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Der zweite Band der Reihe IDD widmet sich dem Dolomitenladinischen, einer rätoromanischen Varietät, die auf italienischem Territorium gesprochen wird. Das Italienische befindet sich gewissermaßen begleitend im Dialog mit der Sprache und der Kultur der ladinischen Bevölkerung. Der erste Teil des Bandes widmet sich der Sprachgeschichte des Ladinischen, es geht um den Sprachnamen und um die Vorgeschichte des Ladinischen in der Antike und im Mittelalter, um die frühe Neuzeit bei den Ladinern, die Auswirkungen des Nationalismus auf die Ladiner sowie die Situation der ladinischen Sprache während des Ersten Weltkriegs und des Faschismus, bevor abschließend die Stellung der Ladiner und ihrer Sprache im Nachkriegsitalien bis heute beleuchtet wird. Im zweiten Teil entdecken interessierte Leserinnen und Leser Aufgaben zum Erwerb von Basiskenntnissen des Gadertalisch-Grödnerischen, die gleichzeitig als hochschuldidaktische Vorschläge für eine Lehrveranstaltung für fortgeschrittene Romanistik-Studierende genutzt werden können, die ebenfalls den exemplarischen Erwerb von Grundstrukturen der ladinischen Sprache anstreben.
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Seitenzahl: 483
ibidem-Verlag, Stuttgart
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1 Sprachgeschichte
1.1 Der Sprachname und die Sprachgeschichte des Ladinischen in der Antike und im Mittelalter
1.1.1 Die Eigenbezeichnung ladino
1.1.2 Die vorlateinischen Sprachen im heutigen Südtirol
1.1.3 Der lateinische Kern des Ladinischen
1.1.4 Die Christianisierung des Lateins in der Spätantike
1.1.5 Romanisch und Germanisch im Mittelalter
1.1.6 Die Gestalt der deutschen Lehnwörter als Quelle für die ladinische Sprachgeschichte
1.1.7 Die „questione ladina“
1.1.8 Entwicklungen am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit
1.2 Die Frühe Neuzeit
1.3 Die Auswirkungen des Nationalismus auf die Ladiner
1.4 Der Erste Weltkrieg und der Faschismus
1.4.1 Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs
1.4.2 Der Krieg zwischen Österreich und Italien
1.4.3 Propagandaschlachten im Ersten Weltkrieg
1.4.4 Kriegsende und italienische Besetzung Südtirols
1.4.5 Die faschistische Herrschaft in Südtirol
1.4.6 Die Italianisierung der Namen
1.5 Faschismus und Nationalsozialismus in Südtirol
1.5.1 Die Annäherung von Faschisten und Nationalsozialisten
1.5.2 Die Option
1.5.3 Die Auswirkungen des Weltkrieges auf Südtirol
1.5.4 Die sogenannte Operationszone Alpenvorland
1.6 Die Stellung der Ladiner im Nachkriegsitalien
1.6.1 Die Neuordnung Italiens in der Nachkriegszeit
1.6.2 Die Entwicklung von Südtirol nach 1945
1.6.3 Das Gruber-De Gasperi-Abkommen
1.6.4 Das Erste Autonomiestatut von 1948
1.6.5 Die mehrsprachige Schule in Gröden und im Gadertal
1.6.6 Die Wahlen von 1948 in Italien und in Südtirol
1.6.7 Die SVP radikalisiert sich
1.6.8 Die Neuordnung der Diözesanstruktur
1.6.9 Die „Feuernacht“ und die Sprengstoffanschläge
1.6.10 Das Südtirol-Paket
1.6.11 Südtirol am Anfang des 21. Jahrhunderts
1.7 Bibliographie zur Sprachgeschichte
2 Zum Spracherwerb des Ladinischen ‒ ausgewählte hochschuldidaktische Aspekte
2.1 Zur Aussprache des Dolomitenladinischen
2.2 Grammatische Basisstrukturen des Gadertalischen entdecken
2.3 Typologische Betrachtungen zum Gadertalischen
2.4 Ausgewählte Anmerkungen zur Typologie gadertalischer und grödnerischer Klitika aus gesamtromanischer Sicht
2.4.1 Besonderheiten beim Pronominalgebrauch: Die Veränderlichkeit des Partizips bei vorangehendem direkten Objekt
2.4.2 Obligatorische pronominale Subjektzeichen
2.4.2.1 Zum Subjektpronomen
2.4.2.2 Zur unpersönlichen Konstruktion: dolomitenladinische, friaulische und romanische Möglichkeiten der Wiedergabe des deutschen unpersönlichen ‚es‘.
2.5 Ergebnisse
2.6 Interkomprehension
2.6.1 Interkomprehension 1: Tera y munts y liëndes
2.6.2 Interkomprehension 2: Flus de munt – Colfosch
2.6.3 Mittels Weltwissen bekannte Texte wiedererkennen: Aesop
2.6.4 Beschilderungen, Sprichwörter und idiomatische Wendungen vergleichen
2.6.5 Analyse einer Karikatur
2.7 Textproduktions- und -analyseaufgaben
2.7.1 Legenden
2.7.2 Ladinische Kultur
2.7.3 Olympische Spiele
2.8 Bibliographie zum Spracherwerb des Ladinischen
2.8.1 Quellen für Unterrichtsmaterialien
2.8.3 Weiterführende Literatur
2.8.3.1 Dolomitenladinisch
2.8.3.2 Mehrsprachigkeitsdidaktik (Literatur in Auswahl zur Einführung)
Wer sich mit romanischen Sprachen beschäftigt, wendet sich im Normalfall den Großsprachen zu, die in der Welt eine numerisch wichtige Rolle spielen und die auch in der Literatur eine herausragende Stellung einnehmen. Das ist natürlich traditionellerweise das Französische, das in Europa in Frankreich einzige Staatssprache ist und in Belgien, in Luxemburg, in der Schweiz, im Aosta-Tal und in Andorra eine der anerkannten heimischen Sprachen darstellt. Anerkannte Volkssprache ist das Französische auch in Kanada in der Provinz Québec und in angrenzenden Gebieten. Die herausragende Stellung des Französischen in der Literatur braucht nicht unterstrichen zu werden; ihre Geschichte beginnt mit altfranzösischen Texten vor der Jahrtausendwende.
Neben dem Französischen, das lange sozusagen als Inkarnation der romanischen Kulturtradition galt, wird in jüngerer Zeit das Spanische immer wichtiger. Es wird von etwa 47 Millionen Menschen in Spanien als nationale Amtssprache benutzt, wobei man berücksichtigen muss, dass für etwa sieben Millionen Sprecher und Sprecherinnen daneben das Katalanische und für drei Millionen Menschen das Galizische (und für eine halbe Million Menschen das Baskische) eine wichtige Funktion einnehmen. Eine herausragende Wichtigkeit hat das Spanische aber als Sprache kolonialer Tradition, die sich nach 1492 in der Neuen Welt Amerikas ausgebreitet hat. Es ist in 19 Ländern Mittel- und Südamerikas Amtssprache (auch in dem zu den USA gehörigen Territorium Puerto Rico mit über drei Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern), und in Staaten der USA ist es mit 25 bis 30 Millionen „Hispanics“ durchaus im Aufwind. Die herausragende Position, die das Spanische als Literatursprache hat und die in stetigem Ausbau begriffen ist, macht es zu einem wichtigen Faktor für Lernende von Fremdsprachen, wobei freilich darauf hinzuweisen ist, dass es ein regionales Übergewicht in Amerika gibt; Französisch ist in der ganzen Welt ein Bildungsfaktor, Spanisch nur im Westen im weiteren Sinne. Als Schulsprache ist das Spanische zunehmend ein Konkurrenzfaktor für das Französische.
Das Portugiesische wird von etwa zehn Millionen Menschen in Portugal gesprochen, und es ist für über 200 Millionen Menschen in Brasilien die Hauptsprache. Wie viele Menschen sich im alten portugiesischen Kolonialreich für das Portugiesische als Alltagssprache entschieden haben, ist schwer auszumachen; im Rahmen der Urbanisierung, wo für Menschen unterschiedlichster Herkunft das Portugiesische in den expandierenden Großstädten das einzige mögliche Verständigungsmittel ist, ist diese Sprache im Aufwind, und für viele junge Leute ist es die Alltagssprache (in Angola leben 32.522.339, in Moçambique 30.098.197 Menschen, vgl. https://geoplay.de/rankings/einwohner.aspx, Zugriff im Juni 2020). Eine wirkliche Bildungssprache wie das Französische oder das Spanische ist das Portugiesische trotz der Menge seiner Sprecherinnen und Sprecher (es ist die am zweitmeisten verwendete romanische Sprache nach dem Spanischen) aber nicht, denn es ist an die jeweilige koloniale Vergangenheit einer Zone gebunden, und es kommt als Literatursprache nicht wirklich über den Kreis derer hinaus, die es als Alltagssprache verwenden.
Eine typische Bildungssprache ist von jeher das Italienische. Es wird seit dem 12. Jahrhundert als Fremdsprache gelernt, und die Kenntnis der Sprache geht erheblich über die ungefähr 65 Millionen Muttersprachlerinnen und Muttersprachler in Italien und in der Südschweiz (Tessin, Graubünden) hinaus. In bestimmten Berufssparten (Opernsängerinnen und Opernsänger, höherer Klerus) gehören gute Kenntnisse des Italienischen zu den Grundvoraussetzungen.
