Doktor Garin - Vladimir Sorokin - E-Book
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Doktor Garin E-Book

Сорокин Владимир

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Beschreibung

Ein groteskkomischer Roadtrip durch eine posthumane Welt des Chaos und des Krieges, in der es einen einzigen Gewinner gibt: die Liebe.  Doktor Garin hat den »Schneesturm« überlebt und ist zehn Jahre später Chefarzt auf Titanfüßen von einer psychiatrischen Klinik im Altaigebirge. Hier residieren die sogenannten political beings – Donald, Wladimir, Emmanuel und Angela, Silvio, Shinzo, Boris und Justin – in Luxussuiten. Was sie alle verbindet: Sie essen, hüpfen, denken und sprechen mit dem Hinterteil. Und sind geplagt von komplexen Neurosen. Doktor Garin gelingt es, sie mit seiner speziellen Schocktherapie zu beruhigen. Er will die Menschheit heilen, ihre Zombifizierung verhindern in einer posthumanen Welt, in der es von künstlichen Wesen mit invalidem Körper und Geist nur so wimmelt. Dabei steht ihm seine Assistentin und Geliebte Mascha fest zur Seite. Bis erneut eine Atombombe fällt, das Sanatorium ausradiert wird und der Doktor und sein Team gigantische Bioroboter aktivieren müssen, um auf ihren Rücken zu fliehen. Eine Odyssee durch eine absurde Welt beginnt, die Garin und Mascha voneinander trennt … Ein dystopischer Abenteuerroman à la Sorokin – verstörend und unfassbar unterhaltsam.

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Seitenzahl: 691

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Vladimir Sorokin

Doktor Garin

Roman

Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Vladimir Sorokin

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motti

Erster Teil Das Sanatorium Altai-Zedern

Zweiter Teil Nach Norden

Dritter Teil Barnaul

Vierter Teil Die Matrjoschka

Fünfter Teil Ein Auge in den Himmel

Sechster Teil Die weiße Räbin

Siebter Teil Der weiße Rabe

Inhaltsverzeichnis

STIMME DES GESICHTS. Seine Lippen nehmen einen schmeichlerischen Ausdruck an.

 

STIMME DES GEHÖRS. Er fragt erneut: »Wie steht es um Ihre Gesundheit?«

Welimir Chlebnikow: Frau Lenin

Ich liebe Sie, Doktor,

flüsterte sie.

Anton Tschechow: Verspätete Blumen

Inhaltsverzeichnis

Erster TeilDas Sanatorium Altai-Zedern

Mein lieber, momentan ferner Freund, hochverehrtester Platon Iljitsch!

 

Ohne auch nur einen Augenblick daran zu zweifeln, dass unsere Zeiten unter dem Druck der unbarmherzigen Elemente vom Dunkel der Vergessenheit verschlungen werden, wiege ich mich in der utopischen Hoffnung, dass die schriftlichen Zeugnisse der gegenwärtigen Zeit dennoch überleben werden. Verurteilen Sie meine kapriziöse Beharrlichkeit nicht, denn zuweilen fühle ich mich wenn nicht wie Strabon, so doch wie ein neuer Pimen, und dagegen bin ich einfach machtlos. Ich muss Zeugnis ablegen. Über die Vergangenheit. Über die Zukunft. Und über die Gegenwart.

Zunächst antworte ich auf Ihre menschliche Frage: Ich lebe nach wie vor gesund, gottverlassen und geruhsam, aber keineswegs übel im Schatten des prächtigen, monumentalen Feuerwerks aus blutigem Schlamm, das hier in einem fort eruptiert und keine Anstalten macht zu versiegen. Weiße Bombenwerfer, feuchte Schreibmaschinenschreiber, kommunistische Kapitalisten, Teekesselchen, zhuāng shì pĭn, feuchtes Pack, Polka mit Ausfallschritt, alte Mörder, geringelte Aerobier, Schaljapins Bass und Hsu Mu Jis Kunstpfeifen am Moskauer Himmel – all das begleitet uns bis jetzt. Als alte Molluske bedanke ich mich bei meiner dicken Schale. Sie erlaubt mir, gelassen zu bleiben und meinen Körper nicht in gezwungenen Verrenkungen zu verbiegen. Und mich beizeiten auf kürzestem Wege in meinen geliebten, grenznah gelegenen Sokolniki-Wald zu verkriechen, der Gott sei Dank noch nicht komplett zu Särgen verarbeitet worden ist.

Für Sie ist die belebende Luft des Altai-Gebirges förderlich, für mich hingegen das Rauschen des Waldes bei Moskau.

Eine Tasse Zichorie zum Frühstück, Hühnchen zum Mittagessen, eine Scheibe warmes Brot mit Ziegenkäse, von meiner lieben Frau selbst hergestellt, und Kamillentee mit eigenem Honig zum Abendessen – was braucht ein Schriftsteller mehr?

Das vom Holzwurm zerfressene Schreibpult des »hoffnungslosen, aber ekelhaft unermüdlichen Dilettanten« (wie sich unser unbarmherziger Kritiker Wulfsohn ausdrückte) ist noch nicht zusammengebrochen, meine Hand hält die Gänsefeder, meine Beine tragen den Körper.

Meine Ihnen wohlbekannte gelbe Mappe füllt sich allmählich.

So will ich Ihnen rasch und ohne Umschweife mitteilen, dass es in den letzten drei Tagen in Moskau keinerlei weltbewegende Vorkommnisse gab. Die Erschießungen haben vorerst aufgehört. Gott sei Dank! Ich werde noch immer nicht gedruckt. Leider! Doch ich erinnere mich an die weisen Worte, die Sie mir bei der Entlassung aus Ihrem supermirakulösen Sanatorium mit auf den Weg gaben: »Legen Sie die Hoffnung nicht ab. Die Hoffnung ist kein Kleidungsstück.« Sie beliebten sich immer in superklugen Sprichworträtseln auszudrücken, die ich erst später entschlüsselt habe. Nun sind sieben Monate vergangen, und ich habe Ihren altaischen Abschiedsspruch entschlüsselt: Wahre Hoffnung trägt sich nicht ab, man kann sie nicht ablegen, reinigen und wieder anziehen. Denn hat man sie erst einmal abgelegt, hat man sie verloren. Und dann ist es keine Hoffnung mehr, sondern ein Kleidungsstück. Wahre Hoffnung muss man auch lieben, wenn sie schmutzig ist! Also werde ich meine Hoffnung nicht ablegen. Ich habe gehofft, ich hoffe, und ich werde hoffen.

So weit meine Neuigkeiten.

Ich fühle mich recht gut. Habe keine Anfälle. Werfe nicht mit dem Briefbeschwerer nach Glascha. Dämonen sind nirgends zu erkennen. Ich bin also keineswegs ungehalten über das fortissimo vivacissimo meiner Entlassung aus Ihrem Gesundheitskloster. So etwas kommt vor in unserer verrückten und eitrig-vergnügten Welt. Dreieinhalb Monate anstatt sechs sind vollauf genug für mein Psychosoma.

So verbleibe ich Ihr immerwährender treuer Freund, der stete Bewunderer Ihres äskulapischen Talents und die innigst ergebene literarische Molluske mit der gelben Mappe

 

Jewsei Awigdorowitsch Woskow

 

P.S. Gestatten Sie mir, Ihnen noch einmal herzlich für meine Genesung zu danken! Für Ihre Behandlungsmethode, für Ihre psychiatrische Hypermodernität. Das werde ich niemals vergessen, noch auf dem Totenbett werde ich mich an Doktor Garin und seinen blackjack erinnern.

 

P.P.S. Gestatten Sie mir außerdem, einige Kapitel meines neuen, vergnüglichen, menschlichen (und bereits vom Pech verfolgten!?!) Romans beizulegen. Ich freue mich über eine Rückmeldung, mag sie auch noch so kritisch sein.

 

Garin ließ seinen Finger mit dem nikotingelben Nagel über den Hologramm-Brief gleiten, der in der sonnigen Morgenluft über dem Schreibtisch schwebte. Der Text des Romans erschien:

Jewsej Woskow

 

MILK ’N’ ROLL

ODER

WAS WILLST DU IN AMERIKA, JOHNNY?

Roman

I

Am 26. März 1953 verhaftete und erschoss der in seiner Entschlossenheit unvergleichliche Lawrenti Berija die widerwärtigen, endgültig und unwiderruflich in spätbolschewistischer Misanthropie und Unzurechnungsfähigkeit erstarrten Chruschtschow, Schukow, Woroschilow, Molotow und Kaganowitsch und verkündete die Neue NEP.

In diesen dunklen Zeiten lebte die rechtschaffene und wahrhaft gottesfürchtige Familie Bobrow still und bescheiden in ihrem rettungslos gemütlichen Dörfchen Ropschino, das an der Pachra gelegen ist. Neue Ideen wehten vom Kreml her wie der Wind im Frühling. Erschöpft vom entbehrungsreichen und hoffnungslos elenden Kolchosleben der Nachkriegszeit griff Pjotrs Familie nach diesem Windhauch großer Veränderungen wie nach den ersten Schneeglöckchen.

»Milch …«, murmelte Pjotr, als er den erst kürzlich und unter unmenschlicher Plackerei wieder hergerichteten Stall betrat und die ausgemergelte Kuh Dotscha sah, die faulig riechendes Heu kaute.

In dem von einem üppigen, belebenden Geruch nach Dung geschwängerten Halbdunkel des Stalls fiel ihm das Einfache, das Offensichtliche ein: Er würde sich mit seinen Brüdern Iwan, Fjodor und Pawel sowie mit dem Schwager Chapischka zusammentun, einen Kredit bei der Sparkasse aufnehmen, zwölf Kühe, ein Paar Bitjug-Pferde, einen Heumäher und ein Butterfass kaufen und Butter, Quark, Sahne und Sauerrahm herstellen und in Moskau verkaufen …

Zur gleichen Zeit saß im fernen Kansas ein attraktiver junger Mann namens Johnny Uranoff mit seiner Gitarre vor dem Fernseher, sah die Nachrichten aus der fernen UdSSR, erstarrte plötzlich wie von einer aufdringlichen, gefährlichen, dreisten Kansas-Wespe gestochen, legte seine Gitarre beiseite und klopfte sich mit seiner jungen, schwungvollen, kompromisslosen Kraft auf die Knie:

»Rock ’n’ Roll!«

 

Garins Finger glitt über den Brief und das attachment und schloss beides.

