Drachenkaiser - Markus Heitz - E-Book
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Drachenkaiser E-Book

Markus Heitz

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Beschreibung

Unsere Welt gehört den Drachen – seit Anbeginn der Zeit haben sie Länder und Kontinente unter sich aufgeteilt, säen Hass und Intrigen zwischen den Völkern, entfachen politische Konflikte und Kriege. Doch im Europa des Jahres 1926 gibt es Menschen, die sich den übermächtigen Geschöpfen entgegenstellen. Die Drachentöterin Silena, Fürst Grigorij und ihre Gefährten haben die erste Schlacht gegen die Drachen geschlagen. Die feuerbewehrten Herrscher der Alten Welt sind geschwächt und zerstritten. Dies lockt einen neuen Drachen aus dem Fernen Osten herbei, der seine gierigen Klauen nach Europa ausstreckt. Silena und ihre Mitstreiter müssen verhindern, dass der Machtkampf der Drachen zur Unterdrückung der gesamten Menschheit führt … Markus Heitz begegnen und mehr über sein neues Buch »Drachenkaiser« erfahren: http://www.piper-fantasy.de/

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ISBN 978-3-492-95086-2 Januar 2016 © Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2009 Dieser Roman wurde vermittelt durch AVA International GmbH, Autoren- und Verlagsagentur, www.ava-international.de Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Umschlagabbildung: Anke Koopmann, Guter Punkt unter Verwendung einer Illustration von Anton Kokarev Karte: Erhard Ringer Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Für diejenigen, die damals neuen Pfaden gefolgt sind

und sich nun wieder aufmachen

Dramatis personae

Die Menschen

Grigorij Wadim Basilius Zadornov: russischer Fürst (Knjaz) und Hellseher

Silena aka Anastasia Zadornova: letzte Nachfahrin des heiligen Georg, Grigorijs Gemahlin und Anführerin der Drachenjäger-Einheit Skyguards

Oberst Litzow: Erfinder und Techniker der Skyguards

Doktor Eisenbeis: Arzt der Skyguards

Leída Havock: Anführerin von Havock’s Hundred, einer Drachenjäger-Einheit

Cyrano: Gargoyle und Anführer der »alten« Gargyoles

Lady Ealwhina Snickelway: Medium

Sir Shamus: ihr Bekannter

Ichneumon: Drachentöter

Erzbischof Kattla: Anführer des Officium Draconis

Prior Prokop: sein Stellvertreter und Befehlshaber im Feld des Officium Draconis

Wilhelm Voss: deutscher Industriemagnat

Kasimir Voss: sein Sohn

Weiß und Müller: Buchhalter von Kasimir Voss

Alexandra Fjodorowna: Zarin (Zaritsa) von Russland

Charles Tourant De Bercy: Unterhändler

Piotr und Vlad: Handlanger von De Bercy

Igor Vatjankim: Mitglied der Ochrana

Wassilij: Taxifahrer

Zoja Sigorskaja: Oberst der Zarenarmee

Sergij Wachholder: Bibliothekar

Wu Li: chinesischer Akrobat und Illusionist

Torben Quinn: Angestellter der Stadtverwaltung Hamburg

Maximilian Redelmaier: Ermittlungsbeamter des Officium Draconis

Mahud Nagib: Ägyptologe

Nitokris: seine Sekretärin

Dr. Ahmat Fayence: Psychologe

Thomas Edward Grant der Fünfte: brit. Gentleman

Li Zhiao: chinesischer Geschäftsmann

Tilda, Lasse, Bengt, Olof, Knut: Dorfbewohner von Väddo

Lord Craig Canterburry: Übersetzer

Eric Tremaine: Medium und Mitglied der Society of Psychical Research

Aisin Gioro Pǔ Yí: Kaiser von China, Qing-Dynastie

Kaiserinwitwe Cíxī: seine Vorgängerin

Prinz Zhu Zaihou und seine Mutter Wan: Ming-Dynastie

Humbleman und Coopers: zwei Bobbies

Die Drachen

Vouivre: französischer Altvorderer

Y Ddraig Goch: walisische Altvordere

Tugarin: russischer Drache

Florin: holländischer Drache

Gwalchgwyn: walisischer Drache

Nie-Lung: chinesischer Drache

Begriffe

Altvordere: uralte europäische Drachen

Lǎozǐ: chin. Anrede alter Meister

Ochrana: zaristischer Geheimdienst

Bolschewiki: Fraktion der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR), die einen Umsturz schnell und mit Gewalt umsetzen wollte

Ulanen: Lanzenreiter

Prospekt: russ. Bez. für eine sehr breite Prachtstraße

Tawarisch: russ. Genosse

Prastiti pashalusta: russ. Entschuldigen Sie bitte!

