Abgeleitet aus den vorigen Kapiteln werden im 6. Kapitel zunächst die Forschungsfragen ausformuliert, die den empirischen Teil der Arbeit bestimmen. Die Forschungsfragen fassen nicht nur die bis dahin dargelegten Überlegungen zusammen, sie bieten auch den Ausgangspunkt für die qualitativ-explorative Erfassung des Forschungsfelds, die im im Laufe der empirischen Bearbeitung zur Ergänzung und Ausdifferenzierung der grundlegenden Forschungsfragen führt.
Passend zur komplexen Rahmung durch die begrifflichen Überlegungen zu Digitalisierung und Digitalität wie auch zum Forschungskonstrukt Vorstellungen mit seiner herausfordernden empirischen Zugänglichkeit argumentiert Kapitel 7 in der Beschreibung des Forschungsdesigns für einen mehr-methodischen und multiparadigmatischen Zugang. In dem Kapitel wird dafür nicht nur der methodische Zugang als sequenzielles Mehr-Methoden-Design im Rahmen des Vertiefungsmodells (Döring & Bortz, 2016, S. 27–28) erläutert, sondern spezifisch auch auf forschungsparadigmatische und epistemologische Fragen eingegangen. Das Augenmerk liegt dabei auf der Verortung im Mixed-Methods-Paradigma des philosophischen Pragmatismus. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen wird schließlich argumentiert, wieso (und vor allem unter welchen Bedingungen) im Sinne des Mixed-Methods-Designs Ansätze des sozialen Konstruktivismus in Inhaltsanalyse und Typenbildung in eine Beziehung mit Ansätzen des kritischen Rationalismus im quantitativen Teil gesetzt werden können. Das Kapitel endet mit dem Fazit, dass qualitative und quantitative Methoden so wenig vermischt werden, wie sie getrennt nebeneinanderstehen sollten, sondern eine begründete Synthese der Zugänge wie auch ihrer Ergebnisse angestrebt werden muss.
Nachdem Kapitel 6 und 7 Studiendesign und paradigmatische Verortung dargestellt haben, beginnt im 8. Kapitel der empirische Teil der Untersuchung. Bevor auf Ergebnisse der qualitativen Inhaltsanalyse (QIA) eingegangen wird, wird die Methode zunächst generell und schließlich im spezifischen Kontext der vorliegenden Arbeit verortet. Ziel dabei ist es, eine explizite Begründung ihrer Affordanzen für den Kontext der Studie darzustellen. Bei der Betrachtung ihrer methodologischen Grundlagen wird die QIA zugleich in ihre fachdidaktische und bildungswissenschaftliche Forschungstradition eingeordnet. Nach der Grundlegung beginnt schließlich in 8.2 der allgemeine Ergebnisteil, der zunächst die Ergebnisse der inhaltlich strukturierenden QIA (ISQIA) vorstellt und in einem komprimierten Zwischenfazit diskutiert. Darauf folgt in 8.3 die typenbildende QIA, die zunächst methodisch erörtert wird, bevor, wie auch bei der ISQIA, die Ergebnisse beschrieben und in einem zweiten Zwischenfazit bündig zusammengefasst werden. Vor dem Übergang zur Epistemic Network Analysis (ENA) werden die Ergebnisse der Typenbildung gemeinsam mit denen der ISQIA ausführlich diskutiert unter besonderer Berücksichtigungder Auffälligkeiten bezüglich des engen Vorstellungshorizontes, der begrifflichen Unschärfe und der stark heterogenen Ausprägung dieser Auffälligkeiten in den erarbeiteten Typen. Diese ermöglichen eine intern homogene, aber extern heterogene Systematisierung der Feststellungen der vorherigen QIA. Zum Abschluss von Kapitel 8 werden die aus der QIA entstehenden offenen Fragen zusammengefasst.
Kapitel 9 widmet sich vollständig der ENA und dem quantitativen Zugang zum Material. Wie auch beim qualitativen Zugang werden vor den eigentlichen Ergebnissen generelle methodologische Grundlagen erarbeitet, bevor diese dann auf den spezifischen Kontext der vorliegenden Studie bezogen werden. An dieser Stelle werden außerdem die Stärken der ENA in Kombination mit der QIA verdeutlicht, die den erheblichen Mehraufwand des Mehr-Methoden-Designs rechtfertigen. Ausführlich ist die methodologische Fundierung außerdem, da sich – anders als bei der QIA – die ENA als eine im Vergleich neue Methode kaum bis gar nicht in Traditionen der empirischen Fremdsprachenforschung verorten lässt. Dieser Umstand lässt sich als erhebliches Potenzial deuten, nicht nur einen inhaltlichen, sondern auch einen forschungsmethodologischen Beitrag leisten zu können. In ihren spezifischen Stärken, so die Argumentation weiter, bestehen in der ENA Potenziale gerade für komplexe Situationen wie die des Englischunterrichts und gerade auch als Ergänzung der bereits so sehr etablierten qualitativen Zugänge zu fremdsprachendidaktischen Forschungsfragen. Nach der ausführlichen theoretischen Erarbeitung folgen anschließend die Ergebnisse der ENA. Diese fokussieren sich auf insgesamt drei Netzwerke, die die Verbindung zwischen den Covid-19-bedingten Erfahrungen und der Bewertung digitaler Technologien verdeutlichen. Dabei wird nicht nur gezeigt, wie die Verbindung insgesamt empirisch darstellbar ist, sondern auch, dass sich signifikante Unterschiede zwischen Online- und Hybridsemester ergeben. Die Ergebnisse werden schließlich in einem Exkurs zu einem Vergleich zwischen Studierenden- und Expert*innennetzwerken kontextualisiert. Zum Abschluss von Kapitel 9 werden die Ergebnisse der ENA insgesamt diskutiert und auf die qualitativen Ergebnisse des vorigen Kapitels bezogen. Das eröffnet die Möglichkeit der systematischen Synthese aus qualitativem und quantitativem Zugang im Anschluss.
