DOORS - WÄCHTER - Markus Heitz - E-Book

DOORS - WÄCHTER E-Book

Markus Heitz

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Beschreibung

"DOORS" - das neue Buchkonzept von SPIEGEL-Bestseller-Autor Markus Heitz geht in die zweite Runde! Auch in der zweiten Staffel wirst du wieder vor die Wahl gestellt: Am Ende der kurzen Pilotfolge "Drei Sekunden" bieten sich dir drei Möglichkeiten, dich zu entscheiden: drei Bücher, drei alternative Geschichten – welche Wahl wirst du treffen? Du hast dich für "DOORS – WÄCHTER" entschieden? Dann begleite den Schreiner Anton, der im Auftrag seines Meisters eine mysteriöse Tür anfertigt, und schon bald zum Gejagten wird: Den Überfall auf seinen alten Ausbilder kann Anton nicht verhindern, der betagte Schreiner landet im Koma. Seine Familie bittet Anton, die Tür fertigzustellen, an welcher der Meister unermüdlich arbeitete. Die uralten Aufzeichnungen dazu verwirren Anton. Es ist von Steinsplittern die Rede, die verwendet werden sollen, und wo sie zu finden sind. Kann die Tür wirklich derlei Wunder vollbringen, wie es in den antiken Zeilen beschrieben steht? Plötzlich hackt sich eine Person namens Nótt in sein Leben und stellt alles auf den Kopf. Auch die Angreifer von damals haben Anton längst ins Visier genommen und jagen ihn, die Unterlagen - und die Tür. Was hat es damit auf sich? Wer sind die Gegner? Anton bleibt keine Wahl: Er muss die Tür fertigstellen, um zu verstehen und zu überleben… Bisher erschienen: DOORS - Staffel 1 DOORS - Der Beginn DOORS ! - Blutfeld DOORS X - Dämmerung DOORS ? - Kolonie DOORS - Staffel 2 DOORS - Drei Sekunden DOORS - ENERGIJA DOORS - WÄCHTER DOORS - VORSEHUNG

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Seitenzahl: 368

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Markus Heitz

DOORS WÄCHTER

Thriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Als sein Lehrmeister überfallen wird, hat Anton keine Wahl: Er selbst muss nun die geheimnisvolle Tür fertigstellen, an der dieser unermüdlich arbeitete. Die uralten Aufzeichnungen dazu sind verwirrend. Kann die Tür mithilfe mysteriöser Steinsplitter wirklich derlei Wunder vollbringen, wie es in den antiken Zeilen beschrieben steht? Und plötzlich nehmen die Angreifer auch Anton ins Visier, jagen ihn, wollen um jeden Preis verhindern, dass er das Werk seines Meisters vollendet. Wer sind die Gegner? Anton bleibt nur wenig Zeit, um zu verstehen und zu überleben …

Inhaltsübersicht

IntroKapitel IKapitel IIKapitel IIIKapitel IVKapitel VKapitel VIKapitel VIIKapitel VIIIKapitel IXKapitel XKapitel XINachklangLeseprobe »DOORS ENERGIJA«
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Wenn Sie erfahren wollen, welche tödliche Entdeckung die Hackerin Suna Levent macht, lesen Sie von Beginn an.Wenn Sie den Professor Sergej Nikitin warnen wollen, beginnen Sie bei Kapitel 1.

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Intro

Deutschland, Frankfurt am Main, Spätsommer

Der Vorteil an der Frankfurter Freßgass war, dass sich niemand über Menschen in einem Café wunderte, die zwei Smartphones, einen Tabletcomputer und einen Laptop auf dem Tischchen deponierten. Im Schatten der Banktürme gehörte es zum Alltagsbild.

Auch die Bluetooth-Sprecheinrichtung im rechten Ohr von Suna Levent war in Mainhattan normal. Sie lauschte den Dankesworten ihres Gesprächsteilnehmers, der Aberhunderte Kilometer entfernt in seinem Büro saß und via Internet über eine sichere Leitung auf Englisch mit ihr redete, während sie die braunen Augen wechselweise auf die Displays richtete. Der gravierende Unterschied zu anderen Leuten in Frankfurt bestand darin, dass es in diesem Gespräch nicht um Bankgeschäfte ging.

»Um es nochmals zu betonen: bester Stoff, den Sie geschickt haben«, sagte der Mann.

Suna grinste. »Habe ich Ihnen doch gesagt, Takahashi-san.«

Die junge Deutschtürkin, der man ihre Volljährigkeit zu ihrem eigenen Bedauern nicht ansah, nippte an ihrem schwarzen Kaffee, in den sie Kardamom, Zimt, Nelken, Pfeffer, Piment und Muskatnuss gestreut hatte. Sie führte die Gewürze stets mit sich.

»Wie sind Sie da rangekommen, Miss Levent?«

»Hat lange gedauert, bis ich einen Hersteller dafür fand.« Suna beobachtete die Anzeigen, auf denen beständig neue Infos aus dem Internet und dem Darknet erschienen. In ihrem Anzug und dem weißen Hemd mit dem locker gebundenen Schlips wirkte sie wie eine Praktikantin eines Investmentbüros. Die abgeranzten Sneakers brachen das Bild jedoch. »Verraten Sie mir: Was hat am meisten geknallt?«

»Bei mir oder meinen Freunden?«

»Beides. Damit ich weiß, was ich Ihnen als Nächstes schicken kann.«

»Waldmeister«, lautete die Antwort. »Auch das Toffee-Salzkaramell war extrem gut. So was wie Ihre Schaumküsse findet man in Tokio nicht.«

»Immer wieder eine Freude. Sie sehen, ich lege das Geld aus dem Stipendium Ihrer Stiftung gut an. Die kleine Firma fertigt die besten an. Ich mag die mit flüssigem Kern am liebsten.« Suna lehnte sich vor, öffnete ein Befehlsfenster und änderte den Suchalgorithmus von einem ihrer selbst geschriebenen Stöberprogramme. Dieses nannte sie Akilli ihtiyar, nach einem türkischen Märchen. »Ich habe ein paar Neuigkeiten für Sie, Takahashi-san.«

»Oh, sehr gut.«

»Die Berichte sende ich Ihnen vom neuen Spot, also in etwa« – Suna blickte auf die eingeblendete Uhr – »einer halben Stunde. Aber ich wollte schon mal sagen, dass ich meine Schätzchen verbessert habe.« Stolz schwang in ihrer Stimme mit.

»Könnten Sie das ausführen?«

»Sagen wir, ich komme jetzt in die Chatverläufe nicht weniger Kommunikationsanbieter und lasse dort nach Ihren Stichworten suchen. Inland und Ausland. Und auch Videoverbindungen, wobei die Spracherkennung bei der Auswertung noch Schwierigkeiten macht. Je nach Sprache.« Suna trank vom Kaffee und gab zwei weitere Stück Zucker hinein. Wie gerne hätte sie einen Vanilleschaumkuss gegessen. Mit flüssigem Kern. »Aber es funktioniert nicht schlecht. Die Filter reagieren inzwischen auf Ark, Arkus, Meteoritgestein, Particulae und Particula, Tür, Durchgang und die anderen Parameter, die ich von Ihnen bekommen habe, Takahashi-san.«

Suna wusste, dass ihr Tun hochgradig illegal war: das Ausspionieren von digitaler Kommunikation, wie es die CIA, der MI6, das chinesische Ministerium für Staatssicherheit, der FSB und so ziemlich jeder Geheimdienst der Welt tat. Sunas Software trojanerte sich in legale und illegale Behörden, suchte mit deren Rechnerfarmen nach den vorgegebenen Schlagworten und prüfte im nächsten Schritt autonom, ob sie miteinander in Beziehung standen.