»Igel wetzen keine Messer«, murmelte er und lehnte sich in dem bequemen, schlauen Sessel zurück, der daraufhin sofort in Bewegung geriet, unter dem wuchtigen Rücken des Doktors anfing zu schnurren, die richtige Morgenstellung einnahm und mit der Massage begann.

Garin öffnete eine neue Schachtel Ural, nahm eine Papirossa heraus, klopfte mit der Hülse auf die Schachtel, schob die Papirossa zwischen seine wulstigen Lippen, die einen unverändert froschartigen, unzufrieden-weinerlichen Ausdruck hatten, riss ein Streichholz an, nahm einen Zug, blies den Rauch aus und lehnte sich in dem schnurrenden Sessel noch weiter zurück.

Er stülpte den Kneifer auf seine große, von einem Netz aus lilafarbenen Adern überzogene Nase und blickte aus dem breiten, dreiflügeligen Fenster. Der von der Morgensonne übergossene Zedernwald erfreute von hier oben, vom ersten Stock des Sanatoriums aus, Garins ewig geschwollene Augen. Er zog an seiner Papirossa und atmete den Rauch geräuschvoll und genüsslich ein und aus. Der blassblaue Aprilhimmel im Osten sah aus wie mit zerlassener Butter bestrichen und war mit Federwolken getupft. Vom Zedernwald her drangen die Stimmen der balzenden Drosseln zum offenen Fenster herein.

Mit seiner wuchtigen Hand schnappte Garin die leere Papirossa-Schachtel und warf sie in den Abfallkorb. Zusammen mit der Schachtel flog auch der gestrige Tag in den Korb – ein hektischer, langer, ermüdender, unbefriedigender Tag.

»Warm ist nicht kalt …«

Als er die Papirossa zu Ende geraucht und gewartet hatte, bis die Massage fertig war, stand Garin auf und ging zum Fenster. Der in seiner ganzen Pracht hingegossene, sonnendurchflutete Wald bestand fast durchweg aus Zedern; selten einmal waren dazwischen dunkle Tannen zu sehen oder weiß leuchtende Birken mit Tropfen schwellender, grünlicher Knospen. Jenseits der sich in der Ferne verlierenden Lawine des Zedernwaldes schimmerten tiefblau und weiß die schneeigen Berge des Altai.

»Der Lenz ist da, der Tod nicht mehr nah …«, murmelte er vor sich hin und schnippte aus Gewohnheit mit seinem kräftigen Fingernagel gegen die Fensterscheibe.

Der Frühling war in diesem Jahr zeitig, sogar allzu zeitig gekommen. Der Schnee war schon zum ersten April verschwunden, nur im Wald sah man hier und da noch Reste, um die Felsen herum sprossen Schneeglöckchen, weiße Anemonen und violetter Sternlattich aus dem Moos und dem alten Gras hervor, und die Blütenknospen an den Sträuchern waren schon aufgeplatzt. Die Drosseln hatten den Wald in Beschlag genommen. Ihre morgendliche Balz übertönte das ferne Kullern und Zischen des Birkhahns ebenso wie den üppigen Gesang der seltenen Nachtigallen als auch das einsame Rufen des Kuckucks.

Garin schritt zum Schreibtisch hinüber und drückte auf den Knopf einer altmodischen, noch aus der Sowjetzeit stammenden Sprechanlage.

»Ja bitte, Platon Iljitsch?«, erklang die Stimme der Krankenschwester, die zugleich die Sekretärin war.

»Mascha, Visite.«

»Wir warten auf Sie!«

Er durchquerte sein geräumiges Sprechzimmer und öffnete den Kleiderschrank, in dem sein dunkelbrauner Kaschmirmantel, sein grauer Anzug und sein weißer Kittel hingen. Er streifte den Kittel über, ging, während er ihn zuknöpfte, zum Spiegel und sang dabei halblaut vor sich hin: »Nein, nicht du bist es, die ich so glühend liebe!« Der Spiegel zeigte den Chefarzt des Sanatoriums Altai-Zedern, Platon Iljitsch Garin, in seiner imposanten Größe: ein hochgewachsener, beleibter Mann von zweiundfünfzig Jahren mit rasiertem Schädel, massigem Gesicht mit Hängebacken und üppigem, schon graumeliertem Bart. Den Schnurrbart hatte Doktor Garin, wie den Kopf auch, rasiert. Auf der großen, störrischen Nase funkelte ein goldener Kneifer, dessen Kette Garin mit seinen weißen, wie bayerische Kalbswürstchen so dicken Fingern ungeduldig am Knopf seines Kittels befestigte. Als er damit fertig war, inspizierte er sich mit verquollenen Augen, strich den Kittel glatt und fuhr mit den Händen in die tiefen Taschen, wo er in der einen nach dem Feuerzeug und in der anderen nach der Gebetskette aus Sandelholz tastete. Er schwankte auf seinen in hellbraunen, hohen Schuhen steckenden Titanfüßen, die unter dem Kittel im Sonnenlicht matt glänzten. In dem ihm anvertrauten Sanatorium trug Doktor Garin aus Prinzip keine langen Hosen und versteckte seine Titanfüße nicht. Auf erste delikate Fragen von Kollegen – warum? – antwortete er stets lakonisch:

»Ewige Erinnerung.«

Weitere Fragen gab es dann nicht.

Garin drehte sich abrupt um, trat an die Wand mit der Karte der Republik Altai, die mit bunten Stecknadeln gespickt war, und warf einen Blick auf das alte deutsche Barometer, das gutes Wetter anzeigte. Er nahm seinen blackjack vom Haken, einen kurzen, schwarzen Gummiknüppel, etwa so groß wie eine Bierflasche, mit einer Verdickung am einen Ende und einer Lederschlaufe am anderen. Er schob die linke Hand durch die Schlaufe und verließ das Sprechzimmer. Schwungvoll schritt er den Flur hinunter zur hellen Lobby und klopfte sich dabei mit dem Knüppel auf den Oberschenkel. Seine Titanfüße machten beim Gehen kein spezielles Geräusch.

Auf den beigefarbenen Sofas in der Lobby saßen zwei Ärzte, drei Krankenschwestern und zwei hochgewachsene Krankenpfleger. Sie alle standen sofort auf, als sie Garin kommen sahen.

»Guten Morgen, Herrschaften!«, begrüßte Garin sie schon von Weitem lautstark.

»Guten Morgen, Platon Iljitsch!«, erwiderten sie.

Garin trat näher und streckte den Ärzten die Hand hin, und sie ergriffen sie mit einer angedeuteten geschäftsmäßigen Verbeugung. Die Krankenschwestern knicksten, und die Krankenpfleger machten einen Bückling.

»Offenbar ist das Wetter uns noch immer gewogen«, bemerkte Garin mit seiner lauten, dröhnenden Stimme, in der jedoch etwas Erschrockenes durchklang, als sei ihm seine resolute Stimme selbst nicht ganz geheuer.

»Der Frühling ist seinem Zeitplan genau einen Monat voraus«, lächelte der ältere der beiden Ärzte, Andrei Sergejewitsch Stern, ein großer, gebeugter Mann, dürr wie eine Hopfenstange, mit melonenförmiger Glatze und länglichem, kamelähnlichem Gesicht mit vorgestülpter Unterlippe.

»Der Gelbstern blüht«, berichtete Doktor Pak, eine zierliche Frau mit quadratischer Brille und männlichem Kurzhaarschnitt. »Unglaublich!«

»Der holde Lenz bringt Freude«, lächelte Oberschwester Olga, eine mollige, freundliche Blondine. »Im Frühling ist es doch fröhlicher als im Winter, nicht wahr?«

»Fröhlicher!«, dröhnte Garin. »Vor allem für die Drosseln!«

»Auf jeden Fall lassen sie einen nicht schlafen.« Mascha, die Krankenschwester-cum-Sekretärin mit den schwarzen Brauen und den flinken Augen, schüttelte mit ihrer üblichen arroganten Miene den schönen Kopf. »Ich schlafe schon die vierte Nacht mit Ohrenstöpseln.«

»Eine Drosselplage!« Garin schlug sich auf den Titan-Schenkel. »Eine Invasion! Perforation des Kiefernwalds! Wer ist nicht zufrieden? Wer ist dagegen? Alle zufrieden!«

»Und der Frühjahrsschub?« Stern lächelte ihn gequält an und schob wie beschwörend seine Unterlippe vor. »Bei dreien hat es schon angefangen. Und zwar früher als sonst.«

»Angela? Justin?« Garin blitzte ihn durch seinen Kneifer an.

»Und Shinzo.«

»Shinzo? Das hätte ich nicht gedacht!«

»Ja, und dabei scheint er so aspontan.«

»Aspontaneität, lieber Doktor Stern, ist etwas anderes als eine Fliege im Bernstein!« Garin schlug laut auf sein Titanknie. »Ich nehme ihn nach dem Frühstück als Ersten dran! Also los, auf geht’s!«

Er steuerte auf die breite Treppe aus gelbrosafarbenem Altai-Marmor zu, stieg die Stufen hinauf und schlug dazu mit dem blackjack gegen das Geländer. Im ersten Stock befanden sich die Patientensuiten, von denen das Nobel-Sanatorium Altai-Zedern nur zweiunddreißig besaß. In diesem ungewöhnlichen Frühjahr gab es allerdings auch nur acht Patienten. Sie hatten das komplette Sanatorium so schnell und überraschend angemietet, mit einem solchen finanziellen Angebot und derartigem administrativem Druck seitens der staatlichen Behörden, dass dem Eigentümer nichts anderes übrig geblieben war, als Reputation und Renommee seiner berühmten Heilanstalt vorübergehend hintenanzustellen und die anderen Patienten mit einem Eklat nach Hause zu entlassen.

Die Luxus-Suiten, nur zwölf an der Zahl, befanden sich im rechten Flügel, den man durch einen mit Bildern der Altai-Impressionisten geschmückten Gang erreichte.

Einer der Pfleger klopfte an die Tür von Suite Nr. 1 und blieb, ebenso wie sein Kollege, draußen stehen. Die Übrigen traten ein. Es war eine geräumige, helle Zweizimmer-Suite mit großen Fenstern, bequemem Doppelbett, einem Wohnzimmer mit Ledersesseln, Video- und Musikanlage, Aquarium und Zimmerpflanzen, und mit eigenem Badezimmer, dessen Tür jetzt offen stand. Der Patient saß auf der Kloschüssel und putzte sich die Zähne.

»Good morning, Donald!« Garin warf einen Blick ins Bad.