Kapitel 10 bedient den expliziten Qualitätsanspruch an Mixed-Methods-Studien, dass in diesen die genutzten methodischen Zugänge nicht nebeneinanderstehen sollten, sondern explizit auch aufeinander bezogen werden müssen. Diese Bezugnahme erfolgt an dieser Stelle nicht nur durch die theoretische und begriffsgeleitete Diskussion, sondern auch empirisch. Dafür werden die qualitativ gebildeten Typen in ihren Assoziationsstrukturen miteinander verglichen. Dadurch lässt sich quantitativ darstellen, wie sich die qualitativ gebildeten Typen (z. T.) signifikant in ihren Bewertungsmustern unterscheiden. Die Interpretation dieser Synthese der Methoden bildet den weiteren Kern des Kapitels, dessen zweiter Teil die Gesamtdiskussion der Ergebnisse, ihrer Limitationen wie auch ihrer Transferierbarkeit in andere Kontexte bietet.
Als Abschluss der Untersuchung liefert Kapitel 11 Fazit und Ausblick der theoretischen und empirischen Diskussionen. Dabei wird zunächst festgehalten, welchen Beitrag die Studie zur (Englisch-)Lehrkräftebildung unter Bedingungen der Digitalität wie auch zu digitalitätsbezogenen Diskursen des Englischunterrichts leisten kann. Neben der begrifflichen Systematisierung und Schärfung des zentralen wie auch omnipräsenten Begriffs Digitalisierung, der Nutzbarmachung pandemiebedingter Erfahrungen und Empfehlungen zu notwendigen Bemühungen der (Englisch-)Lehrkräftebildung werden zuletzt die noch offenen Fragen dargestellt, insbesondere solche, die sich aus den Ergebnissen der Studie selbst ergeben. Dabei wird argumentiert, dass zahlreiche Anschlussmöglichkeiten bestehen, die in qualitativ-explorativen bis hin zu quantitativen Interventionsstudiendesigns erarbeitet werden können. Diese können Vorstellungen und Überzeugungen von in-service-Lehrkräften, aber auch die Auswirkungen technologischer Disruptionen, insbesondere der generativen Künstlichen Intelligenz, betreffen. Kurzum, die Dissertation endet mit möglichen Anknüpfungspunkten, theoretische und empirische Forschung zu Englischunterricht und Lehrkräftebildung unter Bedingungen der Digitalität weiterzutreiben.
Es ist eine zentrale These der vorliegenden Arbeit, dass die digitale Transformation und das damit verbundene Lernen und Lehren unter Bedingungen der Digitalität eines der wichtigsten Themen aktueller und zukünftiger Lehrkräftebildung, wie auch Fachdidaktik und Unterrichtsentwicklung insgesamt sind. Eine solch weitreichende These lässt sich erst dann rechtfertigen, wenn die zahlreichen Implikationen der Digitalität aus den verschiedenen Perspektiven der Englischdidaktik und ihrer Bezugsdisziplinen aufgeschlüsselt werden. Die dementsprechende medienpädagogische und -didaktische Perspektivierung wird in Kapitel 2.1 vorgenommen. In Kapitel 2.2 wird die erarbeitete Perspektive mit dem kulturwissenschaftlichen Konzept der Kultur der Digitalität (Stalder, 2019) kontrastiert. Anschließend wird unter Berücksichtigung aller Perspektiven das Phänomen der digitalen Transformation diskutiert, was einen technischen, medialen und kulturellen Wandel im Lehren und Lernen beschreibt. Schließlich wird das erarbeitete Begriffsverständnis in 2.3 in den Bereich der Fremdsprachendidaktik eingeordnet und für das Fach Englisch geschärft.
Ziel des Kapitels ist es, ein grundlegendes Begriffsverständnis zu erarbeiten, welches im gesamten Verlauf der Arbeit genutzt werden kann. Außerdem soll bereits hier für die verschiedenen Ebenen sensibilisiert werden, auf denen Digitalisierung und Digitalität mit Englischunterricht und Lehrkräftebildung interagieren. Die aus der Interaktion resultierenden Fragen und die inhaltliche Differenzierung der Begriffe sind schließlich Kernpunkt der Perspektivlinien in Kapitel 3.
Für die allgemeine Kritik an Digitalisierungsprozessen im deutschen Bildungssystem lassen sich zahlreiche Beispiele finden. Wie in der ICILS (International Computer and Information Literacy Study) 2018 empirisch nachgezeichnet, lassen sich beispielsweise das Fortbildungsangebot für Lehrpersonen und auch die technischen Rahmenbedingungen an deutschen Schulen bemängeln (Eickelmann et al., 2019). Dieser Missstand sah sich jüngst in den pandemiebedingten Schulschließungen bestätigt und wurde ausführlich dokumentiert (u. a. in Eickelmann & Drossel, 2020; Fütterer et al., 2021; Reintjes et al., 2021). Im weiteren Verlauf dieses Kapitels soll entsprechend nicht auf die Kritik an Digitalisierungsprozessen, sondern auf die Begriffe Digitalisierung und Digitalität selbst fokussiert werden. Diese Priorisierung erfolgt aus zwei Gründen. Zum einen sind Missstände zur (technischen) Digitalisierung bereits detailliert dokumentiert und diskutiert. Zum anderen ist der Begriff Digitalisierung so inkonsistent, wie er omnipräsent ist. Eine Diskussion von Digitalisierung und Digitalität in Englischunterricht und universitärer Lehrkräftebildung setzt also zuerst eine begriffliche Klärung und Einordnung voraus.
