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Kaum zu fassen: Diesmal bringt doch tatsächlich der ehemalige Hauptkommissar Alexander Rosenbaum die Botschaft vom Todesfall ins Haus von Floristmeisterin Viola Blumenstengel. Als er einen Strauß für seine Heike kauft, erzählt er von der jungen Frau, die im Tiergarten offensichtlich erwürgt aufgefunden worden war – blumig drapiert: „Ist eine aus deiner Branche: Felicitas Grünberg.“ Natürlich kennt Viola die Floristin, die gerade für das Amt der Deutschen Blumenfee im Gespräch ist. Sofort fällt ihr der Eklat am Rande der jüngsten „Internationalen Grünen Woche“ ein. Er stand in direkter Verbindung mit dem Vorfall im gefahrvollen Fußgängertunnel beim Internationalen Congress Centrum. Das alles soll Hauptkommissar Pawlowski aufklären? Auf keinen Fall! Also: Ärmel hochkrempeln und mit Tochter Iris ermitteln…
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Seitenzahl: 394
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„Blüten und Bücher, die großen Seelentröster.“Emily Dickinson
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2024 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von: 123rf.com EPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9759-7
Andrea GereckeDornröschensEnde
Gebürtige Berlinerin. Studierte Diplom-Journalistin und Fachreferentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Kurz vor dem Jahrtausendwechsel Entdeckung der Liebe zum Landleben mit den dortigen kreativen Möglichkeiten. Umzug ins vorletzte Haus an einer Dorfstraße in NRW. Arbeit als freie Autorin und überregionale Journalistin. Veröffentlicht wurden bisher u. a. mörderische Kurzgeschichten, in denen ganz alltägliche Situationen kippen. Nach „Gelegentlich tödlich“ folgte „Warum nicht Mord?!“ und 2009 mit Lesung auf der Leipziger Buchmesse „Ruhe unsanft“.
2011 erschien der erste Roman in der Weserbergland- und späteren zehnbändigen Minden-Krimi-Reihe. In 2021 kam der Episodenroman „X-Mas: Hochdramatisch“ auf den Buchmarkt, der etwas andere Adventskalender in 24 kriminellen Kapiteln. 2022 starteten Floristin Viola und Tochter Iris ihre gemeinsamen Hobby-Ermittlungen in „Auf jeden Fall mit Blumen“, dem schloss sich 2023 „Cold Case – Blütenrausch“ an.
Dazu gesellen sich humoristische und satirische Texte, Prosa und Lyrik sowie im Jahr 2015 „Weihnachtsgeschichten aus dem Weserbergland“, 2017 „Weserbergland: Um fünf am Weserstein!“, 2019 „Starke Frauen aus Westfalen“ und 2020 „Unheimlich weihnachtlich! Böse Geschichten aus Westfalen“.
Netzwerkerin (Aktive Hillerinnen), Mitglied im Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) und bei den Mörderischen Schwestern e. V.; siehe Wikipedia, Facebook und Instagram…
Autoren sind nie wirklich einsam. An ihrer Seite befinden sich die Figuren, die von ihnen zum Leben erweckt wurden – in ihren Büchern jedenfalls. Bei mir ist es neben vielen anderen der zeitweilige Mindener Hauptkommissar Alexander Rosenbaum, der zehn Jahre lang in der Weserstadt agieren durfte und Fälle löste. Jahr für Jahr nur einen einzigen, das steht Romanhelden zu. Und damit war er eigentlich schon ziemlich fleißig …
Da er vielen Lesern und natürlich auch mir ans Herz gewachsen ist, gastiert er in der blumigen Berlin-Krimi-Reihe, die 2022 mit „Auf jeden Fall mit Blumen“ startete. Die Spur dafür wurde übrigens schon 2020 im zehnten und damit letzten Minden-Krimi „Zeilenfall“ gelegt, wo mein Alex gegen Ende genau in diesem Blumenladen für seine Ehefrau Heike einen superschönen Strauß kaufte, um hier Stammkunde zu werden … Allerdings wusste ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht, dass und wie es mit ihm weitergehen würde. Manches hat sein Eigenleben und eine ganz spezielle Dynamik. Ich will da gar nicht weiter auf das Thema Schicksal hinweisen.
Aktuell nun Viola Blumenstengel als Hauptakteurin, Inhaberin des Ladens „Floreal“ in Nikolassee, und ihre Tochter Iris als Hobby-Detektivinnen-Duo. Ein absolutes Dream-Team, was auch der zweite Fall „Cold Case – Blütenrausch“ beweist. Beide Frauen haben die berühmten Miss-Marple-Gene in die Wiege gelegt bekommen. Und wenn jemand den grantigen, ziemlich uncharmanten Hauptkommissar Jens Pawlowski als Gegenspieler erhält, dann kann er beziehungsweise sie nur deutlich besser sein.
Humor ist ein weiterer Mitwirkender im Geschehen, das all die aktuellen Katastrophen in unserem näheren und weiteren Umfeld einfach mal außen vor lässt. Für Nachrichten fühle ich mich in diesen Fällen nicht zuständig. So ein Roman ist ja auch keine Tageszeitung … Wobei da und dort natürlich „neutrale“ aktuelle Bezüge zu finden sind. Das schien mir unvermeidlich und auch wichtig.
Die Romane mit Viola soll man in die Hand nehmen und sich entspannt sowie gespannt amüsieren. Wenn es einem Autor gelingt, dem Leser ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern oder gar ein herzerfrischendes Lachen zu entlocken, so ist das ein wunderbares Gefühl – das kann ich versichern.
Was die Fakten angeht, die hier festgehalten sind, so habe ich diese wie immer gründlich recherchiert und nach bestem Wissen und Gewissen literarisch umgesetzt. Die Fachkenntnisse aus dem floristischen und gärtnerischen Milieu stammen aus einem Vierteljahrhundert journalistisch-beruflicher Tätigkeit für diese unschlagbar schöne grüne Branche.
Ach ja, und noch etwas sei bemerkt: Wenn der Leser da oder dort über Begriffe stolpert, die etwas aus der Mode gekommen scheinen, dann ist auch das von mir absolut beabsichtigt. Ich verstehe mich als Schriftstellerin, die eben eine wunderbare Schrift ganz sorgsam und mit Bedacht Satz für Satz stellt, zugleich auch als Bewahrerin der facettenreichen deutschen Sprache und Retterin von außergewöhnlichen Wörtern!
Eventuelle Ähnlichkeiten mit tatsächlichem Geschehen oder existierenden Personen sind rein zufällig zustande gekommen. Wobei es mich immer wieder freut, wenn Leser jemanden oder eine Situation genau zu erkennen glauben … So soll das durchaus sein!
Nach Funkturm und Fernsehturm ist es diesmal die markante Siegessäule, die eine tragende Rolle übernommen hat. Auch weil sie sich – ebenso wie ihre Vorgänger – ausnehmend gut auf dem Cover eines Buches macht. Und da ich meine Geburtsstadt Berlin mit Inbrunst liebe, dürfen wiederum verschiedene weitere Sehenswürdigkeiten auftauchen. Da kommt mein früheres Spezialgebiet, der Reisejournalismus, zum Tragen. Vielleicht entdeckt ja der eine oder andere noch einen speziellen Ausflugstipp für sich. Das würde mich natürlich sehr freuen.
Weil ich zwischen Berlin und meiner Wahlheimat Ostwestfalen emotional hin und her gerissen bin und häufig pendele, darf mein aktuelles Zuhause ebenso punktuell vertreten sein. Eine äußerst liebenswerte Gegend mit Hügeln, die schon den Namen Gebirge tragen, mit einer Mühlen- und einer Storchenroute, mit der bereits kraftvollen Weser bei der Porta Westfalica, mit einem beeindruckenden Wasserstraßenkreuz ...