Spasiba: russ. Danke!

Nitschiwo straschnawa: russ. Nichts passiert!

Gaspascha: russ. Anrede für Frau

Stoi: russ. Halt

Suka: russ. Schlampe

RAF: Abkürzung für Royal Air Force

Sûreté: französischer Geheimdienst

Pint: engl. Bierglas mit 0,568 Liter Inhalt

Ladypint: engl. Bierglas, halbes Pint

Midnight: Getränk aus Guinness (engl. Stoutbier) mit einem Schuss Portwein

Nǐ yéye de: chin. Fluch Verdammt!

Kào: chin. Fluch, hartes Wort für Fäkalie!

Dàngfù: chin. Schlampe

Tā mā!: chin. Zum Teufel!

Fèiwù!: chin. Missgeburt

Nǐ mā bī: chin. derb weibliches primäres Geschlechtsteil

Jī: chin. derb Prostituierte

Fèihuà: chin. Blödsinn

Běijīng: Peking

Stockholms-Tidningen: größte schwed. Tageszeitung

Society of Psychical Research: Gesellschaft zur Erforschung übersinnlicher Phänomene

Die Musikstücke zum Buch

Paul Whiteman – Whispering (1920)

George Olson & Orchestra – Who? (1925)

Howard Lanins Dance Orchestra – Don’t Wake Me Up (1925)

Howard Lanin and His Orchestra – Black Bottom (1926)

Lee Morse – Yes, Sir! That’s My Baby! (1925)

Eddie Cantor – If You Knew Susie (Like I Know Susie!) (1925)

Savoy Orpheans – When You and I Were Seventeen (1925)

Whispering Jack Smith – Me and My Shadow (1927)

Whispering Jack Smith – Crazy Rhythm (1928) – des Autors Liebling!

Whispering Jack Smith – There Ain’t No »Maybe« in My Baby’s Eyes (1926)

Whispering Jack Smith – When the Red, Red Robin Comes Bob-bob-bobbin’ Along (1926)

Jan Garber’s Orchestra – Baby Face (1926)

Savannah Syncopators – Wa Wa Wa (1926)

Ben Bernie Orchestra – Ain’t She Sweet (1927)

Wisconsin Roof Orchestra – Black Maria (1927)

Ipana Troubadours – My Strongest Weakness (1927)

Charlie Fry and His Million Dollar Pier Orchestra – Happy Days, Lonely Nights (1928)

außerdem Songs von: Original Dixieland Jazz Band, Harry Archer, Comedian Harmonists, Yale Whiffenpoofs und Max Raabe (keine Eigenkompositionen)

und:

»Klein Zack« aus: Hoffmanns Erzählungen von Jacques Offenbach

»Steuermann, lass die Wacht!« aus: Der Fliegende Holländer von Richard Wagner

Prolog

23. Dezember 1926, Freie Hansestadt

Hamburg, Deutsches Kaiserreich

Riesige Masten stemmten den schweren roten Stoff des pagodenförmigen Zelts in schwindelerregende Höhe. Innen und außen erleuchteten es Pergamentlampions; vom warmen Licht illuminiert, zog es die Blicke magisch an. Durch seine Außergewöhnlichkeit und all die Ornamente war es ein Blickfang sondergleichen.

Eintausend Menschen hatten den Weg hineingefunden. Im Innern roch es nach Holz, nach Jasmin und frittiertem Essen, das von livrierten Chinesen mit Bauchläden in Tütchen während der Vorstellung an die Zuschauer verkauft wurde. Unermüdlich liefen sie die Tribünentreppen hoch und runter, lächelnd und freundlich. Den Tee, in dem Jasminblüten schwammen, gab es gratis in kleinen Tonschälchen zu jeder Order.