Ein wesentlicher Aspekt, der die Begriffsbestimmung von Digitalisierung und Digitalität erschwert und zugleich unbedingt erforderlich macht, ist die trotz der Unbestimmtheit bestehende Diskursmacht des Begriffs Digitalisierung (Dander, 2020, S. 23). Dabei sorgt der digitale Wandel in seiner Unübersichtlichkeit und Komplexität oft zu polarisierenden Beiträgen, die aber nur vereinfachte Teilbereiche abdecken (Petko et al., 2018, S. 158). Dies sorgt zu irreführenden Aussagen wie ‚Pädagogik vor Technik‘1 und überhöhten Erwartungen an Technologie im Sinne des „Mythos digitalen Potenzials“ (Braun et al., 2021, S. 4). Eine multiperspektivische Annäherung an die Begriffe Digitalisierung und Digitalität eröffnet hingegen den Raum für eine fundiertere Einschätzung zu Relevanz, Fragen und „Möglichkeitenräume[n]“ (Stalder, 2021, S. 4), die sich für die in der Arbeit im Mittelpunkt stehenden Bereiche Lehrkräftebildung und Englischunterricht ergeben.
Es ist auch im Rahmen einer fachdidaktischen Arbeit naheliegend, wenn auch nicht gänzlich unproblematisch, sich dem Begriff der Digitalisierung zunächst aus einer medienpädagogischen bzw. -didaktischen Perspektive zu nähern. Bereits seit den frühen 1960er Jahren tauchen hier mit Heimann systematische Verortungen von Medien in pädagogischen bzw. didaktischen Modellen auf (Herzig, 2022, S. 842).1 Medien umfassen dabei im Verständnis der Medienpädagogik sowohl Buch und Bild (ebd.) als auch digitale Medien, vom Video bis hin zur Künstlichen Intelligenz (KI) und der Datafizierung (Hugger, 2022, S. 68; De Witt, 2022, S. 626). Diese Bandbreite liegt auch an tendenziell offenen Definitionen des Medienbegriffs in der Medienpädagogik:
Medien in diesem Sinne sind die Produkte des Menschen, die Gegenstände, die er geschaffen hat. Diese Gegenstände sind sowohl materieller Natur, wie technische Geräte, als auch immaterieller Natur, wie Sprache, Schrift und Abbildung. […] Medien sind einerseits das Reservoir menschlicher Kultur und andererseits Werkzeuge, diese Kultur zu schaffen und zu verändern. (Schorb, 2022, S. 44–45)
Ein Medium kann dementsprechend ein spezifisches Gerät für den Unterricht sein, wie beispielsweise ein Tablet oder interaktives Whiteboard, ist aber dennoch nicht auf das Materielle bzw. Gegenständliche beschränkt. Trotz dieser Begriffsoffenheit fokussiert die Medienpädagogik im Bereich des Unterrichts historisch betrachtet vor allem das Medium in materieller Natur. Das trifft insbesondere auf die bewahrungspädagogische Position zu, die seit den 1920er Jahren ihre Aufgabe darin sieht, Kinder und Jugendliche vor dem schädlichen Einfluss (neuer) Medien zu schützen (Schiefner-Rohs, 2013, S. 140). Die Bezeichnung neu ist dabei relativ und reicht vom Kino in den 1920ern bis zu heutigen Diskussionen zu Internet und Computerspielen (ebd.). Aber auch andere Strömungen2 legen einen starken Fokus auf materielle Medien und Medien als Werkzeug:
Inhalte der Medienpädagogik waren andererseits [abgesehen von der bewahrungspädagogischen Position, Anmerkung C. K.] funktional die Veranschaulichung des Unterrichtsstoffes durch auditive und visuelle Medien. In der Weiterentwicklung der rechnergestützten programmierten Unterweisung wird heute der Unterricht über Lernsoftware gestaltet, die […] Verbindungen zu einer handlungsorientierten Medienpädagogik aufweist. (Schorb, 2022, S. 42)
Auch wenn die Strömungen verschiedene Zielsetzungen besitzen (Bewahrung, Emanzipation, Handlungsorientierung, Optimierung) bleibt die Denkfigur ähnlich: ein Medium (ob Buch oder KI) wird für ein Ziel als Werkzeug genutzt (bzw. in der Bewahrungsposition ausgeschlossen). Diese Betrachtung drückt sich schließlich auch in der Beschreibung von Medienkompetenz aus, die die zielgerichtete Anwendung und das souveräne Handeln mit Medien beschreibt (ebd., S. 45). Verbindet man diese Herangehensweise mit Digitalisierung (von Unterricht) rückt historisch aus der medienpädagogischen Perspektive also der vermeintlich souveräne Umgang mit digitalen Medien und seine zielgerichtete Anwendung in den Mittelpunkt.3 Diese grundlegende Denkfigur gilt umso mehr für den Bereich der Mediendidaktik.