Mögen Ihnen die folgenden Seiten spannend-humorvolle Unterhaltung und einfach eine schöne Auszeit liefern.
Pablo stemmte die Arme in die rundlichen Hüften und atmete tief durch. Die frische Luft tat ihm gut. Seine Stirnlampe erleuchtete das Umfeld nur mäßig, aber so langsam nahm auch der Tag Gestalt an, sodass sich zusätzliches Licht eigentlich erübrigte. Er hätte es ausschalten können, doch das kam ihm gar nicht in den Sinn.
Dann schaute er sich um und entdeckte die wenige Meter entfernte, aufgrund ihres Standorts etwas bemooste Parkbank. Der Papierkorb daneben quoll über, Fast-Food-Überbleibsel, leere Zigarettenschachteln, eine gefüllte, dunkelbraune Hundekot-Tüte lagen auf dem Boden. Im Hintergrund war der Verkehrslärm von der Straße des 17. Juni zu vernehmen. Ein monotones Gebrumme, mal ein Hupen oder das Quietschen von Reifen oder der Klang einer Sirene von Feuerwehr beziehungsweise Rettungsarzt – das übliche Konzert also, das keinem mehr sonderlich auffiel.
Federnd lief Pablo die Schritte bis zu dieser Sitzgelegenheit, erblickte jetzt eine gebrauchte Spritze zu seinen Füßen, schüttelte den Kopf und ließ sich seufzend nieder, während es unter ihm bedenklich knackte. Automatisch wollte er auf seine Armbanduhr schauen, senkte aber im selben Augenblick die Hand wieder. „So ein Blödsinn“, dachte er, mit dem Fitness-Kontrollgerät rannte ja gerade Student Lukas durch den Tiergarten, während er absprachegemäß hier in der Nähe vom Rosengarten mehr oder weniger gemütlich abwartete. Diesmal mit einem kompletten 20-Euro-Schein als Dank für die besondere Dienstleistung.
„Lass mal stecken, Opi, das machen wir später. Du brennst mir ja mit absoluter Sicherheit nicht durch. Und wenn du mir wegrennst, hole ich dich allemal wieder ein“, hatte Lukas abgewunken, als Pablo ihm das Geld vorab aushändigen wollte.
Kennengelernt hatten sie sich, als Pablo noch mit vollem, schweißtreibendem Körpereinsatz selbst versuchte zu laufen, mit deutlichem Ächzen und Stöhnen. Darauf war der junge Mann aufmerksam geworden, der seinerseits seine Runden durch den Tiergarten drehte. Er hatte über ihn gespöttelt. Im Scherz war dann sein Angebot gekommen, für ihn diese Schwerstarbeit zu übernehmen.
In den Anfängen hatte Pablo die Geldscheine in der Mitte halbiert und dann zu Beginn ihrer Übereinkunft die erste Hälfte und im Anschluss die zweite Hälfte ausgehändigt. Die wunderbar konspirative Idee dazu war bei ihm von irgendeinem alten Krimi hängen geblieben. Aber inzwischen waren die beiden ein eingespieltes Team, und sie vertrauten einander.
Außerdem hatte Lukas kürzlich erklärt: „Die wundern sich im Späti schon, warum ich meine Lebensmittel immer mit zusammengeklebten Teilen bezahle, und wollen die nicht mehr akzeptieren. Der Inhaber hat sogar mal das Stichwort ‚Geldwäsche‘ fallenlassen. Wenn ich so weitermache, werde ich noch als Gangster eingeordnet und von der Polizei überwacht.“
Letzteres hatte zwar spaßhaft geklungen, war aber durchaus ernst gemeint.
Pablo jedenfalls konnte sich auf den jungen Burschen verlassen, der Sportwissenschaften an der Humboldt-Uni studierte und schon deshalb einen entsprechend durchtrainierten, äußerst ansehnlichen Körper aufwies. Der Mittvierziger hatte mal gegoogelt, was man mit so einer Ausbildung später anfangen konnte: in Sportvereinen, Schulen, Fitness-Studios und Reha-Einrichtungen sportliche Fertigkeiten und Kenntnisse vermitteln oder im Sportmanagement tätig sein oder in der Forschung und Beratung oder als Journalist … Wenn so was gebraucht wurde und man damit sein Geld verdienen konnte?! Es gab ja heutzutage die ausgefallensten Möglichkeiten für den Brötchenerwerb.
Pablo zuckte mit den Schultern. Für ihn war die Zeit ohnehin vorüber, was eine berufliche Neuausrichtung anging, wie er konstatierte. Er hatte seinen Platz im Veranstaltungsbereich gefunden, in verantwortungsvoller Position bei der Messe Berlin, und er fühlte sich dort ausgesprochen wohl. Was sich auch in ein paar zusätzlichen Speckpolstern an den verschiedensten Stellen manifestiert hatte, beispielsweise als Doppelkinn, vor allem aber am Bauch, über den er schlecht hinunterschauen konnte, wenn er im Dienst notgedrungen am Urinal stand. Zu viele Einladungen mit Imbiss und Schampus mit reichlich Extrakalorien.
Und nun hatte Stephanie die Reißleine gezogen und ihn dazu genötigt, etwas dagegen zu unternehmen, zum einen damit der Body-Mass-Index nicht weiter Alarmstufe Rot anzeigte. Zum anderen wollten sie schließlich gemeinsam Ende September am Marathon in der Stadt teilnehmen, dem dann schon 50. Event seiner Art. Also, von Wollen konnte da gar keine Rede sein. Bei ihm jedenfalls nicht.
Doch was tat man nicht alles, um seiner Liebsten zu gefallen. Und Stephanie war schon ein Glücksgriff nach dem Reinfall mit Ricarda, die ihm eines Tages, für seinen Geschmack völlig überraschend, Scheidungspapiere präsentierte. Wobei Ricci ihm nie mit solchen abgehobenen sportlichen Auswüchsen gekommen wäre, fiel ihm gerade ein… Alles war in ihrer 20-jährigen Ehe auch nicht schlecht gewesen. Wenigstens hatte er bei ihr die Socken beim Sex anbehalten können und keine kalten Füße bekommen, während Stephanie darauf bestand, dass er sich komplett splitterfasernackt machte und damit auch die Strümpfe auszog.
Also, was die Frauen nur immer hatten. Er nörgelte doch auch nicht an schwarzen Strapsen und den Netzstrümpfen rum, die er Steffi aus gegebenem Anlass zum Geburtstag geschenkt hatte. Die sollte sie sogar unbedingt anbehalten, sie törnten ihn enorm an. Ach ja: „Warum konnte man denn nicht alles gleichzeitig in diesem Erdendasein haben, die biedere perfekte Hausfrau sowie die beglückende Sexbombe und unbedingt eine Schönheit, die zugleich äußerst geistvoll war?“, seufzte er gedankenversunken laut auf, zog das Stirnband mit der Lampe herunter, deaktivierte sie jetzt endlich und fuhr sich durch das etwas eingedrückte, lockige schwarze Haar, das früher deutlich mehr Dichte aufgewiesen hatte. Aber wenigstens war er damit nicht nach seinem Erzeuger geraten …
Der Montagmorgen war recht kühl, die Temperatur hatte sich um den Gefrierpunkt eingepegelt, und Pablo fröstelte in seine ausschweifenden Gedanken hinein. „Bewegung ergab doch Sinn“, sagte er sich, stand auf und absolvierte ein paar unbeholfene, wacklige Kniebeugen, bei denen es deutlich hörbar knirschte, sodass er es schlagartig wieder sein ließ und nur ein wenig hin und her trippelte. „Sport ist Mord“, fuhr es ihm durch den Kopf. Dann fasste er sich in die rechte Hosentasche, darin ein weiterer Schein fürs Frühstück bei der Bäckerei und sein Handy für den absoluten Notfall, derzeit auf stumm geschaltet.
