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Ein junger Student begeht einen Mord – und glaubt, dafür gute Gründe zu haben. Mit diesem moralischen Paradox beginnt Fjodor Dostojewskis Meisterwerk "Schuld und Sühne“. Raskolnikow, ein brillanter aber verarmter Student, entwickelt eine gefährliche Theorie: Außergewöhnliche Menschen stünden über dem Gesetz und dürften für höhere Ziele töten. Seine Verbrechen – der Mord an einer Pfandleiherin und ihrer unschuldigen Schwester – werden zur Probe aufs Exempel. In den folgenden Tagen und Wochen gerät Raskolnikows Weltbild ins Wanken. Seine philosophische Rechtfertigung der Schuld zerbricht an der Realität der Strafe – nicht durch das Gesetz, sondern durch sein eigenes Gewissen. In diesem existenziellen Kampf zwischen Größenwahn und Gewissen, zwischen rationaler Kälte und menschlicher Wärme entfaltet sich eines der eindringlichsten Psychogramme der Weltliteratur.
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Seitenzahl: 1192
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Fjodor Dostojewski
Schuld und Sühne
Vollständige deutsche Ausgabe mit ausführlichem Vorwort
Copyright © 2024 Novelaris Verlag
ISBN: 978-3-68931-067-7
Vorwort
Die persönliche Geschichte hinter dem Roman
Neue Wege des Erzählens
Die Stadt als eigene Figur - Petersburg im Roman
Die großen Gedanken des Romans
Die weltweite Wirkung
Erster Teil
I
II
III
IV
V
VI
VII
Zweiter Teil
I
II
III
IV
V
VI
VII
Dritter Teil
I
II
III
IV
V
VI
Vierter Teil
I
II
III
IV
V
VI
Fünfter Teil
I
II
III
IV
V
Sechster Teil
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
Epilog
I
II
Cover
Table of Contents
List of illustrations
Als Fjodor Michailowitsch Dostojewski im Herbst 1865 mit der Niederschrift von “Schuld und Sühne” begann, befand er sich in einer tiefen persönlichen und finanziellen Krise. Nach dem Tod seiner ersten Frau Maria Dmitrijewna und seines Bruders Michail lasteten nicht nur seine eigenen Spielschulden auf ihm, sondern auch die Schulden der von seinem Bruder gegründeten Zeitschrift “Epocha”. Diese schwierige wirtschaftliche Lage zwang den Schriftsteller zur Flucht ins Ausland, wo er unter äußerst schwierigen Bedingungen an seinem neuen Werk arbeitete.
In Dresden lebte Dostojewski in bescheidenen Verhältnissen und wurde ständig von Gläubigern bedrängt. Die Arbeit am Roman wurde immer wieder durch seine Spielsucht unterbrochen, die ihn in die Spielbanken von Baden-Baden und Wiesbaden trieb. Diese persönlichen Erfahrungen von Verzweiflung und innerer Zerrissenheit flossen direkt in die seelischen Qualen seiner Hauptfigur Rodion Raskolnikow ein.
Das gesellschaftliche und politische Klima im Russland der 1860er Jahre bildete den weiteren Hintergrund des Romans. Die großen Reformen unter Zar Alexander II., besonders die Befreiung der Bauern von 1861, hatten zu grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen geführt. Die schnell wachsenden Städte brachten neue Formen der Armut hervor, während gleichzeitig revolutionäre und nihilistische Ideen unter den jungen Intellektuellen kursierten. St. Petersburg, der Schauplatz des Romans, verkörperte wie keine andere Stadt diese Spannungen zwischen westlicher Modernität und russischem Elend.
Besonders die Situation der Studenten, die oft unter ärmlichsten Bedingungen in der Hauptstadt lebten, kannte Dostojewski aus eigener Anschauung. Die materielle Not verband sich bei vielen von ihnen mit einem gefährlichen Idealismus, der radikale Lösungen für die sozialen Probleme forderte. Die Figur des Raskolnikow, eines mittellosen ehemaligen Jurastudenten, der seine Mordtat philosophisch zu rechtfertigen versucht, entsprang direkt dieser Situation seiner Zeit.
Ursprünglich hatte Dostojewski die Geschichte als Ich-Erzählung in Form einer Beichte geplant. Erst während des Schreibens entschied er sich für die vielschichtigere Form eines Romans mit verschiedenen Handlungssträngen und mehreren wichtigen Figuren. Diese Entscheidung erwies sich als wegweisend, da sie ihm ermöglichte, die seelischen und philosophischen Dimensionen der Geschichte umfassender zu entwickeln.
Der Entstehungsprozess des Romans war von ständigen Geldsorgen geprägt. Dostojewski hatte sich gegenüber dem Verleger Stellowski verpflichtet, bis zu einem bestimmten Termin einen Roman zu liefern, sonst würde er für Jahre die Rechte an allen seinen Werken verlieren. Diese Zwangslage führte zu einer außergewöhnlich intensiven Arbeitsphase. Teile des Romans entstanden unter extremem Zeitdruck, wobei Dostojewski die fertigen Kapitel sofort an die Zeitschrift “Russki Westnik” schickte, in der der Roman als Fortsetzungsgeschichte erschien.
Die Arbeit am Manuskript wurde zusätzlich durch Dostojewskis epileptische Anfälle erschwert, die sich in Phasen großer Anspannung häuften. Die gesundheitlichen Probleme zwangen ihn, eine Stenografin zu engagieren. Die Zusammenarbeit mit Anna Grigorjewna Snitkina, seiner späteren zweiten Ehefrau, erwies sich als Glücksfall. Ihre genaue und zuverlässige Arbeit trug wesentlich dazu bei, dass der Roman fertiggestellt werden konnte.
Die erste Fassung des Romans erschien von Januar bis Dezember 1866 in der Zeitschrift “Russki Westnik”. Bereits während der Veröffentlichung wurde deutlich, dass Dostojewski ein außergewöhnliches Werk geschaffen hatte. Die Leser verfolgten die Fortsetzungen mit wachsender Spannung, und schon diese erste Fassung löste intensive Diskussionen in der russischen Öffentlichkeit aus.
Die Entstehungsgeschichte von “Schuld und Sühne” zeigt beispielhaft, wie äußere Zwänge und persönliche Krisen zur Entstehung eines überragenden literarischen Werks beitragen können. Die Verbindung von persönlicher Erfahrung, zeitgeschichtlichem Hintergrund und künstlerischer Vision führte zu einem Roman, der bis heute seine Wirkung nicht verloren hat. Die schwierigen Umstände seiner Entstehung erwiesen sich paradoxerweise als fruchtbar, indem sie Dostojewski zu einer besonders intensiven Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen von Schuld, Moral und Erlösung zwangen.
Mit “Schuld und Sühne” beschritt Dostojewski neue Wege in der Kunst des Erzählens, die bis heute nachwirken. Seine wichtigste Neuerung liegt in der Entwicklung einer neuartigen Form des inneren Monologs, die das Bewusstsein der Figuren in bisher ungekannter Unmittelbarkeit zugänglich macht. Anders als in der bis dahin üblichen Beschreibung von außen dringt der Erzähler tief in die Gedankenwelt Raskolnikows ein und lässt den Leser direkt an dessen fieberhaften Überlegungen, Wahnvorstellungen und Gefühlsschwankungen teilhaben.
Diese neue Erzählweise zeigt sich besonders eindrucksvoll in den Passagen, die Raskolnikows Gang durch Petersburg schildern. Die äußere Handlung - das Durchqueren der Stadt - verschmilzt dabei vollständig mit dem inneren Erleben der Hauptfigur. Gedankenfetzen, Sinneseindrücke und Erinnerungsfragmente überlagern sich in einer Weise, die das zerrüttete Bewusstsein des Mörders unmittelbar erfahrbar macht. Dostojewski entwickelt hier bereits jene Technik des Bewusstseinsstroms, die später von James Joyce und anderen modernen Schriftstellern aufgegriffen und weiterentwickelt wurde.
Besonders neuartig ist die Art und Weise, wie Dostojewski die Grenzen zwischen Erzähler- und Figurenperspektive verwischt. Der Erzähler gibt seine distanzierte Position immer wieder auf und gleitet unmerklich in die Sichtweise der Figuren hinüber. Diese Technik wird so konsequent eingesetzt, dass der Leser oft nicht mehr unterscheiden kann, ob er die Einschätzungen des Erzählers oder die subjektiven Wahrnehmungen der Figuren vor sich hat. Diese Verschmelzung der Perspektiven erzeugt eine neuartige erzählerische Vielschichtigkeit, die den modernen Roman stark beeinflusst hat.
Ein weiteres bahnbrechendes Element ist der Umgang mit der Zeit im Roman. Dostojewski löst sich von der bis dahin üblichen chronologischen Erzählweise und entwickelt eine komplexe Zeitstruktur, in der Gegenwart und Vergangenheit ineinander übergehen. Die subjektive Zeiterfahrung der Figuren, besonders Raskolnikows fieberhaftes Erleben von Zeit während und nach dem Mord, wird durch diese Erzählweise unmittelbar spürbar. Momente können sich zu Ewigkeiten dehnen, während ganze Tage wie im Rausch vergehen.