Die hier genannten ‚großen‘ romanischen Sprachen, vielleicht mit Ausnahme des ‚exotischen‘ Portugiesischen, gehören sozusagen zum Repertoire der Fächer, für die sich Abiturientinnen und Abiturienten zu Beginn ihres Studiums entscheiden, nachdem in den oberen Klassen der weiterführenden Schulen ihr Interesse dafür geweckt worden war. Was dann konkret im Sprachstudium behandelt werden wird, hat nicht immer etwas mit den Vorstellungen der Abiturientinnen und Abiturienten in der Übergangsphase von der Schulzeit zur Studienzeit zu tun, aber der wichtigste Punkt bleibt: „Ich interessiere mich brennend für das Französische /Italienische/Spanische, also studiere ich das Fach und bin gespannt auf das, was dort geboten wird“.
Am Anfang des Studiums erfährt man dann, dass das Fach, das man sich erwählt hat, zur Familie der romanischen Sprachen gehört, und man ist vielleicht erstaunt, dass das Rumänische, obwohl es in Südosteuropa in der Nachbarschaft slavischer Sprachen wie Russisch, Bulgarisch oder Serbisch gesprochen wird, eine romanische Sprache wie das Italienische ist oder dass in Barcelona jeder spanisch sprechen kann und versteht, dass aber die eigentliche Sprache Katalanisch heißt, das oft in Opposition zum Spanischen gesehen wird. Zum Katalog der romanischen Sprachen gehören aber nicht nur Idiome, von denen man schon mal schemenhaft etwas gehört hat, sondern auch kleinere Sprachen, über die man vielleicht noch nie etwas erfahren hat wie beispielsweise das Galizische in Nordwestspanien oder das Friaulische in Nordostitalien.
Zu den Sprachen, die neu in den Gesichtskreis der frischen Studierenden der Romanistik treten, gehört auch das Ladinische, eine romanische Sprachform, die im Nordosten der Italoromania gesprochen wird, genauer gesagt an der Sprachgrenze zwischen Deutsch und Italienisch im Nordosten der Provinz Bozen und im alpinen Teil der Provinz Trient und der Provinz Belluno. Vielleicht sind die Studierenden im Sommerurlaub oder in den Winterferien einmal in den ladinischen Gebieten gewesen, und u.a. Alta Badia, Wolkenstein, Carezza und die Marmolada gehören inzwischen zu den angesagtesten Tourismusgebieten, die oft mit Hotelnamen wie Ladinia oder Tre Cime werben. Cortina d’Ampezzo ist 2021 Gastgeberin der alpinen Skiweltmeisterschaft sowie nach 70 Jahren erneut – diesmal gemeinsam mit Milano – 2026 Austragungsort verschiedener Disziplinen der Olympischen Winterspiele. Was die touristischen Reiseführer außerhalb des Sports und der Kulinarik über das Ladinische zu berichten wissen, gehört oft in den Bereich der interessanten Erzählungen über Merkwürdigkeiten (Typ: ‚älteste Sprache Südtirols‘), aber es kann doch oft Neugier wecken.
Auch das Interesse des Autorenteams dieses Werks ist auf dem Wege über zufällige Begegnungen mit dem Ladinischen geweckt worden. Bei mir, Johannes Kramer, ist die Begeisterung für die ladinische Sprache zunächst einmal ein „Beiprodukt“ für das Interesse an der Italianistik gewesen. In den sechziger Jahren war zumindest in Nordrhein-Westfalen die Stunde des Schulfaches Italienisch noch längst nicht gekommen, und wenn man sich für die Sprache und die Kultur Italiens interessierte, war der einzige Weg, sich über Volkshochschulkurse damit zu beschäftigen. Für Fortgeschrittene gab es dann die Beschäftigung mit den Texten von Dante Alighieri: Dafür kamen einmal in der Woche meist ältere Damen des Bildungsbürgertums zusammen, um in gemächlichem Tempo bei einer Lectura Dantis bei einer italienisch-deutschen Übersetzung unter Leitung eines betagten Studienrates den Charme der Canti zu genießen. Für die wenigen Schüler des Gymnasiums, die in ihrer Italien-Begeisterung den Weg zu diesen Dante-Feiern fanden, war ein Anreiz auf jeden Fall ein Monatsstipendium in den Sommerferien, das einem tägliche italienische Unterrichtsstunden in einem der damals noch zahlreichen Orte Italiens verschaffte, wo es ein Comitato der Società Dante Alighieri gab. Die Wahl fiel auf Bressanone/Brixen, wo die Universität Padua Sprachkurse für Ausländerinnen und Ausländer anbot, wo aber gleichzeitig für die regulären italienischen Studierenden Wiederholungskurse veranstaltet wurden, die ihnen ermöglichten, eine Veranstaltung aufzuholen, die sie im Studienverlauf nicht bestanden hatten. Der Zufall wollte es, dass einer dieser Kurse eine gedrängte Einführung in die Romanistik war, wo es um die Ausgliederung der romanischen Sprachen ging. Die Veranstaltung wurde von Carlo Tagliavini geleitet, wobei den sehr wenigen aus dem Ausland stammenden Besuchern absolut nicht klar war, was für eine Größe der Romanistik der Kursleiter wirklich war. Die wichtigste Erfahrung bestand darin, dass das Spektrum der romanischen Sprachen gegenüber dem bescheidenen Gepäck, das man von zu Hause mitbrachte, erheblich erweitert wurde – und eine der Sprachen, deren Behandlung natürlich dem genius loci geschuldet war, war das Ladinische, das ja etwa dreißig Kilometer von Brixen entfernt begann. Was tun wissbegierige Studierende, die von einer bis dahin nicht zum normalen Spektrum gehörenden Sprache hören? Sie kaufen ein einschlägiges Buch. Das war, wieder ein Zufall, die Überarbeitung der „Formenlehre“ aus dem grundlegenden Werk von Johann (Baptist) Alton, Die ladinischen Idiome in Ladinien, Gröden, Fassa, Buchenstein, Ampezzo, Innsbruck, Wagner’sche Universitäts-Buchhandlung 1879, 81–126. Die Überarbeitung wurde im „aurì 1968“ abgeschlossen und lag seit Juli 1968 in der Wegerschen Buchhandlung in Brixen zum Verkauf bereit: J. B. Alton, L ladin dla Val Badia. Beitrag zu einer Grammatik des Dolomitenladinischen, neu bearbeitet und ergänzt von Franz Vittur, unter Mitarbeit von Guntram Plangg mit Anmerkungen für das Marebanische von Alex Baldissera, Druck und Auslieferung A. Weger, Brixen 1968. Freilich, eine Neubearbeitung im engeren Sinne des Wortes war das nicht: 1879 hatte J. B. Alton versucht, eine „Formenlehre“ für die fünf Dialekte zu erstellen, die er zu den „ladinischen Idiomen“ rechnete, 1968 wurde daraus eine kleinräumigere Grammatik für das Abteitalische (l Ladin dla Val Badia) mit Bemerkungen zu Sonderformen in Marebbe (Enneberg) und im unteren Gadertal.
Für den Wortschatz verweist die „Formenlehre“ auf die Behandlung in der Publikation von J. B. Alton von 1879, auf das Vocabolarietto badiotto-italiano von G. S. Martini von 1950 und auf die Parores ladines von Antone Pizzinini, die 1966 im Druck erschienen, aber auf ein Manuskript aus den vierziger Jahren zurückgehen. Ein zuverlässiges etymologisches Wörterbuch war am Ende der sechziger Jahre ein wirkliches Desiderat, zumindest wenn man das Ladinische als echte romanische Sprache mit dem Lateinischen verbinden wollte. Ein etymologisches Wörterbuch, dem noch in mancherlei Hinsicht die Schwächen einer Anfängerarbeit anhaften, habe ich in acht Faszikeln im selbst finanzierten Privatdruck (beim Dissertationsdruck R. J. Hundt) herausgebracht: Etymologisches Wörterbuch des Gadertalischen, Fasz. 1 (A), Köln 1970; Fasz. 2 (B), Köln 1971; Fasz. 3 (C–D–E), Köln 1971; Fasz. 4 (F–G-I), Köln 1971; Fasz. 5 (K–L–M), Köln 1972; Fasz. 6 (N–O–P–R), Köln 1973; Fasz. 7 (S–T), Köln 1974; Fasz. 8 (U–V–Z), Köln 1975.
Eine gründliche Überarbeitung auf dem aktuellen Diskussionsstand der etymologischen Forschung erschien dann in acht Lexikonbänden zwischen 1988 und 1998 im Helmut-Buske-Verlag Hamburg, durch die Bereitstellung von Mitarbeiterstellen gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von der Universität Siegen: Etymologisches Wörterbuch des Dolomitenladinischen (EWD), Band I (A–B), unter Mitarbeit von Ruth Homge, Sabine Kowallik, Hamburg 1988; Band II (C), unter Mitarbeit von Rainer Schlösser, Hamburg 1989; Band III (D–H), unter Mitarbeit von Klaus-Jürgen Fiacre, Brigitte Flick, Sabine Kowallik, Ruth Homge, Hamburg 1990; Band IV (I–M), unter Mitarbeit von Klaus-Jürgen Fiacre, Rainer Schlösser, Eva-Maria Thybussek, Hamburg 1991; Band V (N–R), unter Mitarbeit von Ute Mehren, Klaus-Jürgen Fiacre, Rainer Schlösser, Eva-Maria Thybussek, Hamburg 1993; Band VI (S), unter Mitarbeit von Rainer Schlösser, Hamburg 1995; Band VII (T–Z), unter Mitarbeit von Klaus-Jürgen Fiacre, Ruth (Homge-)Boketta, Ute Mehren, Hamburg 1996; Band VIII, Indizes, unter Mitarbeit von Birgit Arendt, Hamburg 1998. Ausführliche und umsichtige Rezensionen zu den aufeinanderfolgenden Bänden des Etymologischen Wörterbuchs des Dolomitenladinischen sind regelmäßig von Otto Gsell in der Zeitschrift Ladina veröffentlicht worden: 13, 1989, 143–162 und 278–286; 14, 1990, 351–369; 17, 1993, 117–124 und 172–188; 18, 1994, 325–341; 20, 1996, 225–260.