Während seiner kleinen Auszeit konnte er ja schlecht daddeln, das hätte Stephanie eventuell herausbekommen können, indem sie mal eben auf den Browserverlauf schaute. Aber sie würde ihm wohl kaum nachspionieren oder etwa doch? Das Leben war schon eine verzwickte Angelegenheit und die Hungerkur daheim absolut keine Idee. So konnte man definitiv nicht wirklich zufrieden in den Tag starten. Seine Mutter hatte doch immer gesagt, das Wichtigste sei ein ordentliches Frühstück, und so hatten sie es früher stets gehalten. Er ließ sich wieder geräuschvoll auf die Bank sinken.
„Und nachher gibt es ein leckeres Müsli, mein Dickerchen“, hatte ihm Stephanie mit besorgt-kritischem Blick erklärt, nachdem sie ihn mit einem Kuss auf die Wange und einem Klaps auf den Bauch einige Zeit zuvor verabschiedet hatte. „Oder magst du lieber deinen Haferschleim?“
Mühevoll hatte er sich ein Ekelgefühl verkniffen. Haferbrei, igitt. Wie das schon aussah und erst roch und letztlich schmeckte! Das englische Nationalgericht Porridge galt früher in Schottland als Mahlzeit für arme Leute, wie er wusste. Er aber war doch definitiv nicht als arm zu bezeichnen. Warum also sollte er sich so etwas antun?
„Ach, ein Müsli ist eine prima Idee, vielleicht mit etwas frischem Obst drauf, schön klein geschnitten“, hatte er dann halbwegs locker und sehr emotionslos geantwortet. „Ich muss mich jetzt aber auch sputen, damit ich meine geplanten Kilometer schaffe. Von nichts kommt nichts, wie du weißt. Bis nachher, mein Mäuschen. Schade, dass du erst immer am Abend deine Runde drehst, sonst könnten wir das auch gemeinsam erledigen.“
Er war damit für seine Verhältnisse ziemlich übermütig geworden.
„Aber natürlich sollte jeder seinen Biorhythmus beachten, und der fordert mich eben zu morgendlichen sportlichen Aktivitäten heraus.“
„Eigentlich hättest du schon längst ein paar Pfunde loswerden müssen“, stellte Stephanie noch sachlich fest. „Doch auf der Waage passiert überhaupt nichts!“
„So schnell geht das nun auch wieder nicht“, hatte er beteuert, „wird doch durch meine viele Bewegung erst alles in dringend nötige und äußerst sinnvolle Muskeln umgewandelt, ehe sich später mein Gewicht dauerhaft verringert …“
Das war ein akzeptables Argument.
Sie hatte ihm hinterhergewunken. Um das bestätigt zu bekommen, musste er sich nicht einmal umdrehen oder in einen imaginären Rückspiegel schauen. Es war das übliche Procedere bei ihnen beiden, und er hob im Lauf nur die Rechte wedelnd in die Höhe.
Dabei waberte ihm der Witz durchs Gehirn, den sie kurz vorher hatte fallenlassen, als er sich zugegebenermaßen etwas schwerfällig aus dem Boxspringbett erhob: „Warum hat ein Mann denn einen dicken Bauch? Damit ein Arbeitsloser wenigstens ein Dach über dem Kopf erhielt!“ Der Joke war ja so was von abgedroschen. Wie kam sie nur darauf? Zumal sie sich weiß Gott nicht beschweren konnte. Er stand ja wohl seinen Mann, sooft sie Bedarf anmeldete. Niemand hatte ihn bislang kritisiert, keine von seinen Partnerinnen … Eine ziemliche Portion Ärger war bei diesen Gedanken in ihm hochgekocht.
Mitten in seine Überlegungen hinein störte Lukas.
„Hey, alter Mann, aufwachen. Du kannst deinen Fitnesstracker wieder selbst umlegen. Deine sportlichen Erfolge sind erfasst und gewissenhaft dokumentiert. Schlafrhythmus, Ernährung & Co. sind dann dein Bier, wobei du von Letzterem natürlich die Finger lassen solltest. Höchstens eine Light-Variante … Aber wahrscheinlich hast du da auch Bedarf nach einem Personal Coach. Würde dir unbedingt dazu raten, genügend Schotter hast du ja bestimmt, im Gegensatz zu mir …“
Der Student grinste breit und stemmte die Arme in die Seiten, während seine Beine keine Pause einlegten, sondern mühelos auf- und absteppten. Das war das Stichwort für die Geldübergabe. Pablo reichte den Schein rüber, den Lukas nickend annahm und in einer kleinen Brusttasche mit Reißverschluss verschwinden ließ. Demnächst würde er mal nach einer Lohnerhöhung fragen, aber nicht heute …
„Ich war auch mal so jung und dynamisch wie du“, konterte Pablo etwas zeitverzögert, mit leichter Trauer in der Stimme, beim Anblick dieser makellosen Erscheinung.
„Ach ja, damals war’s. Geschichten aus dem alten Berlin. Lass mal gut sein. Ich muss dann auch los, meine Uni ruft. Man sieht sich. Bleibt es wie abgesprochen? Du willst ja generell aus Verschwiegenheitsgründen nicht, dass ich dir eine SMS schicke …“
„Aber klar doch, Junge. Gleiche Stelle, gleiche Welle. Du bist mir eine echte Hilfe.“
„Ich weiß ja nicht, ob das auf Dauer was bringt. Wenn ich dir mal einen guten Rat geben darf – selbst ist der Mann! Irgendwann fliegt die Chose doch auf, und deine bessere Hälfte kriegt raus, was los ist. Dann möchte ich nicht in deiner Haut stecken. Und wenn du tatsächlich ernsthaft am Marathon teilnehmen willst, musst du schon selbst aktiv werden, sonst machst du doch nach spätestens dreihundert Metern schlapp, wenn nicht noch deutlich eher. Nach meiner fachlichen Einschätzung gebe ich dir aktuell vielleicht hundert Meter bis zum Zusammenbruch.“
Lukas warf sich mitten im letzten Satz auf den Boden und erledigte spielend ein Dutzend Liegestütze, ohne dass sich sein Atem beschleunigte. Pablo brummte anerkennend.
„Ich weiß deinen Hinweis zu schätzen. Mal schauen. Und dir viel Erfolg weiter beim Studium. Man sieht sich.“
Der Student hatte sich schon erhoben und war im selben Augenblick verschwunden. Kurz betätigte Pablo seinen Fitnesstracker, den er sich wieder ums Handgelenk gebunden hatte. Das sah auf dem Display definitiv gut aus, etliche Kilometer waren für ihn schweißlos hinzugekommen. Für die geplante Teilnahme am Marathon fiel ihm bestimmt ganz kurzfristig eine triftige Entschuldigung ein: Arbeit! Was sonst?
Aber nun musste er sich auch sputen. Immerhin wollte er sich in seiner Lieblingsbäckerei noch ein leckeres Croissant und einen Cappuccino gönnen, ehe er den Heimweg antrat. Also blieb nur die Abkürzung durchs Unterholz. So konnte der Tag weiter gut vorangehen, beschloss Pablo.
In ganz leichtem, nur angedeutetem Dauerlauf machte er sich davon, durchquerte einige Gebüsche und hielt sich die Äste der Bäume mit den Armen aus dem Gesicht, um sich nicht zu verletzen. Zwar nahm er plötzlich wahr, dass da etwas vor ihm auf dem Boden lag, aber er war unfähig entsprechend zu reagieren oder gar zu stoppen.