Die psychologische Darstellungsweise des Romans ist von einer bis dahin ungekannten Genauigkeit. Dostojewski verzichtet weitgehend auf die direkte Charakterisierung seiner Figuren zugunsten einer indirekten Darstellung durch Handlung, Dialog und inneren Monolog. Die Vielschichtigkeit der Charaktere erschließt sich dem Leser durch die genaue Beobachtung ihrer oft widersprüchlichen Reaktionen und Verhaltensweisen. Diese Technik der psychologischen Enthüllung wird besonders meisterhaft in der Gestaltung der Verhöre durch den Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch eingesetzt.
Auch in der Dialoggestaltung beschreitet Dostojewski neue Wege. Die Gespräche im Roman folgen nicht dem Muster eines geordneten Austauschs von Argumenten, sondern entwickeln eine eigene, oft sprunghafte Dynamik. Die Figuren reden aneinander vorbei, verschweigen das Wesentliche oder sprechen es in unvermittelter Direktheit aus. Durch diese lebensnahe Gestaltung der Kommunikation gelingt es Dostojewski, die psychologische Spannung der Situationen unmittelbar erfahrbar zu machen.
Die innovative Kraft des Romans zeigt sich auch in der Behandlung des Unbewussten. Lange vor Freud gestaltet Dostojewski die Wirkung unbewusster Motive und Triebe auf das menschliche Handeln. Raskolnikows scheinbar rational begründete Tat wird durch die Erzählweise als Ergebnis tiefer liegender seelischer Konflikte enthüllt. Träume, Halluzinationen und zwanghafte Handlungen werden nicht als bloße Ausschmückungen, sondern als wesentliche Elemente der psychologischen Entwicklung dargestellt.
Ein weiteres wichtiges Element ist die Verwendung von wiederkehrenden Motiven und Symbolen, die den Roman durchziehen und seine verschiedenen Ebenen miteinander verbinden. Die gelbe Farbe, das Motiv der Schwelle oder das immer wiederkehrende Bild der Treppe sind nicht bloß schmückende Elemente, sondern schaffen ein dichtes Netz von Bedeutungen, das die psychologische und philosophische Dimension des Romans trägt.
Die Struktur des Romans ist von einer bemerkenswerten Vielschichtigkeit. Neben der Haupthandlung um Raskolnikow entwickelt Dostojewski mehrere Nebenhandlungen, die sich gegenseitig spiegeln und kommentieren. Die Geschichte der Familie Marmeladow etwa bildet einen eigenständigen Handlungsstrang, der dennoch eng mit dem Schicksal der Hauptfigur verwoben ist. Diese Technik der Verflechtung verschiedener Erzählstränge ermöglicht es Dostojewski, sein Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten und zugleich die gesellschaftliche Dimension des Geschehens deutlich zu machen.
Diese neuen Erzähltechniken haben “Schuld und Sühne” zu einem Wendepunkt in der Geschichte des Romans gemacht. Dostojewski schuf damit nicht nur ein psychologisches Porträt von einzigartiger Tiefe, sondern entwickelte auch narrative Techniken, die bis heute die Möglichkeiten des Romans erweitert haben. Seine Art, Bewusstseinsprozesse darzustellen, innere und äußere Handlung zu verflechten und verschiedene Erzählebenen zu kombinieren, hat den modernen Roman maßgeblich geprägt.
Petersburg ist in “Schuld und Sühne” weit mehr als nur Schauplatz der Handlung. Die Stadt wird zu einer eigenständigen Figur, die das Geschehen maßgeblich beeinflusst und die seelische Entwicklung der Charaktere prägt. Dostojewski zeichnet ein eindringliches Porträt der russischen Hauptstadt in den 1860er Jahren, wobei er die reale Geografie der Stadt mit einer tieferen Bedeutungsebene verbindet. Das Petersburg des Romans ist gleichermaßen real wie symbolisch, ein Ort extremer sozialer Gegensätze und existenzieller Grenzerfahrungen.
Die bauliche Gestalt der Stadt spiegelt ihre innere Zerrissenheit wider. Die prächtigen Prachtstraßen und Paläste kontrastieren mit den düsteren Hinterhöfen und engen Gassen, in denen sich das Leben der ärmeren Bevölkerung abspielt. Besondere Bedeutung kommt den Mietshäusern zu, jenen mehrgeschossigen Wohngebäuden, in denen Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft auf engstem Raum zusammenleben. Die bedrückende Atmosphäre dieser Behausungen, die stickige Luft in den Treppenhäusern und die gelben, schmutzigen Tapeten werden zu wiederkehrenden Motiven, die die psychische Verfassung der Protagonisten spiegeln.
Die geografische Lage Petersburgs am Rande des russischen Reiches findet ihre Entsprechung in der Grenzsituation der Hauptfigur. Wie die Stadt selbst, die Peter der Große dem Sumpf abgetrotzt hatte, erscheint Raskolnikow als ein Mensch am Rande – zwischen Vernunft und Wahnsinn, zwischen moralischer Rechtfertigung und Schuldbewusstsein. Die berühmten weißen Nächte des Petersburger Sommers, in denen die Grenzen zwischen Tag und Nacht verschwimmen, verstärken diesen Eindruck der Unwirklichkeit und tragen zu Raskolnikows wachsender Desorientierung bei.
Die Stadt ist dabei nicht nur Kulisse, sondern aktiver Teilnehmer am Geschehen. Die drückende Hitze des Sommers, der Gestank der Kanäle und die überfüllten Straßen schaffen eine Atmosphäre der Beklemmung, die Raskolnikows Tat gleichsam vorzubereiten scheint. Die städtische Umgebung wird zum Katalysator seiner theoretischen Überlegungen: In der anonymen Masse der Großstadt erscheint der Einzelne tatsächlich als jenes abstrakte Wesen, als das ihn Raskolnikows Theorie vom außergewöhnlichen Menschen begreift.
Besondere Bedeutung kommt den Brücken zu, die die verschiedenen Stadtteile verbinden. Sie sind nicht nur Übergänge im physischen Sinne, sondern markieren auch symbolische Schwellen. Raskolnikows Gang über die Brücken wird zum rituellen Akt, der seinen inneren Zustand spiegelt. Die Newa selbst, mit ihrer Gefahr der Überschwemmung und ihrer dunklen Tiefe, wird zum Symbol der unterschwelligen Bedrohung, die das Leben in der Stadt prägt.
Die soziale Geografie Petersburgs ist präzise gezeichnet. Der Heumarkt, wo sich die Ereignisse um die Familie Marmeladow abspielen, die Sadowaja-Straße mit ihren Gasthäusern und Kneipen, das Polizeirevier im Stadtteil Spassky – all diese Orte sind genau lokalisierbar und doch zugleich in eine tiefere Dimension überführt. Die kreisförmigen Wege, die Raskolnikow durch die Stadt nimmt, spiegeln seine gedanklichen Kreise wider, aus denen er nicht auszubrechen vermag.
Das Petersburg des Romans ist auch ein Ort extremer sozialer Gegensätze. Die Nähe von Luxus und Elend, die für die Stadt charakteristisch ist, wird zum Auslöser sozialer Spannungen und moralischer Konflikte. In den Wirtshäusern und auf den Straßen treffen Menschen aufeinander, die unter normalen Umständen streng voneinander getrennt wären. Diese erzwungene Nähe schafft jene explosiven Situationen, die den Roman vorantreiben.
Die Stadt erscheint dabei als Verkörperung der westlichen Moderne, als künstlicher Ort, der dem russischen Boden aufgezwungen wurde. Die rationalistischen Theorien Raskolnikows sind gleichsam die gedankliche Entsprechung zu der geometrischen Anlage der Stadt. Beide verkörpern einen Geist der Abstraktion, der dem natürlichen Leben fremd ist. Nicht zufällig findet Raskolnikow seine Erlösung erst, als er Petersburg verlässt und nach Sibirien geht.
Das nächtliche Petersburg wird zum Schauplatz traumartiger Erlebnisse. In den Dämmerungsstunden, wenn die Umrisse der Stadt verschwimmen, ereignen sich die entscheidenden Begegnungen. Die Stadt verwandelt sich dann in einen unwirklichen Raum, in dem die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Einbildung, zwischen Vernunft und Wahnsinn durchlässig werden. Diese Atmosphäre des Unwirklichen, die schon Puschkin und Gogol in ihren Petersburg-Erzählungen beschrieben hatten, wird bei Dostojewski zum Medium seelischer Enthüllung.
Die baulichen Details der Stadt – die endlosen Korridore, die verwinkelten Treppenhäuser, die engen Höfe – werden zu Sinnbildern des seelischen Raums. Die äußere Umgebung spiegelt die innere Landschaft der Charaktere. Die gelbe Farbe, die immer wieder als Merkmal der städtischen Umgebung erscheint, wird zum Symbol der Krankheit und des moralischen Verfalls. Die Stadt selbst scheint ihre Bewohner zu vergiften, sie in einen Zustand fieberhafter Erregung zu versetzen.