Die Mediendidaktik als Teil der Medienpädagogik fokussiert sich darauf, wie ein Medium eingesetzt werden kann, um ein (Lern-)Ziel zu erreichen:
Die Mediendidaktik thematisiert das Lehren und Lernen mit Medien und die Gestaltung von mediengestützten Lernangeboten in verschiedenen Bildungskontexten. Dies umfasst analoge Medien, wie Texte und Bücher, genauso wie digitale Medien, zum Beispiel Lernsoftware, die auf einem Datenträger oder über das Internet bereitgestellt werden. (Kerres, 2022b, S. 106)
Vermehrtes Interesse gilt dem Feld vor allem seit den 1970er Jahren, die die Mediendidaktik im Rahmen der „bildungstechnologischen Welle“ (ebd.) stark prägen. Ähnlich wie in der Fremdsprachendidaktik (siehe Kapitel 2.3) und dem Bereich Computer Assisted Language Learning (CALL) (siehe Kapitel 2.3.2) ging mit dieser Welle eine Konzentration auf ein vermeintlich neues Medium einher (in diesem Fall, auf den Computer), mit dem hohe Erwartungen bezüglich der Potenziale für Lernprozesse verbunden wurden (ebd.). Auch wenn sich diese Erwartungen, beispielsweise für den Automatisierungsprozess, zunächst als überhöht darstellten, wiederholten sich ähnliche Diskurse im Bereich des E-Learning in den 90ern und werden noch heute über die Integration digitaler Medien in den Unterricht geführt (Schiefner-Rohs, 2013, S. 141).
Mit den Jahren haben sich mediendidaktische Konzepte zur Integration, beispielsweise des Computers, weiterentwickelt und folgen kognitionspsychologischen Erkenntnissen in einem konstruktivistischen Ansatz von Lernen, der die eigenständige Konstruktionsleistung in der Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand betont (Kerres, 2022b, S. 107–108). Ungeachtet dieser Veränderung bleibt das Medium, in Übereinstimmung mit Definition und der gerade beschriebenen Denkfigur der Medienpädagogik, Werkzeug für ein Lernziel. „Mit der Regulierung des Lernprozesses durch den Computer wird eine Optimierung des Lehrprozesses angestrebt“ (ebd.). Das Interesse dieser Perspektive der Mediendidaktik ist also weniger das digitale Medium oder die Digitalisierung an sich, sondern die Frage nach den Potenzialen für bestehende (fachliche oder überfachliche) Lernziele. Ein Fokus, der in bildungspolitischen wie auch fremdsprachendidaktischen Diskursen über den Mehrwert der Digitalisierung zu finden ist (siehe z. B. Bär, 2019, S. 13; KMK, 2017, S. 48; Würffel, 2019, S. 294).
Ausgehend von diesem Fokus auf Mehrwert scheint eine gewisse Ernüchterung bezüglich digitaler Medien kaum verwunderlich, zeigen Metaanalysen schließlich, dass gewünschte Effekte der Effizienzsteigerung im Lernen alles andere als selbstverständlich sind (siehe z. B. Bernard et al., 2018; Delgado et al., 2018). Die ausbleibenden Effekte liegen nach Sicht der Mediendidaktik allerdings nicht am Medium selbst, sondern an den didaktischen Konzepten, die mit den Medien zusammen genutzt werden. Bei der vermeintlich richtigen didaktischen Nutzung werden digitalen Medien zahlreiche Potenziale attestiert, die das Lernen schneller, individueller und effektiver machen sollen (Kerres, 2018, S. 87–137).
In ihrer Fragestellung nach den didaktischen Konzepten für die effektive Nutzung (digitaler) Medien sieht sich die Mediendidaktik auch in ihrem Selbstverständnis als eine Perspektive auf mediale Fragen, die neben der Medienpädagogik auch noch mit weiteren erziehungswissenschaftlichen und bildungstheoretischen Feldern verbunden ist (Kerres, 2022b, S. 113). Insofern ist auch aus mediendidaktischer Perspektive das Medium nicht ausschließlich Werkzeug für effektiveres Lernen, es besteht jedoch ein klarer Fokus auf diese Perspektive.
Der kurze Einblick in die Medienpädagogik und -didaktik zeigt insgesamt, dass sich dem Thema Digitalisierung, insbesondere historisch gesehen, vor allem aus der Perspektive medialer Veränderung und dessen Nutzung für Lernziele genähert wurde. Während diese Perspektive historisch gesehen hilfreich war und es in Teilen auch weiterhin bleibt, zeigt sich, dass sie unter Bedingungen der Digitalität unzureichend ist:
Die Entwicklung der ‚klassischen‘ Medien vom Schulbuch über Radio und Fernsehen bis zum Video hat die Institution Schule in didaktischer wie auch in erzieherischer Weise immer wieder herausgefordert und zu Weiterentwicklungen in der Gestaltung von Lehr- und Lernsituationen geführt. Allerdings wurden dabei die institutionellen Strukturen nicht grundsätzlich in Frage gestellt. (Herzig, 2022, S. 842)
Der Medienpädagoge Herzig stellt in dem Zitat selbst fest, dass die Digitalität eine andere Dimension von Fragen an Unterricht aufwirft, als es klassischen Medien getan hätten: Digitalität stellt die Struktur der Bildungsinstitutionen selbst in Frage. Um aber erläutern zu können, wieso Digitalität in dieser Hinsicht anders sein könnte als bisherige mediale Entwicklungen – und wieso die bis zu diesem Punkt betrachtete Denkfigur des Werkzeugs nicht ausreicht – ist es notwendig, sich dem Begriff Digitalisierung aus einer zweiten Perspektive zu nähern.