Das Folgende lief für ihn wie in Zeitlupe ab: „Was für eine schöne, üppige Dekoration hier mitten im Tiergarten, um diese Jahreszeit“, fuhr es ihm durch den Kopf. Dann dachte er noch an die jüngste Grüne Woche, die tags zuvor zu Ende gegangen war, und die phänomenalen, farbenfrohen Blumenarrangements. Mit diesem Bild vor Augen stürzte er schon über das Hindernis, knallte mit der rechten Schläfe auf einen Baumstumpf und wurde ohnmächtig, während eine keifende Stimme in sein Unterbewusstsein drang.
Viola Blumenstengel, die gerade erst den Laden, etwas vor der Zeit, für die Kundschaft geöffnet hatte, hielt die detailreich gestaltete große Kaffeetasse ins Licht. „Die schönen Blumen bringen mich in Verlegenheit. Sie lassen mich bedauern, dass ich keine Biene bin“, war dort zu lesen und der Name der Verfasserin Emily Dickinson, beides in stilvoller Schrift.
„Supi“, sagte Benjamin, der sich gerade zu ihr gesellt hatte. Er fuhr sich durch das kurze Haar, das aktuell durch einen grünen Streifen längs über dem Kopf auffiel, von der Stirn bis in den Nacken. Ein ziemlicher Kontrast zu seinem restlichen Schwarz. „Die sieht echt klasse aus. Und so ein schöner Spruch. Falls es das mit der Reinkarnation gibt, dann würde ich gern beim nächsten Mal so ein sorgloses Insekt werden wollen … Das Geschirr jedenfalls passt perfekt in unseren Laden hier am Ku’damm, ist eine prima Ergänzung.“
„Du sagst es, Ben“, antwortete Viola. „Ich habe mir gedacht, dass das als Zusatzartikel was Nettes für unsere Kundschaft sein kann, von denen etliche recht belesen sind. Man tauscht sich ja immer mal am Rande aus, zum Beispiel über Bestseller. Außerdem war diese Emily Elizabeth Dickinson so eine faszinierende Frau. Ich habe dazu natürlich recherchiert. Die Texte von ihr sind zeitlos aktuell. Jedenfalls ganz viele davon. Da scheint sie ihrer Zeit genialerweise weit voraus gewesen zu sein.“
Sie hielt kurz inne.
„Das mit der Biene als Dasein im Anschluss solltest du dir allerdings reiflich überlegen, junger Mann. Ist auch der pure Stress, kommt ja darauf an, wo genau du in der Bienenhierarchie landest… Und bis dahin könntest du mal darüber nachdenken, ob du nach deinem erfolgreichen Ausbildungsabschluss an der Zehlendorfer Peter-Lenné-Schule noch einen Meister nachlegst. Man soll ja das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Außerdem würde ich dir gar zu gern bei einer nächsten Deutschen Meisterschaft der Floristen zujubeln wollen.“
Sie drückte ihrem lächelnden Mitarbeiter den Becher in die Hand und griff sich einen nächsten. „Blüten und Bücher, die großen Seelentröster“, stand darauf zu lesen.
„Das lasse ich mir mal in Ruhe durch den Kopf gehen. Wenn ich dabei Unterstützung bekomme, wäre das vielleicht eine gute Option. Ich muss mich auch zu Hause mit Vincente dazu austauschen.“
„An mir soll es jedenfalls nicht liegen. Wir kriegen das schon hin. Such dir mal was Passendes aus und lass uns drüber reden. Es gibt für eine Meisterausbildung so tolle Angebote an unterschiedlichsten Orten hierzulande. Musst es ja wirklich nicht übers Knie brechen in deinem Alter … Wobei einem da die Lernerei sicher insgesamt leichter fällt. Ich glaube, ich könnte mir das alles heute gar nicht mehr merken, was man für die Prüfungen mal draufhaben musste.“
„Hm“, bestätigte Benjamin etwas wortkarg, weshalb seine Chefin das Thema wechselte. Sie wollte ihn überhaupt nicht drängen.
„Vielleicht sollten wir auch noch ein paar Bücher in unser Angebot nehmen. Irgendwas, das thematisch zu Blumen und Pflanzen passt“, überlegte Viola stattdessen laut.
„Sind die nicht zu empfindlich?“, warf Ben ein. „Könnten hier bei uns leicht feucht oder angeschmutzt werden, wenn einer die interessehalber durchblättert …“
„Das stimmt auch wieder. War nur so eine schöne Idee“, träumte Viola laut. „Wusstest du, dass Emily als bedeutendste US-amerikanische Dichterin gilt? Sie wurde 1830 in einem Ort in Massachusetts geboren, in dem sie Mitte Mai 1886 auch starb. Irgendwie fällt mir der Name gerade nicht ein, wo das genau war. Ist auch egal. Ihre Gedichte jedenfalls wurden erstmals 1890 veröffentlicht.“
„Also nach ihrem Tode? Das ist ja jammerschade“, erstaunte sich Ben.
„Genau. Ist eben mit vielen Künstlern so, die werden erst nach ihrem Ableben berühmt.“
„Ein Glück, dass das bei uns anders ist. Wir werden schon zu Lebzeiten mit Ruhm überschüttet“, kicherte Ben los.
Auch Viola war nicht mehr zu halten und amüsierte sich köstlich.
Während beide vor sich hin arbeiteten, ließ Benjamin noch eine Bemerkung fallen.
„Übrigens, Chefin, wir haben in diesem Jahr einen Blumengeschenktag verschusselt.“
„Was du nicht sagst? Das kann ich mir gar nicht vorstellen“, erwiderte Viola.
„Am 15. Januar war wieder Blue Monday. Der deprimierendste Tag des Jahres überhaupt. Weihnachten vorüber, Silvester vorbei, alle Welt fällt in ein tiefes Loch. So wenige Wochen nach Neujahr werden die Leute schlagartig von der Winter-Tristesse eingeholt, und der Alltagsstress schlägt wieder zu. Und das geschieht an jedem 3. Montag im Januar. Blue also nicht im Sinne von Blau, wenn ich das mal erklären darf, sondern das bedeutet traurig oder deprimiert.“
„Ach, so ist das. Ich nehme mal an, dass wir da ins Spiel kommen und behilflich sein können.“
„Genau, mit farbenfrohen Sträußen und insgesamt ganz vielen Blumen. Müssen wir nur richtig kommunizieren.“
„Dann kümmere dich ruhig drum und trag den Termin für 2025 in den Kalender.“
Wenig später waren die Tassen mit den schönen Sprüchen dekorativ in eine blumige Szenerie seitlich im Schaufenster integriert. Ein kleiner Kaffeeklatsch zu zweit, vielleicht mit der besten Freundin, an einem gedeckten Tischchen. Auf zwei Klappstühlen lagen besonders schöne Exemplare an Kissen, die auch erst in der Woche zuvor vom Händler geliefert worden waren. Und über den Lehnen hingen noch geflochtene Blumenkränzchen. Bis zum Valentinstag war es ja auch nicht mehr lange hin. Als Benjamin damit fertig und nach einem prüfenden Blick zufrieden war, begutachtete seine Chefin die Platzierung.
„Perfekt. Wie immer, mein Junge. Der Strauß in der Mitte ist so superschön geworden. Den werden wir garantiert in den nächsten zwei Stunden verkaufen. Ich kann dich gar nicht genug über den grünen Klee loben.“
„Weißt du eigentlich, wo diese Redewendung herkommt?“, fragte er etwas nachdenklich.
Viola schüttelte den Kopf.