Aus der langen Beschäftigung mit etymologischen Problemen des dolomitenladinischen Wortschatzes entstand bei mir eine allgemeine Begeisterung für die Beschäftigung mit Problemen des Ladinischen, und so sind im Laufe der Jahre allerlei Aufsätze entstanden, die im engeren und weiteren Sinne mit dem Ladinischen zu tun haben. Dabei kamen natürlich Kontakte zu anderen Forscherinnen und Forschern zu Stande, die sich ebenfalls mit dem Ladinischen beschäftigten, und da in einer alten Tradition der Romanistik seit einem Buch von Theodor Gartner (Raetoromanische Grammatik, Heilbronn, Henninger, 1883) die Bezeichnung „Rätoromanisch“ für romanische Varietäten des Zentralalpenraums und des Vorlandes, genauer gesagt für das Bündnerromanische, das Dolomitenladinische und das Friaulische, geläufig war, richteten sich die Interessen auch auf diese sprachlichen Varietäten. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhundert betrieb man Forschungen zum „Rätoromanischen“ an deutschsprachigen Bildungsinstitutionen in Göttingen, in Mainz, in Erlangen, in Innsbruck, in Zürich und in Chur, in Italien waren die Kristallisationspunkte die Universitäten in Padua und Udine, und logischerweise lagen die Akzente nördlich der Alpen eher auf dem Bündnerromanischen, südlich der Alpen auf dem Friaulischen, und das Dolomitenladinische war sozusagen die Klammer zwischen den beiden Gebieten. Natürlich treten die allgemeinen Probleme der Romanistik sozusagen wie unter einem Brennglas auch in der Rätoromanistik auf, und so führt die wissenschaftliche Durchdringung eines, wenn man so will, wissenschaftlichen ‚Randgebietes‘ immer wieder zu den ‚Hauptproblemen‘ des Gesamtfaches Romanistik und damit zu den zentralen Problemen zurück, aber das große persönliche Vergnügen, das man beim Kontakt mit einem noch nicht abgegrasten Territorium in einem an sich unendlich großen Fach hat, ist durch keine Erfahrung in den durch und durch erforschten Standardsprachen zu ersetzen.
In den frühen 70er Jahren hat es mich, Sylvia Thiele, urlaubsbedingt mit meinen Eltern nach Alta Badia verschlagen. Aus einer zunächst touristisch motivierten Begeisterung für ein Gebiet der Alpen hat sich eine in der Tat außergewöhnliche Verbundenheit entwickelt, die ich oft als ‚mein zweites Zuhause‘ umschreibe, das ich seither regelmäßig aufsuche.
Kinder finden im Urlaub bekanntlich schnell Kontakte zu Gleichaltrigen, in diesem Fall zu ladinischen Kindern. Im Alter von 14 Jahren habe ich gefragt, was die Jugendlichen da eigentlich untereinander sprächen. Die Antwort war: Ladinisch. Wenn man Deutsch und Italienisch könne – kein Problem, auch diese Sprache zu verstehen. Ich habe also beschlossen, Italienisch zu lernen und bin im darauffolgenden Sommer mit dem Lehrbuch „Ciao 1“ (vgl. Vella, Carlo & Hunziker, James. 1980. Ciao 1. München: bsv) aus dem Volkshochschulkurs, den ich infolge beharrlicher Nachfragen meiner Mutter als Minderjährige in der damaligen Institution für ‚Erwachsenenbildung‘ schließlich doch besuchen durfte, angereist und habe um die ladinische Übersetzung diverser Sätze gebeten, die ich dann für das Ende des Dialogs der ersten Lektion wie folgt notiert habe – ohne IPA-Kenntnisse:
Vgl. Vella, Carlo & Hunziker, James. 1980. Ciao 1. München: bsv, S. 12
Es war offenkundig: Deutsch und Italienisch helfen beim Verständnis von Al vëgn incö? (notiert als „vagn“ mit darüber befindlichem ë für Torna oggi? / Kehrt er heute zurück?) nur bedingt weiter… Deutlich erfolgreicher gelang die Einarbeitung in meine Wunschfremdsprache mit Hilfe der Ladinia, die im Keller der damaligen Bereichsbibliothek des Romanischen Seminars der Universität Göttingen im Nikolausberger Weg 23 zu finden war, und vor allem dank Lois Craffonara, bei dem ich den Curs de ladin por nia ladins im Istitut Ladin Micurà de Rü besucht habe. Die Beschäftigung mit Pronomialsyntax in der Staatsexamensarbeit, die einen Exkurs zum Dolomitenladinischen aufweist, hat den Gutachter Gustav Ineichen bewogen, die Analyse der gadertalischen und grödnerischen Klitika als Dissertationsthema vorzuschlagen. Das Textkorpus bildeten die Übersetzungen des Kleinen Prinzen und die Usc di Ladins. Nach der Dissertation (Gadertalische und grödnerische Pronominalsyntax. 2001. Münster: Nodus) habe ich die neu geknüpften Forschungskontakte, u.a. mit Giovanni Mischì und Paul Videsott, weiter gepflegt und hatte die Chance, Daria Valentins Lehrwerksredaktion (Cufer de Ladin. Önesc leziuns por imparè le ladin dla Val Badia, 2008, San Martin: Istitut Ladin Micurà de Rü) u.a. mit fachdidaktischen Überlegungen zu unterstützen, die im Zentrum des aktuellen, gemeinsam mit Ruth Videsott geplanten Forschungsprojekts zu Text- und Medienkompetenz für die ladinischen Schulsprachen stehen. Ich fahre also weiter regelmäßig ‚nach Hause‘.
Unter den persönlichen Kontakten, die für uns prägend gewesen sind, waren die Begegnungen mit Gustav Ineichen entscheidend. Unsere Wege haben sich erst relativ spät gekreuzt, bei der Übergabe der Festschrift zum 75. Geburtstag zu „Sprachkontakten in der Romania“, die, wie bei solchen Gelegenheiten üblich, in einem gemütlichen Zusammensein, in der Schweiz ‚Hock‘ genannt, gipfelte, und es stellte sich heraus, dass Beschäftigung mit dem Ladinischen zu unserer Prägung gehört.
Wir sind inzwischen beide im Lande Rheinland-Pfalz tätig, an den Universitäten Mainz und Trier, und dieses Bundesland ist wahrlich klein genug, um sich über gemeinsame Interessen und Forschungsgebiete auszutauschen. Die Vertreterinnen und Vertreter der Romanistik treffen sich qua Amt zu manchen Gelegenheiten, um der Romanistik südlich des Limes neue Impulse zu geben: So haben wir uns beispielsweise auf den Abendprogrammen der Lehrerfortbildungsreihe in Boppard getroffen, um das Ladinische als „Kontrastsprache“ in den Unterricht im normalen Fremdsprachenunterricht zu implementieren und um an Kochrezepten herauszufinden, wie man einen Zugang zu unbekannten romanischen Texten gewinnen kann. Beim Colloquium Retoromanistich im Mai 2017 haben wir einen im Romanischen Seminar Mainz aufgefundenen Text aus Bravuogn nebst Vertonung auf einer Schelllackplatte vorgestellt. Und nicht zuletzt ist das vorliegende Buch ein Resultat unserer Kontakte. Wir möchten es dem Gedächtnis von Gustav Ineichen widmen.
Der vorliegende Band umfasst zwei Teile: Der erste enthält eine ladinische Sprachgeschichte. Hier liegt der Schwerpunkt weniger auf der Entwicklung der ‚Faktengeschichte‘, die vielmehr der Schwerpunkt der materialreichen, reichlich illustrierten Darstellung von Werner Pescosta ist, der ja eine Geschichte der Dolomitenladiner, nicht aber eine Geschichte des Dolomitenladinischen bieten will. Im vorliegenden Band geht es aber vielmehr um die kulturelle Sprachgeschichte, die natürlich immer in Verbindung mit den Gegebenheiten der äußeren Geschichte gesehen werden muss. Beides, Faktengeschichte und Kulturgeschichte, hängen eng miteinander zusammen und können nicht voneinander getrennt werden, aber es geht darum, wo der primäre Schwerpunkt liegen soll. Im ersten Teil der Sprachgeschichte geht es zunächst um den Sprachnamen und damit verbunden um die Vorgeschichte des Ladinischen in der Antike und im Mittelalter. Das folgende zweite Kapitel widmet sich der frühen Neuzeit bei den Ladinerinnen und Ladinern. Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Nationalismus auf diese Volksgruppe, der vierte beschreibt die Situation der ladinischen Sprache während des Ersten Weltkriegs und des Faschismus. Die folgenden Ausführungen im fünften Unterkapitel betrachten den Faschismus und den Nationalsozialismus in Südtirol im Detail, bevor im sechsten Abschnitt die Stellung der Ladinerinnen und Ladiner und ihrer Sprache im Nachkriegsitalien bis heute beleuchtet wird.
Anschließend entdecken interessierte Leserinnen und Leser hochschuldidaktische Vorschläge für eine Lehrveranstaltung, die sich an fortgeschrittene Romanistik-Studierende wendet, die einen Erwerb von Basiskenntnissen der ladinischen Sprache anstreben.
Es geht dabei in erster Linie um die Vermittlung von Grundstrukturen und um einen überschaubaren (passiven) Wortschatz der gadertalischen Variante des Ladinischen unter Einbeziehung kultureller Faktoren.