Die Besucher waren von den rasch wechselnden Darbietungen gefangen genommen. Eine gebannte Stille herrschte, die Gesichter von Männern, Frauen und Kindern waren auf die Manege gerichtet, und die Spannung löste sich nach jedem Kunststück in einem tosenden Applaus.

Während die Menschen rings um Alfred Groote mitfieberten, starrte er unbeteiligt in die Manege, in der sich zehn junge Chinesendamen in weißen Seidengewändern zum Abschluss ihrer Akrobatik zu einer Pyramide aufgetürmt hatten. Dabei verbogen und verrenkten sie zusätzlich ihre zarten Leiber. Ich halte es für unmöglich, sich dabei als normaler Mensch nicht das Rückgrat zu brechen, dachte er. Schlangenmenschen.

Zur Krönung und gegen die Gesetze der Physik hielten sich die Mädchen gegenseitig an den Hüften und streckten jeweils ein Bein weg, sodass das Bauwerk aus Menschen lediglich auf schmalen, dünnen Zehenspitzen stand. Und hielt, ohne auch nur im Ansatz zu schwanken.

»Famos«, tönte es aus der Reihe vor Alfred. »Ganz famos!«

Doch auch als die grazilen Mädchen die Pyramide auflösten und sich aufrecht hinstellten, um ihren Applaus entgegenzunehmen, klatschte der Zweiundzwanzigjährige nicht. Feindselig blickte er von seinem hintersten Rang hinab, über die Köpfe der begeisterten Menschen, die im Gegensatz zu ihm nicht mit Beifall sparten.

Er spürte einen Ellenbogen in seiner Seite. »Mach schon«, raunte ihm Klara von links ins Ohr. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid und eine lange Glasperlenkette, die kurzen blonden Haare lagen in einer modischen Wasserwelle am Kopf an. Sie hatte die Gelegenheit genutzt und sich eigens für das Zusammentreffen mit ihm schön gemacht. »Willst du, dass wir auffallen? Benimm dich wie ein normaler Zuschauer.«

Widerwillig schlug Alfred die Handflächen gegeneinander, doch der finstere Ausdruck wich nicht von seinem Gesicht. Für ihn waren diese chinesischen Turnerinnen Abschaum, wie der ganze Rest des verfluchten Zirkus, den seine lange Reise von Peking ins deutsche Kaiserreich geführt hatte.

Er verabscheute sie nicht, weil sie anders aussahen oder einer fremden Kultur angehörten. Seinen Hass hatten sie einem ganz anderen Umstand zu verdanken.

Die jungen Akrobatinnen liefen durch den portalähnlichen Manegenausgang hinaus; Sägemehl wirbelte hinter ihren blanken Füßen auf und flirrte im bunten Licht der fünf Richtscheinwerfer. Ihnen kam wieder der Conferencier des Abends entgegen, ein Chinese im klassischen Smoking und mit Zylinder, hinter dem sich der dunkelrote Vorhang schloss. Alfred fand immer noch, dass ihm die westliche Kleidung nicht stand. Den Namen hatte er vergessen. Wozu auch merken?

»Vielen herzlichen Dank, hochverehrtes Publikum«, rief er und verneigte sich. »Die Töchter der Schlange haben Ihr Wohlwollen redlich verdient. Kommen wir nun zu unserem Höhepunkt der Weihnachtsvorstellung in der schönen Hansestadt: Meister Wu Li und seine Traumkugeln!« Er deutete auf den Eingang, wo die Stoffbahnen erneut aufgezogen wurden. Ein lauter Gongschlag ertönte und hallte lange nach.

Ein hünenhafter Chinese in einem traditionellen knielangen Gewand aus schwarzer Seide tat den ersten Schritt in das Rund und verharrte in den Strahlen der Scheinwerfer. Die roten und weißen Schriftzeichen darauf leuchteten regelrecht. Die Arme hatte er auf den Rücken gelegt. Er musterte die voll besetzten Ränge in aller Ruhe, ehe er in die Mitte der Manege trat.