„Verrätst du es mir?“
„Klaro. Es bedeutet ja, jemanden über Gebühr zu loben. Wobei ich mal hoffe, dass du in meinem Fall uneingeschränkt gelobt hast und nicht grundlos übertrieben oder in Unkenntnis der Tatsachen, was auch möglich wäre …“
„Ach nee???“
„Jedenfalls kann die Redewendung eventuell daher stammen, dass Gräber und Friedhöfe früher gern mit Klee bepflanzt waren und man über Verblichene nur Positives sagen soll!“
„Was du nicht alles weißt, du Neunmalkluger! Siehst du, damit bist du gleich mein Stichwortgeber. Sei morgen bitte in Nikolassee. Wir müssen zwei Beisetzungen vorbereiten. Da brauche ich jede fachmännische Hand.“
Dass ihr Vater gesundheitlich etwas angeschlagen war, behielt sie für sich.
„Sehr gern. Ein Segen auch, dass es bei unserer Hauptfiliale noch die angeschlossene Friedhofsgärtnerei gibt. Das ist so ein schöner Bereich. Ich mag den mindestens genauso gerne wie alles rund um Hochzeiten.“
„Tja, wir bringen Freude und Trost in sämtlichen Lebenslagen“, stellte Viola zufrieden fest. „Meine Eltern wollten sich allerdings bislang partout nicht von der Gärtnerei trennen. Wenn es nach mir ginge, hätte ich mich davon schon verabschiedet.“
„Von deinen Eltern?“
Benjamin hatte ein schelmisches Grinsen aufgesetzt.
„Nee, natürlich nicht, sondern von dem ganzen anstrengenden Aufwand mit den gärtnerischen Produkten.“
„Ich finde das nicht aufwendig“, entgegnete Ben. „Das ersetzt mir jedes Fitnessstudio, für das ich noch einen Haufen Geld ausgeben müsste.“
„Na, du bist auch ein paar Jährchen jünger als ich.“
Jetzt verkniff sich Benjamin eine weitere Bemerkung. Ihm fiel auf Anhieb nichts Passendes zum Altersunterschied ein, ohne seiner Chefin gegenüber respektlos zu erscheinen. Auch klingelte die Ladenglocke, und ein Kunde betrat die Räume. Es war kurz nach acht Uhr. Er war mit Bedienen dran.
„Ein wunderschönen guten Tag. Womit kann ich Ihnen helfen?“, sagte Benjamin strahlend und voll in seinem Element.
Viola blickte zufrieden drein und dachte daran, dass sie sich dann ja am folgenden Tag mit Ben darüber austauschen konnte, wie sein Besuch auf der Grünen Woche gelaufen war. In Nikolassee fand sich bestimmt am Rande etwas Muße dafür. Sie hatte ihm extra für den Messebesuch einen Tag freigegeben und selbstverständlich das Ticket bezahlt. Hier so zwischen Tür und Angel war einfach keine Zeit für eine sinnvolle Auswertung, beschloss sie.
Ein nächster Kunde war auf der Suche nach einer schönen Zimmerpflanze. Viola beriet ihn, und wenig später war ein passendes Exemplar gefunden. Zwischen all der Arbeit im Laufe der nächsten Stunden dachte sie an die zurückliegenden Wochen. Zu Jahresbeginn überschlugen sich die Branchenmessen, zu denen sie im Grunde ihres Herzens gern überall hingefahren wäre, wenn es ihr Unternehmen zulassen würde. Das startete mit der TrendSet in München gleich am ersten Januarwochenende. Aber da hatte sie praktischerweise die neue Mitarbeiterin Josephine Huber gebeten, während ihres Resturlaubs auf dieser internationalen Trend- und Ordermesse für den Einzelhandel vorbeizuschauen und Inspirationen mitzubringen, ehe sie am 1. Februar ihren Job am Ku’damm antrat.
Bislang hatte die junge Frau beim Blumengroßmarkt in der bayerischen Metropole gearbeitet, wollte aber der Liebe wegen nun in der Hauptstadt zu Hause sein und hatte ihren Heimatort Aschau deshalb verlassen. Josephine würde bestimmt eine super Verstärkung im Team werden, da war sich Viola sicher. Auch Benjamin war schon Feuer und Flamme, als er sie bei dem Vorstellungsgespräch ganz kurz kennengelernt hatte. Und es war ja unheimlich wichtig, dass die Chemie unter den Kollegen stimmte.
Viola saß inzwischen im Nebenraum des Ladens am Schreibtisch und hatte ihren Terminkalender vor sich. Sie sah zu, dass es im Team gerecht zuging und jeder mal mit einer besonderen Dienstreise dran war. Zur Nordstil in Hamburg hatte sie diesmal Lisa geschickt. Die größte Konsumgütermesse im Norden präsentierte sich zweimal jährlich mit neuen Produkten aus Deutschland und Skandinavien. Letzteres fand Viola besonders interessant und Lisa hatte reichlich Kontakte aufgetan. Gar zu gern wäre Viola zur internationalen Möbelmesse IMM Cologne gefahren, die hatte Mitte Januar nach Köln eingeladen. Aber die Entfernung von Berlin! Zwar fanden zwei weitere Events, die Ambiente und die Christmasworld, zeitgleich Ende Januar statt, aber ein Besuch in Frankfurt am Main zur internationalen Konsumgütermesse sowie zur internationalen Leitmesse für saisonale Dekoration und Festschmuck ließ sich diesmal nicht realisieren. Das wäre genau jetzt gewesen und auch nicht gerade um die Ecke! Man konnte sich ja schlecht in Stücke reißen, um überall präsent zu sein. Viola machte eine Notiz für 2025, da stand schon der Termin für Anfang Februar fest. Und auch für die Möbelmesse machte sie sich einen Stichpunkt, um später daran zu denken.
Bei der Cadeaux in Leipzig Anfang März war momentan noch ein großes Fragezeichen festgehalten, das war von der Lage her wenigstens fast vor der Haustür, sowohl mit der Bahn als auch mit dem Auto gut zu erreichen. Also vielleicht dorthin, um bei der Geschenkemesse auf dem Laufenden zu bleiben und auch in Sachen Wohnideen zu stöbern. Außerdem fand am 3. März die Floriga statt, und auf der Fachbörse für die grüne Branche konnte man Hinz und Kunz treffen, alte Bekannte und neue Gesichter.
Es war schon nicht einfach: Entscheidungen über Entscheidungen. So wie im Privatleben. Da war er, der Gedanke an Eric Schöne. Gerade hier am Ku’damm erwartete sie jederzeit, dass sein Firmenwagen mit der Aufschrift „Blitzeblank“ und der farbenfrohen, großformatigen Zeichnung eines bulligen Typen mit strahlendem Lächeln sowie Schrubber und Wischeimer in den Händen vorbeifuhr oder direkt vor ihrem Laden parkte. „Bleib bloß ruhig“, redete sie sich innerlich zu.
Viola fuhr sich etwas genervt mit beiden Händen durch die halblangen Haare. Beim morgendlichen Blick in den Spiegel war ihr aufgefallen, dass der Ansatz am Scheitel ziemlich deutlich sichtbar wurde. Ein Friseurtermin war wichtiger als alles andere: Waschen, Schneiden, Tönen …
„Kommt Zeit, kommt Rat“, fiel ihr ein Standardspruch von ihrer Mutter Hannah ein. Klar doch, das musste nicht alles heute entschieden werden. Das Telefon klingelte, und sie nahm mit ihrer üblichen Freundlichkeit eine Bestellung bereits fürs kommende Wochenende an.
Als sich Benjamin in den Feierabend verabschiedete, fiel Viola noch ihr Wunsch ein.
„Kannst du dich bitte ein bisschen um unsere Josephine kümmern, wenn sie am 1. Februar bei uns beginnt? An dem Tag muss ich auf jeden Fall in unserer Hauptfiliale sein, weil unsere Steuerberaterin vorbeikommt. Sonst würde ich das selbstverständlich übernehmen. Gehört sich ja eigentlich“, bat sie ihren Mitarbeiter.