Dieser didaktische Teil stellt auch Materialien bereit, die entweder einzeln in Veranstaltungen zur diachronen Romanistik, zu Minderheitensprachen der Romania, zur Sprachpolitik Italiens, zur Mehrsprachigkeit und ihrer Didaktik oder in größerem Umfang etwa im Rahmen einer Summer School eingesetzt werden können. Im Sinne einer erweiterten Text- und Medienkompetenz wurden über das gedruckte Wort hinaus unterschiedliche Dokumente mit einem Aufgabenapparat versehen.
Es muss betont werden, dass beide Teile von einem romanistischen Sprachwissenschaftlerteam und nicht von einem Berufshistoriker bzw. einer -historikerin verfasst wurden. Das persönliche Interesse richtet sich also vor allem auf den kulturellen Bereich, in dem sich ein sprachliches Mittel herausgebildet hat, das im Laufe der Entwicklung ein ausdrucksfähiges Mittel ergab, das den Anforderungen einer kleinen Gemeinschaft von etwa 30.000 Menschen gut gewachsen ist.
JOHANNES KRAMER (Trier) & SYLVIA THIELE (Mainz)
Bekanntlich bezeichneten die Römer ihre Sprache meistens nicht nach dem Namen ihrer Stadt, sondern nach der Landschaft Latium, die mit Rom eine sprachliche, kulturelle, juristische und schließlich auch sprachliche Einheit verband. Den antiken Beobachtern war diese Tatsache durchaus bewusst (vgl. Festus 105, 25: „Latine loqui a Latio dictum est“). Im ältesten Beleg für lingua Latina in der Grabschrift für den um 200 v. Chr. gestorbenen Dichter Naevius, die von Gellius (1, 24, 2) überliefert ist, heißt es dann klar, dass man nach dem Tode von Naevius in Rom vergessen müsse, dass man dort Latein spreche:
„Immortales mortales si foret fas flere,
florent divae Camenae Naevium poetam;
itaque postquam est Orcho traditus thesauro,
obliti sunt Romae loquier lingua Latina.“
Die ganze Antike hindurch und auch im nachantiken Latein war lingua Latīna oder sermō Latīnus der normale und unmarkierte Ausdruck für ‘lateinische Sprache’, entsprechend auch das Adverb Latīnē (Kramer 1998a; 2007).
Eine Art Konkurrenzbezeichnung war lingua Rōmāna (Erstbeleg 43 v. Chr. bei Ciceros Freigelassenem Laurea, von Plin. 31, 8 überliefert) oder sermō Rōmānus, beide seltener als lingua Latīna oder sermō Latīnus belegt. In erster Linie diente die Konkurrenzbezeichnung dazu, eine Variation zum üblichen Ausdruck zu bilden; daneben kann ein klarerer Bezug zur Stadt Rom oder zum römischen Reich mitschwingen, wenn man diese markierte Bezeichnung wählte, aber „auf keinen Fall lag ein über eine ganz leichte Duftnote hinausgehender Unterschied vor“ (Kramer 1998a, 77). Während jedoch das Adverb Latīnē völlig geläufig ist, taucht das parallele Adverb Rōmānē nur im frühesten Latein und in der nachklassischen Periode auf (Kramer 1998a, 79–81). Das Adjektiv Rōmānicus gibt es im Altlatein bei Cato bezüglich auf landwirtschaftliche Geräte und Produkte (135, 2–3; 146, 1) und dann erst wieder an der Wende vom 7. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr., und das Adverb Rōmānicē ist nicht vor dem 10. Jahrhundert n. Chr. belegt (Kramer 1998a, 82).
Als sich abzeichnete, dass die Alltagssprache sich immer mehr vom Latein der schriftlichen Quellen zu unterscheiden begann, hätte es ja durchaus die Möglichkeit gegeben, die sich herausbildende neue Sprache mit einem Terminus zu bezeichnen, der an Rom anknüpft – so machen wir es ja heute, indem wir zwischen lateinisch und romanisch unterscheiden. Die Menschen der Spätantike und des Frühmittelalters nutzten diese Chance jedoch nicht, und man muss dabei wirklich von „una ocasión perdida“ (Kramer 1967, 66) sprechen. Latīnus und Rōmānus sowie deren Ableitungen bezeichneten weiter sowohl das traditionelle Latein als auch die daraus abgeleitete Alltagssprache, und wenn im klassischen Latein unbelegte Ableitungen wie Rōmānicus und Rōmānicē sowie deren romanische Weiterentwicklungen (frz. romanz, romanç, provenzalisch romantz, romans, katalanisch romanç, spanisch romance, portugiesisch romance) als Sprachbezeichnungen auftraten, so war ihnen kein langes Leben beschieden, weil sich mit der Entstehung der Vorstufen der Nationen neue, auf das Territorium oder den frühen Staat bezügliche Namen (françois, català, português) durchsetzten. Lediglich dort, wo die Nationenbildung mehr oder weniger ausblieb oder der Gegensatz zu anderen vorherrschenden Sprachen wichtiger war als die Eigenbezeichnung, blieben die älteren Termini erhalten, in denen Rōmānus und Latīnus durchscheinen.
Der Terminus Rōmānus hat sich in volkssprachlicher Form nur in der Ostromania erhalten (Kramer 1998a, 130–139): rumänisch rumân (in schriftsprachlich beeinflusster Form român), aromunisch armânu, armănu, rumănu. Das Wort war und ist primär Substantiv und bezeichnet des ‘Angehörigen des eigenen Volkes’, also den ‘Rumänen’, es konnte aber auch, obwohl selten, als ein auf Personen bezügliches Adjektiv verwendet werden: un cioban român ‘ein rumänischer Hirte’. Erst im 19. Jahrhundert wurde ein Bezug auf Sachen möglich, und erst von da an wurde limba română ‘die rumänische Sprache’ möglich; bis dahin hatte man limba românească gesagt, das heute unüblich geworden ist. Das regelmäßige Adjektiv zu rumân/român ist nämlich rumânesc/românesc, was von *Rōmāniscus kommt, einer zufällig nicht belegten Nebenform von Rōmānicus mit dem einheimischen Zugehörigkeitssuffix, das in antiken Namensadjektiven wie Dāciscus ‘dakisch’ oder Thrāciscus ‘thrakisch’ belegt ist (Kramer 1998a, 143–146).
Nur im Bündnerromanischen lebt das Adverb Rōmānicē weiter, und zwarin der Form surselvisch romontsch, sutselvisch rumantsch, surmeirisch rumantsch, unterengadinisch rumantsch, oberengadinisch rumauntsch. In Graubünden erfolgte keine Nationenbildung wie beispielsweise in Frankreich, und es konnte sich auch keine überregionale Hochsprache herausbilden. Die romontsch/ruma(u)ntsch-Formen hielten sich wohl vor allem deswegen, weil sie einen griffigen Gegenpol zu tudestg/tudais-ch ‘deutsch’darstellen. Zu den Einzelheiten vgl. die Ausführungen zu engadinisch ladin.
Hier soll es nun um das Weiterleben der eigentlichen Normalbezeichnung der eigenen Sprache, also von Latīnus, in der Romania gehen. Man konnte die Sprachbezeichnung auch als Eigenbezeichnung verwenden: Bei Horaz (carm. 2, 1, 29) und bei Silius Italicus (6, 603–604) ist Latīnus sanguis ‘das Blut der Römer’. Nachantik übertrug man diese Bezeichnung auf die Romanen, solange man sich des Bedeutungsunterschieds noch nicht bewusst war, und so muss man bei Gregor von Tours (8, 1) die auf dem Martinsfest von Orléans zu hörende lingua Latinorum mit ‘Sprache der Romanen’ übersetzen. Und selbst Dante, für den es natürlich klar war, dass Latein und Italienisch zwar verschiedene Sprachen waren und dass die Gleichung Römer=Lateiner=Italiener für seine Zeit nicht mehr wirklich aufging, benutzte latini in seinen lateinischen wie italienischen Schriften für die Italiener (Enciclopedia dantesca 3, 591-599). Auch das Adjektiv latino bedeutet ‘italienisch’: quella dolce terra latina heißt ‘die schöne Gegend Italiens’ (Inf. 27, 26, Übersetzung von Hartmut Köhler).
Freilich, auf die romanischen Sprachen bezog man Latīnus oder italienisch latino (seit 1198), französisch latin (seit 1119), provenzalisch latin (seit dem späten 11. Jahrhundert), katalanisch llatí (seit dem 13. Jahrhundert) normalerweise nicht, einfach, weil die damit beschworene Unklarheit zu groß gewesen wäre. Wenn man das Wort auf die romanische Volkssprache beziehen wollte, traten erklärende Adjektive hinzu: lingua Latīna rūstica, lingua Latīnus vulgāris, corruptus sermō Latīnus; und dann konnte Latīnus auch weggelassen werden: nostra vulgāris lingua. Der normale Ausdruck für die Alltagssprache in Italien war volgare, ursprünglich eine Qualitätsbezeichnung ‘die Sprache des Volkes’, im Gegensatz zum nach den Regeln der grammatica festgelegten latino. Für Dante ist das Latein eine ewig gültige und nicht veränderliche Sprache, das Volgare hingegen ist instabil und veränderlich: „Lo latino è perpetuo e non corruttibile, e lo volgare è non stabile e corrutibile“ (Convivio 1, 5, 7). Seiner Meinung nach hat der erste, der sich als Dichter in der Volkssprache auszudrücken begann, dies getan, weil er seine Worte einer Dame, für die es schwer gewesen wäre, lateinische Verse zu verstehen, näherbringen wollte (Vita Nuova 25, 6):
„Lo primo che cominciò a dire sì come poeta volgare, si mosse però che volle fare intendere le sue parole a donna, alla quale era malagevole d’intendere li versi latini.“
Nicht nur die Verwechslungsmöglichkeit mit ‘Latein im engeren Sinne’, sondern auch ein anderer starker Bedeutungsstrang hinderte latino daran, sich für die Volkssprache zu verfestigen: Latein ist eine schwierig zu erlernende fremde Sprache, und also nahmen die Nachfolgeformen von Latīnus die Bedeutung ‘unverständliche fremde Sprache’ an. Im Provenzalischen kann sich en leur latin auf das Arabische, das Griechische oder das Persische beziehen, und katalanisch bedeutet „els Serrayns [...] cridaren [...] en llur llatí“ ‘die Sarazenen schrieen in ihrer Sprache’. Ausgehend von dieser Bedeutung kann latín auch vom Gesang der Vögel gesagt werden: Wilhelm von Aquitanien (1071–1127) sagt am Anfang seines 10. Gedichtes, dass die Vögel jeder in seinem Latein singen („li aucel / chanton, chascus en lor latí“). Chrétien de Troyes (±1140–1190) sagt, dass die Vögel ihrer Freude in ihrem Latein Ausdruck geben (Cligès 6264–6265: „cil oisel [...] font lor joie an lor latin“).Der Italiener Guido Cavalcanti (1255–1300) sagt, jeder der Vögel möge in seinem Latein von der fresca rosa novella (20–21)singen: „e càntine gli augelli / ciascuno in suo latino“.