»Meine Güte, der ist ja riesig«, hörte Alfred Klara verwundert sagen. »Mindestens zwei Meter, oder? Ich dachte, die Chinesen seien alle klein!«

»Nicht die aus dem Norden, habe ich gehört«, gab er zurück und wartete ungeduldig, was Meister Wu Li zu bieten hatte. Es interessierte ihn letztlich ebenso wenig wie die vergangenen Darbietungen der Mädchen, der Tellerjongleure, der Clowns, der exotischen Tierdressuren, der Hochseilakrobaten, der Contorsionisten, der halbnackten Tänzerinnen und alles, was er sonst noch hatte erdulden müssen. Alfred und seine Freunde waren nur aus einem Grund hier.

Meister Wu Li berührte die weiße, halbkugelförmige Mütze, die eine Bronzespitze an der höchsten Stelle aufwies. Helfer trugen daraufhin einen Tisch mit einer flachen, breiten Schüssel herein, in der Wasser schwappte. Er selbst sah gelassen dabei zu und strich sich über den langen, schwarzen Kinnbart, der das Gesicht noch schmaler machte.

»Schneller«, murmelte Alfred und sah auf die Taschenuhr. Kurz nach zehn am Abend. Viel zu spät für seinen Geschmack. Die Vorstellung hätte vor einigen Minuten zu Ende sein sollen.

Wu Li bekam eine Drahtschlinge von einer Armlänge Durchmesser gereicht und tauchte sie in die Flüssigkeit.

Das Licht verlosch bis auf einen einzelnen Scheinwerferstrahl.

Wu Li hob den gebogenen Draht ruckartig an, und eine große Seifenblase formte sich. Zitternd blieb sie vor dem Chinesen in der Luft stehen, dehnte sich und wallte, drohte zu bersten. Er legte den Draht nieder, tauchte die Hände in die Flüssigkeit und berührte die Blase, hielt sie zwischen den Fingern – und ließ sie an Ausmaß zunehmen!

»Wie macht er das?« Klara packte Alfred am Ärmel der groben beigefarbenen Kordjacke.

»Das ist mir so was von gleich«, antwortete er, obwohl er sich zumindest wunderte über das, was er da sah. Dass die Seifenblase nicht barst, konnte er akzeptieren. Warum sie größer wurde, verstand er nicht.

Wu Li hatte die schillernde Sphäre freigegeben. Sie waberte aufwärts, höher und höher, dem Dach der Zeltpagode entgegen, bis sie wie auf einen geheimen Befehl hin stehen blieb. Der Scheinwerfer folgte ihr, Wu Li fiel ins düstere Gemisch aus Licht und Schatten zurück.

»Als der grausame Eroberer Dschingis Khan meine Heimat angriff«, sprach der Chinese mit Bassstimme, und Alfred rann unwillkürlich ein Schauder über den Rücken, »ritt seine wilde Horde an der Hütte einer Seifenmacherin vorüber.«

In der Blase wurden … Bilder sichtbar!

Die Menschen sahen Tartarenkrieger auf kleinen, zotteligen Pferden, die ihre Säbel und Speere schwangen. Ein erschrockenes und zugleich begeistertes Raunen lief durch die Reihen der Zuschauer. Eine Hütte tauchte auf, umgeben von Bambus und einem kleinen Bachlauf, an dem eine Chinesin kniete.

»Die grausamen Krieger wollten die hübsche Lin Wei entkleiden und sich an ihr vergehen.« Die Seifenblase zeigte die hilflose junge Frau, die von den Kriegern überrascht wurde, die sich auf sie stürzten. Sie leistete Gegenwehr, spuckte und schlug um sich.

Wie … geht das? Alfred wandte sich verblüfft um, drehte den Kopf und versuchte den Filmprojektor zu entdecken, mit dem sie den Trick absolvierten. Er hatte schon ein paar Vorführungen im Lichtspielhaus gesehen, aber was ihn stutzig machte, war, dass er das Geschehen in Farbe sah. Ist das möglich? Eine neue Technik?