„Nichts lieber als das, Chefin. Die wird mit ihrem bezaubernden Dialekt bestimmt die Kundschaft um den Finger wickeln.“
„Na ja, das soll sie eigentlich nicht. Schöne Sträuße binden wäre völlig in Ordnung und absolut ausreichend“, setzte Viola nach und lachte kurz auf. Dann fügte sie an: „Im Übrigen spricht sie doch ein recht gepflegtes Hochdeutsch.“
Im Grunde wollte Ben seine Chefin noch nach ihrem Besuch auf der Internationalen Pflanzenmesse in Essen gefragt haben, aber irgendwie hatte es die Situation bislang nicht hergegeben. Wobei das gar nicht ihre Art war, mit den Erlebnissen von so einem Event hinter dem Berg zu halten. Sie musste doch dem amtierenden Deutschen Weltmeister der Floristik begegnet sein, dem sie gemeinsam im Jahr zuvor in Manchester in ausgelassener Begeisterung zugejubelt hatten.
So ein Event fand im vierjährigen Turnus statt. Anfang September 2023 waren seine Chefin und er zum Fleurop-Interflora World Cup gefahren, wohin zwanzig Nationen aus aller Welt ihre besten Floristen ins Rennen geschickt hatten. Das war eine Pracht im Central-Convention-Center gewesen. So viel geballte beeindruckende Kreativität, technisches Geschick und persönliche Leidenschaft zu einer kunstvollen Floristik.
Drei tolle Tage mit Halbfinale und letztlichem Finale, dabei spezifische Aufgaben, die unter strengen Zeitvorgaben erstellt werden mussten. Einige waren zuvor bekannt gewesen und wurden von den Kandidaten in monatelanger Vorarbeit entwickelt. Besonders aufregend und dramatisch wurde es aber bei den Überraschungsaufgaben. Die Fachjury und die Zuschauer waren gleichermaßen überzeugt, was die Reihenfolge anging. Norwegen und Großbritannien landeten auf Platz zwei und drei. Benjamin versackte in seinen Erinnerungen und geriet ins Grübeln.
Jetzt passte es ihm zeitlich auch nicht mehr für einen Austausch zur Essener Messe, daheim wartete sein Freund Vincente mit dem Abendessen, und der wollte unbedingt von seinen aktuellen Tanzproben im Friedrichstadtpalast berichten. So verabschiedete sich Ben nur höflich und verschwand mit einer letzten Bemerkung:
„Ich mache mir dann, wie abgesprochen, daheim noch Gedanken zu den Wohn- und somit auch Gartentrends 2024. Wir könnten ja hier am Ku’damm mit ‚Viva la Vida‘ starten. Fröhlichkeit, Leidenschaft, Ausdruckskraft und Farbe – da passen überschwängliche, warme Töne. Mir schwebt schon so eine Atmosphäre vor, in Richtung Südeuropa oder besser noch Mittelamerika. Mir fallen auf Anhieb jede Menge Blumen und Pflanzen dafür ein. Und in Nikolassee beginnen wir mit ‚Meaningful Earth‘, würde ich vorschlagen. Da greifen wir den Umweltgedanken auf. Helles Gelb, Lachstöne in Kombination mit dunklen und grauen Grüntönen. Sehe beides in den Schaufenstern schon vor mir, auch was die Accessoires angeht.“
„Das klingt wunderbar. Aber mach nicht zu viele Überstunden. So was ist nicht gut für die Beziehung“, sagte Viola mit einem Lächeln.
„Ist mir doch ein Vergnügen, weil mein Beruf mir Berufung ist.“
„Das wollte ich hören. Tschüss Ben.“
Und ich denke darüber nach, wie wir die Pantonefarbe dieses Jahres in Szene setzen, überlegte Viola, nachdem hinter Benjamin die Tür ins Schloss gefallen war. Peach Fuzz, ein sanfter Pfirsichton. Vor ihrem inneren Auge entstand ein Aufbau im Laden, mit entsprechenden Blumen, Pflanzen und weiteren Accessoires sowie Zusatzartikeln. Doch, zu so einem Ton konnte sie auch ganz persönlich stehen, sollte der doch Jugendlichkeit und Zeitlosigkeit verbinden. Ein Ausdruck für die den Menschen innewohnende Sehnsucht nach Nähe und Verbundenheit. Balsam für Körper und Seele, einfach eine Wohltat. Viola musste schmunzeln. Was sich die Werbestrategen da auch immer einfallen ließen … Sie würde es schon richtig ansprechend für ihre Kunden inszenieren.
„Wat fällt dir denn ein?! Verpiss dich, du Penner!“, wurde Pablo in der Frühe dieses Montagmorgens von einer derben Frauenstimme aus seiner Ohnmacht geholt. Ihm tat der Kopf weh.
„Allet haste mir zerstört. Det war so scheen arrangiert. Meine arme Kleene … Endlich mal Besuch und dann jehste so liederlich mit meene Jäste um.“
Inzwischen hatte Pablo die Augen geöffnet, sie aber sofort wieder geschlossen, weil dieses Bild absolut nicht zu seinen Vorstellungen passte, und dann doch erneut die Lider gehoben, aber diesmal mit extremer Langsamkeit. Es machte ja keinen Sinn, sich vor der Wirklichkeit zu verschließen. Das hatte in seinem Job noch nie etwas gebracht. Insofern war das auch hier keinerlei Versuch wert.
Er stellte fest, dass er direkt neben einer scheinbar jungen und sehr hübschen Frau und sogar ein Stück auf ihr lag. Erst jetzt spürte er ihren Körper. Sie war über und über mit weißen Rosen bedeckt. Ein intensiver, unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase, der nicht von den Blumen herrühren konnte. Unmittelbar neben ihr, und somit neben ihm, kniete das keifende Weib. Sieht aus, wie man sich die böse Stiefmutter aus Grimms Märchen vorstellt, ihr zur Seite Schneewittchen oder eher noch Dornröschen, dachte Pablo schlagartig. Aber dann würde sie sich doch nicht so freundlich über die Liegende äußern. Es gelang ihm nicht, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn irgendwelche Worte zu formulieren.
„Führst dir uff wie Graf Koks vonne Jasanstalt“, plusterte sich die Frau am Boden weiter auf. „So een Schnösel aber ooch, macht hier wat uff etepetete …“
„Bestimmt träumst du nur wieder mal Blödsinn, weil der Arbeitstag so stressig war und ihr im Anschluss bei zu viel trockenem Rotwein diese zahlreichen Teile von der aktuell angesagten Serie gestreamt habt, um euch zu entspannen“, redete er sich ein. Dabei hatten er und Stephanie schon einstimmig beschlossen, ihre Sucht einzudämmen und die Glotze, Abhängigkeit Nummer zwei, auszulassen. Ein schönes klassisches Konzert per CD bei Kerzenschein war doch eine viel bessere Idee. Es war verdammt lange her, dass sie so etwas gemeinsam genossen hatten … Und dazu aus gesundheitspolitischen Gründen ein Glas edles Mineralwasser? Er hatte doch gestern überhaupt nichts Hochprozentiges getrunken!
Gerade erst zu Jahresbeginn hatten sie sich der Kampagne „Dry January“ angeschlossen. Einen Monat lang totaler Verzicht auf Alkohol. Zum Glück endete das endlich mit dem kommenden Mittwoch. Die Abstinenz war ihm im Gegensatz zu seiner Frau schon recht schwer gefallen. Zumal in seinem beruflichen Umfeld immer wieder Versuchungen lauerten, denen er sich schlecht erwehren konnte. „Hab dich doch nicht so albern“, war einer der klassischen Sätze auf seinen Spruch hin, er würde diese gut viereinhalb Wochen einfach keinen Tropfen Alkohol anrühren, auch um sein Durchhaltevermögen zu testen.