Erste Stufe: Der stimmlose lateinische Verschlusslaut wird zum stimmhaften romanischen Verschlusslaut. Es tritt also Sonorisierung ein: –p– > –b–, –t– > –d–, –k– > –g–.
Zweite Stufe: Der stimmhafte Verschlusslaut wird zum stimmhaften Reibelaut: –b– > –β–, –d– > –δ–, –g– > –γ–.
Dritte Stufe: Der stimmhafte Reibelaut, der aus dem stimmhaften Verschlusslaut entstanden ist, verstummt ganz: ø.
Die drei Möglichkeiten, die Latīnus in den westromanischen Sprachen annehmen konnte, also laín (Nullstufe), laδino (stimmhafter Reibelaut) und ladin (stimmhafter Verschlusslaut), liegen in der Tat vor. Die ostromanischen Sprachen können außerhalb der Betrachtung bleiben, weil rumänisch latin eine gelehrte Neubildung des 18. Jahrhunderts ist und weil italienisch latino schon deswegen ein Buchwort ist, weil die Position der gelehrten Sprachbenutzer und der Kirche immer so stark war, dass eine Ablösung von der Grundbedeutung ausgeschlossen werden kann.
Im Altlombardischen des 14. Jahrhunderts taucht ein lain auf (Kramer 1997). Eine anonyme lombardische Paraphrase der lateinischen Fassung des Johannes-Chrysostomos-Traktats Quod nemo laeditur nisi a se ipso (PG 52, 459–480; lateinischer Text Malingrey 1965) wurde von Wendelin Foerster ediert (1880). Es wird dort eine Daniel-Stelle (1, 3–4) herangezogen, wo es darum geht, dass den gefangenen Söhnen Israels die Sprache der „Chaldäer“ beigebracht werden soll, obwohl die Sprachen der Juden und der „Chaldäer“ gegenseitig unverständlich sind. Der altlombardische Kommentator sagt dazu folgendes (Foerster 1880, 38):
„Sì che de questi pueri comandò quel segnor ch’el se n’avesse singular cura e dè ghe maestro chi ghe mostrasse le lor letre e lor lenguagio chi era molto strannio da quel d’i Çuem sì che l’un no po intende l’altro ne per letra e per vuolgar peço, e chusìmal intende lo Çue lo Calde e quel de Caldea quel de Iudea, chomo un Lain lo Greo e quel de Grecia quel de Lonbardia.“
Die Stelle aus dem Alten Testament wird also mit einem zeitgenössischen Beispiel verdeutlicht: Ein Jude versteht nach dem Text jemanden aus Chaldäa genauo schlecht wie jemand aus Chaldäa einen Juden, genauso wie ein Laïn einen Griechen und jemand aus Griechenland einen aus der Lombardei nicht versteht. Hier wird also Laïn als Substantiv verwendet, genauso wie Çue ‘Jude’ und Calde ‘Chaldäer’, und Laïn wird mit quel de Lonbardia umschrieben.
Die etymologische Herleitung von Laïn aus Latīnus ist über jeden Zweifel erhaben, aber die Interpretation, dass es lediglich ‘lombardisch’ heiße und somit eine direkte Parallele zum alpinen ladin als Selbstbezeichnung der eigenen Sprache darstelle (Belardi 1991, 15-21), ist ebenso wenig richtig wie die simple Interpretation als ‘italiano’ (Salvioni 1890-1892). Man muss vielmehr davon ausgehen, dass der Gegensatz zum Griechischen im Vordergrund steht. Es liegt eine generalisierende Wortverwendung vor, die die Sprache der von den Römern abstammenden Katholiken des westlichen Mittelmeers, eben das Laïn, der Sprache der Griechen des östlichen Mittelmeers, dem Greo, entgegenstellt. Natürlich meint Laïn hier konkret das ‘Lombardische’, aber es umfasst theoretisch auch andere Varietäten der Volkssprache, so wie es für die Griechen normal war, die Bezeichnung Λατῖνοι synonym zu Φράγκοι oder zu Ῥωμαικαθολικοί zu verwenden. Die korrekte Übersetzung von Laïn wäre als ‘Sprecher der Sprache des Westens’ oder ein wenig anachronistisch ‘Romane’: mal intende un Laïn lo Greo hieße also ‘ein Romane versteht einen Griechen schlecht’.
Kommen wir zur zweiten lautlichen Ausprägung des Sprachnamens Latīnus in den romanischen Sprachen, zur spanischen Form laδino mit dem stimmhaften interdentalen Reibelaut. Man muss annehmen, dass eine begriffliche Auseinanderentwicklung zwischen ‘lateinisch’ und ‘spanisch’ erst nach dem Konzil von Burgos 1080 einsetzte (Wright 1989, 121). Zunächst konnte man offenbar ohne den geringsten Bedeutungsunterschied die gelehrte Form latino und die volkssprachliche Form ladino (gesprochen laδino) einsetzen, und man verwendete diese Formen besonders dann, wenn es um ein Aufeinandertreffen von Christen und Mohammedanern ging. Als erstes Datum für das Auftreten beider Formen ist das 13. Jahrhundert anzusetzen, aber die Wendung un moro latinado ‘un moro que conocía la lengua romance, que hablaba castellano’ ist schon im ältesten literarischen Text des Spanischen, im auf des Jahr 1200 zu datierenden Cid (Vers 2667), belegt.
Um eindeutig ‘Latein’ in Absetzung von ‘romanisch’ oder ‘spanisch’ sagen zu könne, wurde um 1100 aus dem Französischen das Substantiv latín entlehnt. Alonso Tostado (1400–1455) schreibt in seinem Werk Sobre Eusebio (1, 24), dass el latín sea lenguaje artificial e el vulgar sea más natural e menos limado. Dieses semantisch eindeutige Wort wird freilich nur als Substantiv verwendet (beliebt ist en latín); das dazugehörige Adjektiv blieb latino, was aus der folgenden Tostado-Stelle (1, 24) deutlich wird: No porque sea más apuesto el lenguaje griego que el latino, ca por esta razón como más apuesto sea el latín que el hebraico.
Die Bedeutungsunschärfe bei latino und ladino führte sogar dazu, dass latín, das ja eigens zur Erzielung einer größeren Eindeutigkeit aus dem Französischen entlehnt worden war, gelegentlich, wenn auch selten, mit der Bedeutung ‘spanisch’ vorkommt: Alfons der Weise benennt honestad als latín (Partida 1, 5, cap. 25), und Spanisch ist für ihn el nuestro latín (General Estoria 5, cap. 14).
Verwendet wurden latino und ladino in der Bedeutung ‘spanisch’ vor allem, wenn es galt, sich vom anderssprachigen Umfeld, in erster Linie vom arabischen oder vom griechischen, abzusetzen. In der General Estoria 30, cap. 9, liest man:
„Fue esto enel primero mes del segundo anno que el pueblo de Israel salio de Egipto, enel primero dia desse mes, a que llaman los griegos xantico e los ebreos nisan; e es este el mes aque nos los latinos dezimos mayo.“
Vom 16. Jahrhundert an hat sich der heutige Sprachgebrauch etabliert: Es gibt nur substantivisches el latín ‘das Lateinische’ und adjektivisches latino ‘lateinisch’, während für ‘spanisch’ zunächst einmal castellano den Sieg davongetragen hat. Jedenfalls ist ladino aus dem Repertoire der eigentlichen Sprachbezeichnungen verschwunden, auch weil die Mohammedaner als Gegner nicht mehr Teil des Alltags waren, und somit war ladino frei geworden für sekundäre Bedeutungen wie ‘klug, gewitzt’, die übrigens auch im Italienischen (z. B. piemontesisch lain, bellunesisch ladin, altit. latino und ladino, vgl. REW 4927) vorliegen. Am nächsten an der alten sprachlichen Bedeutung steht der Ausdruck esclavo ladino ‘altgedienter Sklave’, also ein Sklave, der schon einigermaßen spanisch konnte.
Am Übergang vom Alt- zum Neuspanischen am Ende des 15. und am Anfang des 16. Jahrhunderts war folglich der letzte Augenblick erreicht, wo ladino noch als Sprachbezeichnung fungieren konnte. Das war aber genau der Augenblick, wo das Spanische durch zwei verschiedene Auswanderungsprozesse in andere Teile der Welt getragen wurde, einmal in die europäischen Exilländer, in die die 1492 aus Spanien vertriebenen Juden ihre Sprache mitnahmen, und zum anderen ins Kolonialreich, das durch die Entdeckung der Neuen Welt durch Kolumbus nach 1492 in Amerika entstand.