Wie in dem einleitenden Satz zur Medienpädagogik und auch mit dem Zitat von Herzig angesprochen, ist eine Annäherung an das Phänomen der Digitalität einzig aus der Perspektive der Medienpädagogik bzw. -didaktik nicht unproblematisch. Der Ansatz der Kultur der Digitalität macht diese Problematik aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive deutlich und unterstreicht gleichzeitig die enorme Relevanz von Digitalität für den (Englisch-)Unterricht.
Bevor aber die Kultur der Digitalität besprochen werden kann, muss der Begriff Digitalität und seine Beziehung zum Begriff Digitalisierung ausdifferenziert werden. Wie im vorigen Kapitel angeschnitten, stellt ein Zugang zum Konzept der Digitalisierung aus medienpädagogischer Perspektive die Auswirkungen digitaler Medien und ihre Verwendung für pädagogische Zwecke und Ziele in den Vordergrund. Damit handelt es sich bereits um eine Interpretation bzw. eine bestimmte Perspektive auf Digitalisierung, die in ihrer ursprünglichen Begriffsdefinition sehr viel enger zu fassen ist: So meint Digitalisierung in ihrer technisch-informatischen Auslegung die „Umwandlung und Verarbeitung analoger Signale in digitale Signale und Abspeicherung in digitalen Systemen“ (Irion & Knoblauch, 2021, S. 124).
Digitalität, eine Begriffsschöpfung aus der Kombination von „Digital“ und „Realität“ (Stalder, 2016, hier zitiert in: Huwer et al., 2019, S. 360), ist Ausdruck einer weiteren Perspektive auf Digitalisierung. Eine Perspektive, die „gesellschaftliche Änderungen, die sich im Anschluss an die Digitalisierung ergeben“ (ebd., Hervorhebung C. K.), betrachtet. Aus dieser Perspektive könnte man den Begriff Digitalisierung mit dem englischen Begriff digitisation gleichsetzen, also einem technischen Prozess der Signalumwandlung. Mit anderen Worten: Digitalisierung meint beispielsweise die Umwandlung eines Buchs in ein PDF-Dokument, Digitalität die Auswirkungen des unmittelbar verfügbaren und unendlich replizierbaren und teilbaren Wissens und diesbezügliche Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen Prozessen.
Die beiden Begriffe werden in den für diese Arbeit genutzten Diskursen, insbesondere der Didaktik des Englischen, der Bildungswissenschaft und Medienpädagogik, nicht einheitlich genutzt. Das wird schon daran deutlich, dass im Abschnitt zur Medienpädagogik der Begriff Digitalisierung verwendet wurde, die Medienpädagogik aber nicht vordergründig Aspekte der technischen Signalumwandlung bearbeitet. Nichtsdestotrotz ist die Unterscheidung für den weiteren Verlauf der Arbeit und das Verständnis der Kultur der Digitalität wichtig, da sie auch begrifflich betont, dass Digitalität in Bildungskontexten nicht vornehmlich ein technischer Prozess ist.
Mit der Unterscheidung zwischen Digitalisierung und Digitalität ist bereits klar, dass die Kultur der Digitalität nicht eine Kultur der Tablets oder eine Kultur der interaktiven Whiteboards meint, sondern eine Kultur, die in ihren grundlegenden Strukturen und Praktiken von den konstitutiven Eigenschaften des Digitalen geprägt ist. Wieso diese kulturwissenschaftliche Perspektivierung von Digitalisierung für den (Englisch-)Unterricht so relevant ist, wird im Folgenden durch die von Stalder erarbeiteten Eigenschaften der Digitalität (Referenzialität, Gemeinschaftlichkeit, Algorithmizität) verdeutlicht. Anschließend wird die Perspektive Stalders mit der Teilperspektive der (Medien-)Pädagogik und -didaktik synthetisiert, um die abstrakte, kulturwissenschaftliche Makroperspektive mit explizit bildungs- und unterrichtsbezogenen Fragen zu verknüpfen.
Der Zugang zum Begriff Digitalität, verstanden als die Frage nach den soziokulturellen Auswirkungen der Digitalisierung und den Eigenschaften einer digitalisierten Gesellschaft, lässt sich vielfältig gestalten. Der Vorteil des Zugangs über die Kultur der Digitalität ist, dass Stalder diejenigen Eigenheiten definiert, „die trotz der verwirrenden Vielfalt an Bestrebungen, Konflikten und Widersprüchen dieser kulturellen Umwelt als Ganze ihre spezifische Gestalt verleihen“ (Stalder, 2019, S. 95). Damit lässt dieser Zugang eine Bestimmung des konstitutiv Neuen der Digitalität zu und ermöglicht gleichzeitig eine Integration und die Einschätzung der zahlreichen anderen Bemühungen über die Beschreibung des Digitalen, des Digitalisierten oder digital Transformierten im Bildungsbereich (u. a. Albrecht et al., 2020, S. 24–25; Kerres, 2020b, S. 10; im Bereich der Englischdidaktik schon Ritter, 1996; Rüschoff & Wolff, 1999). Die Offenheit bezüglich der Integration weiterer Perspektiven ermöglicht nicht zuletzt auch die Entwicklung der Perspektivlinien für Digitalität und Bildungsprozesse im folgenden Kapitel, die einige der genannten Positionen aufnehmen und für (Englisch-)Unterricht explizieren.