Großbritannien, wie es hieß das Ursprungsland des sehr speziellen spirituosenfreien Monats, Frankreich, die Schweiz und Deutschland machten seit einigen Jahren dabei mit. Inzwischen sogar hierzulande unter der Schirmherrschaft des Sucht- und Drogenbeauftragten der Bundesregierung, verbreitet vom Blauen Kreuz und gefördert von einer Krankenkasse. Aus seinem Gehirn purzelten wie üblich Fakten.
Dazu hatte er mal recherchiert und beiläufig festgestellt, dass die Briten gar nicht die Urheber waren. Einen Vorläufer der Bewegung gab es schon in Finnland 1942, als die Regierung im Zuge ihrer „Kriegsanstrengungen“ den „Sober January“ einführte. Also einen nüchternen Monat. Logisch, mit klarem Kopf und Verstand konnte man seine Ziele besser treffen. Seine Gedanken entfernten sich immer weiter weg von dem Ort seines aktuellen Aufenthalts.
„Willste deinen fetten Arsch nich endlich mal hochbewejen, du blödes Trampel“, fauchte ihn sein Gegenüber an, mit einem deutlich alkoholisierten Atem, wie er eben bemerkte. Sonst war er da gar nicht so sensibilisiert. Es musste wohl an seiner eigenen Enthaltsamkeit liegen. Dann war das vielleicht die Ursache von diesem penetranten Geruch? Jetzt wurde ihm tatsächlich übel.
Das, was da teilweise unter ihm lag, war definitiv eine Tote. An ihrer Halsschlagader war keinerlei Regung zu spüren, das hatte er spontan getestet, nachdem er sich in den Modus „Funktionieren“ gelenkt hatte. Und bei Näherem betrachtet, sah sie auch nicht mehr so richtig hübsch, sondern ziemlich fleckig und derangiert aus. Ein eher gespenstischer Anblick. Möglicherweise hatte die Alte dabei ihre Finger im Spiel gehabt, manifestierte sich ein Gedanke. Pablo rollte sich endlich seitlich davon, um mühevoll wieder auf die Beine zu kommen. Dass sein Magen ziemlich laut knurrte, registrierte er gar nicht.
„Ich sollte wohl die Polizei verständigen“, hauchte er in den inzwischen wenig schönen Morgen hinein.
„Die Polente lässte mal außen vor“, brummte die Frau. „Ick lass mir die Kleene nich wechnehmen! Endlich is mal jemand auf’n Plausch herjekommen, auch wenn et vielleicht nur ne Schaufensterpuppe is…“
Von wegen Puppe! Wo war er da nur hingeraten? In den Garten eines Irrenhauses? Pablo schüttelte sich, zog sein Handy aus der Hosentasche und ging ein paar Schritte beiseite. Immer mit Blick auf diese irrwitzige Situation, damit er sie auch wirklich realisieren konnte.
Behutsam richtete währenddessen die Alte die Blüten auf der Toten und legte ihr wieder die Hände auf dem Bauch aufeinander, die bei seinem Sturz ihren offensichtlich vorherigen Platz verloren hatten. Dann holte sie aus einem großen Einkaufswagen vom Billigdiscounter, der ihm bis jetzt entgangen war, ein paar weitere Blumen, die sogar noch recht frisch aussahen, was sicher mit den generell niedrigen Temperaturen zusammenhing. Dabei brabbelte sie irgendwelches Zeug vor sich hin, was Pablo nicht verstand, auch deshalb nicht, weil er jetzt die Polizei am anderen Ende hatte und sich sein Gehirn darauf fokussierte.
Während er die Situation schilderte, hatte er sich wieder halbwegs im Griff. Ein paar Vögel zwitscherten kräftig und tirilierten mehrstimmig, völlig unbeeindruckt vom Geschehen. Sie taten, als würden sie bereits den Frühling einläuten und auf Partnersuche sein.
„Genau“, bestätigte er seine Personalien und das Zusammengefasste. „Und ich befinde mich hier direkt am Rande vom Rosengarten. Anhand meines Handys können Sie mich ja bestimmt lokalisieren. Selbstverständlich fasse ich nichts an und lasse alles im vorgefundenen Zustand.“
Er solle zusehen, dass sich die alte Frau nicht aus dem Staub mache, bekam er noch einen Auftrag. Na, die waren ja lustig. Er übernahm doch hier keine Polizeiarbeit. Vielleicht sollte er sie noch festhalten? Aber dazu hätte er sie ja anfassen müssen! Wo kam er denn da hin? Die hatten wohl nicht alle Tassen im Schrank.
Kopfschüttelnd stand Pablo da, nachdem er das Telefonat beendet hatte. Dann hörte er die Frau geräuschvoll schniefen und dazu leise Jammerlaute von sich geben. So würde sich eine Mörderin eher nicht aufführen, überlegte er. Aber wie verhielten sich Leute, die jemanden umgebracht hatten? Er kannte ja niemanden aus dieser Sparte. Und die zahllosen Krimis im Fernsehen entsprachen mit Sicherheit auch nicht unbedingt den Tatsachen, da kamen die ebenfalls gehäuften Dokus zum Thema Mord und Totschlag sowie die dazugehörigen Ermittlertätigkeiten der Wahrheit möglicherweise schon näher. Wobei er so etwas gar nicht anschaute, sondern nur zappenderweise bei der Programmdurchsicht registrierte und durchs Raster der infrage kommenden Fernsehsendungen fallen ließ.
Jetzt schoss er doch ein paar Fotos, mit aller gebotenen Vorsicht, damit die Alte nicht aufmerksam und wieder aggressiv wurde. Zugleich aber zu seiner Sicherheit, damit man ihm das alles hier auch später glauben würde. Sonst war er noch der Verdächtige. So weit konnte es ja vielleicht kommen! Und er wäre nicht der Erste, der unschuldig hinter Gittern landete. Schließlich befand er sich an diesem Ort und hatte garantiert allerlei Spuren hinterlassen. Verdammt, das war aber auch kompliziert.
Pablo dachte nicht im Geringsten daran, Stephanie oder gar im Büro anzurufen. So etwas Naheliegendes hatte sein Gehirn total ausgeblendet. Er hatte lediglich seine Warteposition inne und lauerte auf das, was da kommen würde. Sein Atmen entsprach eher einem kläglichen Seufzen.
Von der Straße des 17. Juni näherte sich ein Polizeifahrzeug, darin Hauptkommissar Jens Pawlowski am Steuer und auf dem Beifahrersitz sein Assistent Jannik Arnold. Letzterer gähnte breit.
„Na, zu spät in die Heia gekommen?“, erkundigte sich Pawlowski.
„Sorry, Chef“, entgegnete Jannik und hielt sich verspätet die Hand vor den Mund. „Ich hatte doch Bereitschaftsdienst, weil überall Not am Mann ist, dann war ein Großeinsatz am Görlitzer Park wegen einer angezeigten Vergewaltigung in größerem Ausmaß, und ich bin erst irgendwann in der Frühe nach Hause gekommen, um mich für gerade mal zwei lächerliche Stunden aufs Ohr zu hauen. Wird wirklich Zeit, dass am Görli der Zaun entsteht und nachts alles verschlossen wird, um die Drogenszene und alles, was dazugehört, zurückzufahren…“
„…was man damit auch nur in die umliegenden Wohngebiete verdrängt“, ergänzte der Kommissar kopfschüttelnd, um gleich anzuschließen: „Ihr jungen Leute seid alles nur Weicheier und Waschlappen. Also, als ich in deinem Alter war, habe ich noch rund um die Uhr arbeiten können, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne weibisches Gezeter. Im Anschluss bin ich sogar noch ausgiebig schwofen gegangen.“
„Wer’s glaubt, wird selig“, lag es Jannik auf der Zunge, aber er verkniff sich diese Bemerkung. Zumal er die Vorstellung – sein Chef das Tanzbein schwingend, in seinen Armen ein flotter Feger – einfach unterirdisch fand.