Die Juden wurden in einem Edikt vom 31. März 1492, das im soeben den Mauren entrissenen Granada erlassen wurde, vor die Wahl gestellt, innerhalb von drei Monaten Spanien zu verlassen oder sich taufen zu lassen (Kowallik & Kramer 1993, 17). Genaue Zahlen gibt es nicht, aber mindestens 120.000 Juden gingen ins Exil, möglicherweise 60.000 ließen sich taufen. Georg Bossong fasst die Situation zusammen (2008, 57–58).
„Die Vertriebenen wurden in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Die Mehrzahl ging über Land nach Westen, in das benachbarte Portugal. Von dort aus gelangten sie später nach Frankreich sowie nach Amsterdam, London und Hamburg. Viele fanden Zuflucht im Süden, in den Sultanaten des nordafrikanischen Maghreb, in Städten wie Fes, Tetuan, Oran und Tunis. Einige reisten nach Italien, wo sie im Kirchenstaat und in den oberitalienischen Fürstentümern aufgenommen wurden; von Bedeutung wurde die sephardische Zuwanderung in den Hafenstädten Livorno, Ancona und Venedig wowie in Ferrara und Mantua. Zahlreich waren die Sepharden, die sich im osmanischen Osten niederließen, in Istanbul und Saloniki, im kleinasiatischen Izmir sowie in Damaskus, Kairo, Jerusalem und in dem kleinen Städtchen Safed (hebr. Tsephat, an der Nordgrenze des heutigen Israel).“
Im Judenspanischen hat laδino seit dem 16. Jahrhundert die Bedeutung ‘feierliche Sprache der heiligen Texte’, und das ist einer Weiterentwicklung des Spanischen des 15. Jahrhunderts zu verdanken, bei der ladino die eigene Sprache mit positivem Nebensinn bezeichnete, also ‘richtiges und gutes Spanisch’. Man muss hier vor allem darauf hinweisen, was laδinonicht bedeutet: Es ist keine Bezeichnung für die spanische Umgangssprache der Juden, das Judéo-Espagnol vernaculaire, das Djudezmo oder das Sephardische. Mit ladino benennt man einzig und allein die Sprache der Bibel und der Gebete, die das Hebräische ganz wörtlich übersetzt, jedes hebräische Wort immer mit demselben spanischen Wort wiedergibt und Eigenheiten der hebräischen Syntax exakt nachahmt. Diese Sprachform, die man ohne Hebräischkenntnisse kaum verstehen kann, ist gebunden an schriftlich festgelegte, meist, aber nicht immer mit hebräischen Buchstaben geschriebene Texte, die natürlich rezitiert werden, aber nicht die Wiedergabe einer gesprochenen Sprache sind. Die Verwendung des Wortes ladino zur Bezeichnung des Judenspanischen ganz allgemein, die man besonders in der englischsprachigen Literatur findet, stimmt nicht mit den sprachlichen Befunden überein (Kramer & Kowallik 1993, 40) und wird heute von den meisten Sprechern des Judenspanischen abgelehnt. Der Oberbegriff Judenspanisch beinhaltet sämtliche Verwendungsformen des Spanischen durch die nach 1492 aus Spanien vertriebenen Juden, natürlich auch die zwei Extremformen Djudezmo als Alltagssprache und Ladino als Sprache der heiligen Texte. Das Ladino ist heute eine mehr oder weniger tote Sprache, denn seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheinen keine neuen Texte mehr, obwohl die alten Texte immer wieder abgedruckt und zum Teil auch in lateinische Transkription gebracht werden.
Kommen wir nun zur Verbreitung von ladino (Aussprache laδino) in Mittel- und Südamerika! Das Diccionario de americanismos, das 2010 von der Asociación de Academias de la lengua española herausgegeben wurde und sozusagen „offiziösen“ Charakter hat, bietet für ladino, -a (S. 1259) drei Einträge, die sich auf Menschen beziehen, und zwei weitere übertragene Anwendungen.
„I 1. m. México, Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua, Paraguay. Mestizo que habla español.
2. adj./sust. Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua, Paraguay. Referido a persona, mestiza.
3. adj. Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua. Relativo al mestizo.
II. 1. adj. México. Referido a animal vacuno, bravo o salvaje.
III. 1. adj. México. Referido a un sonido, que es muy agudo. pop.“
Diese Angaben geben relativ genaue geographische Zuweisungen, die freilich auf den Einschätzungen der jeweiligen nationalen Akademien beruhen: Das Wort ist demnach in Mexiko und in den südlich anschließenden Staaten Guatemala, Honduras, El Salvador und Nicaragua zu Hause, es ist also, anders gesagt, ein kontinentales mittelamerikanisches Wort; Paraguay als mehr oder weniger bilinguales Land mit einem hohen Anteil von Sprechern indigener Sprachen tritt hinzu.
Etwas großzügiger in der geographischen Zuweisung ist Maria Schwauß (1977, 403), die sich nicht auf Akademieangaben, sondern größtenteils auf eigene Sprachaufnahmen verlässt:
„1. m. América Central, América del Sur Bewohner des spanisch-amerikanischen Sprachbereiches
América Central, Argentina, Colombia, Ecuador, Perú spanischsprechender Indio
América Central, México regional europäisch-indianischer Mischling
Cuba zivilisierter, gut Spanisch sprechender Neger
Argentina regional, Colombia Schwätzer
2. adj. in allen vorgenannten Bedeutungen (schwer übersetzbar)
Argentina regional, Colombia schwatzhaft“
Die Bedeutungsangaben von Maria Schwauß und ihre geographischen Zuordnungen ermöglichen eine etwas genauere Nachzeichnung der Geschichte von ladino in Mittel- und Südamerika. Die allgemeine und überall verbreitete Bedeutung meint ganz unspezifisch den Sprecher des Spanischen, ob Erstsprache oder ob Zweitsprache, der in Amerika oder Europa geboren ist, aber in Amerika zu Hause ist. Daraus erklärt sich zwanglos die speziellere Bedeutung ‘Indio, der gut spanisch spricht’; auf Kuba, wo die einheimische Bevölkerung schnell ausstarb und durch afrikanische Sklaven ersetzt wurde, wird ladino auf die an europäische Lebensformen angepassten schwarzen Haussklaven übertragen, die natürlich gut spanisch sprechen mussten. In Quellen des 16. Jahrhunderts ist dann auch indio ladino oder negro ladino häufig, manchmal mit dem Zusatz muy ladino en lengua castellana oder muy ladino en el romance castellano (Boyd-Bowman 1971, 515). Die an europäische Verhaltensweisen angepassten Haussklaven wurden oft freigelassen, und besonders die Frauen gingen oft eine Ehe mit Spaniern ein; wenn man an die nächste Generation denkt, erklärt sich die Bedeutung ‘Mestize’ so sehr leicht. Sekundärbedeutungen wie ‘schwatzhaft’ liegen auf der Hand. Eine Erklärung für die übertragene Bedeutung ‘schrill’ liefert Manuel Alvar (1986, 31: „Los mestizos tendrían voz menos gruesa y ladino ‘tono agudo’ se opuso a ‘tono grave’“).
Die Grundzüge der Entwicklung von ladino in Amerika stellen sich also folgendermaßen dar: Das Wort ist zunächst mit der Bedeutung ‘gutes Spanisch’ in die Neue Welt gedrungen, wobei der Gegensatz zu einer andersartigen Sprache, in Spanien das Arabische, in Amerika die indigenen Idiome, mitgedacht wurde. Das semantische Feld ‘spanischsprechend’ wurde dann eingeengt auf ‘Fremder, der gut spanisch spricht’, also konkret ‘indigener Sprecher, der spanisch spricht’ oder ‘afrikanischer Sklave, der spanisch spricht’. Im heutigen amerikanischen Kontext steht die Bedeutung ‘mestizo que solo habla español’ bei weitem im Vordergrund.
Mit dem stimmhaften dentalen Verschlussslaut d tritt die auf Latīnus zurückgehende Bezeichnung für die eigene Sprache im zentralen Alpenraum auf, konkret im Engadin mit endbetontem ladin und in den Dolomiten mit ladin (ausgesprochen ladíŋ). Die engadinischen Entwicklungen sind geradlinig verlaufen und vergleichsweise leicht darzustellen, aber die Geschichte des dolomitenladinischen Wortes ladin, das heute in allen einheimischen Mundarten und darüber hinaus zur Bezeichnung der eigenen Sprachform verwendet wird, ist für das 19. Jahrhundert einigermaßen verwickelt; am Ende des 19. Jahrhunderts wurde ladino und ladinisch zu einem sprachwissenschaftlichen Begriff, der keine Rückschlüsse auf die ursprünglichen Verhältnisse mehr erlaubt.