Konstitutiv für die Kultur der Digitalität sind nach Stalder die drei Eigenschaften Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität. Die Eigenschaften bauen aufeinander auf und machen Digitalität gemeinsam beschreibbar. Die erste Eigenschaft, Referentialität, meint zunächst die Nutzung bestehenden kulturellen Materials für die eigene Produktion (Stalder, 2019, S. 13). Beispiele dafür sind u. a. Remix, Remake, Mashup (ebd., S. 97) oder das im Digitalen seit den späten 2000ern allgegenwärtige Phänomen der Memes (Knobel & Lankshear, 2007, S. 202–203). Die Nutzung und Neuinterpretation von kulturellem Material bestanden natürlich weit vor technologischen Entwicklungen wie dem Computer oder dem Internet. Referentialität als soziale Verhandlung und Wandlung von Bedeutung veränderte sich mit der Entwicklung digitaler Technologien jedoch radikal. Mit den sich im Laufe der 90er Jahre exponentiell entwickelnden technischen Möglichkeiten zur Speicherung und Wiedergabe digitaler Dateien, wurde die Gesellschaft mit einer zuvor unerreichten Informationsflut konfrontiert (Stalder, 2019, S. 105). Einhergehend mit der Informationsflut und dem Wegfall einstmaliger „Informations-Gatekeeper“, wie Bibliotheken, Massenmedien oder Archiven, die zuvor Informationen gefiltert und sortiert hatten, entstand die „große Unordnung“, die Stalder als ein kulturelles Phänomen beschreibt (ebd., S. 114). Für das Individuum heißt das, dass dieses die Verantwortlichkeit für das Ordnen von Informationen bzw. Daten übernehmen muss:
Filtern und Bedeutungszuweisung ist an sich nichts Neues. Neu ist, dass beide nicht mehr primär durch Spezialisten in Redaktionen, Museen oder Archiven ausgeführt werden, sondern zur Alltagsanforderung für große Teile der Bevölkerung geworden sind, unabhängig davon, ob diese über die materiellen und kulturellen Ressourcen verfügen, die nötig sind, um diese Aufgabe zu bewältigen. (Ebd., S. 118)
Was hier von Stalder als Aufgabe des Filterns und der Bedeutungszuweisung beschrieben wird, lässt sich im Bildungskontext als Teil von digital literacy oder critical digital literacy (Steiniger, 2020, S. 74–75) als data literacy (European Commission, 2021) oder im deutschen Diskurs unter dem umbrella term (kritische) Medienkompetenz (Kerres, 2020b, S. 18; Petko et al., 2018, S. 163) verstehen. Kurzum, die Lernenden sollen dazu befähigt werden, auch ohne institutionelle Gatekeeper Informationen verstehen, einordnen und bewerten zu können (siehe auch Kapitel 4.1.1 und 4.1.2).
Konkret lässt sich die Bedeutung von Referentialität für das Verständnis von Digitalität wie folgt erklären: Während sich die Flut an Informationen vornehmlich durch die technische Entwicklung ergibt, erklärt sich die Wandelbarkeit und Kurzlebigkeit der Informationen durch Referentialität selbst. Mit der ständigen Aufnahme und Bearbeitung (Referentialität) einer Flut von Informationen (technische Entwicklung) ergibt sich eine ständige Notwendigkeit der Reaffirmation bestehender Sinnzusammenhänge, ihrer Produktion und Reproduktion (Stalder 2019, S. 128), was die Informationsflut schließlich nur weiter verstärkt. Schließlich, und für den Bildungsbereich besonders relevant, ist in der Digitalität vornehmlich das Individuum für die Herstellung und Reaffirmation von Sinnzusammenhängen verantwortlich, nicht wie zuvor noch Institutionen oder Expert*innen.
Ein praktisches Beispiel für das abstrakte Konzept der Referentialität im Digitalen lässt sich in social-media-Plattformen finden. Setzt man als Nutzer*in beispielsweise einen tweet, also eine Kurznachricht auf Twitter2, ab, muss dieser tweet für seine anhaltende Sichtbarkeit ständig von anderen Nutzer*innen aufgenommen, kommentiert und verändert werden. Interagieren andere Nutzer*innen nicht mit dem kulturellen Material, in diesem Fall also dem tweet, wird dieser schon nach kürzester Zeit in den metaphorischen Tiefen der digitalen Archive verschwinden. Ähnliches gilt auch für alles weitere kulturelle Material, wie im Aspekt der Algorithmizität noch deutlich werden wird. Zuvor baut aber Gemeinschaftlichkeit direkt auf die Ausführungen zu Referentialität auf.
Gemeinschaftlichkeit als konstitutiver Bestandteil von Digitalität scheint zunächst verwunderlich. Dass Menschen sich vergemeinschaften ist schließlich, so auch Stalder, nichts Besonderes (2019, S. 129). Relevant für die Digitalität ist, auf welche Art und Weise Menschen Gemeinschaften, bzw. gemeinschaftliche Formationen (siehe ebd., S. 131–132) bilden. Ähnlich wie bei dem Wegfall institutioneller Informations-Gatekeeper ist auch hier ein Rückgang der Rolle von zivilgesellschaftlichen Institutionen zu beobachten (ebd., S. 129). An ihre Stelle treten in der Digitalität selbstgenerierte Ordnungen.