Dafür bekam Suna als Lohn ein sogenanntes Stipendium von der Kadoguchi-Stiftung, offiziell für ihr Studium. Bei zehntausend Euro pro Monat ein schönes Sümmchen, plus Gratifikationen bei zusätzlichen Leistungen. Steuerfrei.

Suna betrachtete es als Testlauf ihrer Software, die später Behörden und illegale Rechnerzentren von Regierungen nutzen würden. Abgesehen davon klangen die Suchworte Türen, Meteoriten, Ark, Particulae weder gefährlich noch terroristisch. Mehr nach Esoterikspinnern und niedlichen Weltverschwörern.

»Ich bin auf eine Sache im CERN gestoßen, Takahashi-san.« Suna vergrößerte die Anzeige, um sie besser lesen zu können. »Sie wissen, was das europäische Forschungszentrum in der Schweiz macht?«

»Sicherlich, Miss Levent. Physikalische Grundlagenforschung auf allerhöchstem Niveau.« Takahashi klang angespannt. »Der Unfall?«

»Ja. Nur dass es womöglich kein Unfall war. Jemand schreibt in einem Chat, dass es unverantwortlich gewesen sei, das Fragment mit Teilchen zu beschießen, ohne die Beteiligten in der Anlage zu warnen.« Suna überflog den Nachrichtenverlauf. »Die erwartete Detonation des Particula sei glimpflich verlaufen. Der andere Teilnehmer des Chats wiederum geht von Sabotage aus.«

»Sehr gut, Miss Levent! Bitte alle Details dazu an uns. Was noch?«

»Einen toten Museumswächter in London, während der langen Nacht der Museen, in der Ägyptischen Abteilung«, las Suna vom nächsten Artikel auf dem Monitor ab. »Ein nicht benannter Augenzeuge behauptet, es habe etwas mit dem Sarkophagdeckel zu tun. Die unglückselige Mumie wird das Exponat genannt. Ziemlich abgefahrene Sachen. Wie in den alten Gruselfilmen.«

»Wieso reagierte Ihr Suchprogramm darauf?«

»Weil im Bericht steht, dass der Augenzeuge auf Steine aus der Sonne, also Meteoriten, aufmerksam machte, die angeblich im Deckel dieses Sarkophags eingelassen sind.«

»Ist der Deckel verschwunden?«

»Dazu steht hier nichts.« Suna hatte sich abgewöhnt, diese wirren Meldungen in Einklang bringen zu wollen. Sollte Takahashi selbst schauen, was davon für ihn zusammenpasste. »Und natürlich berichtete ein Junge vom Fluch einer altägyptischen Priesterin, der dabei eine Rolle spielt.«

»Natürlich.« Takahashi lachte. »Fehlen noch lebendige Mumien.«

»Solange es keine Zombies sind. Mumien sind cool.« Sunas Blicke wanderten auf den Monitor des Laptops. Neue Fenster waren aufgepoppt. »Takahashi-san, eben kamen noch zwei Sachen rein.«

»Lassen Sie hören, Miss Levent.«

»Es ist die Rede von einem Professor Sergej Nikitin, der in Cadarache Versuche mit Particulae vornehmen soll, damit jemand anderes weiter an Lithos arbeiten kann. Im Jules-Horowitz-Reaktor.« Suna prüfte in einem neuen Tab, wovon die Rede war. »Das ist ein Materialtestreaktor, der noch gar nicht in Betrieb ist. In Südfrankreich. Eigentlich startet er erst 2021.«

»Anscheinend läuft er bereits«, fügte Takahashi an. »Spannend.«

»Jedenfalls ist der Wortlaut der Nachricht recht unfreundlich. Scheint, als stünde der Professor kurz vor dem Rauswurf.« Suna leerte den Kaffee mit einem großen Schluck, das Gewürzpulver verteilte sich auf ihrer Zunge. »Dann habe ich noch einen Wilhelm Pastinak. Er soll den Schlüssel zu einem Ark haben, durch das, was er bei sich zu Hause eingelagert hat.« Sie las die Nachricht erneut und verstand nichts davon. »Ich lass das jetzt mal. Da kommt ein Dialog, der nach Kochrezept klingt. Verfasst ist das Original auf Russisch. Hab ich von einem Programm übersetzen lassen. Keine Ahnung, wie genau das ist.«

»Ich kümmere mich darum, Miss Levent.«

»In einer halben Stunde haben Sie alles. Ich bin hier schon zu lange im Hotspot.«

»Fühlen Sie sich verfolgt?«

Suna zögerte. »Nur von meinem psychotischen Ex. Weswegen fragen Sie?«

»Nur so. Man … weiß ja nie.«

Suna runzelte die Stirn. »Ich kann mir denken, dass es nicht ganz so harmlos ist, was mich die Stiftung suchen lässt, auch wenn ich nicht verstehe, was es soll.«

»Sie müssen sich keine Sorgen machen.«

Nervös schaute sich Suna um. »Oder liegt es an der Kadoguchi-Stiftung? Haben Sie Stress mit irgendwelchen Behörden? Steuerfahndung? Werden Sie observiert?«

Takahashi lachte. »Nein, da ist nichts.«

»Nun ja, die Struktur Ihrer Einrichtung ist nicht ohne. Letztlich führt die Finanzierung über Umwege zum Konsortium der Van-Dam-Familie.« Suna hatte sich informiert. »Dann der Name der Stiftung: Kadoguchi. Dass das Wort Portal oder Tor bedeutet und ich meine Spürprogramme nach Türen suchen lasse, ist vielleicht kein Zufall. Was meinen Sie?«

Schweigen.

»Takahashi-san?«

»Ich würde Ihnen raten, nicht die Hand zu beißen, die Sie füttert, Miss Levent«, sprach Takahashi kühl. »Halten Sie sich an Ihren Auftrag, und senden Sie mir bitte die Berichte. Richten Sie Ihre Programme vorerst auf Herrn Pastinak und Professor Nikitin. Mehr müssen Sie nicht tun. Und sollten Sie auch nicht. Einen guten Tag.« Der Mann legte auf.

Suna hob die Augenbrauen. »Wow«, murmelte sie. So kannte sie den kontrollierten Japaner nicht. Innerhalb weniger Sekunden hatte sie den Eindruck bekommen, in üble Scheiße geraten zu sein. Ganz ohne ihren psychotischen Ex-Freund.

Zur Nervosität gesellte sich Paranoia, die ihr als Hackerin bekannt war; mal unterschwellig, mal ausgeprägt, bis hin zu Phasen mit akuten Schüben und Angststörungen, bei denen Suna sich tagelang in ihrer Wohnung verschanzte oder sich rund um die Uhr mit dem ÖPNV bewegte, um kein leichtes, stehendes Ziel zu sein.

Schnell weiter. Hastig legte sie die neuen Suchparameter für Akilli ihtiyar fest, raffte die Smartphones an sich, packte Tablet und Laptop weg. Mit wenigen Handgriffen waren die Ladekabel der Powerbank angeschlossen, damit den Geräten unterwegs nicht der Saft ausging. Sie platzierte das Geld für den Kaffee auf den Tisch und verließ das Café.

Auf dem Weg zum nächsten Hotspot sah Suna sich immer wieder um, nutzte Scheiben und reflektierende Oberflächen, um hinter sich zu blicken.

Noch wusste sie nicht, was es mit den Particulae auf sich hatte, im regulären Netz fand sie nichts darüber. Dank ihrer anderweitig gewonnenen Erkenntnisse nahm sie an, dass es sich dabei um extraterrestrisches Gesteinsmaterial handelte. Offenbar gab es verschiedene Interessenten dafür; wer genau und wofür, war ihr nicht klar.