Beginnen wir mit dem Engadinischen. Dort gibt es ein hierarchisches System der Bezeichnung der eigenen Sprache und der verwandten bündnerromanischen Idiome, das schematisch folgendermaßen aussieht:
ruma(u)ntsch
tschilover surmiran ladin
sursilvan sutsilvan vallader putér
Die deutschen Entsprechungen sind: untereng. rumantsch, obereng. rumauntsch ‘bündnerromanisch’, tschilover ‘oberländisch’, surmiran ‘surmeirisch, oberhalbsteinisch’, ladin ‘engadinisch’, sursilvan ‘surselvisch’, sutsilvan ‘sutselvisch’, vallader ‘unterengadinisch’, putér ‘oberengadinisch’. Mit dem Schema werden die unterschiedlichen Benennungen klar: Für jemanden aus dem oberengadinischen Sankt Moritz/San Murezzan ist seine Heimatsprache kleinräumig gedacht putér, großräumiger ladin und typologisch rumauntsch. Für ihn ist die Sprache des benachbarten unterengadinischen Schuls/Scuol immer noch rumauntsch und ladin, aber nicht mehr putér, sondern vallader. Für Disentis/Mustér in der Surselva würde rumantsch, in der surselvischen Lautung romontsch, weiter gelten, aber es ist eine tschilover-Mundart, die genauer mit sursilvan zu bezeichnen ist. Die Mundart von Domleschg/Tumleastga ist als rumantsch und als tschilover zu bezeichnen, aber sie ist sutsilvan und nicht sursilvan. Bei so genauer Sprachendifferenzierung kam es nie zu einer Konfrontation zwischen ladin und latin: ladin ist vom Beginn der Überlieferung an das Engadinische, latin ist das Lateinische, und beide Ausdrücke werden nie verwechselt.
Wenn die Engadiner ihre Sprache nicht mit den präzisen Ausdrücken vallader und putér (oder noch genauer mit dem Namen des Heimatortes) benennen, sagen sie normalerweise eher ruma(u)ntsch als ladin, denn „ladin wird als eine neuzeitliche, schriftsprachlich-gelehrte Bezeichnung empfunden“ (DRG 10, 275). Schon am Anfang der schriftlichen Tradition schwankte die Benennung: Jachiam Bifrun, der Übersetzer des Neuen Testaments ins Oberengadinische, sprach nur von Aromaunsth, nos plêd, nos launguaick, nossa leaungia, aber Gallizius, der Verfasser des Vorwortes hat problemlos das Wort ladin verwandt, das auch beim Unterengadiner Durich Chiampel ganz geläufig ist (DRG 10, 275). Es ist wohl so, dass ladin einen vornehmeren Anstrich hatte als ruma(u)ntsch, aber es war durchaus in den frühen engadinischen Schriften noch ein lebendiges Wort, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass es auch danach nur noch ein lexikalisches Fossil gewesen sei. Man hat auch beide Wörter nebeneinander gesetzt: Der Anfang eines Liedes von Gudench Barblan (1860–1916), das jeder Bündner kennt, lautet Chara lingua della mamma, | tü sonor rumantsch ladin.
Das zweite Gebiet im zentralen Alpenraum, in dem eine Nachfolgeform von Latīnus als Bezeichnung der eigenen Sprache lebendig geblieben ist, sind die Dolomiten. Heute ist ladin, das überall ladíŋ ausgesprochen wird, die Bezeichnung für das einheimische Idiom in den vier vom Sella-Massiv ausgehenden Tälern.
Badìa (3.396 Einwohner),
Corvara (1.344 Einwohner).
Das in nordöstlicher Richtung verlaufende Seitental heißt
Gröden = Val Gardena (Provinz Bozen) mit den Gemeinden:
Fassa = Fassa (Provinz Trient) mit den Gemeinden:
Canazei (1.921 Einwohner),
Pozza (2.174 Einwohner),
Vigo (1.232 Einwohner),
Campitello (734 Einwohner),
Soraga (739 Einwohner),
Mazzin (517 Einwohner).
Moena = Moena (Provinz Trient) (2.689 Einwohner).
Buchen- Livinallongo (Provinz Belluno) mit den Gemeinden:
stein = Buchenstein/Fodom (1.364 Einwohner),
Colle Santa Lucia (388 Einwohner).
Theodor Gartner (1843–1925), der Pionier der wissenschaftlichen Erforschung des alpinen Romanität im deutschsprachigen Raum und der Erfinder des Terminus rätoromanisch für das, was Graziadio Isaia Ascoli (1829–1907) ladino nannte, ließ sich 1883 ganz klar über die Verbreitung der volkstümlichen Verwendung des Sprachnamens ladíŋ aus (Gartner 1883, XX).
„Aus dem Munde Ungebildeter habe ich nur in einem kleinen, von ungefähr 1900 Einwohnern besetzten Bereiche, nämlich in q4, q5 und q6, ladíŋ als Sprachnamen gehört.“
„Das Nomen ladíŋ wird nicht überall von den Ungebildeten verstanden: so nicht in Abtei, nicht in der Pfarre, nicht in Wälschellen, auch nicht in Kolfuschk; hingegen nannte ein Hirtenknabe in Wengen sein Idiom ladíŋ, badiót sprächen die Leute in badía (Abtei), und ebenso unterschied ein erst neunjähriges Kind in St. Martin zwischen ladíŋ und badiót.“
Johann Baptist Alton (1845–1900) ist der erste Einheimische, der eine solide philologische Ausbildung an der Universität Innsbruck genossen hat. Er erfand den Namen und die Landschaft Ladinien, worüber Theodor Gartner spottete (1879/1880, 639): „«Ladinien» ist im ganzen Gadertal terra incognita“. Eine 1886 in Corvara gegründete Sektion des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins nannte sich Ladinia und trug so den Namen in die Welt der Laien (Mitteilungen des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins 6, Wien 1896, 78).
Für Alton ist Ladinien primär das Gadertal, das er in Oberladinien (Kolfuschg, Corvara, Pescosta), Mittelladinien (St. Kassian, Abtei, Stern, Wengen, St. Martin, Longiarü, Campill, Untermoi, Welschellen) und Unterladinien (St. Vigil und Enneberg) einteilt (Alton 1879, 4). Für dieses Ladinien bildet, wie Alton es geschickt ausdrückt (1879, 1), „Buchenstein, Fassa und Gröden die Südgränze“, und er rechtfertigt die Einbeziehung dieser Täler in sein Ladinien-Konzept folgendermaßen (1879, 4):
„Die Grödner, Buchensteinen, Fassaner und Ampezzaner rechnet der Ladiner nicht zu den Ladins, wiewol auch sie mit Rücksicht auf die grosse Verwandtschaft ihrer Dialekte mit dem Ladinischen auf diesen Namen Anspruch machen könnten.“
Aus dieser Äußerung wird klar, dass die Bezeichnung ladinisch bzw. ladíŋ nur im Gadertal eine volkssprachliche Verwurzelung hat, wobei Alton wahrscheinlich die Sprachangabe, die er in seinem „Mittelladinien“ gehört hat, zum Zwecke „der angestrebten Unificierung «Ladiniens»“ (Gartner 1879/1880, 639) auf das ganze Gadertal ausgedehnt hat.
Dass die Ausführungen Gartners berechtigt sind, zeigt auch die kurz nach dem Anschluss Südtirols an Italien erhobene Angabe von Heinrich Kuen, nach der die „Unterbadioten [... sich selbst ladíŋs nennen“, während die „Oberbadioten oft einfach als (kiž) badiótχ bezeichnet“ werden (Kuen 1970, 29). Diese traditionelle Einteilung liegt auch der Angabe von Anton Pizzinini (1868–1944) zu Grunde, der unter dem Eintrag ladin sagt (1966, 83): „bezeichnet eigentlich den Dialekt im Unterland gegenüber maró (ennebergisch) und badiót (abteiisch)“.
Die Intellektuellen Tirols suchten im frühen 19. Jahrhundert nach einer vornehmeren und einheimisch aussehenden Bezeichnung für das Krautwelsch, wie die Mundarten der Bewohner der Dolomitentälern in der deutsch-tirolerischen Umgangssprache bezeichnet wurden (Steub 1854, 38); der Ausdruck verdorbenes Italienisch (Hormayr 1806, 138) passte überhaupt nicht zu den hochtrabenden Ambitionen. Da kam ladinisch, das man aus den Schweizer Schriften über das Engadinische kannte, gerade recht, und man verband es zunächst mit dem ladíŋ des Gadertals. Johann Jakob Staffler (1783–1868) schreibt, dass „die eigenthümliche Sprache des Thales [...] von den Ennebergern selbst Ladin genannt“ werde (Staffler 1844, 273). Die Bezeichnung ladinisch wurde dann aber bald auf andere Mundarten um die Dolomiten angewendet. Ludwig Steub (1812–1888) sagt vom „Ennebergerthal“ und von „Buchenstein“: „Es spricht ladinisch“ (1854, 138), und er spricht von der „ladinischen Mundart der Grödner“ (1854, 129). Der erste, „der die Bezeichnung ladinisch einführt und sie auf die bünderromanischen und zentralladinischen Mundarten bezieht“ (Decurtins 1995, 57), scheint Joseph Theodor Haller gewesen zu sein, wodurch er einen varietätenübergreifenden Sprachnamen geschaffen hat: Die „ladinischen Mundarten in Enneberg und Gröden in Tirol, dann im Engadin“ bieten nach seiner Ansicht „eine solche Gleichheit und Ähnlichkeit auf der einen, und eine solche gleichartige Verschiedenheit von der zunächst verwandten italienischen Sprache auf der anderen Seite“, dass sie als eine eigene Sprachform zu klassifizieren seien (Haller 1832, 161–162). Seit 1832 war also sozusagen der Name ladinische Mundart für die sprachlichen Varietäten Grödens und des Gadertals, was damals unter Enneberg verstanden wurde, als Parallelform zum Ladinischen des Engadins aktenkundig, und man konnte den Sprachnamen ladinisch für das Buchensteinische und das Fassanische anwenden.