Mit seiner vierfingrigen Hand zog der Patient die Zahnbürste aus seinem riesigen Mund, spuckte deftig auf den Boden und sagte in einem tiefen, dumpfen Falsett:

»Heavens to goddamn Betsy, it is a good morning!«

»Sleeping? Feeling? Appetite?« Garin wechselte in sein rudimentäres Englisch.

Der Patient schob die Zahnbürste wieder in den Mund und fuhr mit der Zahnreinigung fort.

»Complaints? Wishes?«

Der Patient ließ laut und lang gezogen Darmgase entweichen, riss ein Stück Toilettenpapier herunter, wischte sich ab, drückte seinen fingernagellosen Finger auf den Spülknopf, ließ sich auf den gefliesten Boden plumpsen, rutschte auf seinen fleischigen weißen Hinterbacken zu dem Stuhl gegenüber dem Waschbecken, hüpfte auf den Hinterbacken flink in die Höhe und setzte sich auf den Stuhl. Ohne Garin und sein Gefolge zu beachten, zog er die Zahnbürste aus dem Mund, nahm einen Schluck Wasser aus dem Zahnputzglas, spülte widerlich laut seinen riesigen Mund und spritzte einen trübweißen Strahl gegen den Spiegel. Er wartete, bis in dem trüben Glas sein Spiegelbild zu erkennen war, lächelte sich zu und sagte:

»Hi, Donald!«

Er zupfte ein Kleenex-Tuch aus einer Schachtel, fuhr sich damit durch das, was man als Gesicht bezeichnen könnte, knüllte sie zusammen, warf sie auf den Boden, nahm eine Deoflasche und besprühte sich damit großzügig das, was man als Körper bezeichnen könnte. Der Patient namens Donald war ein großer weißer, stellenweise mit winzigen rötlichen Sommersprossen gesprenkelter Hintern. Am oberen Teil dieses Hinterns saßen ein riesiger Mund mit wulstigen Lippen, eine Art flache Nase mit Nasenlöchern und weit auseinanderstehende, durchaus schöne Augen, etwa fünfmal so groß wie normale menschliche Augen. Aus den runden Seiten des Hinterns reckten sich zwei dünne, biegsame Arme mit vierfingrigen Händen. Die Vorderseite des Patienten war unten an der Stelle des Geschlechtsorgans glatt und leer.

Die sieben anderen exklusiven Patienten des Sanatoriums waren physiologisch genau gleich gebaut. Ihre Hinterteile unterschieden sich lediglich in Form und Farbton der Haut, die Augen in Länge und Farbe der Wimpern und in der Farbe der Hornhaut. Donald hatte blonde Wimpern und hellblaue Augen. Nachdem er sich ausgiebig besprüht hatte, wandte er sich an Garin:

»See you later, doc! Karasho?«

»Gut!«, nickte Garin und verließ mit seinem Gefolge die Suite.

»Stabil!«, sagte er im Gehen, und Mascha machte einen grünen Vermerk auf einem durchsichtigen Tablet.

»Der Bourbone ist nicht in seinem Zimmer«, meldete einer der Pfleger.

»Good!« Garin schlug sich aufs Knie.

Der Pfleger klopfte an die Tür von Suite Nr. 2 und öffnete sie gleich darauf. Die Zimmer im Sanatorium hatten keine Schlösser. Garin trat ein:

»Buongiorno, Silvio!«

Der Patient, ein Mann mit gebräunter, gepflegter Haut, lag im Bett unter einer Decke, rauchte und betrachtete ein Hologramm mit nackten Mädchen, die unter einem Wasserfall herumschwammen. Als er den Arzt sah, löschte er das Hologramm, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, schlug die Decke zur Seite, sprang hinunter auf den Boden, lief auf seinen Hinterbacken hastig zu Garin und hüpfte ihm an die Brust:

»Buongiorno, signor dottore!«

Garin, der Silvios Eigenheiten schon kannte, fing ihn gewohnheitsmäßig auf. Silvio küsste Garin schmatzend auf den Bart, setzte ein strahlendes Lächeln auf und antwortete auf die Frage, die Garin noch gar nicht gestellt hatte:

»Fine, fine. I’m always fine!«

Sein Englisch war auch nicht besser als das des Chefarztes.

»Sleeping? Feeling? Appetite?«

»Eccelente!«

»Complaints? Wishes?« Garin spürte Silvios warme, raue, stellenweise schlaffe Hinterbacken.

»No complaints! Only wishes! But you know everything about my wishes, signor dottore!« Silvio kicherte in Garins Bart.

»O ja, allerdings!« Garin lachte und setzte den Patienten sanft auf dem Boden ab, wobei er sich über ihn beugte wie Zebaoth. »Wenn der Patient Wünsche hat, ist das ausgezeichnet! Das heißt, alles läuft gut. Ich bitte Sie nur, mein Lieber, denken Sie an Ihren Reflux. Keinen Weißwein am Abend! Kein Dessert am Abend! Kein fettiges Essen am Abend!«

»Der Reflux! Ich wünschte, ich könnte den vergessen! Und ob ich daran denke, verdammt noch mal! Darum genehmige ich mir abends nur ein Glas Rotwein, mehr nicht, mehr nicht, signor dottore! Das Dessert hier lässt mich sowieso kalt. Welche Süßspeise ist schon mit den cannoli meiner verstorbenen Mutter vergleichbar? Wer in aller Welt kann heute noch solche cannoli machen? Niemand! Seit dem Tod meiner Mama hat sich die Welt zum Schlechteren verändert, das wissen Sie besser als ich, mein Lieber!«

»Aber wir müssen weitermachen, Silvio.«

»Rotzfrech und optimistisch!«, lachte der und hüpfte auf das Bett. »Was bleibt uns anderes übrig? Genehmigen wir uns heute ein Gläschen zum Lunch?«

»Ein halbes Gläschen.«

»D’accordo!«

»Haben Sie wirklich gut geschlafen?«

»Ausgezeichnet!«

»Das freut uns für Sie.«

»Doc, Sie, Ihre Assistenten, die Schwestern – Sie sind allesamt wunderbar!« Silvio warf Garins Gefolge eine Kusshand zu. »Mir gefällt es hier immer besser!«

»Das freut uns sehr.« Pak lächelte ihm zu.

»Unser Sanatorium ist einmalig.« Stern stülpte die Lippen.

»Bravo!«

»Einen schönen Tag!« Garin wandte sich zum Ausgang, aber Silvio packte ihn am Saum seines Kittels.

»Signor dottore, please, der blackjack!«

Er drehte Garin seinen Hintern zu.

Garin zielte mit dem blackjack auf Silvios linke Hinterbacke. Bläulichweiße elektrische Blitze bohrten sich knisternd in die Gesäßhälfte.

»O Dio!!«, schrie Silvio.

Garin richtete den blackjack auf die rechte Hinterbacke und verpasste Silvio eine zweite Ladung.

»Porca Madonna!«, brüllte Silvio durch den Raum.

»Wohl bekomm’s!«, sagte der Chefarzt auf Russisch und hörte auf.

Silvio ließ sich aufs Bett fallen, drehte sich um und streckte seine Hände aus – die Daumen hochgereckt, die übrigen drei Finger zur Faust geballt. Keuchend setzte er sich auf:

»Das ist … ganz groß. Ganz groß! Besser als alle Medikamente der Welt! Signor Garin, Sie sind ein Genie! Nichts kann einem morgens so den Kopf durchpusten wie Ihr blackjack!«

»Besten Dank!« Garin verbeugte sich und verließ die Suite.

»Stabil!«, bemerkte er knapp zu Mascha.

Der Patient von Suite Nr. 3 lag im Bett und hatte die Decke bis zu den Augen hochgezogen, schlief aber nicht. Beim Eintritt der Ärzte zeigte er keine Reaktion. Auch Garins Gutenmorgengruß erwiderte er nicht. Der Chefarzt setzte sich zu ihm aufs Bett, zog die Decke zurück und legte dem Patienten die Hand auf die Stirn.

»Kein Fieber, mir geht’s gut«, sagte der Patient und sah an Garin vorbei.

»What’s happened, dear Justin?«

Garin ergriff die schmale Hand des Patienten und fühlte ihm den Puls.

»Bestimmt ist auch der Puls normal.«

»Etwas langsam. Was beunruhigt Sie?«

»Die Träume. Die Träume …«

»Schon wieder?«

»Ja.«

»Ich sehe Sie nach dem Frühstück. Wir besprechen das. Und entscheiden dann.«

»Ich kann auch jetzt darüber sprechen.« Justin warf seine biegsamen Arme auf das Kissen. »Es ist kein Geheimnis. Es geht um die Schlammbäder.«

»Der Altai-Heilschlamm hat eine große Kraft.« Garin nahm den Kneifer ab und blickte in die schönen braunen Augen des Patienten.

»Ja eben. Genau das habe ich ihnen auch gesagt.«

»Wem?«

»Den Parlamentariern. Ich habe eine neue Initiative lanciert: eine obligatorische Heilschlammbehandlung für die gesamte Bevölkerung des Landes. Offen gestanden, das war eine meiner überzeugendsten Reden. Ich habe eine Rede gehalten … So habe ich schon lange nicht mehr gesprochen … Mit solchem Enthusiasmus, so gut, so stark, so ausführlich, so fesselnd. Und meine Argumente! Ich sprach über die Gesundheit der Nation, über die neuen Perspektiven, die sich jedem Bürger nach einer Heilschlammbehandlung eröffnen werden. Über alte Menschen, die ein neues Leben erhalten, über die Jugend, die die gesündeste der Welt sein wird. Über die Frauen, die nur gesunde Kinder zur Welt bringen werden. Über den anschließenden Aufschwung der Industrie, den wirtschaftlichen Ruck, das Aufblühen des Landes, die fantastischen neuen Perspektiven, über den allgemeinen Wohlstand und das Glück. Das Parlament hat mit angehaltenem Atem zugehört. Ich habe immer ein sehr gutes Gespür für das Publikum, vor dem ich auftrete. Sie hörten mir zu wie gebannt. Das war … herrlich. Ich beendete meine Rede mit den Worten: Uns alle erwartet das Glück! Aber statt stürmischem Applaus … stattdessen …« Justins Stimme zitterte. »Anstelle … von dem … was ich erwartet hatte …«

»Regen Sie sich nicht auf, mein Lieber.« Garin strich ihm über die Hand.

»Anstatt zu applaudieren … fingen sie lauthals an zu lachen. Sie … sie … haben mich verspottet.«

Der Patient begann zu schluchzen. Aus seinen großen Augen strömten Tränen.

Garin streichelte ihn. Das Gefolge stand schweigend dabei.