So wird Petersburg in “Schuld und Sühne” zu einem verdichteten Abbild der modernen Existenz. Die Stadt ist nicht nur Schauplatz eines einzelnen Verbrechens, sondern Ausdruck jener gesellschaftlichen und geistigen Kräfte, die dieses Verbrechen ermöglichen. In der Darstellung Petersburgs verschränken sich soziale Analyse und tiefere Deutung zu einem Bild von erschütternder Intensität.
Die gedankliche Tiefe von “Schuld und Sühne” entfaltet sich vor dem Hintergrund der wichtigen geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts. Im Zentrum steht dabei die Auseinandersetzung mit Ideen, die später in Nietzsches Konzept des Übermenschen ihre prägnanteste Formulierung finden sollten. Raskolnikows Theorie von den außergewöhnlichen Menschen, denen gewöhnliche moralische Regeln nicht gelten, nimmt wichtige Aspekte von Nietzsches Philosophie vorweg. Doch während Nietzsche diese Gedanken als befreiende Überwindung traditioneller Moralvorstellungen begreift, zeigt Dostojewski ihre zerstörerischen Folgen auf.
Die gedankliche Argumentation Raskolnikows basiert auf einer radikalen Zweiteilung der Menschheit in gewöhnliche und außergewöhnliche Menschen. Letztere hätten das Recht, ja sogar die Pflicht, sich über moralische Konventionen hinwegzusetzen, wenn dies dem Fortschritt der Menschheit dient. Diese Theorie, die Raskolnikow in einem Zeitungsartikel entwickelt hat, verbindet nützlichkeitsethische Überlegungen mit einem extremen Individualismus. Die Ermordung der Pfandleiherin erscheint in dieser Logik als praktische Überprüfung der eigenen philosophischen Position.
Dem rationalen Kalkül Raskolnikows stellt Dostojewski eine christlich-orthodoxe Heilsvorstellung gegenüber, die in der Figur Sonjas ihre reinste Verkörperung findet. Ihr bedingungsloser Glaube, der sich gerade in der Annahme des Leidens bewährt, steht in scharfem Kontrast zu Raskolnikows Versuch, durch einen Willensakt über sich selbst hinauszuwachsen. Die Erlösung, die der Roman am Ende andeutet, ist nur durch die vollständige Aufgabe des rationalistischen Stolzes möglich.
Ein weiterer zentraler Gedanke des Romans ist die Kritik am Nützlichkeitsdenken der 1860er Jahre. Die scheinbar vernünftige Abwägung von Nutzen und Schaden, mit der Raskolnikow seinen Mord rechtfertigt, wird als gefährliche Selbsttäuschung entlarvt. Dostojewski zeigt, wie die Ethik des größten Nutzens, konsequent zu Ende gedacht, zur Rechtfertigung von Verbrechen führen kann. Die mathematische Logik des “größten Glücks der größten Zahl” scheitert an der konkreten moralischen Erfahrung.
Besondere Aufmerksamkeit widmet der Roman dem Verhältnis von Freiheit und Moral. Raskolnikows Tat ist der extreme Versuch, die eigene absolute Freiheit zu beweisen. Doch gerade dieser Versuch führt in eine neue, tiefere Form der Unfreiheit. Die seelischen Qualen nach dem Mord zeigen, dass die moralische Natur des Menschen sich nicht ungestraft verleugnen lässt. Die wahre Freiheit, so deutet der Roman an, liegt nicht in der Überwindung moralischer Grenzen, sondern in ihrer freiwilligen Anerkennung.
Ein weiterer philosophischer Kerngedanke ist die Frage nach dem Verhältnis von Schuld und Bewusstsein. Raskolnikows Verbrechen ist nicht nur eine äußere Tat, sondern vor allem ein Akt des Bewusstseins. Die eigentliche Schuld liegt nicht im Mord selbst, sondern in der intellektuellen Überheblichkeit, die ihn möglich macht. Die Sühne besteht entsprechend nicht primär in der rechtlichen Strafe, sondern in der schmerzhaften Erkenntnis der eigenen moralischen Natur.
Der Roman entwickelt auch eine vielschichtige Theorie des Gewissens. Anders als in traditionellen moralphilosophischen Vorstellungen erscheint das Gewissen hier nicht als eine Art innerer Gerichtshof, sondern als eine Form der Selbstbeziehung, die sich erst durch die Beziehung zu anderen Menschen entwickelt. Raskolnikows Isolation ist sowohl Voraussetzung als auch Folge seines Verbrechens. Erst die Begegnung mit Sonja ermöglicht ihm den Weg zurück in die menschliche Gemeinschaft.
Die philosophische Dimension des Romans zeigt sich auch im Umgang mit der Zeit. Die lineare Zeit des rationalen Kalküls wird durchbrochen von Momenten existenzieller Erfahrung, in denen sich eine andere, tiefere Zeitdimension öffnet. Diese Momente, oft verbunden mit epileptischen Anfällen oder traumartigen Zuständen, verweisen auf eine Wirklichkeit jenseits der rationalen Ordnung.
Dostojewski entwickelt im Roman auch eine feinsinnige Erkenntnistheorie. Die verschiedenen Formen des Wissens – theoretisches Wissen, moralische Einsicht, körperliche Erfahrung – werden in ihrer Beziehung zueinander dargestellt. Die intellektuelle Erkenntnis erweist sich dabei als unzureichend gegenüber der existenziellen Erfahrung der Schuld. Das wahre Wissen, so zeigt der Roman, ist nicht von der moralischen Dimension zu trennen.
Die gedankliche Struktur des Romans ist dabei nicht abstrakt, sondern in konkrete Situationen und Begegnungen eingebettet. Die theoretischen Positionen werden nicht nur diskutiert, sondern in ihren praktischen Konsequenzen gezeigt. Diese Verbindung von philosophischer Reflexion und psychologischer Darstellung macht “Schuld und Sühne” zu einem der ersten und bis heute wichtigsten philosophischen Romane der Moderne.
Die weltweite Wirkung von “Schuld und Sühne” zeigt beispielhaft, wie zeitlos große Literatur sein kann. Seit seinem Erscheinen 1866 hat der Roman nicht nur die Entwicklung der modernen Literatur stark beeinflusst, sondern auch die Art und Weise geprägt, wie wir über moralische Verantwortung, die Komplexität der menschlichen Psyche und die Grenzen rationaler Selbstbestimmung nachdenken.
Der Einfluss auf die Kriminalliteratur kann kaum überschätzt werden. Dostojewski revolutionierte das Genre, indem er den Fokus von der Frage “Wer war es?” auf die tieferliegende Frage “Warum?” verlegte. Die psychologische Durchdringung des Verbrechens und seiner Folgen wurde zum Vorbild für unzählige spätere Werke. Autoren wie Friedrich Dürrenmatt, Patricia Highsmith und Georges Simenon haben diese Tradition aufgegriffen und weiterentwickelt. Besonders Highsmiths “Der talentierte Mr. Ripley” zeigt deutliche Parallelen zu Dostojewskis psychologischer Analyse des Verbrechens.
Die Bedeutung des Romans für die Entwicklung des psychologischen Romans ist grundlegend. Die Art, wie Dostojewski das Bewusstsein seiner Figuren darstellt, ihre inneren Widersprüche und unbewussten Motive offenlegt, wurde zum Vorbild für die gesamte moderne Literatur. Virginia Woolf, James Joyce und William Faulkner haben sich ausdrücklich auf Dostojewski bezogen und seine Techniken der Bewusstseinsdarstellung weiterentwickelt. Die “Bewusstseinsstrom”-Technik des modernen Romans hat hier einen ihrer wichtigsten Vorläufer.
Die philosophische Wirkung des Romans zeigt sich besonders in der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts. Albert Camus’ “Der Fremde” und Jean-Paul Sartres “Der Ekel” sind ohne das Vorbild von “Schuld und Sühne” kaum denkbar. Die Frage nach der moralischen Verantwortung des Einzelnen in einer scheinbar sinnlosen Welt, die Dostojewski aufwirft, wird zu einem Kernthema der existenzialistischen Literatur und Philosophie.
Bemerkenswert ist die anhaltende Aktualität der im Roman behandelten moralischen Fragen. Die Diskussion über die Grenzen der Selbstermächtigung des Individuums, die Dostojewski am Beispiel Raskolnikows führt, hat angesichts der biotechnologischen Möglichkeiten der Gegenwart neue Brisanz gewonnen. Die Frage, ob der wissenschaftliche Fortschritt alle Mittel heiligt, stellt sich heute mit neuer Dringlichkeit.
Die filmische Rezeption des Romans spiegelt seine anhaltende Faszination wider. Von der ersten Verfilmung 1935 durch Josef von Sternberg bis zu modernen Adaptionen haben Filmemacher immer wieder neue Wege gefunden, die psychologische Intensität des Romans in visuelle Sprache zu übersetzen. Besonders bemerkenswert sind die Verfilmungen von Robert Bresson (1956) und Aki Kaurismäki (1983), die je eigene Wege gefunden haben, die innere Dramatik des Romans filmisch umzusetzen.