Damit war aber eine Steilvorlage für den aus St. Kassian im obersten Gadertal gebürtigen Priester, Lehrer am Mailänder Militärknabenerziehungsinstitut und späteren Innsbrucker Italienischlektor Nikolaus Bacher (1789–1847) geschaffen, der 1833 eine – jedoch erst 1995 edierte – Beschreibung des Abteyer Dialekts mit besonderer Rücksicht auf den Enneberger lieferte (Bacher 1995, 29), aber dabei auch für Gröden, Buchenstein, Fassa und zum Theil auch Ampezzo (Bacher 1995, 23) eine Richtschnur bieten wollte. Das nur handschriftlich erhaltene und mehr als 160 Jahre nach seiner Entstehung publizierte Werk trägt den Titel Versuch einer Deütsch-Ladinischen Sprachlehre, und unter ladinischer Sprache versteht Bacher die vier Sella-Dialekte sowie mit Abstrichen das Ampezzanischer. Nicht etwa die in loco anzutreffende Bezeichnung ladíŋ – die es ja in Bachers Geburtsort St. Kassian nicht gibt –ist für seine Sprachbenennung, die ja alle Sella-Dialekte einschließt, der Ausgangspunkt, sondern es handelt sich um die Übernahme der Bezeichnung ladinische Mundarten aus dem 1833 brandaktuellen Werk von Haller, das von Bacher auch zitiert wird (Bacher 1995, 25; 29).
Man kann sicherlich nicht mit Lois Craffonara (1977, 74) aus Bachers Konstrukt eines die Dialekte Grödens, Buchensteins und Fassas überdachenden Gesamtladinischen gadertalischer Prägung schließen, dass Anfang des 19. Jahrhunderts ladíŋ in Gröden und im Gadertal eine volkssprachlich verwurzelte Bezeichnung der eigenen Sprache war (Haller), dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Einengung auf das Gadertal erfolgt sei (Alton) und dass schließlich nur noch die Bewohner des mittleren Gadertals die Sprachbezeichnung ladíŋ behalten hätten (Gartner). Diese sprachliche Schichtung funktioniert schon deshalb nicht, weil Haller mit seiner Beschränkung auf Gröden und das Gadertal ein Jahr vor der Abfassung von Bachers Manuskript erschienen ist und weil Altons Werk gleichzeitig mit Gartners Arbeiten erschien.
„Der von Craffonara angenommene Vorgang einer Beschränkung eines umfassenden Sprachnamens mit talschaftsübergreifendem Geltungsbereich auf den Gebrauch in einem eng umgrenzten 2000-Seelen-Gebiet im mittleren Abteital innerhalb von 50 Jahren ist bei allem, was wir von der Langsamkeit semantischer Entwicklungen ohne größere Anstöße von außen wissen, ganz und gar ausgeschlossen; hingegen ist die Übertragung einer auf eine kleine Zone beschränkten Sprachbezeichnung auf alle ähnlichen Idiome durch Wissenschaftler, die diese Idiome zu einer Gruppe zusammenfassen wollen, ganz normal.“ (EWD 4, 158)
Unter den Intellektuellen hatte jedenfalls die Idee von der Zusammenfassung der Mundarten Graubündens und des Dolomitenraumes mit zögernder Einbeziehung des Friaulischen um die Mitte des 19. Jahrhunderts Konjunktur, und die Bezeichnung ladinisch für die Mundarten rund um das Sella-Massiv lag sozusagen in der Luft. Der Tiroler Landesschulinspektor Christian Schneller (1831–1908) erntete eine reife Frucht, als er in seiner Abhandlung über die Romanischen Volksmundarten in Südtirol die Dialekte von Fassa, Gröden, Buchenstein, Enneberg, Abtei (Badia) und Ampezzo zu einer „ladinischen Gruppe“ (1870, 8) zusammenfasste und dann postulierte (1870, 9):
„Wir haben somit einen eigenen friaulisch-ladinisch-churwälschen Kreis als selbständiges, wenn auch nie zu einer eigenen Schriftsprache gelangtes, ja nicht einmal vom Bewusstsein eines inneren Zusammenhanges charakterisiertes Hauptgebiet der romanischen Sprachen vor uns. Dieser Kreis stand einst als mächtiger, in seiner Auswölbung weit über den Brenner herüber reichender Bogen mit seinem mit seinem einen Ende an den nördlichen Küsten des adriatischen Meeres, mit dem andern am mächtigsten Mittelpunkt der Alpen, am St. Gotthard. Das Deutsche sprengte denselben von Norden her seit dem sechsten Jahrhunderte in der Mitte auseinander, während viel später das Neuitalienische, die Sprache Italiens, wie Dante sie geschaffen, im Süden die Trümmer, welche das deutsche Element dort nicht mehr vollständig und nicht mehr früh genug zu bewältigen vermochte, überwucherte und in seinen Bereich zog.“
Man findet bei Schneller 1870, „drei Jahre vor der Veröffentlichung von G. I. Ascolis Saggi ladini und dreizehn Jahre vor Th. Gartners Raetoromanischer Grammatik“ (Kramer 1974, 640), die Idee einer eigenen alpinen romanischen Sprache ausformuliert – es fehlte lediglich ein griffiger Name, denn ein friaulisch-ladinisch-churwälscher Kreis ist natürlich als Bezeichnung einer romanischen Sprache ziemlich ungeeignet.
Graziadio Isaia Ascoli (1829–1907), der eigentliche Begründer der historisch-vergleichenden Romanistik in Italien, bediente sich dann der Bezeichnung ladino, um einen wissenschaftlichen Terminus zu schaffen. Man darf nicht vergessen, dass Ascoli überhaupt gerne neue Namen erfand: Für seine eigene Wissenschaft ersann er die Bezeichnung glottologia, lange Zeit das in Italien übliche Wort statt linguistica, für die Ostadriaküste, die offiziell Litorale Austriaco hieß, erfand er den Namen Venezia Giulia, und die Bezeichnung franco-provenzale ist bis heute in der internationalen Romanistik üblich. Ascoli beginnt seine 1873 veröffentlichten Saggi ladini mit folgendem programmatischen Satz:
„Comprendo sotto la denominazione generica di favella ladina, o dialetti ladini, quella serie d’idiomi romanzi, stretti fra di loro per vincoli di affinità peculiare, la quale, seguendo la curva delle Alpi, va dalle sorgenti del Reno anteriore in sino al mare Adriatico; e chiamo zona ladino il territorio da questi idiomi occupato.“
Weiter sagt Ascoli nichts zu seiner Wahl von ladino als Generalbezeichnung für die alpine Romanität. Für das Gadertal, dessen Bewohner „si sogliono riputare i ladini per eccellenza“, glaubt er, dass diese „specie di usurpazione“ von den „dotti“ ausgehe (Ascoli 1873, 33).
Mit Ascolis Wortprägung ladino als übergeordneten Begriff für Bünderromanisch, Dolomitenladinisch und Friaulisch verlassen wir aber den Bereich der Volkssprachlichkeit und treten in die Sphäre der wissenschaftlichen Terminologie ein. Im Italienischen hat sich der Terminus bis heute gehalten, in den anderen Sprachen hat sich hingegen Theodor Gartners Neuprägung Rätoromanisch durchgesetzt. Er begründet diese Wahl folgendermaßen (1883, XXI):
„Die römische Provinz, deren Grenzen (abgesehen von den jetzt verdeutschten Theilen) mit denen unseres Sprachgebietes ziemlich gut übereinstimmen), die Provinz, welche ein schwaches, längst zerfallenes, aber eben das einzige weltgeschichtliche Band um die einzelnen Theile unseres Sprachgebietes geschlungen hat, diese Provinz hiess Raetia; daher ist offenbar Raetoromanisch das passendste und zugleich am leichtesten verständliche Wort für unseren Begriff, und es lässt sich, wenn es in einer Schrift öfters gebraucht wird, ohne Gefahr zu Raetisch abkürzen.“
Dann folgen Ausführungen über historische Belege von raetoladinisch, rätisch, rätoromanisch aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, wo aber meistens das Bündnerromanische in Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Gartners Darlegung endet mit folgender Bemerkung:
„Auch die Verlagsbuchhandlung, die zu der vorliegenden Grammatik das Schöpferwort gesprochen hat, hat sich für den Namen Raetoromanisch entschieden; möge sie damit in ganz Deutschland durchdringen.“
Für Gartner ergeben sich also drei Argumente für seine Neuprägung des wissenschaftlichen Terminus raetoromanisch: 1. der Rückgriff auf die antike römische Provinz Raetia, „deren Grenzen [...] mit denen unseres Sprachgebietes ziemlich gut übereinstimmen“ (was so nicht stimmt, denn Friaul und der größte Teil der Dolomitenzone hat nicht zu Rätien gehört); 2. das Vorhandensein der Bezeichnung rätisch in der sprachlichen Tradition vor allem Graubündens; 3. der Wunsch der Verlagsbuchhandlung Henniger in Heilbronn nach einem zugkräftigen Namen für das Sprachgebiet.
Theodor Gartner erlebte den Siegeszug seiner Wortprägung rätoromanisch, und am Ende seiner Universitätskarriere in Innsbruck schrieb er, zögernd eingehend auf einzelne Kritikpunkte (1910, 8):
„Besser eignet sich für unseren zweck der gelehrte ausdruck rätoromanisch. Die Schweizer meinten damit ursprünglich nur die mundarten Graubündens, dann aber bezog man ihn auch auf die verwandten mundarten Tirols und schiesslich auch auf das Friaulische, obwohl Friaul nicht zu Rätien gehört hat. Bei der ersten, engsten begriffsbestimmung dachte man an die Rätier, wie sich die Romanen des Grauen Bundes und des Gotteshausbundes nannten, als sie sich am ende des 15. jahrhunderts mit den Helvetiern der sieben kantone verbündeten; bei der ersten erweiterung des begriffes Rätoromanisch konnte man sich auf die römische provinz Rätien berufen, die ja im SO auch bis zur Sellagruppe reichte, und noch genauer trifft der Name zu, wenn man ihnauf die Räter