Mit den Meldungen über CERN und den Forschungsreaktor im französischen Cadarache, der offiziell noch nicht lief, erreichten die Infos einen neuen Level.

»Du hättest es Takahashi nicht sagen sollen«, schimpfte Suna leise vor sich hin und bog in eine Nebenstraße der Freßgass ab. In der Öffentlichkeit kamen ihre Selbstgespräche selten gut an, aber sie halfen ihr beim Nachdenken und Verarbeiten. »Da hast du dich mal schön selbst reingeritten.«

In den Spionagefilmen wurden Hacker und Mitwisser ausgeschaltet, wenn sie vom Plan und ihrem Auftrag abwichen. Ihr Puls stieg, Schweiß brach ihr aus und rann unter dem Hemd hinab.

»Scheiße.« Suna griff in ihre Jacke und nahm einen Blister mit Beruhigungstabletten heraus. Sie würden sie körperlich träge machen, aber die guten Medikamente gegen Panikattacken stellten sie gedanklich kalt.

»Erledige deinen Job«, raunte Suna. In einer ruhigeren Gasse ging sie in die Hocke, lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer, nahm den Laptop heraus und loggte sich in das offene WLAN ein, um den Router von Frieda Illmann zu nutzen, die offenbar hinter dieser Wand wohnte. »Mach einfach deinen Job. Nicht einmischen. Hab ich dir immer gesagt.«

Mit den hastig ausgepackten Smartphones ging sie in zwei weitere, schlecht gesicherte WLAN von Bewohnern der Straße, Peter Uschmann und Theo Reuters, verband ihr Tablet damit und schaute, welche Neuigkeiten ihre emsigen Programme farmten.

Die Leute bemerkten nicht, dass Suna auf ihre Netzwerke zugriff und was über ihre Router und durch ihre Leitungen rann, bis sie möglicherweise eines Tages Besuch bekamen von dem Netzanbieter oder einem Sicherheitsteam. Das kam davon, wenn man die Passwörter nie änderte.

Während sie den Bericht an Takahashi fertig machte und eine Entschuldigung formulierte, flogen weitere Informationen herein. Zu Wilhelm Pastinak.

Sunas Finger kamen jäh auf der Laptoptastatur zum Erliegen. Sie starrte mit offenem Mund auf die Anweisung, die sie abgefangen hatte.

Auf dem Display blinkte in Englisch:

Bringt den alten Pastinak zum Schweigen!

Und das Umfeld ebenso.

Alles abgreifen, was ihr dort findet.

Auf Aufzeichnungen zu Türen achten.

Prämisse: Keine Particulae zurücklassen.

Suna blinzelte, eine Hitzewelle rollte durch sie. Wurde sie soeben Zeugin eines Mordauftrages?

»Scheiße. So eine beschissene Scheiße!« Aus einer simplen Beobachterin war plötzlich jemand geworden, der entscheiden konnte, was als Nächstes geschah. Das ging weit über das hinaus, was die Stiftung von ihr verlangte.

Was mache ich jetzt?

Es wäre ihr ein Leichtes, Wilhelm Pastinak zu kontaktieren und zu warnen – aber mit welcher Begründung? Dass sie aus Versehen die Nachricht erhalten hatte, glaubte ihr kein Mensch.

Eine weitere ging ein.

Lithos in Gefahr.

Liquidierung von Nikitin nötig.

Unfallverschleierung einleiten. Heute noch.

Bei Nachfragen: Liquidierung jeder betreffenden Person.

Code: Nachtschwarz.

Autorisierung: For The Uniform

»Ihr wollt mich doch verarschen«, wisperte Suna. »Das … das kann nicht sein!«

Sicher steckte Takahashi dahinter, um ihr eine Lektion zu erteilen und ihr indirekt zu drohen. Nein, das ist zu abwegig.

Aber sollten es ernst gemeinte Befehle sein, wurden zwei Menschen mit ihrem Wissen eliminiert. Das machte sie zur Beteiligten.

»Fuck!«, rief sie und starrte das Display an. »Was soll die Scheiße? Ich will nicht mit reingezogen werden!«

Sunas eigenes Smartphone klingelte, der Rufton meldete ihren Kumpel Egon. Sie betätigte die Annahme über die Bluetooth-Verbindung.

»Was?«, blaffte sie. »Ich hab jetzt echt keine Zeit für Schaumkuss…–«

»Jemand hat im Darknet ein Kopfgeld auf Nótt ausgesetzt«, unterbrach er sie. »Gerade eben!«

Suna gab einen Laut von sich, der zwischen Hilflosigkeit und Wahnsinn schwankte. Nótt. Das war ihr Hackerinname. Noch so ein Märchen- und Mythending. »Verarsch mich nicht, Alter. Ich hack dir deinen Spieleaccount tot, wenn –«

»Eine Million Euro. Für deinen Tod. Und wer deine Daten besorgen kann, sämtliche Daten«, fuhr Egon fort, »bekommt noch eine obendrauf.«

»Was heißt für meinen Tod? Kaltstellen und –«

»Nótt steht auf der Abschussliste, Suna! Einer echten, beschissenen Abschussliste! Es ist nicht irgendeine Drohung, um dich einzuschüchtern«, redete Egon aufgeregt weiter. »Was hast du gemacht? Wo bist du reingeraten? Welchem Arschloch bist du auf die Füße getreten? FSB? CIA? MI6? Mossad?«

Suna warf sich zwei weitere Pillen ein, um die Panik zu dämpfen, auch wenn sie damit mehr oder weniger zu einem Faultier werden würde. Was war der Auslöser? Ihre Nachforschungen für die Kadoguchi-Stiftung konnten es keinesfalls sein, dafür war die Liste der Suchbegriffe zu banal, zu harmlos. Es ging weder um Staatsgeheimnisse noch Bankzugänge oder Aktienmanipulationen. Sondern nur um Dreckstüren. Und elende Particulae – was immer das war. Oder sind das in Wahrheit irgendwelche Regierungscodewörter?

Dann fiel ihr noch eine Möglichkeit ein.

»Mein Ex. Irgendeine Scheiße von meinem Ex«, sprach Suna. Ihre Kehle und der Mund waren trockener als die Sahara. »Er kann diesen Kack angezettelt haben. Wie soll das Geld bezahlt werden?«

»Über Netcoins.« Im Hintergrund klapperte er auf einer Tastatur. »Der Aufruf verbreitet sich extrem schnell. Zwei Leute haben sich bereits gemeldet, die den Job machen wollen. Ex-Söldner. Nótt hat kaum Freunde, ne? Weißte selbst.« Egon senkte die Stimme. »Suna, sobald sie persönliche Daten von dir finden, bist du –«

»Das war so klar!« Aus dem Schatten einer Mülltonne trat ein junger Mann, den Suna bestens kannte. Orangefarbene Jeans zu weißen Shirts trug nur einer in ihrem Umfeld. »Immer noch die alte Hotspot-WLAN-Route. Es ist so leicht, dich zu finden.«

»Scheiße, der auch noch«, flüsterte sie. »Egon?«

»Ja?«

»Finde raus, wer das Kopfgeld aussetzte. Ich ruf dich gleich wieder an.« Suna beendete die Verbindung und erhob sich langsam, blieb dabei mit dem Rücken gegen die Hauswand gelehnt und hielt das Tablet in der Hand.

Ihre Finger flogen über die digitale Tastatur und setzten warnende Mails auf: eine an die Schreinerei von Wilhelm Pastinak, eine an die persönliche Website von Professor Nikitin. Sollten die Männer selbst entscheiden, was zu tun war.