Im Bereich der Psychiatrie und Psychologie hat der Roman wichtige Impulse gegeben. Dostojewskis präzise Beschreibung krankhafter Geisteszustände wurde von der sich entwickelnden Psychiatrie des späten 19. Jahrhunderts mit großem Interesse aufgenommen. Seine Darstellung der Schuldproblematik beeinflusste die psychoanalytische Theorie, besonders Sigmund Freuds Überlegungen zum Schuldgefühl und zum Unbewussten.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Roman hat verschiedene Phasen durchlaufen. Die frühe Rezeption konzentrierte sich auf die sozialkritischen Aspekte und las den Roman vor allem als Dokument der russischen Gesellschaft der 1860er Jahre. Später rückte die existenzphilosophische Dimension in den Vordergrund. Die moderne Forschung betont zunehmend die erzählerischen Innovationen des Romans und seine Bedeutung für die Entwicklung moderner Erzähltechniken.
Bemerkenswert ist die interkulturelle Wirkkraft des Romans. In verschiedenen kulturellen Kontexten wurden und werden jeweils andere Aspekte des Werks betont. Während die westeuropäische Rezeption lange Zeit die philosophische Dimension in den Vordergrund stellte, betonte die russische Lesart stärker die religiösen und moralischen Aspekte. In der asiatischen Rezeption spielt die Frage nach dem Verhältnis von individuellem Gewissen und gesellschaftlicher Ordnung eine besondere Rolle.
Die gegenwärtige Bedeutung des Romans zeigt sich nicht zuletzt in seiner Relevanz für die ethische Debatte. In einer Zeit, in der traditionelle moralische Gewissheiten zunehmend in Frage gestellt werden, bietet “Schuld und Sühne” keine einfachen Antworten, aber ein vielschichtiges Modell moralischer Reflexion. Die Art, wie Dostojewski moralische Fragen nicht abstrakt diskutiert, sondern in ihrer existenziellen Dimension zeigt, macht den Roman zu einem wichtigen Bezugspunkt ethischer Bildung.
So erweist sich “Schuld und Sühne” als ein Werk von erstaunlicher Lebendigkeit, das auch nach mehr als 150 Jahren nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Seine Wirkung erstreckt sich weit über den Bereich der Literatur hinaus in die Bereiche der Philosophie, Psychologie und Ethik. Die fortdauernde intensive Rezeption zeigt, dass der Roman zentrale Fragen der menschlichen Existenz auf eine Weise behandelt, die auch für heutige Leser unmittelbar relevant bleibt.
An einem der ersten Tage des Julis – es herrschte eine gewaltige Hitze – verließ gegen Abend ein junger Mann seine Wohnung, ein möbliertes Kämmerchen in der S …gasse, und trat auf die Straße hinaus; langsam, wie unentschlossen, schlug er die Richtung nach der K … brücke ein.
Einer Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe war er glücklich entgangen. Seine Kammer lag unmittelbar unter dem Dache des hohen, vierstöckigen Hauses und hatte in der Größe mehr Ähnlichkeit mit einem Schranke als mit einer Wohnung. Seine Wirtin, die ihm diese Kammer vermietet hatte und ihm auch das Mittagessen lieferte und die Bedienung besorgte, wohnte selbst eine Treppe tiefer, und jedes Mal, wenn er das Haus verlassen wollte, musste er notwendig auf der Treppe an ihrer Küche vorbeigehen, deren Tür fast immer weit offenstand. Und jedes Mal, wenn der junge Mann vorbeikam, ergriff ihn ein peinliches Gefühl der Feigheit, dessen er sich stirnrunzelnd schämte. Er steckte bei der Wirtin tief in Schulden und fürchtete sich deshalb davor, mit ihr zusammenzutreffen.
Nicht dass Schüchternheit und Feigheit in seinem Charakter gelegen hätten; ganz im Gegenteil; aber er befand sich seit einiger Zeit in einem aufgeregten und gereizten Gemütszustande, der große Ähnlichkeit mit Hypochondrie hatte. Er hatte sich derartig in sein eigenes Ich vergraben und sich von allen Menschen abgesondert, dass er sich schlechthin vor jeder Begegnung scheute, nicht nur vor einer Begegnung mit seiner Wirtin. Die Armut hatte ihn völlig überwältigt; aber selbst diese bedrängte Lage empfand er in der letzten Zeit nicht mehr als lastenden Druck. Auf Brotarbeit hatte er ganz verzichtet; er hatte keine Lust mehr zu irgendwelcher Tätigkeit. In Wahrheit fürchtete er sich vor keiner Wirtin in der Welt, mochte sie gegen ihn im Schilde führen, was sie wollte. Aber auf der Treppe stehenzubleiben, allerlei Gewäsch über allen möglichen ihm ganz gleichgültigen Alltagskram, all diese Mahnungen ans Bezahlen, die Drohungen und Klagen anzuhören und dabei selbst sich herauszuwinden, sich zu entschuldigen, zu lügen – nein, da war es schon besser, wie eine Katze auf der Treppe vorbeizuschlüpfen und sich, ohne von jemand gesehen zu werden, flink davonzumachen.
Übrigens war er diesmal, als er auf die Straße hinaustrat, selbst erstaunt darüber, dass er sich so vor einer Begegnung mit seiner Gläubigerin fürchtete.
„Eine so große Sache plane ich, und dabei fürchte ich mich vor solchen Kleinigkeiten!“ dachte er mit einem eigentümlichen Lächeln. „Hm… ja… alles hat der Mensch in seiner Hand, und doch lässt man sich alles an der Nase vorbeigehen, einzig und allein aus Feigheit… das ist schon so die allgemeine Regel… Merkwürdig: wovor fürchten die Menschen sich am meisten? Am meisten fürchten sie sich vor einem neuen Schritt, vor einem eignen neuen Worte… Übrigens schwatze ich viel zu viel. Darum handle ich auch nicht, weil ich so viel schwatze. Vielleicht aber liegt die Sache auch so: weil ich nicht handle, darum schwatze ich. Da habe ich nun in diesem letzten Monat das Schwatzen gelernt, wenn ich so ganze Tage lang im Winkel lag und an weiß Gott was dachte. Nun also: wozu gehe ich jetzt aus? Bin ich etwa imstande, das auszuführen? Ist es mir etwa Ernst damit? Ganz und gar nicht. Ich amüsiere mich nur mit einem müßigen Spiel der Gedanken; Tändelei! Ja, weiter nichts als Tändelei!“
Auf der Straße war eine furchtbare Hitze; dazu noch die drückende Schwüle und das Gedränge; überall Kalkhaufen, Baugerüste, Ziegelsteine, Staub und jener besondere Sommergestank, den jeder Petersburger, soweit er nicht in der Lage ist, in die Sommerfrische zu gehen, so gut kennt. All dies zerrte plötzlich auf das unangenehmste an den ohnehin schon reizbaren Nerven des jungen Mannes. Der unerträgliche Dunst aus den gerade in diesem Stadtteil besonders zahlreichen Kneipen und die Betrunkenen, auf die man trotz Werktag und Arbeitszeit fortwährend stieß, vollendeten das widerwärtige, traurige Kolorit dieses Bildes. Ein Ausdruck des tiefsten Ekels spielte einen Augenblick auf den feinen Zügen des jungen Mannes. (Um dies beiläufig zu erwähnen: er hatte ein ungewöhnlich hübsches Äußeres, schöne, dunkle Augen, dunkelblondes Haar, war über Mittelgröße, schlank und wohlgebaut.) Aber bald versank er in tiefes Nachdenken oder, richtiger gesagt, in eine Art von Geistesabwesenheit und schritt nun einher, ohne seine Umgebung wahrzunehmen; ja, er wollte sie gar nicht wahrnehmen. Nur ab und zu murmelte er etwas vor sich hin, zufolge jener Neigung, mit sich selbst zu reden, die er sich soeben selbst eingestanden hatte. Gleichzeitig kam ihm auch zum Bewusstsein, dass seine Gedanken sich zeitweilig verwirrten und dass er sehr schwach war: dies war schon der zweite Tag, dass er so gut wie nichts gegessen hatte.
Er war so schlecht gekleidet, dass ein anderer, selbst jemand, der die Armut schon gewohnt war, sich geschämt hätte, bei Tage in solchen Lumpen auf die Straße zu gehen. Übrigens war dieser Stadtteil von der Art, dass es schwer war, durch die Kleidung hier jemand in Verwunderung zu versetzen. Die Nähe des Heumarktes, die übergroße Zahl gewisser Häuser und ganz besonders die Fabrikarbeiter- und Handwerkerbevölkerung, die sich in diesen inneren Straßen und Gassen von Petersburg zusammendrängte, brachten mitunter in das Gesamtbild einen so starken Prozentsatz derartiger Gestalten hinein, dass es sonderbar gewesen wäre, wenn man sich bei der Begegnung mit einer einzelnen solchen Figur hätte wundern wollen. Aber in der Seele des jungen Mannes hatte sich bereits so viel ingrimmige Verachtung angesammelt, dass er trotz all seiner mitunter stark jünglingshaften Empfindlichkeit sich seiner Lumpen auf der Straße nicht mehr schämte. Anders beim Zusammentreffen mit irgendwelchen Bekannten oder mit früheren Kommilitonen, denen er überhaupt nicht gern begegnete … Als indessen ein Betrunkener, der gerade in einem großen Bauernwagen mit einem mächtigen Lastpferd davor auf der Straße irgendwohin transportiert wurde, ihm plötzlich im Vorbeifahren zurief: „He, du! Hast’nen deutschen Deckel auf dem Kopf!“, aus vollem Halse zu brüllen anfing und mit der Hand auf ihn zeigte: da blieb der junge Mann stehen und griff mit einer krampfhaften Bewegung nach seinem Hute. Es war ein hoher, runder Hut, aus dem Hutgeschäft von Zimmermann, aber schon ganz abgenutzt, völlig fuchsig, ganz voller Löcher und Flecke, ohne Krempe und in gräulichster Weise eingeknickt. Aber es war nicht Scham, sondern ein ganz anderes Gefühl, das sich seiner bemächtigte, eine Art Schreck.