Wu Li hatte unterdessen eine zweite Blase entstehen lassen, die emporschwebte, sich mit der ersten verband und sie an Volumen verdoppelte. Nun wurden die Szenen überlebensgroß dargestellt, und wer genau hinhörte, vernahm das dunkle Lachen der Krieger und die verzweifelten Rufe der Frau; einige Zuschauer stöhnten mitfühlend auf.

»Sie warfen sie in den Trog mit Seifenlauge, um sie zu waschen. Doch Lin Wei blieb im Trog verschwunden. Stattdessen stiegen Blasen empor, die den schrecklichen Soldaten Angst einflößten«, dröhnte Wu Lis Stimme. Die gigantische Sphäre wurde von Dutzenden kleiner Bläschen umspielt, deren Inneres unerklärlicherweise mit Rauch gefüllt war. »Sie verdunkelten die Umgebung, und die Pferde nahmen Reißaus. Sobald sie barsten, gaben sie Nacht frei und brachten den Kriegern dämonische Gestalten.«

Prompt platzten die Gebilde, der Rauch entwich und formte Monstrositäten, die über die Menschen in der Pagode hinwegflogen. Nicht wenige zogen die Köpfe ein oder hielten die Hüte fest, einige kleine Kinder fingen an zu weinen. Klara stieß einen spitzen Schrei aus, als tintenschwarze Schattenfinger nach ihr griffen, ehe sie zerstoben und vergingen.

Wie macht er das? Alfred konnte sich der Faszination nicht länger erwehren. Er erweckt die Einbildung zum Leben! Mit neuartigen Projektoren oder anderen Taschenspielertricks hatte das nichts mehr zu tun. Ein Massenhypnotiseur? Ein Medium?

»Die Letzten der Horde ergriffen die Flucht«, rief Wu Li, »als der gefürchtete Drache Nie-Lung erschien!«

In der großen Sphäre erschien der goldgeschuppte Kopf eines chinesischen Drachen, der sein zahnreiches Maul weit aufgerissen hatte und voller Hass fauchte. Auf seinem Rücken entfalteten sich filigrane Schwingen, und sein Hornpanzer glänzte; entlang der Wirbelsäule saßen gezackte, aufgerichtete Schuppen, die bis zum Schweifende verliefen. Die Hörner wirkten mehr wie ein Geweih und hatten wenig mit denen der europäischen Monster zu tun. Orangefarbene Augen starrten durch die Blase in das Pagodenzelt.

Jetzt schrien die Zuschauer vor Schrecken auf – aber Alfred blieb stumm, seine Augen funkelten vor Glück. Meister! Er bewunderte den langen, gewundenen Leib, an dem vier Beine mit je fünf Klauen saßen. Schöner, als ich ihn mir vorgestellt habe!

»Nie-Lung fuhr auf sie nieder und wütete schrecklich!«, erzählte Wu Li beschwörend, und der Drache in der Sphäre schnappte wild um sich, wand den biegsamen Körper um die Männer, zerquetschte sie und zerbiss die Krieger, wie er sie zu packen bekam.

Alfred hörte die Knochen brechen, das Blut auf den Boden plätschern und das Metall sich verbiegen. Die Schreie klingen echt! Die Härchen auf seinen Armen richteten sich auf.

Plötzlich zerbarst die Seifenblase, und Nie-Lung war frei!

Er schoss unter dem Zeltdach entlang, flog eine Runde und zog mit seinen zehn Metern Länge brüllend über die Männer, Frauen und Kinder hinweg. Sein Atem schwappte heiß ins Zelt und brachte die Luft zum Flimmern. Lose Papiere stoben davon, einige Mützen und Hüte wurden den Besitzern von den Schöpfen gefegt.

Die ersten Besucher sprangen von den Sitzen auf und wollten in Panik aus dem Zirkus flüchten.

Mit einem lauten Fauchen verging Nie-Lung zu harmlosem weißem Rauch, kleine Kringel formten sich und trieben in die Höhe, während das letzte Kreischen des Drachen verhallte. Das Licht erwachte und vertrieb mit seiner gleißenden Helligkeit die letzten Reste des Zaubers.