Ohne aufzublicken, fragte Suna: »Was willst du, Stefan?«

Mit einem langen Schritt stand der dunkelblonde junge Mann vor ihr und nahm ihr das Tablet weg, bevor sie die Mails absenden konnte. »Schau mich gefälligst an, dumme Bitch!«

Sie ballte die Hände zu Fäusten und sah ihren einstigen Liebhaber an. Sie hatte ihn bereits nach einem Monat abgeschossen, weil er ihr nachgeschnüffelt und versucht hatte, an ihre Daten zu kommen. An ihre Programme. Er hatte an Nótts Geheimnisse und Wissen herangewollt, über die Gefühle der Frau. Der älteste Trojaner der Welt.

»Gib es mir zurück.« Sie entdeckte Abschürfungen, Prellungen und Blutergüsse in seinem eigentlich ansprechenden Gesicht. »Was ist mit –«

»Das waren Freunde von dir!«, schrie er sie an. »Du feiges Stück! Hetzt mir deine Türken-Assis auf den Hals.«

»Ich? Nein, ich …« Suna grabschte nach dem Pad. »Los, her damit!«

Stefan zog das Gerät weg und verpasste ihr eine Ohrfeige, die Suna zur Seite warf und auf die Knie fallen ließ. »Sie hatten sich maskiert, die Dönerficker. Der eine wurde von den Wichsern Xatar genannt. Wie der Türsteher vom Shishaversum. Dein guter Kollegah.«

Suna sah wütend zu ihm auf. »Ich hatte damit nichts zu tun.« Sie wich seinem ersten Tritt aus. Die Schuhspitze streifte die Wand, Putz bröckelte ab. »Bist du irre? Du –«

Der zweite Tritt traf sie in die Seite. Unwillkürlich krümmte sie sich und hielt sich die brennenden Rippen. Das Atmen tat weh, Tränen schossen ihr in die Augen.

»Das bezahlst du mit Schmerzen«, brüllte er und zertrampelte ihre Tasche. »Wie konnte ich dich mal geil finden, hä?« Knackend barsten die Smartphones und der Laptop unter der Wucht und dem Gewicht.

»Nein!«, rief Suna und wollte sich über die Computertasche werfen. Aber es war zu spät. Der stechende Geruch von sich zersetzenden Akkus und der Rauch verrieten, dass die zerstörte Powerbank durch eine Spannungsspitze eine Katastrophe angerichtet hatte.

»Und wenn sie dich im Krankenhaus zusammenflicken, wirst du an mich denken.« Stefan zog ein Klappmesser. »Und wenn du mir deine Kümmel-Assis wieder schickst, bringe ich dich um. Mir scheißegal, was du denen vorlügst.« Er machte einen Schritt auf sie zu und ließ den Tabletcomputer achtlos fallen, der halb aus seiner Hülle rutschte. »Du kannst sagen, du wärst mit dem Gesicht durch eine Glasscheibe gefallen.«

Suna stemmte sich hustend in eine sitzende Position. Sie hatte Xatar einmal von Stefan erzählt und was er mit ihr abgezogen hatte. »Ich wusste nicht, dass er losgeht und dich verprügelt.« Sie betastete ihre Seite. »Aber gerade wünsche ich mir, er hätte dir die Eier abgerissen.«

Stefan rammte ihr das Knie ins Gesicht.

Suna konnte sich eben noch wegdrehen, das Knie traf sie daher nicht frontal auf die Nase, sondern seitlich am Kopf und warf die junge Deutschtürkin gegen die Wand.

Eine Platzwunde tat sich auf. Benommenheit breitete sich gnädig in ihrem Denken aus. Sie sah Stefan undeutlich, schmeckte ihr eigenes Blut im Mund. Die Lippe war gerissen, und sie hatte sich auf die Zunge gebissen. Sie war ihm hoffnungslos unterlegen.

»Hey, Sie!«, erklang unvermittelt eine Frauenstimme. »Was machen Sie da?«

Stefan wandte sich um. »Geht Sie nichts an. Verschwinden Sie.«

»Ist das ein Messer in Ihrer Hand?«

»Verpiss dich!« Stefan hob den Arm und ließ die Klinge im Licht aufleuchten. »Und nicht die Bullen rufen.«

»Werde ich nicht.« Die unscheinbare Frau kam mutig näher – und zog eine Pistole unter dem Kurzmantel hervor. »Ganz sicher nicht.«

»Mit der Schreckschusswaffe machst du mir –«, setzte Stefan an.

Es knallte zweimal.

Suna sah das Shirt auf Stefans Rücken zucken, dann entstand dort ein centgroßes Loch, an dessen ausgefransten Rändern Blut haftete. Roter Sprühnebel verteilte sich hinter ihm, darüber schoss eine armlange Fontäne aus dem Hinterkopf. Leise prasselte das Rot auf den Asphalt.

Zuerst regte sich Stefan nicht. Dann verlor er das Messer und fiel steif wie ein Stück Holz rückwärts um und schlug auf der Straße auf. Es roch nach frischem Blut.

Suna wollte schreien, vor Angst, vor Grauen und um Hilfe. Doch aus ihrem geöffneten Mund drang nur ein leises, heiseres Fiepen.

Die Frau in Alltagskleidung kam näher und warf einen Blick auf die offene Tasche und die zerstörten Elektrogeräte. Sie ging vor Suna in die Hocke, um auf Augenhöhe mit der Verletzten zu sein. Sie war etwa vierzig, die halblangen blonden Haare hatte sie im Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Aus dem Lauf ihrer Halbautomatik stieg gräulicher Rauch, die abgefeuerte Waffe hielt sie lässig in der Rechten. »Suna Levent?«

»Nein. Nein, das bin ich nicht«, stieß Suna aus und atmete hektisch, trotz der brennenden Rippen. »Das ist eine Verwechslung.«

»Was wissen Sie über die Türen?«

»Welche –«

»Particulae? Das Ark-Projekt?«, hakte ihre Retterin nach. »Cadarache. Versuche mit Particulae. Lithos. Jules-Horowitz-Reaktor. CERN. Schreinermeister Pastinak.«

»Keine Ahnung. Wirklich, keine Ahnung! Es ist eine Verwechslung.« Suna hasste das Zittern, das sich über ihren Körper ausbreitete. »Sie müssen mich –«

»Aber Sie sind doch Nótt?«

»Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen.«

»Sie haben Erkundigungen eingezogen.« Die Frau blickte auf die qualmende Computertasche. »Schade, dass das alles nur noch Schrott ist. Sonst hätte ich die Wahrheit gleich vor Augen gehabt.«

Sie weiß nicht, dass das Tablet unbeschädigt ist. Suna sah ihre Chance, Nikitin und Pastinak doch noch zu warnen. Das Auftauchen der Killerin bewies, dass nichts von dem, wonach sie gesucht hatte, harmlos war. Suna hasste Takahashi und die Stiftung aus ganzem Herzen dafür, sie in diese Lage gebracht zu haben. »Ich bin nicht Sundra Lovend oder wen immer Sie suchen.«

Die Frau lächelte kalt, knapp und müde. »Netter Versuch, Kleines.« Die Mündung schwenkte hoch und richtete sich auf die Stirn der Hackerin. »Tut mir leid. Wissen schützt vor Strafe nicht. Den Rest lasse ich mir von deinem Freund Egon erklären. Er weiß gewiss, wie ich an dein Back-up komme. Oder deinen Cloudspeicher.«

Die wird mich abknallen! Suna stieß sich mit ganzer Kraft von der Wand ab und warf die Frau um.

Fluchend ging die Killerin zu Boden. Krachend löste sich ein Schuss und verfehlte Suna um Zentimeter.