›Hab ich’s doch gewusst!‹ murmelte er bestürzt. ›Hab ich’s mir doch gedacht! Das ist das Allerwiderwärtigste! Irgendeine Dummheit, irgendeine ganz gewöhnliche Kleinigkeit kann den ganzen Plan verderben! Ja, der Hut ist zu auffällig … Er ist lächerlich, und dadurch wird er auffällig. Zu meinen Lumpen ist eine Mütze absolut notwendig, und wäre es auch irgend so ein alter Topfdeckel, aber nicht dieses Ungetüm. So etwas trägt kein Mensch. Eine Werst weit fällt den Leuten so ein Hut auf, und sie erinnern sich daran … Ja, das ist es: sie erinnern sich seiner nachher, und schon ist der Indizienbeweis da. Bei solchen Geschichten muss man möglichst unauffällig sein, … die Kleinigkeiten, die Kleinigkeiten, die sind die Hauptsache! Gerade diese Kleinigkeiten verderben immer alles …‹
Er hatte nicht weit zu gehen; er wusste sogar, wieviel Schritte es von seiner Haustür waren: genau siebenhundertunddreißig. Er hatte sie einmal gezählt, als er sich sein Vorhaben schon lebhaft ausmalte. Damals freilich glaubte er selbst noch nicht an diese seine Phantasiegemälde und kitzelte nur sich selbst mit ihrer grauenhaften, aber verführerischen Verwegenheit. Jetzt, einen Monat später, hatte er bereits angefangen, die Sache anders zu betrachten, und trotz aller höhnischen Monologe über seine eigene Schwäche und Unschlüssigkeit hatte er sich unwillkürlich daran gewöhnt, das „grauenhafte“ Phantasiegemälde bereits als ein beabsichtigtes Unternehmen zu betrachten, wiewohl er an seinen Entschluss noch immer selbst nicht recht glaubte. Sein jetziger Ausgang hatte sogar den Zweck, eine Probe für sein Vorhaben zu unternehmen, und mit jedem Schritt wuchs seine Aufregung mehr und mehr.
Das Herz stand ihm fast still, und ein nervöses Zittern überkam ihn, als er sich einem kolossalen Gebäude näherte, das mit der einen Seite nach dem Kanal, mit der andern nach der …straße zu lag. Dieses Haus hatte lauter kleine Wohnungen, in denen allerlei einfache Leute wohnten: Schneider, Schlosser, Köchinnen, Deutsche verschiedenen Berufes, alleinstehende Mädchen, kleine Beamte usw. Durch die beiden Haustore und auf den beiden Höfen des Hauses war ein fortwährendes Kommen und Gehen. Hier gab es drei oder vier Hausknechte zur Aufsicht. Der junge Mann war sehr damit zufrieden, dass er keinem von ihnen begegnete, und schlüpfte gleich vom Tore aus unbemerkt rechts eine Treppe hinauf. Die Treppe war dunkel und eng, ein „Wirtschaftsaufgang“; aber er hatte dies alles schon studiert und kannte es, und diese ganze Örtlichkeit gefiel ihm: in solcher Dunkelheit war selbst ein neugierig forschender Blick nicht weiter gefährlich. ›Wenn ich mich jetzt schon so fürchte, wie würde es dann erst sein, wenn es wirklich zur Ausführung der Tat selbst käme?‹ dachte er unwillkürlich, während er zum dritten Stock hinaufstieg. Hier versperrten ihm Möbelräumer, entlassene Soldaten, den Weg, die aus einer Wohnung Möbel heraustrugen. Er hatte schon früher in Erfahrung gebracht, dass hier eine deutsche Beamtenfamilie wohnte. ›Also dieser Deutsche zieht jetzt aus; folglich ist für einige Zeit im dritten Stock an diesem Aufgang und an diesem Treppenabsatz die Wohnung der Alten als einzige bewohnt. Das ist günstig … für jeden Fall‹, überlegte er wieder und klingelte an der Tür der Alten. Die Glocke rasselte schwach, wie wenn sie aus Blech wäre statt aus Messing. In solchen großen Mietshäusern mit diesen kleinen Wohnungen findet man fast immer solche Türklingeln. Er hatte den Ton dieser Glocke schon vergessen, und nun war es, als ob dieser besondere Ton ihn auf einmal an etwas erinnerte und es ihm wieder klar vor die Seele brächte … Er fuhr zusammen; seine Nerven waren doch schon recht schwach geworden. Es dauerte nicht lange, da wurde die Tür einen schmalen Spalt weit geöffnet; durch diesen Spalt hindurch betrachtete die Bewohnerin den Ankömmling mit offenkundigem Misstrauen; von ihr waren nur die aus der Dunkelheit hervorfunkelnden Augen zu sehen. Aber da sie auf dem Treppenabsatz eine Menge Menschen sah, fasste sie Mut und öffnete die Tür ganz. Der junge Mann trat über die Schwelle in ein dunkles Vorzimmer, das durch eine Bretterwand in zwei Teile geteilt war; hinter dieser Wand befand sich eine winzige Küche. Die Alte stand schweigend vor ihm und blickte ihn fragend an. Es war ein kleines, verhutzeltes Weib von etwa sechzig Jahren, mit scharfen, tückischen, kleinen Augen und kleiner, spitzer Nase; eine Kopfbedeckung trug sie nicht. Das hellblonde, nur wenig ergraute Haar war stark mit Öl gefettet. Um den dünnen, langen Hals, der mit einem Hühnerbein Ähnlichkeit hatte, hatte sie einen Flanellappen gewickelt, und auf den Schultern hing trotz der Hitze eine ganz abgetragene, vergilbte Pelzjacke. Die Alte hustete und räusperte sich alle Augenblicke. Der junge Mann musste sie wohl mit einem eigentümlichen Blick angesehen haben; denn in ihren Augen funkelte auf einmal wieder das frühere Misstrauen auf.
„Mein Name ist Raskolnikow, Student; ich war schon einmal vor einem Monat bei Ihnen“, beeilte sich der junge Mann mit einer leichten Verbeugung zu sagen; denn es fiel ihm ein, dass er sehr liebenswürdig sein müsse.
„Ich erinnere mich, Väterchen; ich erinnere mich recht gut, dass Sie hier waren“, erwiderte die Alte bedächtig, hielt jedoch dabei weiter ihre fragenden Augen unverwandt auf sein Gesicht geheftet.
„Nun also … ich komme wieder in einer solchen Angelegenheit“, fuhr Raskolnikow fort, etwas befangen und verwundert über das Misstrauen der Alten.
›Aber vielleicht ist sie immer so, und ich habe es das erste Mal nur nicht beachtet?‹, dachte er mit einem unangenehmen Gefühl.
Die Alte schwieg ein Weilchen, wie wenn sie etwas überlegte, dann trat sie zur Seite und sagte, indem sie auf die ins Zimmer führende Tür zeigte und dem Besucher den Vortritt ließ:
„Treten Sie ein, Väterchen.“
Das kleine Zimmer, in welches der junge Mann eintrat, war gelb tapeziert; an den Fenstern hingen Musselingardinen; auf den Fensterbrettern standen Geranientöpfe; in diesem Augenblick war das Zimmer von der untergehenden Sonne hell erleuchtet. ›Die Sonne wird also auch dann so scheinen!‹ dachte Raskolnikow unwillkürlich und ließ einen schnellen Blick über das ganze Zimmer gleiten, um die Lage und Einrichtung möglichst kennenzulernen und sich einzuprägen. Etwas Besonderes war im Zimmer nicht zu sehen. Das Mobiliar, durchweg sehr alt und aus gelbem Holze, bestand aus einem Sofa mit gewaltiger, geschweifter hölzerner Rückenlehne, einem ovalen Tische vor dem Sofa, einem Toilettentisch mit einem Spiegelchen am Fensterpfeiler, einigen Stühlen an den Wänden und zwei oder drei billigen, gelb eingerahmten Bildern, welche deutsche Fräulein mit Vögeln in den Händen darstellten – das war die ganze Einrichtung. In der Ecke brannte vor einem kleinen Heiligenbilde das Lämpchen. Alles war sehr sauber: die Möbel und die Dielen waren blank gerieben; alles glänzte nur so. ›Das ist Lisawetas Werk‹, dachte der junge Mann. In der ganzen Wohnung hätte man kein Stäubchen finden können. ›Bei boshaften alten Witwen ist solche Reinlichkeit häufig‹, fuhr Raskolnikow in seinen Überlegungen fort und schielte forschend nach dem Kattunvorhang vor der Tür nach dem zweiten kleinen Zimmerchen, wo das Bett und die Kommode der Alten standen; in dieses Zimmer hatte er bisher noch nicht hineinschauen können. Die ganze Wohnung bestand nur aus diesen beiden Zimmern.