Als er sich ausgeweint hatte, zog Justin schniefend die Nase hoch, woraufhin Garin ihm sogleich eine Papierserviette auflegte. Der Patient schneuzte sich und seufzte schwer:

»Dann stand der Vorsitzende der Grünen auf und sagte: Meine Damen und Herren, Sie konnten sich soeben überzeugen, wie weit unsere Regierung sich vom Volk entfernt hat. Und alle applaudierten ihm. Ihm, diesem geistlosen Populisten, und nicht mir! Dann sagte ich: Ich verstehe Sie nicht. So, Sie verstehen uns nicht? Dann reiben Sie sich mal die Augen, Herr Premierminister, und kommen Sie herunter auf diesen Boden hier! Das gesamte Parlament begann im Takt zu klatschen: Mach schon! Mach schon! Mach schon! Ohne etwas zu begreifen, stieg ich von der Tribüne auf den Boden. Und dann … da, Herr Doktor …«

Seine Stimme fing wieder an zu zittern.

»Nicht aufregen, nicht aufregen …« Garin strich ihm über die runde Stirn.

»Und da … sah ich, dass anstelle des Bodens überall Schlamm war, Schlamm … zäher, schwarzer Schlamm! Und die Leute riefen: Wir stecken schon lange im Schlamm! Ich rannte davon … weg aus dem Parlament … und ringsum, überall war alles voller Schlamm, überall Schlamm! Ich fiel hin, stürzte in den Schla-a-amm! Ich begann einzusinken!!«

Der Patient wurde erneut von Schluchzen geschüttelt.

»Doktor Pak«, Garin wandte sich um. »Ihr Spezialcocktail! Dreimal täglich. Und die Schlammbäder vorläufig einstellen.«

»Unbedingt«, nickte sie. »Besser Radonbäder.«

»Ja!«

»Überall, überall Schlamm … auf Schritt und Tritt … kein fester Boden … nirgends kann man stehen … sich nirgendwo abstützen … kein Fundame-e-e-ent! Nur Schla-a-amm!«, heulte der Patient.

Pak drehte sich zur Krankenschwester um:

»Die Vier. Die Standarddosis. Nach dem Frühstück. Und dann nach Plan.«

»Gut«, nickte die Schwester.

Als der Patient sich beruhigt hatte, zog Garin ihm die Decke weg:

»Mein Lieber, drehen Sie sich auf den Bauch.«

Schluchzend und schniefend gehorchte der Patient. Garin richtete den blackjack auf die eine Hinterbacke. Blaue Blitze knisterten.

»O, my go-o-o-o-od!!«, heulte der Patient in sein Kissen.

Garin ließ Blitze auf die andere Hinterbacke los. Der Patient heulte wieder auf.

Der Chefarzt breitete die Decke über ihn, erhob sich und ging zur Tür.

»Instabil«, bemerkte er knapp zu Mascha.

Sie machte einen roten Vermerk.

»Der Klassiker!«, brummte Garin im Flur. »Das Cotard-Syndrom in Reinform!«

»Hypochondrische Gigantomanie«, nickte Pak zustimmend und rückte ihre Brille zurecht. »Ansätze gab es schon bei der Einlieferung, und jetzt ist sie voll ausgeprägt. Aber noch ist es kein Schub.«

»Ihr Cocktail wird ihn wieder normalisieren.«

»Ihr blackjack vollbringt wahre Wunder.«

»In diesem Zeichen wirst du siegen!«

Kaum betrat Garin die Schwelle zu Patientensuite Nr. 4, als auch schon ein Buch auf ihn zugeflogen kam. Er schlug es mit seinem wundertätigen Knüppel zu Boden wie einen aufgeregt flatternden Vogel, hob es auf und las den Titel:

Pelham Grenville Wodehouse

LOVE AMONG THE CHICKENS

Der Patient, der das Buch nach Garin geworfen hatte, verzog sich ins Bad.

»Haben Sie etwas gegen Wodehouse, alter Knabe?«, fragte Garin, drückte das Buch dem Pfleger in die Hand und betrat die Suite.

»Unreadable!«, erklang es aus dem Bad.

»Ich habe es ihm empfohlen«, sagte Stern. »Ein leichtes, heiteres Buch.«

Auch die Badezimmer ließen sich nicht abschließen, und Garin öffnete die Tür einen Spaltbreit. Der hellhäutige Patient mit den ungewöhnlich langen, rötlichen Wimpern ließ sich lautstark in die gefüllte Wanne plumpsen und setzte dabei den Fußboden unter Wasser. Plötzlich aber sprang er wieder heraus und stürmte mit platschenden Hinterbacken so schnell aus dem Bad, dass Garin kaum die Beine spreizen konnte, um ihn durchzulassen. Der Patient schlüpfte unter den Beinen des Chefarztes hindurch, rutschte auf feuchten Hinterbacken zum Couchtisch, schnappte eine Zigarre aus der offenen Schachtel, schob sie sich zwischen die Lippen, zündete sie an und flitzte sofort wieder zurück ins Bad. Garin ließ ihn wieder zwischen seinen Beinen hindurchstieben. In der Suite herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander: Es gab nichts, was nicht von seinem Platz gerückt worden war, Kissen und Decke lagen auf dem Boden verteilt. Der Patient lief zur Wanne und steckte einen Finger ins Wasser:

»Nein, nein … jetzt nicht …«

Er fuhr abrupt herum, rutschte aus dem Bad heraus und schlitterte hektisch im Zimmer umher:

»Wo ist denn … wo ist es, zum Teufel?«

»What are you looking for, dear Boris?«, fragte Garin.

»Wo ist mein Buch, wo ist es? Warum, mit welchem Recht nimmt man mir meine Bücher weg, meine Phallusse, meine Pistolen, meine Rapiere, meine Dinosaurier, meine Frauen?!«, fragte der Patient in seinem schnellen britischen Englisch, dem Garin nur mit Mühe folgen konnte.

»Hier ist Ihr Buch.« Stern nahm dem Pfleger das Buch ab und reichte es Boris. »Es hat Ihnen doch gefallen?«

Der Patient drückte das Buch fest an seinen Bauch.

»Mein Lieblingsbuch! Unvergleichlich! Das beste, klügste Buch der Welt nach dem Judasevangelium!«

»Wie fühlen Sie sich?« Garin blickte auf den Patienten hinunter. »Schlaf? Appetit?«

Der Patient schloss seine langen Wimpern und begann auf der Stelle zu wippen.

»E-kel-haft!«

»Warum genau? Schlafen Sie schlecht?«

»Wunderbar! Hervorragend!«

»Schlechter Appetit?«

»Aus-ge-zeich-net!«

»Ängste? Sorgen?«

Der Patient öffnete die Augen und streifte die Anwesenden mit einem verzweifelten, verständnislosen Blick, als sehe er sie alle zum ersten Mal:

»Wo ist er?«

»Wer?« Garin richtete seinen Kneifer auf ihn.

»Mein Lieblingsphallus?«

»Die Schachtel steht hinter Ihnen«, verriet Pak.

Er warf die Zigarre auf den Teppich, lief zu einer bordeauxroten Schachtel und öffnete sie. Darin lagen drei Dildos.

»Where’s Big Ben?«, quengelte er.

»Keine Sorge, er ist hier irgendwo.« Doktor Pak lief durch das Zimmer und musterte das Durcheinander.

»Where’s my Big Ben?«, schrie Boris noch lauter.

Seine geschwollenen, störrischen Lippen verzogen sich, und die beiden großen Vorderzähne kamen zum Vorschein.

»Keine Sorge, wir haben ihn gleich …« Pak und die beiden Krankenschwestern begannen zu suchen.

»Where’s my Big Be-e-e-e-n?!!« Der Patient brach in Tränen aus, kippte hintenüber, glitschte mit den Hinterbacken über den Boden und drehte sich auf der Stelle.

»Da ist er ja, da!« Die eine Krankenschwester hatte den großen Dildo mit dem quadratischen Kopfstück gefunden und reichte ihn Pak.

Pak beugte sich über den schluchzenden Patienten und legte ihm das Fundstück auf den Bauch:

»Hier ist er, beruhigen Sie sich.«

Der Patient schnappte sofort nach dem Dildo, hörte auf zu weinen, setzte sich auf, klimperte mit den feuchten, rötlichen Wimpern und sprudelte beleidigt und wütend heraus:

»Welches verfassungsmäßige Recht haben Sie, mein Eigentum zu beschlagnahmen? Wer hat Ihnen gestattet, das Gesetz zu brechen, willkürlich zu entscheiden, das Recht des Menschen auf ein Privatleben mit Füßen zu treten, die Privatsphäre zu verletzen, auf die großen europäischen Traditionen zu pfeifen und mit einem Schlag all das zu zerstören, was unsere Vorväter mit so viel Mühe über fünf Jahrhunderte hinweg errichtet und aufgebaut haben und was Grundlage und Fundament für die erfolgreiche Entwicklung des zivilisierten Europas bildet?«

Garin blickte auf der Suche nach linguistischer Unterstützung zu Pak hinüber. Doktor Pak, die ihren PhD in Cambridge gemacht hatte, kam ihm umgehend zu Hilfe und begann in ihrem ausgezeichneten Englisch:

»Wir werden unverzüglich anordnen, jeden zu verhaften und strafrechtlich zu verfolgen, der es wagt, sich an Ihrem Eigentum zu vergreifen!«, erklärte sie und baute sich streng über dem Patienten auf.

Er erstarrte und klimperte mit den Wimpern.

»Wirklich?«

»Ich schwöre es!«, antwortete sie mit eisiger Stimme.

Boris schleuderte den Dildo weg, sprang auf, umarmte ihre Knie und schmiegte sich an sie:

»Ich habe stets an die Altai-Ärzte geglaubt!«

»Recht so!«, brummte Garin. »Wir werden uns um Sie kümmern. Aber jetzt, mein Lieber, wenn Sie gestatten …«

Er richtete den blackjack auf Boris’ runde, stramme Hinterbacken und gab zwei traditionelle Ladungen ab. Der Patient hielt still und umklammerte schweigend Paks Knie.

Garin ließ den blackjack sinken.

Boris kratzte sich am Gesäß, nahm Anlauf und hüpfte auf das Ledersofa. Er blieb einen Augenblick sitzen, klimperte mit den Wimpern, murmelte etwas Unartikuliertes vor sich hin, lehnte sich dann zurück und brach in lautes Gelächter aus:

»Das ist totaler Blödsinn!«

»Wie bitte?«, fragte Garin.