Suna hechtete nach Stefans Messer und packte es, schleuderte es mit einem Schrei nach der Frau und versuchte dann, das Tablet unter der Leiche ihres Ex-Freundes herauszuziehen.

Die Klinge wirbelte durch die Luft und traf überraschend präzise den zur Abwehr erhobenen Unterarm der Killerin, was die Frau zum Aufschreien brachte. Die Finger gaben die Pistole frei, sie klapperte auf die Straße. »Fuck! Team Alpha, greift sie euch!«

Sie ist nicht allein! Suna bekam das Tablet nicht unter Stefans totem schwerem Körper hervorgezogen. Die Hülle hatte sich verkantet. Blut verteilte sich über das geborstene Display, füllte die Sprünge und Risse. Sie erkannte zwei offene E-Mail-Fenster.

Ein weiterer Schuss krachte, neben Suna platzte ein Stück Mauer ab.

Die Killerin tastete mit ihrem unverletzten Arm nach der verlorenen Pistole. »Das war es für dich, Nótt!«

Schritte verrieten, dass das alarmierte Team anrückte. In etwa drei Sekunden wären die Leute hier.

Die Zeit reichte allerhöchstens aus, um eine Mail auf den Weg zu schicken – aber an wen?

Professor oder Schreinermeister?

Und wenn sie stattdessen die Flucht ergriff? Drei Sekunden Vorsprung waren entscheidend. Lebenswichtig.

»So eine Scheiße!«

Nikitin und der Reaktor, der offiziell noch gar nicht lief und Experimente mit etwas namens Lithos machte?

Pastinak und seine Türen mit Particulae samt Aufzeichnungen?

Oder ihre eigene Sicherheit, um dem Mysterium auf den Grund zu gehen, das zu ihrem Kopfgeld geführt hatte?

Die Schritte näherten sich rasend schnell.

Die Killerin bekam ihre verlorene Pistole zu greifen.

Sunas drei Sekunden waren fast um.

Eine Entscheidung musste getroffen werden.

Eine Entscheidung auf Leben und Tod …

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Kapitel I

Deutschland, Annweiler am Trifels, Spätsommer

Waaas?« Anton sah gespielt entsetzt über die kleine Runde, die sich in der Küche von Wilhelm Pastinak versammelt hatte. »Die Teller der Monsterchen sind schon wieder leer?«

Einmal im Monat war er bei dem betagten Schreinermeister zu Gast, mit Kind und Kegel. Es wurde erzählt, gealbert, gelacht sowie über Aufträge, die Werkstatt und Handwerksfragen gefachsimpelt. Sein ehemaliger Ausbilder, dessen Betrieb Anton übernommen hatte, sparte nie und tischte ordentlich auf.

»Der Kuuuchen ist sooo leckeeer!« Antons Tochter Annabell reckte den leer gegessenen Teller mit einem breiten Lächeln zu Wilhelm, der am nächsten an der Platte mit dem restlichen Beerenkuchen saß. Sie war acht Jahre alt und so hinreißend wie ihre vierjährige Schwester Evelin, die neben ihr hockte und sich rasch den letzten Bissen in den Mund stopfte. Mit Wimpernklimpern bat sie ebenfalls um Nachschlag. Die farbenfrohen Sommerkleidchen standen den brünetten Mädchen prächtig.

»Anton, sieh nur! Als gäbe es bei uns nichts zu essen«, sagte Antons Frau Kathrin lachend. Sie trug Shorts und Bluse und hatte den zweijährigen Hans, das jüngste Mitglied der Familie Gärtner, vor sich auf dem Schoß, der mit sichtlichem Appetit von den Früchten naschte. Nach einem Biss in eine saure Stachelbeere verzog er das Gesichtchen und hangelte nach den süßen roten Erdbeeren.

»Schon. Aber nicht so einen Kuchen.« Wilhelm gab den glücklichen Mädchen je ein Stück und einen Klacks frische Sahne. »Schlagt nur zu. Ich habe noch.«

»Zu Hause essen sie wie die Spatzen, aber bei dir …« Anton, die halblangen braunen Haare im Pferdeschwanz gebändigt, grinste und schenkte Wilhelm Kaffee nach.

Er wusste, dass sie der Ersatz für die Familie waren, die Pastinak selbst nicht hatte. Allen Nachfragen, warum es niemals geklappt hatte, eine Frau zu finden und eigene Kinder großzuziehen, war er stets ausgewichen. Seit seinem Ruhestand machte der graubärtige Mann immerhin Andeutungen, sprach von einer Aufgabe, die es ihm nicht erlaubt habe.

Doch ohne Kinder keine Erben.

Und so hatte Wilhelm seinem besten Absolventen vor vier Jahren die Werkstatt überschrieben. Mit Mitte sechzig war es Zeit gewesen. Dafür bin ich ihm ewig dankbar.

Anton hatte die Gunst genutzt und die Schreinerei weitergebracht. Sein hoher Anspruch hatte ihm weltweit einen guten Ruf und mehrere internationale Preise für innovative Designs eingebracht. Die Aufträge flatterten vom ganzen Erdball herein, und so schnitzte, hobelte, verkleidete und veredelte Anton die Zimmer der Reichen und Superreichen in den unterschiedlichsten Ländern, während seine Angestellten im beschaulichen Annweiler weiterhin vom Fensterrahmen über Tür bis zum Raumteiler kleinere Bestellungen ausführten. Natürlich nach seinen Plänen.

Auf Antons Renommee war Wilhelm fast noch stolzer als er selbst.

»Geht doch mal raus, ihr Lieben. Im Garten wartet eine Überraschung«, sagte der alte Schreiner zu den Mädchen, als die Teller leer und abgeleckt waren.

»Eine Überraschung!«, rief Annabell freudig und schlug die Hände vor Nase und Mund.

»Für uuuns!«, krähte Evelin, und schon waren sie von den Stühlen aufgesprungen und flitzten lärmend durch das alte Haus.

Kathrin lächelte Wilhelm an. »Ist es der Dinosaurier, mit dem sie mir die ganze Zeit in den Ohren liegen?«

Wilhelm nickte und rieb sich einige Kuchenkrümel aus dem kurzen Silberbart. »Aber er ist nicht ganz so groß wie ein echter.«

»Mama!«, schrie Annabell glücklich durch die Zimmer, begleitet vom fröhlichen Quietschen ihrer kleinen Schwester. »Komm schnell! Das ist sooo toll und … doppeltoll!«

»Dann gehe ich mal den Dino bewundern.« Kathrin erhob sich mit dem kichernden Hans und verließ die Küche.

»Aussterben kann er nicht mehr«, rief ihr Wilhelm nach.

Als die Schritte und die hohen Stimmen der begeisterten Mädchen verklungen waren, stand Wilhelm auf und nahm aus der Kommode einige zusammengerollte Karten, deren Papier vergilbt und stockfleckig war. Der Geruch von Keller und Moder stemmte sich gegen den Duft von Kuchen und Kaffee.

»Ich habe neue Unterlagen«, verkündete Wilhelm, als sei es ein Staatsgeheimnis.