„Was wünschen Sie?“ fragte die Alte in scharfem Tone, nachdem sie ins Zimmer getreten war und, wie vorher, sich gerade vor ihn hingestellt hatte, um ihm genau ins Gesicht blicken zu können.
„Ich bringe ein Stück zum Verpfänden. Da ist es!“
Er zog eine alte flache silberne Uhr aus der Tasche. Auf dem hinteren Deckel war ein Globus dargestellt. Die Kette war aus Stahl.
„Das frühere Pfand ist auch schon verfallen. Vorgestern war der Monat abgelaufen.“
„Ich will Ihnen für noch einen Monat Zinsen zahlen. Haben Sie noch Geduld.“
„Es steht bei mir, Väterchen, ob ich mich noch gedulden oder Ihr Pfand jetzt verkaufen will.“
„Was geben Sie mir auf die Uhr, Aljona Iwanowna?“
„Sie kommen immer nur mit solchen Trödelsachen, Väterchen. Die hat ja so gut wie gar keinen Wert. Auf den Ring habe ich Ihnen das vorige Mal zwei Scheinchen gegeben; aber man kann ihn beim Juwelier für anderthalb Rubel neu kaufen.“
„Geben Sie mir auf die Uhr vier Rubel; ich löse sie wieder aus; es ist ein Erbstück von meinem Vater. Ich bekomme nächstens Geld.“
„Anderthalb Rubel und die Zinsen vorweg, wenn es Ihnen so recht ist.“
„Anderthalb Rubel!“ rief der junge Mann.
„Ganz nach Ihrem Belieben!“
Mit diesen Worten hielt ihm die Alte die Uhr wieder hin. Der junge Mann nahm sie und war so ergrimmt, dass er schon im Begriff stand wegzugehen; aber er besann sich noch schnell eines andern, da ihm einfiel, dass er sonst nirgendwohin gehen konnte und dass er auch noch zu einem anderen Zweck gekommen war.
„Nun, dann geben Sie her!“ sagte er grob.
Die Alte griff in die Tasche nach den Schlüsseln und ging in das andre Zimmer hinter dem Vorhang. Der junge Mann, der allein mitten im Zimmer stehengeblieben war, horchte mit lebhaftem Interesse und kombinierte. Es war zu hören, wie sie die Kommode aufschloss. ›Wahrscheinlich die obere Schublade‹, mutmaßte er. ›Die Schlüssel trägt sie also in der rechten Tasche … alle als ein Bund, an einem eisernen Ring … Und es ist ein Schlüssel dabei, der ist größer als alle andern, dreimal so groß, mit gezacktem Bart; natürlich nicht von der Kommode … Also ist da noch eine Truhe oder ein Kasten … Das ist interessant. Truhen haben immer derartige Schlüssel … Aber wie gemein ist das alles!‹
Die Alte kam zurück.
„Nun also, Väterchen: wenn wir zehn Kopeken vom Rubel monatlich rechnen, dann bekomme ich für anderthalb Rubel von Ihnen für einen Monat fünfzehn Kopeken im Voraus. Und für die beiden früheren Rubel bekomme ich von Ihnen nach derselben Berechnung noch zwanzig Kopeken im Voraus. Das macht zusammen fünfunddreißig Kopeken. Sie erhalten also jetzt für Ihre Uhr einen Rubel und fünfzehn Kopeken. Hier, bitte.“
„Wie? Also jetzt nur einen Rubel und fünfzehn Kopeken?“
„Ganz richtig.“
Der junge Mann ließ sich nicht auf einen Streit ein und nahm das Geld. Er sah die Alte an und zauderte mit dem Fortgehen, als wolle er noch etwas sagen oder tun; aber er schien selbst nicht zu wissen, was denn eigentlich.
„Vielleicht bringe ich Ihnen nächstens noch ein Pfandstück, Aljona Iwanowna, … ein schönes … silbernes … Zigarettenetui, … sobald ich es von einem Freunde zurückbekomme …“
Er wurde verlegen und schwieg.
„Nun, darüber können wir ja dann später sprechen, Väterchen.“
„Adieu … Aber sitzen Sie denn immer so allein zu Hause? Ist Ihre Schwester nicht da?“ fragte er möglichst harmlos, während er in das Vorzimmer hinaustrat.
„Was wollen Sie denn von ihr, Väterchen?“
„Nun, nichts Besondres. Ich fragte nur so. Aber Sie müssen auch gleich … Adieu, Aljona Iwanowna!“
Raskolnikow ging in hochgradiger Erregung hinaus. Und seine Erregung wuchs noch immer mehr. Als er die Treppe hinunterstieg, blieb er sogar einige Mal stehen, wie wenn ihn ein Gedanke plötzlich ganz übermannt hätte. Und endlich – er war schon auf der Straße – rief er aus:
„O Gott, wie scheußlich das alles ist! Werde ich denn … werde ich denn wirklich … nein, das ist ja ein Unsinn, eine Absurdität!“ fügte er entschlossen hinzu. „Wie konnte mir so etwas Grässliches überhaupt nur in den Sinn kommen? Welcher schmutzigen Gedanken ist meine Seele doch fähig! Ja, es ist eine schmutzige, abscheuliche, ekelhafte, Sache. Und ich habe einen ganzen Monat lang …“
Aber keine Worte und keine Ausrufe waren imstande, seiner Erregung Ausdruck zu geben. Das Gefühl eines gewaltigen Ekels, das schon vorhin sein Herz bedrückt und beklemmt hatte, als er noch auf dem Wege zu der Alten gewesen war, nahm jetzt solche Dimensionen an und trat in solcher Schärfe hervor, dass er nicht wusste, was er vor Unruhe tun sollte. Er ging auf dem Trottoir wie ein Betrunkener, bemerkte die Begegnenden gar nicht und stieß mit ihnen zusammen; erst in der nächsten Straße kam er zur Besinnung. Um sich blickend, gewahrte er, dass er vor einer Kneipe stand, zu der man vom Trottoir eine Treppe hinabstieg, ins Souterrain. Aus der Tür kamen gerade in diesem Augenblick zwei Betrunkene heraus und stiegen, indem sie sich wechselseitig stützten, unter Schimpfworten zur Straße hinauf. Ohne sich lange zu besinnen, stieg Raskolnikow hinunter. Er war noch nie in einem solchen Lokale gewesen; aber jetzt war ihm der Kopf ganz schwindlig, dazu quälte ihn ein brennender Durst. Es verlangte ihn, ein Glas kaltes Bier zu trinken, umso mehr, da er seine plötzliche Schwäche auch auf Rechnung seines leeren Magens setzte. Er nahm in einem dunklen, schmutzigen Winkel an einem klebrigen Tischchen Platz, bestellte Bier und trank gierig das erste Glas aus. Sofort wurde ihm leichter ums Herz, und seine Gedanken klärten sich. ›Das ist ja lauter dummes Zeug‹, sagte er wieder hoffnungsvoll zu sich selbst, ›und es war gar kein Grund zur Aufregung. Eine rein physische Störung! Ein einziges Glas Bier, ein Bissen Brot – und im Augenblick hat sich der Verstand erholt, das Denken wird klar, der Wille fest! Pfui über diese ganze Jämmerlichkeit!‹ Aber obwohl er bei den letzten Worten verächtlich ausspie, sah er schon heiter aus, als wäre er plötzlich von einer furchtbaren Last befreit, und betrachtete mit freundlichen Blicken die anderen Gäste. Doch selbst in diesem Augenblick ahnte er ganz von fern, dass diese ganze Empfänglichkeit für bessere Regungen bei ihm gleichfalls etwas Krankhaftes an sich habe.
In der Schenke waren nur noch wenige Leute. Außer jenen beiden Betrunkenen, denen er an der Treppe begegnet war, hatte unmittelbar nach ihnen noch eine ganze Gesellschaft, etwa fünf Männer und eine Dirne, mit einer Ziehharmonika das Lokal verlassen. Nach ihrem Weggehen war es still geworden; auch war nun mehr Raum. Zurückgeblieben waren: ein Mann, der bei seinem Biere saß, betrunken, jedoch nicht übermäßig, dem Aussehen nach ein Kleinbürger; ferner sein Kumpan, ein dicker, sehr großgewachsener Kerl mit grauem Barte; er hatte einen kurzen Kaftan an, war sehr stark betrunken und lag schlafend auf einer Bank; mitunter aber breitete er auf einmal wie in halbwachem Zustande die Arme weit auseinander, schnipste mit den Fingern und schnellte mit dem Oberkörper in die Höhe, ohne jedoch von der Bank aufzustehen; dazu sang er irgendwelchen Unsinn, indem er sein Gedächtnis anstrengte, um sich auf Verse von dieser Art zu besinnen:
„Dass ich – zärtlich zu ihr – war,
Währte – wohl ein ganzes Jahr.“
Oder er wachte auf einmal auf und grölte:
„Auf dem Promenadenplatz
Traf ich meinen einst’gen Schatz.“
Aber niemand nahm an seinem Glücke Anteil; sein schweigsamer Kumpan betrachtete diese Ausbrüche sogar mit Misstrauen und Feindseligkeit. Es war außerdem noch ein Mann da, anscheinend ein früherer Beamter. Er saß allein für sich bei seiner Flasche Branntwein und seinem Glase; ab und zu nahm er einen Schluck und sah sich um. Er befand sich, wie es schien, gleichfalls in einiger Aufregung.