»Es ist Blödsinn, dass das Nachkriegs-Europa sich unbedingt zu den Vereinigten Staaten von Europa zusammenschließen will!«

»Meinen Sie?«, fragte Stern.

»Ich habe schon Emmanuel ins Gesicht gespuckt. Der alten Angela würde ich auch ins Gesicht spucken, wenn sie einen Mucks macht. Soll sie es nur versuchen, die alte Provokateurin!«

»Was macht der Appetit?«, fragte Garin.

»Wo ist denn mein Dinosaurier?!«, schrie Boris plötzlich, sprang vom Sofa herunter, rannte ins Schlafzimmer und hantierte darin herum.

Die beiden Krankenschwestern folgten ihm, um ihm bei der Suche zu helfen. Boris fegte durch das zugemüllte Schlafzimmer und schlappte auf den Hinterbacken über den Boden. Ein Plastik-Hermaphrodit mit weiblichem Gesicht, großen Brüsten und einem abstehenden, durchsichtigen Phallus lag im Schlafmodus rücklings auf dem Bett. Über dem Bett hing ein großes Gemälde in einem massiven, vergoldeten Rahmen – Lucian Freuds Schlafender Fleischer. Boris’ Lieblingsbild, das ihn auf all seinen Reisen begleitete.

»Wo ist er? Wer hat das erlaubt?« Boris rutschte auf seinen Hinterbacken herum. Als er nichts fand, wälzte er sich zum Heizkörper, schlug laut auf ihn ein und schrie:

»Wer hat den Dinosaurier konfiszieren lassen? Wer hat das Beschlagnahmeprotokoll unterzeichnet?«

»Niemand, niemand.« Pak versuchte hektisch, ihn zu beruhigen. »Er wird sich schon anfinden, keine Sorge.«

»Er ist weg! Er ist für immer verlo-o-o-oren!«, jammerte der Patient, und Tränen schossen durch seine langen, rötlichen Wimpern.

Pak machte einen Schritt auf ihn zu, aber Garin legte ihr warnend seine schwere Hand auf die Schulter.

»Remission«, sagte er auf Russisch.

Boris schluchzte kurz auf. Schniefend rutschte er plötzlich über den Boden und kroch halb unter das Bett, wobei er sein von der Elektrotherapie gerötetes Hinterteil außen vor ließ. Das Bett bebte. Der Hermaphrodit öffnete die Augen, setzte sich im Bett auf und sah sich um.

»Da haben wir dich ja!«, erklang es dumpf unter dem Bett hervor.

Boris kam ächzend und mit einer schwarzen Kugel in der Hand wieder hervorgekrochen, setzte sich auf den Boden und fing an zu lachen.

»Der Dinosaurier wollte ins Mesozoikum abhauen!«

Er versetzte der Kugel einen Klaps. Die Kugel leuchtete auf, und darin erschien ein silbern schimmernder Tyrannosaurus, der zu tänzeln und mit heiserer Bassstimme zu singen begann:

I’m worse at what I do best

And for this gift I feel blessed

Our little group has always been

And always will until the end

Hello, hello, hello how low …

Boris versetzte der Kugel einen lauten Schmatz, presste sie gegen seinen Bauch, sprang auf, flitzte auf seinen geröteten Hinterbacken zwischen den hastig zurückweichenden Medizinern hindurch ins Bad, hüpfte hoch und ließ sich in die Badewanne plumpsen, wobei er wieder alles ringsum unter Wasser setzte.

»Rekursiv stabil«, sagte Garin mit einem Lächeln zu Mascha und ging zur Tür.

»Kommen Sie nicht zu spät zum Frühstück«, mahnte Pak mit einem Blick ins Bad.

»Und die Zigarre?«, rief Boris. »Wo ist meine Zigarre?«

»In den Zimmern ist rauchen verboten.«

»Wo ist meine Zigarre?! Wer wagt es, mir meine Zigarre wegzunehmen?! Schalina!«, brüllte Boris, fing prompt wieder an zu weinen und schlug mit der singenden Kugel auf das Wasser.

»Schalina erwartet ihren Herrn«, erwiderte der Hermaphrodit mit Männerstimme.

»Doktor Stern, geben Sie ihm eine Zigarre«, befahl Garin im Hinausgehen.

Stern nahm eine Zigarre aus der Schachtel, schnitt sie an und gab sie Boris zusammen mit einem Feuerzeug, woraufhin der sofort aufhörte zu schluchzen, die Kugel losließ und laut schmatzend die Zigarre anrauchte.

»Hello, hello, hello, how low …«, sang der Tyrannosaurus unter Wasser.

In der Suite Nr. 5 wohnte die Patientin namens Angela. Kaum hatte der Pfleger an die Tür geklopft und sie geöffnet, stand Angela auch schon im Vorraum, die bleichen, biegsamen Hände unterhalb ihres bleichen Bauchs verschränkt.

»Guten Tag, gnädige Frau!«, murmelte Garin in seinem passablen, noch aus dem Gymnasium stammenden Deutsch.

»Guten Tag, Herr Doktor Garin!«, sagte sie mit gleichmäßiger, gelassener Stimme und einem Lächeln auf den immer müden, dick geschminkten Lippen.

»Haben Sie gut geschlafen?«

»Nicht so sehr.«

Sie wandte ihm ihr bleiches, aufgedunsenes Gesäß zu und rutschte auf den Hinterbacken ins Zimmer. Garin und sein Tross folgten ihr.

»Bitte!« Angela deutete mit der Hand in Richtung Sofa.

»Danke sehr!« Garin schob den blackjack in die Kitteltasche, blieb stehen und rieb sich mit typischer Ärztegeste die Hände. »Klagen? Sorgen? Ängste?«

»Sorgen, Ängste …«, wiederholte sie mit schmallippigem Lächeln, nachdem sie hochgesprungen war und sich auf dem Sessel niedergelassen hatte, »… alles noch da. Es geht einfach nicht weg.«

»Die bellenden Menschen?«

»Ja.«

»Sie sind wieder da?«

»Sie waren nie weg.«

»Sie hatten sich bloß versteckt, unter den normalen Menschen, die nicht bellen?«

»Genau.«

»Alles klar.« Garin klopfte sich verständnisvoll aufs Knie. »Dann sehe ich Sie nach dem Frühstück. Mascha wird Ihnen Bescheid geben.«

»Gut.«

»Wünsche?«

»Heute Nacht hat irgendjemand laut Musik gehört.«

»Ach ja?« Garin setzte den Kneifer ab und drehte sich zu den Ärzten um. »Das ist neu.«

»Ich hab im Halbschlaf vage so etwas mitbekommen«, sagte Stern.

»Aus welchem Zimmer kam die Musik?«

»Weiß ich nicht.« Angela nahm eine Mandarine vom Obstteller und begann sie zu schälen.

»Was für Musik? Klassisch? Jazz? Rock? Folk?« Stern stülpte fragend seine Lippen in Angelas Richtung vor.

»Russische Musik, glaube ich. Popmusik. Lieder.«

»Ich kann mir denken, wer das war«, lächelte Pak. »Das kriegen wir hin, Angela, keine Sorge.«

»Das will ich hoffen. Schlaf ist das Beste in meinem Leben. Vielmehr …«, sie lachte, »… das Beste, was von meinem Leben noch übrig ist!«

»Das stimmt doch nicht!«, brummte Garin. »Sie haben eine wunderbare Zukunft vor sich! Wenn Sie aus unserer Heilanstalt zurückkehren, wird die Welt für Sie in neuen Farben erstrahlen!«

»Das würde ich gerne glauben.«

»Sind Sie mit der Analbehandlung zufrieden?«, fragte Pak.

»Vollkommen.« Angela hielt ihr die halbe Mandarine hin.

»Danke, nein«, sagte Pak.

»Ölabreibungen? Fichtennadelbäder?« Garin sah sich zufrieden in Angelas sauberem, aufgeräumtem Zimmer um.

»Alles vortrefflich.«

»Ein wenig heilende Elektrizität?« Garin zeigte ihr den blackjack.

»O, sehr gerne!« Sie rutschte vom Sessel herunter, watschelte ins Schlafzimmer, hüpfte aufs Bett und legte sich auf den Bauch.

Garin verabreichte ihr eine Ladung auf die linke Hinterbacke. Sie schrie ins Bett. Garin verpasste ihr ein paar Blitze auf die rechte Hinterbacke. Wieder ein Schrei.

Sie lag eine Weile reglos da und rollte sich dann auf den Rücken. Ihre geschminkten, nicht mehr jungen Lippen öffneten sich matt:

»Es war wunderbar … danke …«

»Aber bitte!« Garin schmunzelte zufrieden.

»Wir erwarten Sie zum Frühstück«, lächelte Pak.

»Und nach dem Frühstück zu mir!« Garin wandte sich energisch zur Tür. »Mit den bellenden Menschen werde ich schon fertig!«

»Sie sind sehr freundlich …«, lächelte Angela mit einem Blick an die Zimmerdecke über dem Bett.

Die Tür zur Suite Nr. 6 öffnete sich von allein. Der Patient, ein Mann mit lebhaften, flinken Augen stand auf der Schwelle und lächelte freundlich.

»Bonjour, Mesdames et Messieurs!«, sagte er rasch mit seiner angenehmen Stimme, ehe Garin etwas sagen konnte.

»Bonjour, Emmanuel!«, erwiderte Garin feierlich und hielt den blackjack hoch wie einen Marschallstab.

»Es ist mir jeden Morgen eine Freude, Sie alle zu sehen«, begann der Patient in ausgezeichnetem Englisch und bat alle mit einer Handbewegung herein. »Glauben Sie mir, nach den nächtlichen Albträumen, den morgendlichen depressiven Gedanken, den schmerzlichen Erinnerungen und allerlei anderen unangenehmen Dingen sehe ich Sie – klug, munter, herzensgut, bewandert in Ihrem vornehmen Tun, und alles löst sich gewissermaßen in Luft auf!«

»Auch uns ist es eine große Freude, Sie gesund und munter zu sehen«, sagte Pak mit zurückhaltendem Lächeln.

»Sie sehen wundervoll aus«, bemerkte Stern nicht ohne Vorsicht.

»Nur kein Neid!«, brummte Garin. »Man sieht sofort, wer letzte Nacht gut geschlafen hat!«

»O, ich habe ausgezeichnet geschlafen!« Emmanuel machte eine einladende Handbewegung. »Setzen Sie sich. Hier schläft man hervorragend.«

»Danke sehr.« Garin blieb stehen. »Haben Sie nachts die Musik gehört?«

»Musik? Nachts? Nein. Musik gibt es bei mir tagsüber!«

Der Patient ging zu dem elektrischen Klavier, das an seine Körpergröße angepasst war, setzte sich auf den Hocker, der an einen Fahrradsattel erinnerte, und begann aus dem Stegreif, Chopins Nocturne zu spielen.