Anton nahm einen Schluck aus seiner Tasse und setzte das verständnisvolle Lächeln auf, das er seit Jahren auflegte, wenn der alte Mann seine Märchenstunde einläutete. »Du lässt nicht locker.«

»Weil ich denke, dass nur du es zu Ende bringen kannst.« Wilhelm rollte die Aufzeichnungen auseinander und nutzte Tassen, Zuckerdosen und Besteck zum Beschweren der Ecken. »Meine Hände sind zu ungenau geworden. Die Gicht, das Alter.« Er hob die Rechte, an der zwei Finger fehlten. »Das macht es auch nicht leichter.«

Anton räusperte sich und sah aus Höflichkeit auf die unterschiedlich großen ausgebreiteten Blätter. Absonderliche Schnitzanweisungen für eine Tür standen in unterschiedlichen Sprachen darauf, mal mit Schablone aufgebracht, mal in verschiedenen Handschriften hingekritzelt, mal mit geschwungenen Lettern notiert. Es wirkte wie ein Marsch durch Jahrhunderte und Generationen von verrückt gewordenen Schreinern. Wie oft hatte sein ehemaliger Ausbilder ihm schon solche Zeichnungen hingelegt. Er ist besessen davon. Woher hat er das ganze Zeug immer? Bei welchem Händler bekommt man so was?

»Wirkt spannend«, sagte Anton vorsichtig. »Im Winter habe ich –«

»Ich höre, dass du mir nicht glaubst. Wie in den letzten Jahren. Wie beim ersten Mal, als ich dir davon berichtete«, unterbrach ihn Wilhelm unwirsch. »Wo diese Pläne herkommen, entstanden weitere Türen. Mit verschiedenen Eigenschaften.«

»Konnten sie Monster ausspucken?« Anton pickte eine lose Beere von der Kuchenplatte und aß sie. Er musste seinen wunderlichen Meister einfach foppen.

»Wer weiß?«, gab der zurück.

Anton tat ihm den Gefallen und fragte: »Und was kann diese Tür?«

Zufrieden tippte Wilhelm mit dem Zeigefinger der vollständigen Hand auf einen Zettel, dessen Beschriftung in einem Code verfasst worden war. »Ich musste es lange versuchen, bis ich es übersetzen konnte.«

»Oh! Und?« Anton hörte selbst, dass er weder aufrichtig noch neugierig klang.

Wilhelm massierte seine Handgelenke. »Die Tür ist so etwas wie … eine Mastertür.« Er suchte die richtigen Worte. »Der übersetzte Text besagt, sie sei einstellbar.«

»Einstellbar?« Anton riss sich zusammen und verbarg sein Grinsen. Erst letztens hatte er an sonderbare alte Menschen gedacht, die voller Überzeugung von Dingen berichteten, die sie niemals selbst erlebt hatten. Die sich in absurde Vorstellungen hineinsteigerten, die jeden Verschwörungstheoretiker wie einen Anfänger wirken ließen. Sein alter Meister gehörte definitiv in diese Kategorie, was Anton bedauerte. Den Verstand zu verlieren, ohne es zu merken, war vermutlich nur für den Betroffenen tröstlich. Ich sollte ihn zu einem Arzt bringen, der ihn untersucht. Aber wie?

»Ja, einstellbar durch veränderte Anordnung der Particulae.« Wilhelm deutete auf die Löcher im Türblatt und im Rahmen. Er war voll und ganz in seinem Element. »Man kann damit durch Jahrhunderte reisen oder zu fremden Welten gelangen, in Regionen jenseits der Vorstellungskraft vordringen und –«

Anton blendete die Ausführungen aus. Etwas anderes erregte seine Aufmerksamkeit. Durch das Küchenfenster hatte er einen guten Blick auf die Straße, die abseits des beschaulichen Annweilers lag und zur Naturbegräbnisstätte Trifelsruhe führte. Wer hierherfuhr, hielt normalerweise nicht vor Wilhelms Haus an.

Aber der unbeschriftete, weiße Transporter tat es.

Auf der Fahrerseite schwang sich ein Mann mit Sturmhaube und weißem Overall heraus, eine schallgedämpfte, kleine, dunkle Maschinenpistole locker in der Rechten. Über seine Schulter warf er sich eine schwarze lange Transportrolle, in der man Zeichnungen und Pläne verwahrte.

Ihm folgten zwei weitere Maskierte. Mit Pumpgun-Schrotgewehr und einem brünierten Schnellfeuergewehr.

Zielsicher bewegte sich das Trio auf das Haus zu.

»Anton? Anton, du hörst mir nicht zu«, regte sich der Schreinermeister auf. »Verstehst du nicht? Es ist wichtig!«

Die Kinder! Kathrin! Anton ging zu vieles gleichzeitig durch den Kopf, um eine Ausrede parat zu haben. »Wir werden überfallen.« Er nahm sein Smartphone heraus und wählte den Notruf, dabei stand er auf.

»Was?« Wilhelm sah entsetzt aus dem Fenster. »Ich kann es nicht richtig erkennen. Was –«

»Drei Männer, bewaffnet und maskiert. Sie denken anscheinend, es gibt bei dir etwas zu holen.« Unwillkürlich richtete Anton den Blick auf die Karten, die ausgebreitet auf dem Tisch lagen. Sollte es möglich sein? »Schließ dich ein. Ich suche Kathrin und die Kinder.« Er rannte los und hörte nicht, was ihm Wilhelm nachrief.

Im Hinauseilen nannte Anton der Notrufzentrale die Adresse und was er gesehen hatte. Er legte auf, als er ins Freie stürmte, wo seine Töchter und seine Frau mit dem Jüngsten rund um den Holzdino tobten.

»Schnell! Alle in den Wald«, rief Anton und bedeutete ihnen, leise zu sein. Lass sie deine Angst nicht spüren. »Wir spielen jetzt Verstecken und Stillsein.« Er nahm Hans auf den Arm, legte den Zeigefinger auf den Mund und scheuchte seine Töchter zum nahen Unterholz. Dabei versuchte er, das Lächeln auf seinen Zügen zu behalten.

»Was ist los?«, raunte Kathrin und fasste ihre langen blonden Haare mit einem Band zusammen.

»Überfall«, erwiderte er angespannt. »Drei Typen. Mit Waffen.« Er schob seine Frau zum Waldrand und drückte ihr den Kleinen in die Arme. »Los! Und keinen Mucks.« Er wandte sich wieder zum Haus. »Ich rufe an, wenn die Gefahr vorbei ist.«

Kathrin griff seinen Unterarm. »Wohin willst du?«

»Nach Wilhelm schauen.«

»Hast du den Notruf gewählt?«

»Ja.«

»Dann lass das die Polizei machen. Du hast drei –«

»Mir passiert nichts.« Anton gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. »Ich weiß es. Glaub mir.«

Kathrin verschwand ins Dickicht und beruhigte den kleinen Sohn, der zu jammern anfing.

Mit pochendem Herzen schlich Anton zum Haus zurück, aus dem er die leise Unterhaltung der Eindringlinge vernahm. Er konnte Wilhelm nicht einfach irgendwelchen Typen überlassen, die angesichts der Waffen offenbar mit heftiger Gegenwehr gerechnet hatten. Was wollen die hier?

Behutsam stahl er sich ins Innere und nutzte seine Kenntnisse der Räumlichkeiten, um den schweren Schritten rechtzeitig auszuweichen, ohne entdeckt zu werden. Meter um Meter ging es voran.

Er schwitzte am ganzen Körper, und zwar nicht allein aufgrund der sommerlichen Temperaturen. Nur einmal zuvor hatte er solche Angst verspürt, vor drei Jahren in Mexiko, als sie am helllichten Tag in Mexiko-Stadt ausgeraubt worden waren, trotz Guide und Schutzgeldzahlung.

»… gekommen wegen meiner Meteoritenstücke?«, hörte er den Schreinermeister sagen. »Zu allen möglichen Aufschlagstellen bin ich gefahren und habe gebuddelt. Und jetzt wollen Sie meine Schätze einfach rauben!«

Deswegen war er so viel unterwegs!