Raskolnikow war an das Zusammensein mit einer größeren Anzahl von Menschen nicht gewöhnt und mied, wie schon gesagt, jede Gesellschaft, namentlich in der letzten Zeit. Aber jetzt fühlte er sich auf einmal zu den Menschen hingezogen. Es ging eine Art Wandlung in ihm vor, und zugleich machte sich bei ihm geradezu ein Durst nach menschlicher Gesellschaft spürbar. Er war von seiner nun schon einen ganzen Monat dauernden heftigen Unruhe und düstern Aufregung so erschöpft, dass er sich danach sehnte, wenigstens für einen Augenblick in einer anderen Welt – mochte sie sein, wie sie wollte – aufzuatmen, und so blieb er denn jetzt trotz aller Unsauberkeit der Umgebung mit Vergnügen in der Kneipe sitzen.
Der Wirt hielt sich in einem anderen Zimmer auf, kam aber häufig in den Hauptraum, zu dem er einige Stufen herabstieg. Dabei wurden zuerst seine eleganten Schmierstiefel mit großen roten Stulpen sichtbar. Er trug einen langschößigen ärmellosen Überrock und eine furchtbar fettige schwarzseidene Weste; die Krawatte fehlte, und sein ganzes Gesicht schien wie ein eisernes Schloss mit Öl eingeschmiert zu sein. Hinter dem Schenktisch stand ein etwa vierzehnjähriger Junge; auch war noch ein andrer, jüngerer da, der den Gästen das Bestellte hintrug. An Speisen waren aufgestellt: in Scheiben geschnittene Gurken, schwarzer Zwieback und in kleine Bissen zerlegter Fisch; alles roch sehr übel. Es herrschte eine solche Schwüle, dass es geradezu unerträglich war, hier zu sitzen, und die gesamte Atmosphäre war derart mit Branntweindunst geschwängert, dass man schon allein von dieser Luft in fünf Minuten betrunken werden konnte.
Man begegnet mitunter ganz unbekannten Leuten, für die man sich auf den ersten Blick, plötzlich, ehe man noch ein Wort mit ihnen gesprochen hat, lebhaft interessiert. Einen derartigen Eindruck machte auf Raskolnikow jener Gast, der abseits saß und wie ein ehemaliger Beamter aussah. Der junge Mann erinnerte sich in der Folgezeit öfters an diesen ersten Eindruck und führte ihn sogar auf eine Vorahnung zurück. Er sah den Beamten mit unverwandtem Blicke an, auch schon deswegen, weil auch dieser ihn starr anschaute und offenbar große Lust hatte, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Die übrigen Menschen in der Kneipe, den Wirt eingeschlossen, waren dem Beamten jedenfalls ein gewohnter und recht langweiliger Anblick; er hatte für sie sogar einen leisen Ausdruck hochmütiger Geringschätzung, als seien sie Menschen von niedrigerer Stellung und tieferer Bildungsstufe, mit denen er nicht wohl reden könne. Er mochte schon über fünfzig Jahre alt sein, war von mittlerer Statur und stämmigem Körperbau, hatte ergrautes Haar und eine große kahle Stelle auf dem Kopf; sein Gesicht war von ständiger Trunkenheit aufgedunsen und sah gelb, ja grünlich aus; unter den geschwollenen Augenlidern glänzten aus schmalen Spalten kleine, aber sehr lebendige gerötete Augen hervor. Aber es war an ihm etwas Seltsames: in seinem Blick lag eine Art von schwärmerischem Leuchten – auch Verstand und Klugheit mochte man darin finden –, aber gleichzeitig schimmerte es darin wie von Irrsinn. Bekleidet war er mit einem alten, vollständig zerrissenen schwarzen Frack, an dem die Knöpfe fehlten. Nur ein einziger Knopf saß noch notdürftig fest, und mit diesem hatte er das Kleidungsstück zugeknöpft, sichtlich bemüht, den Anstand zu wahren. Aus einer Nankingweste schaute ein ganz zerknittertes, beschmutztes und begossenes Vorhemd heraus. Er war, nach Art der Beamten, rasiert; jedoch musste dies schon vor geraumer Zeit zum letzten Male geschehen sein, da das Gesicht von graublauen Stoppeln bereits wieder dicht bedeckt war. Auch in seinen Manieren lag tatsächlich etwas, was an einen gesetzten Beamten erinnerte. Aber er befand sich in starker Unruhe, wühlte sich im Haar, stemmte manchmal die zerrissenen Ellbogen auf den begossenen, schmierigen Tisch und stützte kummervoll den Kopf in beide Hände. Endlich blickte er Raskolnikow gerade ins Gesicht und sagte laut und mit fester Stimme:
„Darf ich mir die Freiheit nehmen, mein Herr, mich mit einem anständigen Gespräch an Sie zu wenden? Denn obgleich Sie nach Ihrem Äußern nicht den Eindruck eines hochgestellten Mannes machen, so erkenne ich bei meiner Erfahrung doch in Ihnen einen gebildeten und des Trinkens ungewohnten Menschen. Ich habe eine mit edlen Charaktereigenschaften verbundene Bildung stets hochgeschätzt, und außerdem bin ich Titularrat. Mein Name ist Marmeladow, Titularrat. Darf ich mir die Frage erlauben, ob Sie ein Amt bekleiden?“
„Nein, ich studiere“, antwortete der junge Mann, einigermaßen verwundert sowohl über diese sonderbare, hochtrabende Redeweise, als auch darüber, dass er so geradezu, so ohne weiteres angeredet worden war. Obgleich er noch soeben das Verlangen nach irgendwelchem Verkehr mit andern Menschen verspürt hatte, empfand er plötzlich bei dem ersten Worte, das nun wirklich an ihn gerichtet wurde, sein gewohntes unangenehmes und gereiztes Gefühl des Widerwillens gegen jeden Fremden, der mit ihm in Berührung kam oder dies auch nur zu beabsichtigen schien.
„Also ein Student oder ein ehemaliger Student!“ rief der Beamte. „Hatte ich es mir doch gedacht! Ja, ja, die Erfahrung, mein Herr, die langjährige Erfahrung!“ Und prahlerisch legte er einen Finger an die Stirn. „Sie waren Student, widmeten sich den Wissenschaften! Aber gestatten Sie …“
Er erhob sich schwankend, nahm seine Flasche und sein Glas und setzte sich zu dem jungen Manne, ihm schräg gegenüber. Er war betrunken, redete aber deutlich und fließend; nur ab und zu verwirrte er sich einmal und zog dann die Worte in die Länge. Mit einer gewissen Gier fiel er über Raskolnikow her, als hätte auch er einen ganzen Monat lang mit keinem Menschen gesprochen.
„Verehrter Herr“, begann er pathetisch, „Armut ist kein Laster; wahrlich, so ist es. Ich weiß, dass andrerseits die Trunksucht keine Tugend ist, und das ist noch richtiger. Aber das Bettelelend, mein Herr, das Bettelelend – das ist allerdings ein Laster. In der Armut bewahren Sie noch den Adel der angeborenen Empfindungen; aber im Bettelelend tut das niemand. Für Bettelelend wird man nicht einmal mit einem Stocke hinausgejagt, sondern, um die Beleidigung noch ärger zu machen, mit einem Besen aus der menschlichen Gesellschaft hinausgefegt. Und das mit Recht; denn beim Bettelelend bin ich selbst der erste, der bereit ist, mich zu beleidigen. Daher kommt dann das Trinken! Verehrter Herr, vor einem Monat hat Herr Lebesjatnikow meine Gattin krumm und lahm geprügelt, und meine Gattin steht hoch über mir! Verstehen Sie wohl? … Gestatten Sie mir noch die Frage, nur so aus bloßer Neugier: haben Sie schon auf der Newa, auf den Heukähnen, übernachtet?“
„Nein, das ist mir noch nicht vorgekommen“, antwortete Raskolnikow. „Wieso?“
„Nun, mein Herr, ich komme von dort; ich habe schon fünf Nächte …“
Er füllte sein Glas, trank es aus und versank in Gedanken. Tatsächlich hingen an seinem Anzuge und sogar in seinen Haaren hier und da Heuhälmchen. Sehr wahrscheinlich, dass er sich fünf Tage lang weder ausgekleidet noch gewaschen hatte. Ganz besonders schmutzig waren die fettigen, roten Hände mit den schwarzen Fingernägeln.