Ein naheliegendes Beispiel für eine selbstgenerierte Ordnung ist die Wissenschaft in ihren spezifischen scientific communities (ebd., S. 151–152). Innerhalb der spezifischen Diskurse entscheidet die Subgemeinschaft der einzelnen Forscher*innen selbst, welche Arbeiten wie viel Deutungshoheit im Diskurs erhalten, basierend auf einem eigens erarbeiteten und dynamischen Kriterienkatalog (ebd.). Zusammen mit der Referentialität, also in diesem Fall welche Arbeiten wie oft genutzt und weiterbearbeitet werden, ergibt sich dadurch, was in der jeweiligen Disziplin zu einem bestimmten Zeitpunkt als Konsens gilt. Diese grundsätzliche Idee ist, trotz ihrer Weiterentwicklungen in peer-review Verfahren, h-index und impact factor, ebenfalls nicht neu. Das Spezifikum der Kultur der Digitalität in ihrer Gemeinschaftlichkeit ergibt sich erst wie folgt:
Selbstgenerierte Referenz- und Handlungsräume sind tief in den Alltag vorgedrungen. Der Grund dafür ist, dass sich eine immer größere Zahl von Fragen nicht mehr allgemeinverbindlich beantworten lässt […], während die enorme Ausweitung des Kulturellen in immer zahlreicheren Aspekten des Lebens explizite Entscheidungen erfordert. Die Reaktion auf dieses Dilemma ist die radikale Subjektivierung, die sich allerdings nicht auf der Ebene des Einzelnen, sondern auf jener der neuen gemeinschaftlichen Formationen vollzieht. (Ebd., S. 155)
Während in früheren gemeinschaftlichen Formationen religiöse oder politische Institutionen für große Bevölkerungsgruppen und weitreichende Themengebiete Deutungshoheit beanspruchen konnten, entsteht Deutungshoheit in der Kultur der Digitalität in spezifischen sub-communities, die in hohem Maße auf einen bestimmten Aspekt des Lebens ausgerichtet sind. Kehrt man zurück zu dem bereits erwähnten social media Beispiel, lässt sich das mit dem stark subjekt-abhängigen Begriff der bubble (auch filter bubble oder echo chamber, Bagnoli et al., 2022, S. 125) zeigen. Hierbei werden durch sogenannte recommendation systems „intellectually closed circles“ (ebd.) gebildet, in denen Menschen mit ähnlichen Meinungen und/oder Interessen Informationen austauschen. Die bubble eines Individuums besteht also aus zahlreichen kleinen gemeinschaftlichen Formationen, zu denen sich das Subjekt jeweils in Beziehung setzt. Für alle diese gemeinschaftlichen Formationen muss das Subjekt ebenfalls entscheiden, inwiefern und in welcher Reichweite diesen Formationen Deutungshoheit zugesprochen wird und inwiefern das Subjekt selbst in den jeweiligen Gemeinschaften aktiv wird. Eindrucksvolles Beispiel dafür: Auf der social media Plattform Reddit bestanden (Stand Mai 2021) ca. 2,8 Millionen subreddits (themenorientierte Gemeinschaften innerhalb von Reddit) (Lin, 2021) bzw. gemeinschaftliche Formationen, für die sich das Subjekt entscheiden kann. Aktuell (Stand Mai 2022) wird die Zahl der subreddits auf ca. 3,4 Millionen geschätzt (Yakub, 2023).3
Für das Subjekt in der Kultur der Digitalität besteht Gemeinschaftlichkeit also aus zahlreichen einzelnen, gemeinschaftlichen Formationen, in die sich das Individuum einschreiben, und mit denen es interagieren muss, dessen Deutungshoheit (und Reichweite der Deutungshoheit) das Individuum aber auch bewerten muss. Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der bereits erwähnten data literacy besonders deutlich. Es darf, gerade aus Perspektive fremdsprachlicher Unterrichtsfächer, aber auch nicht vernachlässigt werden, wie diese Einschreibung in zahllose gemeinschaftliche Formationen das Subjekt selbst prägt. Ein Umstand, dem im Diskurs der Englischdidaktik zu Inter- und Transkulturalität z. T. Rechnung getragen wird (Freitag, 2010, S. 125–126), der aber trotzdem vor dem Hintergrund der Kernkompetenz intercultural communicative competence (ICC) weiterer Diskussion bedarf (genauer siehe Kapitel 3.1). Unabhängig von dem Bildungsanspruch spezifischer Fachdidaktiken stellt dieses Merkmal der Digitalität außerdem eine grundlegende pädagogische Frage danach, wie an eine Lebenswelt von Schüler*innen angeknüpft und auf sie eingegangen werden kann. Das Konstrukt der Lebenswelt ist in diesem Verständnis hochgradig divers und komplex, vor allem aber individuell. Der Anspruch auf einen Lebensweltbezug im Unterricht müsste also akkurater als Bezug zu zahlreichen individuellen Lebenswelten beschrieben werden, mit allen Herausforderungen, die dieses Ziel im Klassenverband hervorruft.