»Vortrefflich!« Garin klopfte sich mit dem blackjack auf seine breite linke Hand.

»Es gibt zwei Dinge, die ich zum Leben unbedingt brauche.« Emmanuel unterbrach sein Spiel. »Die Musik und die Liebe.«

»Und die Politik?« Garin zog die Augenbrauen hoch.

»Die ist per definitionem schon da. Wie die Sonne oder der Mond.«

»Ob man will oder nicht?«

»Genau!«

»Sehr gut! Wünsche? Sorgen? Unruhe?«

»Alles bestens, alles im Überfluss vorhanden, nichts, was Sorgen macht.«

»Vakuummassage, Ölabreibungen?«

»Bekomme ich weiterhin mit Erfolg.«

»Medikamente?«

»Die gleichen wie immer, das wissen Sie doch, Monsieur Doktor.«

»Vergessen Sie den Schlamm nicht. Er hat eine große therapeutische Kraft.«

»Oh, der Schlamm«, sagte er auf Russisch, schloss halb die Augen und rang die biegsamen Hände. »Was wären wir ohne ihn? Oh, là, là! Er ist wunderbar, wunderbar! Dank ihm bin ich ins Leben zurückgekehrt. Jetzt bin ich Ihrem Altai-Schlamm verfallen. Wir sind wie Mann und Frau. Hochzeit im Altai! Flitterwochen im Schlamm. Wir geben uns einander hin. Das Problem ist: Was mache ich, wenn ich zurück in Paris bin? Das kann ich mir gar nicht vorstellen! Was mache ich dann – ihn containerweise importieren?«

»In Europa gibt es auch Schlammbadeanstalten«, bemerkte Pak.

»Was haben Sie gesagt?« Er erstarrte.

»Ich sage, in Europa gibt es ausgezeichnete Schlammbadeanstalten«, fuhr Pak vorsichtig fort und wechselte einen Blick mit Garin. »Karlsbad, Piešťany, Hévíz, Abano Terme.«

Der Patient starrte Pak eindringlich an und krächzte plötzlich mit dumpfer, unheilschwangerer Stimme:

»Connasse de merde!«

Er stieß sich vom Sitz ab, sprang auf Paks Bein, schlang seine Arme wie Tentakel darum und biss zu. Aber Garin war auf der Hut: In weniger als drei Sekunden sprühte der blackjack anstatt eines therapeutischen blauen Blitzes gelbgrüne Funken auf das Hinterteil des Patienten. Der fiel schreiend hintenüber und wälzte sich keuchend auf dem Teppich.

»Pfleger!«, rief Garin laut, aber gelassen.

Die beiden kamen hereingerannt, packten den Patienten und drückten ihn zu Boden. Er keuchte und stieß französische Flüche aus, die Augen verdreht und Schaum vor dem Mund. Eine der Krankenschwestern riss ein Etui aus der Tasche, nahm eine Spritze heraus und beugte sich über den Patienten.

»Des Dichters Seele konnt’ es nicht ertragen …«, seufzte Garin. »Und aus irgendeinem Grund immer morgens.«

»Raptus plus Kandinsky-Clérambault-Syndrom.« Pak rückte ihre verrutschte Brille zurecht.

»Hat er schlimm zugebissen?«

»Nein – und vielen Dank noch. Ich bin immer wieder erstaunt über Ihre Reaktionsschnelligkeit.«

»Gelernt ist gelernt«, grinste Garin. »Er stürzt sich schließlich immer auf die Frauen. Und immer auf die Beine. Aber nicht etwa auf meine! Ich hätte ihn nicht verscheucht. Das Titan hätte ihn schon wieder in die Realität zurückgeholt.«

Alle lachten. Die Schwester setzte dem Patienten unterdessen die Spritze.

»Doktor, Sie kennen doch seine Anamnese.« Pak blickte auf den knurrenden Mund des Patienten.

»Die sträflich unerreichbaren Knie einer arroganten Geometrielehrerin.«

»Ja, ja«, seufzte Garin. »Die Geometrie ist eine große Wissenschaft.«

»Ein allzu eifriger Schüler …«

»Ein Frauenknie kann nicht nur Männer in den Wahnsinn treiben …«, sagte Mascha nachdenklich.

»Ich bin bereit, das Nass aus Ihrer Kniescheibe zu trinken«, zitierte Stern.

»Gehen wir weiter, Herrschaften!«, kommandierte Garin. »Bringen Sie den Patienten ins Bett. Marina, kümmern Sie sich um ihn.«

»Gut, Doktor«, nickte die Krankenschwester.

Der Patient in der Suite Nr. 7 saß auf dem Hometrainer und schwang seine Hinterbacken.

»Guten Morgen, Wladimir!«, begrüßte Garin ihn.

»Ich war’s nicht«, brummte Wladimir, ohne aufzuhören.

»Wie haben Sie geruht?«

»Ich war’s nicht.«

»Klagen.«

»Ich war’s nicht.«

»Unannehmlichkeiten?«

»Ich war’s nicht.«

»Wünsche?«

»Ich war’s nicht.«

Garin, der die Standardantwort des Patienten schon kannte, spazierte durch den Salon der Krankensuite. Alles war ordentlich aufgeräumt, alles an seinem Platz. Garin warf einen Blick auf die Video- und Stereoanlage.

»Haben Sie heute Nacht Musik gehört?«

»Ich war’s nicht.« Der Patient trainierte weiter.

Pak nahm die Fernbedienung und drückte ein paar Tasten. Ein Hologramm erschien: Johnny Uranoff, gekleidet in der Mode der 50er-Jahre, sang seinen berühmten Hit: Ich kann nicht leben ohne dich!

»Das haben Sie heute Nacht um 3:16 Uhr gehört.«

»Ich war’s nicht.«

Pak hatte noch ein paar andere Lieder von Johnny herausgesucht: Küss mich nicht, Mein alter Freund, Lasst uns Wodka trinken, – Freunde!

»Das haben Sie auch heute Nacht gehört.«

»Ich war’s nicht.«

»Lieber Wladimir«, Garin wippte auf seinen Titanfüßen, »unsere Patienten, von denen einige auch Ihre Freunde sind, beklagen sich über die laute Musik in der Nacht.«

»Ich war’s nicht.«

»Wir möchten Sie bitten, nur tagsüber Musik zu hören, und zwar vorzugsweise nicht nach dem Lunch, wenn alle Mittagsruhe halten.«

»Ich war’s nicht.« Wladimir sprang vom Hometrainer, rubbelte sich mit einem Handtuch ab und streckte Garin seine Hinterbacken entgegen.

Platon Iljitsch verpasste ihnen je einen blauen Blitz.

Der Patient nahm die Behandlung lautlos hin.

»Und ich möchte Sie noch mal eindringlich bitten, nicht mit Steinen nach meiner Katze zu werfen.« Stern stülpte die Lippen vor.

»Ich war’s nicht.« Wladimir zog die Nase hoch und zuckelte mit dem Handtuch in der Hand auf seinen Hinterbacken ins Bad.

»Stabil!«, bemerkte Garin an Mascha gewandt knapp und ging in Richtung Ausgang.

»Wir erwarten Sie beim Frühstück!«, rief Pak.

»Ich war’s nicht!«, drang es aus dem Bad, und die Dusche begann zu rauschen.

»Wirft er denn immer noch mit Steinen nach Echnaton?«, erkundigte Garin sich im Hinausgehen bei Stern.

»Ja«, nickte der, »Gott sei Dank bisher ohne schlimme Folgen.«

»Tja …« Garin klopfte sich auf den Oberschenkel und wandte sich der achten Patientensuite zu.

»Kindliche Traumata.« Pak rückte ihre Brille zurecht.

»Wohl eher jugendliche«, präzisierte Stern.

»Da bin ich anderer Meinung.«

»Ich auch.«

»Johnny Uranoff«, sagte Garin nachdenklich. »Mein Großvater hat ihn geliebt. Er war auf jedem Konzert, hat seine Platten gesammelt …«

»Meine Großmutter auch«, grinste Stern. »Küss mich nicht in einer weißen Nacht, küss mich in einer dunklen Nacht!«

»Du hast mir viel zuleid getan, mein Blut getrunken, das von dir vergiftet war …«, fuhr Mascha fort.

»Woher kennen Sie das?« Garin blieb erstaunt stehen.

»Ich interessiere mich für die neurussische Popkultur. Ich höre gerne 50er-Jahre-Retro.«

»Ich kenne ihn überhaupt nicht«, lächelte Pak.

»Ist auch nicht nötig.« Garin ging weiter. »Er ist eher etwas für den Massengeschmack …«

»Im Rock ’n’ Roll war er richtig gut«, protestierte Stern. »Genauso gut wie Elvis.«

»Das wüsste ich aber …«

Der letzte Patient saß in seiner Suite neben dem Sofa auf einer Tatami und hielt die Augen geschlossen. Es war jeden Morgen das Gleiche und immer während der Visite, sodass alle Bescheid wussten. Auch der Patient wusste, dass alle Bescheid wussten.

»Ohayō gozaimasu, Shinzō-san!«, sagte Garin.

»Guten Morgen, Herr Doktor!«, begrüßte der Patient ihn auf Russisch, ohne die Augen zu öffnen.

»Haben Sie wieder schlecht geschlafen? Machen Sie sich wieder Sorgen?« Garin wechselte ins Englische.

»Ja, ich habe schlecht geschlafen. Und ich mache mir Sorgen. Aber das möchte ich Ihnen unter vier Augen erzählen.«

»Gewiss!« Garin schlug sich aufs Knie. »Ich sehe Sie nach dem Frühstück, Mascha wird Ihnen Bescheid geben.«

»Ich danke Ihnen, Doktor.«

»Ist mit den Anwendungen alles in Ordnung? Sind Sie zufrieden?«

»Oh ja. Die Radonbäder sind großartig.«

»Haben Sie Fichtennadelbäder ausprobiert?«

»Noch nicht.«

»Die empfehle ich Ihnen.«

»Danke sehr.«

Im Flur erteilte Garin einige Anweisungen und entließ dann die Kollegen und das Personal.