Behutsam nahm Anton den Umweg über den Flur zur Küche, wich den knarrenden Stellen im Dielenboden aus und griff nach einer massiven Holzskulptur, um sie als Waffe einsetzen zu können.

Er lugte um die Ecke. Zu seinem Erstaunen hatte der Maskierte die schallgedämpfte MP auf den Tisch gelegt und sammelte die ausgebreiteten Pläne und Notizen nahezu ehrfürchtig ein.

»Das ist nichts. Lassen Sie das liegen!«, begehrte Wilhelm auf. Er saß auf dem Stuhl, bewacht von dem Vermummten mit der Pumpgun.

Der Dritte fehlte.

Das war nicht gut. Er konnte jederzeit irgendwo auftauchen. Vielleicht sogar im Garten. War Anton eben noch heiß, wurde ihm schlagartig kalt vor Angst. Er betete still, dass Kathrin den Sohn beruhigt hatte und die Mädchen sich in ihren Verstecken nicht verrieten.

»Sie wissen, wie wertvoll das alles ist, Herr Pastinak«, erwiderte der Mann und verstaute die Unterlagen behutsam in der mitgebrachten Transportrolle. »Sie haben sich lange damit beschäftigt, nehme ich an.«

Anton schaute perplex zwischen seinem Meister und den Eindringlingen hin und her. Sie halten das für echt. Wie er!

Der Anführer lächelte hinter seiner Sturmhaube, wie man an den Fältchen um die Augenpartie sah. »Sie stahlen die Unterlagen von einem Mann, der seine Freunde und alles verriet, an das wir glauben.«

»Ich habe nichts gestohlen«, widersprach Wilhelm. »Er hinterließ es mir.«

»Diese Pläne gehörten ihm nicht. Diebesgut kann man nicht vererben. Es hat einen rechtmäßigen Besitzer.« Der Maskierte klang plötzlich feindselig. »Hätten Sie nicht so viel im Internet herumgesucht, wären wir niemals auf Sie gekommen, Herr Pastinak.« Er nahm einen Zettel. »Gut, dass wir Sie rechtzeitig fanden. Sie wissen doch, wie gefährlich es ist.« Gespielt vorwurfsvoll wedelte er mit dem Papier. »Da stand es. All die Jahre.«

Gefährlich? Anton schluckte. Dann stimmt das alles, was er mir erzählt hat! Über diese Tür, an der er so lange schon arbeitet.

»Oh, ich sehe«, sagte der Anführer im weißen Overall nach einem Blick auf die Zeilen. »Sie haben den Code ins Deutsche übersetzt. Aber wir hätten noch ein paar Fragen.« Der Maskierte setzte sich und stellte die schwarze Hartplastikrolle neben sich. »Sie haben versucht, die Tür zu erschaffen?« Mit behandschuhten Fingern nahm er nacheinander einige Kiesel vom Tisch und hielt sie prüfend gegen das einfallende Sonnenlicht. »Mit diesen Steinen?«

»Es ist misslungen«, behauptete Wilhelm.

»Warum glaube ich Ihnen nicht, Herr Pastinak?« Der Mann warf das letzte Steinchen zwischen die Kuchenteller. »Wertlos.« Danach zog er einen Beutel aus seiner Tasche und nahm etwas Kleines heraus. »Das hätten Sie übrigens benötigt. So sehen echte Particulae aus.«

Die schwarz glänzenden Steine kullerten wenige Zentimeter über den Tisch. Sie unterschieden sich deutlich von den Kieseln.

»Woher haben Sie die?«

»Gerettet. Aus einem Feuer, das verheerend wütete. Ihre Idee, es mit Meteoritgestein zu versuchen, ist nicht falsch. Aber das wird nicht klappen. Oder in einem Desaster enden.« Der Maskierte betrachtete Wilhelm. »Sie haben die Tür fertig?«

Anton hörte einen Wagen am Haus vorfahren und schaute zu den Glasbausteinen. Durch die Verzerrung sah er einen blausilbernen Kombi, mit montierten Lichtern auf dem Dach. Die Polizei war eingetroffen. Endlich!

Dem unbedarften Anrücken der Streifenbeamten nach glaubten sie nicht an den geschilderten Überfall. Das kann schiefgehen. Anton nahm sein Smartphone heraus. Ein Anruf in Abwesenheit. Vielleicht hatte die Notrufzentrale versucht, ihn zu erreichen, um zu prüfen, ob es sich um einen Scherz gehandelt habe. Scheiße!

In der Küche hatte man das gemächliche Eintreffen des Streifenwagens nicht bemerkt.

»Das geht mit heutigen Materialien nicht«, erklärte Wilhelm. »An manche Hölzer kommt man gar nicht mehr. Das wissen Sie. Diese Anweisungen sind außerdem zu schlecht, um sich –«

Der Anführer der Truppe lachte leise und nahm sein Smartphone heraus, las die Nachricht auf dem Display. »Sie haben sie fertig.«

»Nein.«

»Dann geben Sie mir die Reste oder die vorbereiteten Elemente.«

»Weggeworfen.«

Und ich dachte, dass alles erfunden ist. Laut schlugen Autotüren. Anton sah zwei uniformierte Umrisse in Dunkel- und Hellblau, die auf den Eingang zuschlenderten. Dabei unterhielten sie sich, statt die Waffen zu ziehen und die Umgebung zu sichern.

Im gleichen Moment drehte sich der Anführer zum Fenster. »Es sind wirklich die Bullen.« Er tippte aufs Smartphone und sah über den Schreinermeister hinweg nach draußen. »Erledige sie!«

Der Gegner mit der Pumpgun hob den Blick und stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, was sich draußen abspielte. Die riesige Mündung schwenkte dabei weg von Wilhelm.

Ich muss irgendwas – Anton zuckte zusammen, als Schüsse aus dem oberen Stockwerk des Hauses fielen. Sie knallten hell und aggressiv im schnellen Takt. Nein! Oh, Gott!

Die blauen Umrisse jenseits der Glasbausteine gingen nach den ersten Schüssen zu Boden, tasteten wie groteske Zerrbilder nach ihren Pistolenholstern, was durch weitere Treffer unterbrochen wurde. Der Schütze hatte aus dem Fenster über dem Flur die beste Position.

Wilhelm nutzte die Gelegenheit und griff nach der schallgedämpften Mini-MP, die auf dem Küchentisch lag. »Ihr bekommt mein Lebenswerk nicht!« Er riss die fremde Maschinenpistole mit beiden Händen an sich und drückte an der Sicherung herum.

»Fuck«, rief der Maskierte mit dem Schrotgewehr. Die MP erwachte in Wilhelms Fingern zum Leben und spuckte leise ratternd ihre Kugeln aus. Die Projektile frästen eine rote Linie in den weißen Overall, schreiend ging der Unbekannte zu Boden und ließ dabei seine geladene Pumpgun fallen.

Prompt löste sie aus und verhinderte mit einer Wolke aus winzigen Bleikügelchen, dass sich der fluchende Anführer auf Wilhelm warf. Der Großteil der Geschosse verfehlte den Widersacher, doch seine linke Wade verwandelte sich in einen roten Fleischberg und die Spüle wurde in Stücke gefetzt.

»Raus!«, rief er schmerzvoll ins Smartphone und griff sich den Beutel mit den Particulae. Im Loshinken schleuderte er einen Stuhl, der den alten Mann umwarf und die nächste Garbe aus der Maschinenpistole fehlleitete.

»Was ist mit Jo?«, hörte Anton die Stimme des Dritten über sich.