Aus den beiden bisherigen Eigenschaften Referentialität und Gemeinschaftlichkeit wurde deutlich, wie technische Prozesse in Verbindung zu soziokulturellen Entwicklungen das Subjekt vor Herausforderungen stellen und gleichzeitig dessen Lebenswelt sowie das Teilen und Bewerten von Wissen prägen. Bevor die Perspektive der Kultur der Digitalität mit den bisherigen Ausführungen zur Medienpädagogik und -didaktik kontrastiert werden kann, fehlt die Diskussion der letzten konstitutiven Eigenschaft von Digitalität, die nahtlos an die beiden bisherigen Eigenschaften anschließt und auf diesen aufbaut.
Während die beiden bisherigen Eigenschaften von Digitalität kulturelle Prozesse beschreiben, die durch technische Entwicklungen verstärkt werden, lässt sich argumentieren, dass es in der Algorithmizität genau andersherum funktioniert. In ihr steht eine technische Entwicklung an erster Stelle, die kulturelle Prozesse verstärkt und die Kultur der Digitalität überhaupt möglich macht. Gerade auch deswegen wird spätestens hier klar, wie Digitalität technische und (sozio-)kulturelle Prozesse untrennbar vereint und auch, wie im Laufe der Arbeit immer wieder betont werden wird, wieso das Verständnis von Digitalisierung als vornehmlich technischer Prozess für (Englisch-)Lehrkräftebildung und Unterricht ungenügend ist.
Mit der Referentialität wurde deutlich, wie in einer Kultur der Digitalität eine fast endlose Masse an kulturellen Produkten in Form von Daten entsteht. In der Eigenschaft der Gemeinschaftlichkeit argumentiert Stalder weiter, dass aus dieser Masse nur in zahlreichen gemeinschaftlichen Formationen Bedeutung gewonnen werden kann. Gleichzeitig zeigt das Beispiel von Reddit mit 3,4 Millionen gemeinschaftlichen Formationen, dass die Vergemeinschaftung (und damit Bedeutungszuschreibung) in der Kultur der Digitalität das Individuum vor eine scheinbar unlösbare Aufgabe stellt. Wie kann sich ein Individuum in einer derart unübersichtlichen Masse an gemeinschaftlichen Formationen – oder neudeutsch communities – erfolgreich mit anderen Menschen vergemeinschaften? Und vielleicht noch bedeutsamer: Wie stellt ein Individuum Sinnzusammenhänge zwischen den communities her? Anders ausgedrückt: Wenn Stalders Annahmen zu Referentialität und Gemeinschaftlichkeit greifen, wie soll dann eine Gesellschaft in der Kultur der Digitalität überhaupt funktionieren?
Algorithmen sollen, so Stalder, die technologische Entwicklung sein, die die Kultur der Digitalität ermöglicht. Aus Platzgründen kann nicht die gesamte Entwicklung von Algorithmen wiedergegeben werden (siehe dafür Stalder, 2019, S. 165–182). Stattdessen wird nur eine Beschreibung von Algorithmen selbst skizziert, um anschließend, da dies für den Englischunterricht besonders relevant scheint, auf ihre Auswirkung bezüglich der Genese und Kommunikation von Wissen einzugehen.
„Ein Algorithmus ist eine Handlungsanleitung, wie mittels einer endlichen Anzahl von Schritten ein bestehender Input in einen angestrebten Output überführt werden kann: Mit Hilfe von Algorithmen werden vordefinierte Probleme gelöst“ (ebd., S. 167). Die abstrakte Beschreibung, die Stalder zu Beginn seiner Abhandlung selbst gibt, steht im Kontrast zu der Omnipräsenz und Vielfalt, in der Algorithmen die Lebenswelt in der Kultur der Digitalität beeinflussen. Von der Ikea-Anleitung, die in einer fest gegebenen Anzahl an Schritten aus einzelnen Teilen ein Möbelstück entstehen lässt, bis zu deep learning software, die versucht menschliches Denken zu simulieren (ebd., 169–179). Für den Kontext dieses Kapitels und dieser Arbeit sind dabei vor allem moderne, sogenannte selbstlernende Algorithmen relevant (ebd.). Ein einfaches Beispiel für deren Nutzung findet sich in Suchmaschinen wie Google. Aber auch social media Plattformen wie Reddit, Twitter, Facebook, Instagram oder TikTok nutzen solche selbstlernenden Algorithmen. Sie bestimmen, welche Inhalte die Nutzer*innen wann und in welcher Reihenfolge erhalten. Diese Entscheidung basiert, so der Rückbezug zu Stalders Zitat, auf festgelegten Schritten. Anders als bei einer Ikea-Anleitung werden diese Schritte allerdings dynamisch durch das Nutzungsverhalten immer wieder neu bestimmt. Dabei lernt der Algorithmus basierend auf den Daten der Nutzer*innen, also beispielsweise deren Klicks, Verweildauer und Interaktionen, welche Informationen für die Nutzer*innen vermeintlich relevant sind und schreibt darauf basierend selbstständig die Regeln um, nach denen auf einen Input (zum Beispiel durch einen Suchbegriff) ein Output (bestimmte posts oder Webseiten) gezeigt werden.
Trotz der starken Vereinfachung4 dieser Beschreibung selbstlernender Algorithmen, mag sie sich zunächst wie die Erläuterung eines abstrakten, technischen Sachverhaltes anhören. Tatsächlich aber verbergen sich hinter dieser Beschreibung Fragen, die den Kern von (unterrichtlichen) Bildungsprozessen betreffen. Neben den in den Begriffsklärungen von Referentialität und Gemeinschaftlichkeit bereits genannten digitalitätsbezogenen Kompetenzen oder literacies