 

Das Frühstück begann wie immer um 09:30 Uhr und verlief ohne Zwischenfälle. Danach empfing Garin Angela zur Sprechstunde. Sie schob sich auf ihren verblühten Hinterbacken in das Sprechzimmer des Chefarztes, robbte zum Sessel vor dem Schreibtisch, hinter dem Garin thronte, hüpfte hoch und nahm Platz.

»Also.« Garin blätterte das Hologramm mit ihrer Krankengeschichte durch und blickte dann die Patientin an. »Die bellenden Menschen?«

»Genau«, seufzte sie und senkte ihre blassgrünen Augen mit den dezent geschminkten Wimpern. »Sie kennen ja mein Haupttrauma.«

»Nonsense! Meiner Erfahrung nach ist kein Mensch imstande, sein Haupttrauma genau zu kennen. Menschen sind keine Götter, gnädige Frau! Gewiss, das kommt vor. Aber nicht immer. Mit wenigen Ausnahmen sind die Haupttraumata stets verborgen. Gewitterwolken! Das Unterbewusstsein. Aber der klare Horizont des Bewusstseins identifiziert sie zwangsläufig mit anderen, weniger destruktiven Traumata, mit Federwolken zum Beispiel. Doch Weiß ist nicht immer weiß! Und Schwarz ist schon gar nicht immer schwarz.«

»Ja, aber ich erinnere mich nur an das, woran ich mich tatsächlich erinnern kann, an das, was ich erlebt habe, das habe ich Ihnen doch schon x-mal erzählt, Doktor.«

»Dann erzählen Sie es eben noch einmal.«

»Wozu? Sie wissen doch schon alles.«

»Je öfter Sie davon erzählen, desto schneller werden Sie gesund. Das ist ein Axiom.«

»Also gut …« Sie seufzte, rieb ihre schmalen Hände und ließ ihre dünnen, sich wie Lianen windenden Arme auf die Sessellehne sinken. »In der Internatsschule für zukünftige Politiker. Sie können sich vorstellen, was das ist.«

»Allerdings. Ich war auch ein paarmal im Geninkubator. Als Student.«

»Ich bin elf Jahre alt. Das Internat … Der Normalbürger glaubt, Politik sei Publicity, die Fähigkeit, markant aufzutreten, schnell und überzeugend zu formulieren, geistreich und zugleich knallhart auf Sticheleien von Journalisten zu reagieren. Politik aber bedeutet nicht Publicity, sondern …«

»Entscheidungen zu treffen. Und die Verantwortung dafür zu tragen.«

»Natürlich. Aber um zu einer Entscheidung zu kommen, muss man sie aussitzen.«

»Ausbrüten wie ein Ei!«

»Ganz genau! Man hat uns von Kindheit an die Wissenschaft des Aussitzens beigebracht. Tatsächlich hat man uns auch deshalb so ungewöhnlich geschaffen. Ich habe im Internat viel durchgemacht. Wenn man uns in der Stadt spazieren führte, wurden wir immer von den Jungs gehänselt: He, ihr Pobäckchen, wann werdet ihr denn richtige Pobacken? Niemand hat uns damals pb, political beings, genannt.«

»Ach, in der Schule wird doch jeder gehänselt. Mich haben sie immer Garin der Tatare genannt. Obwohl ich Russe bin.«

»Garin der Tatare …«, sagte sie auf Russisch. »Ist ja rührend. Im Internat habe ich den bitteren Kelch der Einsamkeit bis zur Neige geleert. Nur das Lernen hat mich vor Depressionen bewahrt. Wir hatten hervorragende Lehrer, wurden gründlich vorbereitet. Eine Unterrichtsstunde nach der anderen, tagaus, tagein, aber nicht eintönig. Unser Direktor war ein wirklich kreativer Mensch, ein Mann von Format. Sitzfleisch wurde uns auf kreative Art und Weise eingeimpft. Biologie lernten wir im Wald, Mathematik und Latein am Ufer unseres Sees, römisches Recht in unserem Antikenmuseum. Uns war vieles gestattet. Natürlich wurden wir auch bestraft, gelegentlich bekamen wir sogar in aller Öffentlichkeit eins auf den Po, auf unseren Arbeitsplatz sozusagen, aber das ist ja selbstverständlich. Wir hatten jedoch mehr Freiheiten als normale Schüler. Wir wurden auf ein langes, ernsthaftes Leben zum Wohle der Gemeinschaft vorbereitet. In der Oberstufe hatten wir schon Universitätsprofessoren als Lehrer. Im Fach Weltliteratur unterrichtete uns Professor Goldenbrust, ein ausgezeichneter Pädagoge, ein richtiger Bücherwurm mit einem enormen Gedächtnis, allem Neuen gegenüber aufgeschlossen und besessen von seiner Arbeit. Einmal, als er von Gargantuas Kindheit erzählte, veranschaulichte er uns das Ganze mit einer richtigen Performance: Er schleppte einen gedeckten Tisch mit einem gebratenen Schwein herbei, brachte eine unglaublich dicke Frau mit, die er als seine Frau bezeichnete, dann zog er sich aus, nahm eine Schüssel mit ausgelassenem Schweinefett, übergoss die Braut damit, fing an zu weinen und mit den Füßen aufzustampfen und nach seiner Mama zu rufen …«

»Angela, kommen Sie zur Sache.« Garin trommelte mit seinen schweren Fingern auf den Tisch.

»Ja, natürlich. Entschuldigen Sie, ich bin abgeschweift … Es geschah während des Unterrichts in sozialer Orientierung. Ich musste plötzlich zur Toilette, stand auf, sagte wie üblich ›Entschuldigung‹ und ging hinaus. Wie Sie wissen, hatten wir eine Gemeinschaftstoilette, wir pb hatten keine Geheimnisse voreinander, wir pinkeln mit dem Hintern. Auf dem Weg zur Toilette hörte ich plötzlich seltsame Geräusche aus der Turnhalle. Die Tür war nur angelehnt. Neugier ist, wie Sie wissen, eine meiner angeborenen Eigenschaften …«

»Und das ist auch gut so.«

»Ich ging also durch die angelehnte Tür. Die Turnhalle war leer. Die seltsamen Geräusche kamen aus dem Nebenraum, wo die Sportgeräte gelagert waren. Ich erkannte die Stimme des stellvertretenden Schulleiters, eines unnachgiebigen, strengen Mannes, und die eines unserer Mitschüler, Nikolai. Der Vize-Schulleiter machte etwas mit Nikolai, was der nicht wollte. Der Vize schien ihm schnelle Befehle zu geben: ›Ja! Ja! Ja!‹, und Nikolai wimmerte immer ›Nein! Nein! Nein!‹. Und das Erstaunlichste war, dass irgendwo ganz in der Nähe ein Hund bellte, irgendwo direkt unter dem Fenster, und er bellte genau im Takt mit diesem ›Ja! Ja! Ja!‹. Wuff, wuff, wuff, ja, ja, ja, wuff, wuff, wuff, ja, ja, ja, wuff, wuff, wuff, ja, ja, ja, wie ein Maschinengewehr. Ich ging vorsichtig näher, spähte durch das Schlüsselloch und sah … ich sah, wie … wie … wie dieser Vize …«

Angela überkam plötzlich ein leichtes Zittern. So leicht und flatternd, dass die Konturen ihres runden Körpers verschwammen. Nur die Hände, die sich an den Armlehnen des Sessels festkrallten, blieben ruhig.

Garin betrachtete die Metamorphose seiner Patientin ungerührt. Angela zitterte jetzt nicht mehr, sie vibrierte gleichmäßig und heftig wie eine Stampfmaschine. Platon Iljitsch nahm eine Papirossa, zündete sie an und ging zum Fenster. Die Sonne stand schon hoch, die Drosseln hatten aufgehört zu balzen, in dem Kiefernwald, der sich draußen erstreckte, zwitscherten jetzt andere Vögel.

»Sag mir, getreue Gattin / bist in geheimem Schauder du erbebt?«, deklamierte Garin halblaut. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken, paffte seine Papirossa und wippte auf seinen Titanfüßen.

Die kräftige Aprilsonne funkelte in der goldenen Fassung seines Kneifers.

Als Angelas Zittern nachließ, drückte er bereits die Kippe im Aschenbecher aus.

»Sehen Sie … schon wieder …«, sagte die Patientin schwer atmend.

»Das ist nicht weiter schlimm.« Garin wedelte mit der Hand, um den Rauch über dem Schreibtisch zu vertreiben. »Das ist gut für die Muskeln.«

»Es ist immer so … ungelegen … so peinlich …«

»Regen Sie sich nicht auf, wenigstens haben Sie keine Epilepsie.«

»Ich weiß, aber …«, seufzte sie, »ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen.«

»Das ist Ihr edles Schaudern. In Europa erinnert man sich daran.«

»Doktor, was mache ich denn nur mit den bellenden Menschen?« Angela betastete ihre riesigen, geröteten, schlaff herabhängenden Wangen.

»Ja, was nur?« Er trommelte auf den Schreibtisch und bellte ihr unvermittelt wild, brutal und laut ins Gesicht: »Aargh! Aaarrgh! Aarrgh!!«

Sie fuhr entsetzt zurück und bedeckte die Augen mit den Händen. Er aber packte die beiden bleichen Armauswüchse und bog sie zur Seite:

»Es reicht! Die Vorstellung ist zu Ende, gnädige Frau! Hören Sie auf zu lü-ü-ü-gen!«

Angela brach in Tränen aus. Garin stand auf, ging um den Tisch herum und baute sich mit seinem alttestamentarischen Bart und der strengen Nase bedrohlich vor ihr auf.

»Wie lange wollen Sie mir noch etwas vormachen? Meine Liebe, ich bin nicht Ihr Hampelmann. Ich bin Doktor Garin, verdammt noch mal!! Und ich lasse mich nicht für dumm verkaufen!«

Die Patientin schluchzte.

Garin marschierte wütend im Sprechzimmer auf und ab.

»Wissen Sie, was ein zerfetzter Paravent ist? Ein fiktives Opfer? Eine vorübergehende Nichtigkeit? Eine verwischte Spur? Wissen Sie das nicht? Ich erkläre es Ihnen! Ich zeige Ihnen, gnädige Frau, wie heilig Gott ist! Man höre und staune, sie wird von bellenden Menschen belästigt! Hundemenschen! Wie reizend! Aber die schweigenden Menschen beunruhigen Sie nicht? Homo tacet, das beunruhigt Sie nicht? Da bellt ein Hund im Takt mit den Friktionen des Vize, wuff, wuff, wuff! Ach, wie entsetzlich! Aber diesen ungeheuer stummen Menschen in der Turnhalle haben Sie nicht bemerkt? Er stand dort, in der rechten Ecke, dieser stumme Mensch! Sie haben ihn nicht bemerkt? Sie kennen ihn doch! Na? Antworten Sie, zum Teufel! Kennen Sie ihn?«

Sie nickte unter Schluchzen.