»Hat’s erwischt. Weg, bevor noch mehr Bullen aufkreuzen.« Der unbewaffnete Anführer erschien im Türrahmen und starrte Anton an, der sofort drohend die Holzstatuette hob. Statt zurückzuschrecken, drückte er den Deckel der Transportrolle auf und ließ die kostbaren Particulae hineinfallen. »Wir haben alles, was wir brauchen.« Ohne sich um den jungen Schreiner zu kümmern, humpelte er hinaus.

Das Rumpeln vor dem Haus verriet, dass der Dritte mit dem Sturmgewehr kurzerhand aus dem Fenster des ersten Stockwerks auf das Vordach gesprungen war.

Wilhelm! Anton eilte in die Küche, wo sich sein Meister unter dem Stuhl herausarbeitete. Das Möbel war ein massiver Selbstbau, es bescherte ihm eine Platzwunde am Kinn und sicherlich Blessuren am ganzen Leib. Blut tropfte in den grauen Bart.

»Was –?«, setzte Anton an.

»Ihnen nach!«, rief Wilhelm wütend. »Sie haben meine Pläne.«

»Welche –?«

»Die Mastertür!« Der Alte warf die leer geschossene Maschinenpistole zwischen die ausgeworfenen Hülsen; die blutende Wunde kümmerte ihn offenbar nicht. »Hilf mir, Anton. Sie dürfen sie nicht kriegen.« Schon rannte er den Männern nach. »Nimm die Schrotflinte.«

Anton stand überfordert in der zerstörten Küche.

Die Eindrücke und seine Gedanken rangen miteinander, während draußen der Motor des Lieferwagens aufheulte. Seine Familie und die Verantwortung für die Kinder, sein Meister und die Pflicht, der versuchte Mord, der Leichnam im durchlöcherten, einst weißen Overall. Und die Erkenntnis, dass Wilhelm stets die Wahrheit gesagt hatte.

Mit durchdrehenden Reifen, die den Kies hochwarfen, schoss der Kleinlaster davon.

»Anton!«, schallte der Ruf des betagten Schreinermeisters durchs Haus. »Bitte! Du musst mir helfen, die Pläne zu retten! Diese Typen können mit der Tür die Geschichte der Menschheit ändern.«

Die Entscheidung war gefallen.

Anton hob die Pumpgun auf und lud sie einmal durch, wie er es in Actionfilmen gesehen hatte. Der klobige Ladeschlitten bewegte sich erstaunlich einfach, die leere Hülse flog aus dem Auswurfschacht und landete hohl klappernd im Flur.

»Ich komme!«, rief er und spurtete aus dem Haus. Er hatte Kathrin versprochen, dass er zurückkehrte. Dass ihm nichts passierte. Mein Wort halte ich.

»Wir nehmen den. Schlüssel steckt.« Wilhelm saß bereits auf der Beifahrerseite des Streifenwagens. »Du musst fahren.«

Anton verdrängte die Bedenken hinsichtlich des Diebstahls eines Polizeifahrzeugs und klemmte sich hinter das Lenkrad. Mit dem Druck auf den Startknopf ließ er den VW-Kombi aufbrüllen. Das Gewehr drückte er seinem Meister in die Hand. Kräftig trat er das Gaspedal durch, und der blausilbern lackierte Wagen preschte nach vorne. »Wohin sind sie?«

»Aufwärts. Zum Friedwald.« Wilhelm sah entschlossener aus denn je, wischte sich Blut vom Kinn. Die Wunde schloss sich nicht. »Verflucht! Die ganzen Jahre hatte ich mich versteckt. Und jetzt wurde mir dieses elende Internet zum Verhängnis.«

Anton brannten tausend Fragen auf den Lippen. Über allem schwebte eine unausgesprochene Entschuldigung dafür, seinem Ausbilder niemals geglaubt und sich insgeheim über ihn lustig gemacht zu haben.

Der weiße Transporter bog abrupt auf einen der schmalen Wege ein, die durch den Friedwald führten, und beschleunigte. Aufgrund seiner Klobigkeit hatte er Schwierigkeiten, dem kurvigen Verlauf zu folgen. Mehrmals schlugen Äste und Zweige gegen das hohe Dach, Splitter und Laub flogen dem Polizeiauto entgegen.

»Ich wette, er dachte, es sei eine Abkürzung.« Wilhelm klammerte sich am Haltegriff fest.

Anton prügelte den Kombi dicht hinter dem Transporter über den holprigen Weg. Das Polizeifahrzeug hielt sich auf dem weichen Untergrund besser als der Lieferwagen. Staub und Dreck wirbelte hinter dem Heck in die Höhe. »Ist das mit den Plänen wahr?«

»Hätte ich dich sonst gebeten?« Wilhelm drehte nach mehreren Anläufen den Funk lauter, über den die ganze Zeit Anfragen aus der Zentrale kamen. Man wollte von den Beamten wissen, wie die Lage sei.

»Antworte ihnen«, verlangte Anton. »Wir brauchen –«

»Nein. Erst wenn wir die Pläne haben. Niemand darf sie zu Gesicht bekommen. Außer dir.« Der betagte Mann sah ihn von der Seite an. »Die Verschwörer warten überall, dass ich mich zeige.«

»Aber sie wissen doch schon längst, wo du wohnst, Wilhelm«, gab Anton schärfer zurück als beabsichtigt. Er schlug das Lenkrad voll ein und zog die Handbremse, um den lang gestreckten VW schneller um die Kurve zu wuchten.

Der Transporter setzte sich stückchenweise von ihnen ab. Der Fahrer musste ein wahrer Teufelskerl oder die Strecke zur Vorbereitung mehrfach gefahren sein.

»Außer dir vertraue ich keinem. Erst die Pläne.« Wilhelm deutete nach vorne. »Los jetzt. Ramm sie, sonst sind sie weg!«

Anton verschob die Nachfragen und die Flüche und alles, was er hatte sagen und wissen wollen. Die Zeichnungen waren wichtig, ohne Frage. Andernfalls wäre das schwerbewaffnete Trio nicht aufgetaucht und hätte die Unterhaltung am Küchentisch geführt. »Halt dich fest. Ich –«

Da schwang die Hecktür auf.

Der angeschossene Anführer stand leicht vorgebeugt auf der Ladefläche. In den Händen hielt er das Sturmgewehr und zielte damit auf den Polizeiwagen.

Blitzschnell entschied Anton, dass es nur eine Sache gab, die sie rettete. Erneut trat er das Gaspedal bis zum Boden durch.

Der Kombi hüpfte röhrend vorwärts und bohrte die lange Schnauze in die Rückseite des Transporters, als der Anführer abdrückte. Durch den Zusammenstoß kippte der Mann beim Schießen nach vorne. Die Kugeln prasselten stahlhagellaut in die Motorhaube des VW, gefolgt vom Schützen selbst.

Schreiend landete er auf dem Wagen und drückte das Blech unter sich ein. Zugleich brachen aus den Einschusslöchern der blechernen Abdeckung lange Rauchzungen hervor sowie ein Ölgeysir, der den Räuber ebenso bedeckte wie die Frontscheibe.

Scheiße! Anton sah nichts mehr und spürte, dass der Kombi über die Hinterachse ausbrach. Aus den Augenwinkeln bemerkte er die vielen Baumstämme rechts und links, an denen sie mit siebzig Sachen vorbeiflogen. Bloß nicht dagegenprallen!

»Er schießt gleich!«, schrie Wilhelm und versuchte, die verklemmte Pumpgun irgendwie zu befreien.

Gegen das Driften lenkte Anton in die entgegengesetzte Richtung.

»Pass auf, er –«, rief Wilhelm.

Im gleichen Augenblick bekam der Polizeiwagen einen mächtigen Schlag an den rechten Kotflügel, der das schwere Auto herumriss.

Wo kommt der Baum her?