Was er sagte, schien in dem Lokale eine allgemeine, aber nicht besonders lebhafte Aufmerksamkeit zu erregen. Die Knaben hinter dem Schenktisch kicherten. Der Wirt war, wohl absichtlich, aus dem oberen Zimmer herabgekommen, um den „komischen Kerl“ zu hören, hatte sich abseits hingesetzt und gähnte lässig, aber würdevoll. Offenbar war Marmeladow hier schon lange bekannt. Ja, auch seine Neigung zu hochtrabender Ausdrucksweise hatte sich wohl dadurch entwickelt, dass er gewohnt war, mit allen möglichen unbekannten Leuten in der Kneipe Gespräche zu führen. Diese Gewohnheit geht bei manchen Trinkern geradezu in ein Bedürfnis über, und namentlich bei solchen, mit denen zu Hause streng verfahren und kurzer Prozess gemacht wird. Daher suchen sie, wenn sie mit andern Trinkern zusammen sind, sich zu rechtfertigen oder sich sogar womöglich die Achtung der andern zu erwerben.
„Du komischer Kerl!“ sagte der Wirt laut. „Warum arbeitest du denn nicht, warum bist du denn nicht im Dienst, wenn du doch Beamter bist?“
„Warum ich nicht im Dienste bin, mein Herr“, entgegnete Marmeladow, indem er sich ausschließlich an Raskolnikow wendete, als ob dieser es wäre, der die Frage an ihn gerichtet hatte, „warum ich nicht im Dienste bin? Ist es mir denn nicht der größte Schmerz, dass ich mich so nutzlos umhertreibe? Als Herr Lebesjatnikow vor einem Monat eigenhändig meine Gattin prügelte und ich betrunken dalag, habe ich da etwa nicht gelitten? Erlauben Sie eine Frage, junger Mann, ist es Ihnen schon einmal begegnet, dass Sie … hm … dass Sie ohne Hoffnung jemand baten, Ihnen Geld zu leihen?“
„O ja, … das heißt, was meinen Sie damit: ohne Hoffnung?“
„Nun, ich meine eben: völlig ohne Hoffnung, so dass man schon im Voraus weiß, dass nichts dabei herauskommt. Ein Beispiel: Sie wissen bestimmt im Voraus, dass dieser sehr gutgesinnte und überaus nützliche Bürger Ihnen unter keinen Umständen Geld geben wird; denn warum, frage ich, sollte er es tun? Er weiß ja, dass ich es ihm doch niemals wiedergebe. Etwa aus Mitleid? Aber Herr Lebesjatnikow, der alle neuen Ideen mit Interesse verfolgt, hat neulich erst erklärt, dass das Mitleid neuerdings sogar von der Wissenschaft verboten worden sei und dass man in England, wo die Nationalökonomie herrscht, bereits danach verfahre. Warum also, frage ich, sollte er Ihnen Geld geben? Und wohlgemerkt: obwohl Sie im Voraus wissen, dass er Ihnen nichts geben wird, machen Sie sich dennoch auf den Weg und …“
„Wozu soll man denn dann noch hingehen?“ bemerkte Raskolnikow.
„Wenn aber niemand sonst da ist? Wenn Sie sonst nirgendwohin gehen können? Es müsste doch so sein, dass jeder Mensch wenigstens irgendwohin gehen könnte. Denn es kommen Zeiten vor, wo man unbedingt irgendwohin gehen muss! Als meine einzige Tochter zum ersten Male mit dem gelben Schein ging, da ging auch ich … Meine Tochter lebt nämlich mit dem gelben Schein“, fügte er als erklärende Einschaltung hinzu und blickte dabei den jungen Mann mit einiger Unruhe an. „Das macht nichts, verehrter Herr, das macht nichts!“ beeilte er sich schleunigst und anscheinend ruhig zu erklären, als die beiden Knaben hinter dem Schenktisch losprusteten und selbst der Wirt lächelte. „Das macht nichts! Durch dieses ›Schütteln der Häupter‹ lasse ich mich nicht verwirren; denn alles ist schon längst allen bekannt, und ›es ist nichts verborgen, das nicht offenbar werde‹; und nicht mit Verachtung, sondern mit Demut tue ich dessen Erwähnung. Mögen sie, mögen sie! ›Sehet, welch ein Mensch!‹ Erlauben Sie eine Frage, junger Mann: Sind Sie imstande … Aber nein, ich will mich stärker und bezeichnender ausdrücken: nicht sind Sie imstande, sondern wagen Sie, wenn Sie mich in diesem Augenblicke ansehen, die bestimmte Versicherung abzugeben, dass ich kein Lump bin?“
Der junge Mann erwiderte kein Wort.
Der Redner wartete zunächst, bis das Kichern, das wieder im Zimmer auf seine Worte gefolgt war, aufhörte, und fuhr dann erst gesetzt und diesmal sogar noch mit erhöhter Würde fort:
„Nun, mag ich immerhin ein Lump sein; sie aber ist eine Dame. Ich sehe aus wie ein Stück Vieh; aber meine Gattin, Katerina Iwanowna, ist eine gebildete Person und als Tochter eines Stabsoffiziers geboren. Mag ich auch ein Schuft sein; aber sie ist ein hochherziges Weib und durch ihre Erziehung von edlen Gefühlen erfüllt. Und trotzdem … ach, wenn sie Mitleid mit mir hätte! Verehrter Herr, verehrter Herr, es müsste doch in der Welt so eingerichtet sein, dass jeder Mensch wenigstens eine Stelle hätte, wo man ihn bemitleidete! Indessen, Katerina Iwanowna ist zwar eine hochgesinnte Dame, aber ungerecht … Ich weiß freilich selbst sehr wohl, dass, wenn sie mich an den Haaren reißt, sie das lediglich aus mitleidigem Herzen tut (denn – ich wiederhole es ohne Verlegenheit –: sie reißt mich an den Haaren, junger Mann!“ versicherte er in noch würdevollerem Tone, als er ein neues Gekicher hörte), „aber, mein Gott, wenn sie doch nur ein einziges Mal … Aber nein, nein! Das ist alles vergebens, und es hat keinen Zweck, davon zu sprechen! Gar keinen Zweck! Denn das, was ich soeben als Wunsch aussprach, ist schon mehrmals dagewesen, und ich bin mehrmals bemitleidet worden; aber … das ist nun einmal meine Natur so; ich bin ein geborenes Vieh!“
„Na, und ob!“ bemerkte der Wirt gähnend.
Marmeladow schlug entschlossen mit der Faust auf den Tisch.
„Das ist nun einmal meine Natur so! Wissen Sie, wissen Sie, mein Herr, dass ich sogar ihre Strümpfe vertrunken habe? Nicht die Schuhe, denn das wäre ja noch so einigermaßen in der Ordnung, sondern die Strümpfe, ihre Strümpfe habe ich vertrunken! Ihr Halstuch aus Baumwolle habe ich auch vertrunken (sie hat es einmal geschenkt bekommen, schon früher, es war ihr persönliches Eigentum und gehörte mir nicht), und dabei wohnen wir in einem kalten, kleinen Loche, und sie hatte sich in diesem Winter erkältet und angefangen zu husten, schon Blut zu husten. Wir haben drei kleine Kinder, und Katerina Iwanowna ist vom Morgen bis in die Nacht hinein bei der Arbeit; sie scheuert, sie wäscht, auch die Kinder wäscht sie, denn sie ist von klein auf an Reinlichkeit gewöhnt; aber sie hat eine schwache Brust und Anlage zur Schwindsucht, und darüber gräme ich mich! Gräme ich mich etwa nicht darüber? Und je mehr ich trinke, desto mehr gräme ich mich. Darum eben trinke ich, weil ich aus diesem Getränke die Empfindungen des Mitleides und des Grames schöpfe … Ich trinke, weil ich doppelt leiden will!“
Wie in Verzweiflung neigte er den Kopf auf den Tisch.
„Junger Mann“, fuhr er, sich wiederaufrichtend, fort, „auf Ihrem Gesichte lese ich so etwas wie Kummer. Schon als Sie eintraten, machte ich diese Beobachtung, und darum habe ich mich auch sogleich an Sie gewandt. Denn wenn ich Ihnen meine Lebensgeschichte mitteile, so verfolge ich dabei nicht den Zweck, mich vor diesen Tagedieben, denen übrigens alles schon ohnehin bekannt ist, an den Pranger zu stellen, sondern ich suche einen Menschen von Gefühl und Bildung. Vernehmen Sie also, dass meine Gattin in einem vornehmen, für den Adel des Gouvernements bestimmten Pensionate erzogen wurde und bei der Entlassungsfeier in Gegenwart des Gouverneurs und andrer hoher Persönlichkeiten einen Schleiertanz getanzt hat, wofür sie eine goldene Medaille und ein Belobigungszeugnis erhielt. Die Medaille … nun, die Medaille haben wir verkauft … schon lange … hm! … Das Belobigungszeugnis aber liegt noch bis auf den heutigen Tag in ihrem Kasten, und noch neulich hat sie es unsrer Wirtin gezeigt. Und obgleich sie mit der Wirtin unaufhörlich Zank und Streit hat, so wollte sie sich doch wenigstens vor einem