Er legte seine massige Hand auf ihren bebenden Rücken und sprach dann ruhig weiter:

»Sie kennen diesen Menschen. Sie kennen ihn nur allzu gut. Sie waren sechs Jahre alt, als der Erzieher Ernst mit einer Fliegenklatsche und einer Rolle Klebeband ins Schlafzimmer kam. Er sagte zu Ihnen: Angela, du und ich, wir beide waren uns einig, bis zum dritten Mal. Und Sie nickten. Er hat Ihnen den Mund zugeklebt, mit dem Sie so viel geplappert haben. Dann hat er mit der Fliegenklatsche auf Sie eingeschlagen. Auf Ihren schönen jungen Popo. Und hinter ihm stand dieser Mensch. Er ist kein richtiger Mensch. Er ist durchsichtig, obwohl er dunkel ist. Nicht wahr? Man kann durch ihn hindurch sogar etwas erkennen. Weil er trübe ist. Der Trübe stand dort. Der Trübe mit Stirnfransen, Schnurrbart und durchschossenem Schädel. Nicht wahr?«

»Woher … wissen Sie das?«

»Daher!«, sagte Garin ernst und wippte auf seinen Füßen. »Also lassen Sie uns die Geschichte mit den bellenden Menschen ein für alle Mal ad acta legen. Sind Sie bereit, mir von der ersten Begegnung mit dem Trüben zu erzählen?«

»Nein … ich habe Angst …«

»Na schön, dann eben beim nächsten Mal. Für heute ist es genug. Haben Sie keine Angst. Ich bin bei Ihnen. Der Trübe wird Ihnen nichts mehr tun.«

Er nahm ihre Hand.

»Angela, Sie und ich, wir haben etwas zu erledigen. Wir werden den Trüben ein für alle Mal in sein Schattenreich verbannen. Aber dafür müssen wir uns gegenseitig helfen. Wollen Sie mir helfen, Ihnen zu helfen?«

»Ja, Doktor.«

»Dann werde ich Ihnen helfen.«

Er nahm ein Päckchen Papierservietten vom Tisch und hielt Angela eine an die flache Nase. Sie schnäuzte geräuschvoll, knüllte die Serviette zusammen und wischte sich die Tränen ab.

»Gehen Sie jetzt in Ihr Zimmer, die Krankenschwester kommt gleich und gibt Ihnen eine Spritze. Die Tabletten behalten wir bei, die Dosierung wird nicht geändert, zu viel Chemie taugt nichts. Nach der Spritze eine halbe Stunde Ruhe, dann ein Spaziergang im Wald. Zu den Zedern! Abgemacht?«

»Abgemacht, Herr Doktor«, seufzte Angela und lächelte matt.

»Ich will Sie nicht länger aufhalten.« Garin setzte sich an den Schreibtisch.

Angela rutschte unbeholfen vom Sessel auf den Boden herunter und kroch auf ihren Hinterbacken erschöpft zur Tür. Es klopfte.

»Herein!« Garin knickte eine Papirossa ein.

Pak kam herein, trat einen Schritt zur Seite, um Angela durchzulassen, und schloss die Tür hinter ihr.

»Krisis?«, fragte sie und trat zum Schreibtisch. »Oder Plateau?«

»Eher ein Traum.« Garin rauchte die Papirossa an.

»Sie sah ganz verstört aus …«

»Im tiefen Traum erscheint der Schaum.«

»Haben Sie eine Papirossa für mich, Doktor?«

»Aber Sie rauchen doch nicht mehr, Doktor?«

Sie winkte mit ihrer kleinen, flinken Hand ab. Er hielt ihr die Schachtel hin und gab ihr Feuer.

»Ich habe eine Frage wegen zwei der Patienten, Donald und Boris.«

»Ich bin ganz Ohr.« Garin blies Rauch in die Luft und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Trotz der scheinbar unterschiedlichen Symptomatik sind die Pathologien im Kern ähnlich, wir haben das ja schon diskutiert. Das gilt auch für die Ätiologien.«

»Ich entsinne mich.«

»Sollen wir nicht dieselbe Mischung für beide versuchen, die Nr. 7?«

»Sind Sie denn mit den Resultaten nicht zufrieden?«

»Sie sind stabil, aber es gibt keine großen Fortschritte.«

»Sie verlangen viel, Doktor. Beide Patienten haben tiefe psychosomatische Verletzungen. Aggravation, Autochthonie, Hyperkinese.«

»Akathisie.«

»Ja, aber bei Donald ist es egozentrische Gigantomanie und bei Boris Querulantentum. Er gibt ständig allen anderen die Schuld.«

»Aber im Kern sind sie ähnlich.«

»Stimmt.«

»Vielleicht lohnt es sich?«

»Zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen? Versuchen Sie es. Wie sagt man so schön: Es kann ja nicht schaden.«

»Gut. Kompott Nr. 7.«

»Ich weiß, dass Sie Wladimir an Stern übergeben haben.«

»Haben Sie etwas dagegen?«

»Nein. Wenn er ihn übernimmt, bitte sehr. Haben Sie etwa die Nase voll von Mister Ich-war’s-nicht?«

»Ich spüre den Patienten nicht. Die Symptomatik ist klar, aber er selbst …«

»Doktor, in unserem Metier geht es um Validität, Validität und …«

»… noch mal Validität.« Pak blies den Rauch in die Luft. »Und sonst nichts. Ja! Aber es gibt noch das self, Doktor.«

»Sicher, keine Frage!« Garin strich mit alttestamentarischer Geste über seinen Bart. »Das bestreitet auch niemand.«

»Also habe ich Wolodja Ich-war’s-nicht abserviert und Stern aufs Auge gedrückt. Mit Ihrem Einverständnis!«, lachte sie.

In seinen Stuhl zurückgelehnt, musterte Garin sie aufmerksam durch seinen Kneifer:

»Macht Ihnen eigentlich … irgendetwas Kummer?«

»Überhaupt nicht. Ich habe nur schlecht geschlafen.«

»Die Drosseln?«

»Die Briefe.«

»London?«

Sie nickte, drückte ihre Kippe aus, lüftete den Kittel, knöpfte die weiße Hose auf, ließ sie halb herunter und legte sich mit dem Oberkörper auf Garins Schreibtischkante.

»Doktor, dürfte ich Sie bitten?«

»Stets zu Ihren Diensten!«, brummte Platon Iljitsch, stand auf, nahm den blackjack vom Haken und verabreichte Paks kleinen Hinterbacken je einen blauen Blitz, womit er ihr zwei kurze Schreie entlockte.

»Ich danke Ihnen …« Sie blieb noch kurz auf dem Tisch liegen, richtete sich dann auf, brachte die Kleider in Ordnung und rückte die Brille zurecht. »Was würden wir nur machen ohne Ihre Hypermodernität!«

»Ich bin ja selbst abhängig davon …«

»Wir sehen uns zum Lunch, Doktor!«

»Bis später!«

Pak schob die Hände in die Kitteltaschen und wandte sich entschlossen zur Tür.

»Doktor Pak!«, rief Garin ihr nach und klatschte mit dem blackjack ein paar Mal in seine linke Hand.

Sie drehte sich um.

»Sind die neuen Patienten eine Enttäuschung für Sie?«

»Wo denken Sie hin, Doktor? In diesem Achter-Club gibt es weder Inkohärenz noch Imbezilität oder Idiotie. Nun ja … an Komorbidität leiden sie alle.«

»Sie sind komplexe Gebilde.«

»Eben.«

»Trauern Sie Ihren alten Patienten hinterher? Bedauern Sie es, dass wir sie allesamt von heute auf morgen entlassen mussten?«

»Was gibt es da zu bedauern, Doktor?« Sie zuckte ihre schmalen, spitzen Schultern. »Natürlich waren die anderen, nun ja … teils viel sympathischere Menschen.«

»Menschen!« Garin zückte vielsagend den blackjack.

»Eben«, sagte sie. »Menschen. Aber es ist unsere Pflicht.«

»Stimmt. Auch wenn wir nicht immer dafür entschädigt werden, Doktor.«

»Tja, die Profession«, seufzte sie.

»Eine Profession ist keine Konfession.«

»Auch wieder wahr.« Pak nickte ernst und ging hinaus.

 

Vor dem Lunch empfing Garin noch Justin und Shinzo. Mit Justins Schlamm war er schnell fertig, der Patient verließ das Sprechzimmer des Chefarztes zwar unter Tränen, aber beruhigt und zufrieden, die Konsultation für Shinzo jedoch, der es gar nicht eilig hatte, beanspruchte anderthalb Stunden. Garin mochte Nervensägen nicht besonders, aber er konnte seine Gefühle beherrschen und seine Vorlieben kontrollieren. Als Shinzo-san endlich von seinem Sessel herunterrutschte und auf seinen vertrockneten Hinterbacken über das Parkett in Richtung Tür raspelte, wünschte Garin ihm wie üblich Gesundheit, rief das Hologramm des Briefes von Jewsei Woskow auf und durchblätterte schmunzelnd den Roman. Er wählte Kapitel vier, zündete sich eine Zigarette an und begann zu lesen:

IV

Die morgendliche Augustsonne übergoss die Datschensiedlung von Podmoskowje mit ihrem immer wieder erstaunlich intensiven, zartgoldenen Glanz, als der nagelneue Lieferwagen der Familie Bobrow auf die Kiewer Chaussee einbog und zügig in Richtung Moskau fuhr. Am Steuer saß Pjotr, neben ihm im Führerhaus thronte seine treue, brave Ehefrau Nastja, die in stoischer Freude alles, was das Schicksal ihnen bisher bestimmt hatte und künftig noch bestimmen würde, mit ihrem Mann teilte. Seit einem Monat waren sie nicht mehr auf dem geliebten Kalugaer Markt gewesen, der für die aus der Asche des Sozialismus auferstandene Familie Bobrow wahrhaftig zu einem Schicksalsstern geworden war. Und wie sehr sie ihn vermisst hatten! Nicht umsonst saß an diesem Morgen nicht der Chauffeur Wassja, sondern Pjotr selbst am Steuer des Lieferwagens, auf dessen Karosserie vor dem Hintergrund einer dörflichen Landschaft mit Kühen und Birken eine lächelnde Melkerin mit einem Eimer kuhwarmer Milch prangte.