„Immerhin ist es sehr löblich, dass du mir hier im Grunde nahtlos wieder zur Seite stehst“, hängte sein Chef noch an, jetzt sehr verträglich klingend.
Jannik riss die Augen auf. Schlagartig war er definitiv munter. Was war denn in den gefahren? Lobende Worte. Einfach so, aus dem Nichts heraus. Das Datum und die Uhrzeit musste er sich unbedingt notieren, nahm er sich vor. Sonst würde er es später selbst nicht glauben. Alles unter der Rubrik: Highlights mit meinem cholerischen Chef – auch das ist möglich!
„Da hinten“, wies Jannik in die Richtung, in der Pablo zu erkennen war, der schon in die Höhe sprang und heftig gestikulierte.
„Denkst du, ich bin blind“, kam die wieder völlig gewohnt-normale Antwort von Pawlowski. „Wieso sind wir denn die Ersten???“
Dann hielt der Polizeiwagen direkt neben Pablo, der inzwischen in seinem nicht übermäßig dicken Mikrofaser-Sportdress ziemlich durchgefroren war. Die beiden Beamten musterten ihn und sein knapp sitzendes Outfit, das die Speckbereiche deutlich markierte, kurz, aber Jogger waren in diesem Umfeld ja nichts Ungewöhnliches. Und für stylishe Garderobe interessierten sich weder Jens noch Jannik sonderlich.
„Ich habe Ihnen den Vorfall gemeldet“, fing Pablo sofort als Erster an. „Pablo Müller mein Name, wenn Sie gestatten.“
„Was redest du denn für eine gequirlte Kacke, von wegen ‚wenn Sie gestatten‘“, fuhr es Pablo durch den Kopf, aber er konnte sich und seine Wortwahl nicht bremsen, während Jens Pawlowski dachte: Was für eine Kombination?! Überlegen sich Eltern eigentlich im Vorfeld, was sie ihren Kindern mit der Namensgebung antaten? Aber das war ja hier nicht das Thema. Doch sein Gegenüber schien Gedanken lesen zu können und hielt die Angelegenheit offensichtlich für erklärungsbedürftig.
„Mein Vater war ein Spanier und hieß García, mein Opa eben Pablo, und deshalb bekam auch ich diesen Vornamen. Den Nachnamen habe ich von meiner geliebten und leider vor zwei Jahren verstorbenen Mutter. Sind beide Allerweltsnamen. Über drei von den etwa 46 Millionen Spaniern sollen so heißen. Stammt übrigens vom baskischen Begriff ‚gartzea‘ ab und bedeutet ‚jung‘. Bei uns hier in Deutschland ist wiederum Müller der häufigste Nachname. Beides inflationär. Das passt doch am Ende zusammen, nicht wahr, meine Herren …“
Pablo redete und redete wie ein Wasserfall, während ihn die beiden Beamten für den Moment gewähren ließen. Schließlich reagierten die Leute auf verschiedenste Art und Weise, wenn sie eine Leiche gefunden hatten. Manche mit totaler Sprachlosigkeit und der hier eben mit ausgeprägter Redseligkeit, die mit dem Thema wenig zu tun hatte.
Inzwischen war es auch Pablo bewusst geworden, dass er insgesamt ziemlichen Unsinn quatschte.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte er betont höflich und richtete sich gerade auf. „Ich bin sonst nicht so, sondern eher sehr konzentriert, berufsbedingt. Ich bin ja im Management bei der Messe Berlin beschäftigt, genauer gesagt als Pressesprecher bei der Grünen Woche. Die wir übrigens gestern unter dem Gesamtmotto ‚Allesfresser Willkommen‘ erfolgreich über die Bühne gebracht haben.“
„Schon gut“, lenkte Pawlowski ein und ging auf den Job und den originellen Slogan nicht weiter ein. Pressesprecher also, das erklärte natürlich einiges!
„Wann sind Sie denn heute früh aus dem Haus?“, schloss der Kommissar noch eine Frage an.
„Ziemlich direkt nach den Sechs-Uhr-Dreißig-Nachrichten vom Berliner Rundfunk. Die wollte ich mir nicht entgehen lassen. Man muss ja auf dem Laufenden sein, und dafür nutze ich auch die verschiedensten Medien. Ich wohne nicht allzu weit weg von hier, da passt der Tiergarten für meine morgendlichen Läufe hervorragend. Erst habe ich etliche Kilometer absolviert, dann passierte das Malheur“, antwortete Pablo.
Pawlowski äußerte sich nicht weiter dazu, sondern deutete auf die Stelle direkt neben ihnen, wo die junge Frau lag und die Alte nach wie vor daneben kauerte und alle argwöhnisch musterte.
„Und das hier ist die Situation exakt so, wie Sie sie vorgefunden haben?“
Jannik bückte sich währenddessen, dachte über den unpassenden Begriff „Malheur“ in diesem Zusammenhang nach und prüfte eventuelle Lebenszeichen an der Liegenden, dann schüttelte er den Kopf, als Pawlowski ihn ernst anschaute.
„Genau. Ich bin ja quasi drüber gestolpert, habe mich der Länge nach hingelegt und bin auf den Baumstamm dort geknallt, wo ich mich auch schwer verletzt habe. Möglicherweise habe ich eine Gehirnerschütterung.“
Pablo wies auf die Stelle am Boden und auf den inzwischen angeschwollenen Bereich auf seiner Stirn. Sogar eine kleine Blutspur zog sich zur Bestätigung bis zu seiner rechten Augenbraue hinunter.
„Dass die Frau tot ist, habe ich dann – wie eben Ihr Kollege – mit zwei Fingern an der Halsschlagader festgestellt, als ich wieder zu mir kam. Durch meinen Sturz kann das aber nicht passiert sein, das möchte ich an dieser Stelle betonen. Ich kann sie definitiv nicht erschlagen haben. Davon gehe ich jedenfalls aus … Ich war wohl kurz ohnmächtig und wollte dann natürlich Erste Hilfe leisten. Dabei war ich übrigens gerade beim Joggen, wie ich schon sagte, so wie jeden Morgen hier im Tiergarten. Meine Frau und ich, wir haben uns nämlich die Teilnahme am Marathon im September vorgenommen. So etwas geht selbstverständlich nicht ohne entsprechendes Laufen im Vorfeld.“
„Verstricke ich mich hier in Lügen?“, schoss es Pablo durch den Kopf. Wenn das mit dem regelmäßigen Training nachgeprüft würde, dann käme doch bestimmt die Sache mit Lukas und den erschwindelten Laufkilometern heraus. Und das könnte dann möglicherweise seine Frau erfahren.
„Das ist bestimmt das geringste Problem, das du jetzt hast“, redete er sich nun innerlich mehr oder weniger beruhigend zu. Und wieso war ihm denn ausgerechnet in diesem Moment bei der Vorstellung der Bezug zu seinem Erzeuger eingefallen, von dem die Mutter behauptet hatte, er wäre ein Torero gewesen und hätte in der Stierkampfarena einen Sieg nach dem anderen eingeheimst und das jeweilige Tier schließlich nach atemberaubenden Auseinandersetzungen getötet. Natürlich rituell, voller Regeln in der Form der Darbietung.