Wu Li stand regungslos in der Manege, die Hände wieder auf den Rücken gelegt, und lächelte in den Tumult, der sich langsam legte. Er wartete, bis auch die letzten an ihre Plätze zurückgekehrt waren, bevor er mit ruhiger Stimme sagte: »Die Horde konnte nicht wissen, dass Lin Wei die Braut des Drachen war, der sie mit seinen magischen Kräften beschützte. Fortan lebte sie in Sicherheit. Bis an ihr Lebensende.« Er machte eine lange Pause, dann kam er um das Tischchen herum und verneigte sich.

Der Applaus explodierte regelrecht. Den Zuschauern stand die Begeisterung auf die Gesichter geschrieben. Manche rangen noch mit den Auswirkungen des Schreckens, den der Scheindrache ausgelöst hatte, aber dennoch gewährten sie ihm stehende Ovationen. Blumen wurden dem Chinesen zu Füßen geworfen, und die Hoch-Rufe wollten gar nicht mehr enden.

Alfred atmete tief durch. Meine Güte! Da darf ein Herz nicht schwach sein. Er brauchte eine halbe Minute, bis er sich aus dem Bann der Bilder gelöst hatte. Schluss mit dem Mumpitz. Er nahm die frenetisch klatschende Klara am Arm und zerrte sie hinter sich her. »Los. Wir müssen die Ersten sein!«

Sie drängelten sich durch die Reihen, während der Conferencier zu den Tönen leiser chinesischer Musik verkündete, dass die Tierschau gleich öffnen würde. Alfred sah, dass sich fünf weitere junge Männer und Frauen auf den Durchgang zubewegten, der sie zu den Käfigen führte. Sehr gut.

Gemeinsam gelangten sie an das Gittertor, wo der lächelnde Kartenabreißer in einem bunten chinesischen Gewand ihre Eintrittsbillets entgegennahm und sie anschließend mit einer Verbeugung und einer einladenden Geste in den Innenhof hinter der Pagode ließ.

Alfred, Klara und ihre Mitstreiter standen im Freien. Dreißig Wagen waren im Karree aufgestellt worden, in der Mitte befand sich ein Zaun, hinter dem verschiedene Lamas, Büffel, Dromedare und Kamele auf frischem Stroh der Besucher harrten und vor sich hin kauten. Auch hier sorgten weiße Lampions für Licht.

»Wo ist er?«, fragte Klara aufgeregt und blickte sich um.

»Das werden wir gleich herausfinden. Sie haben ihn irgendwo auf dem Gelände ausgestellt wie eines ihrer schnöden Tiere.« Alfred sah in die angespannten Mienen der Gleichgesinnten. »Was immer mit uns geschehen wird, er hat Vorrang. Schießt, wenn sie uns aufhalten wollen. Wir geben unser Leben für ihn, wenn es sein muss. Der Zeppelin ist bereit, falls der Meister zu schwach ist, um selbst zu fliehen. Und jetzt ausschwärmen«, befahl er. »Wenn ihn einer findet, gibt er das Pfeifsignal.« Sie nickten stumm.

Er und Klara gingen nach links, an den Käfigen der Tierschau vorbei, die anderen teilten sich auf und huschten davon.

Alfred spürte, wie seine Wut auf den Zirkus immer weiter wuchs. Sie zeigten den Drachen in der Vorführung in seiner ganzen Schönheit, doch in Wahrheit lag er in einem unwürdigen Käfig und wurde für ein paar Münzen extra als ein Kuriosum vorgeführt. Von Asiaten, die Drachen doch eigentlich verehren und anbeten! Dieser Verrat wog in seinen Augen doppelt so schwer. Ihr werdet eure Strafe bekommen.

Es war Klara, die den Eingang entdeckte. »Da«, sagte sie und zeigte auf den schwarzen Vorhang, über dem ein Schild mit chinesischen Schriftzeichen hing; darunter war ein Drache gemalt. Sie lief los, ohne auf Alfreds Reaktion zu warten, der den vereinbarten Pfiff mehrmals hintereinander ausstieß und ihr folgte.

Hinter dem Vorhang mussten sie in schummrigem Licht mehrere Stufen hinaufgehen und dann wieder durch einen schwarzen Vorhang treten, bevor sie in einem kleineren Pagodenzelt standen. Zehn rote und weiße Lampions hingen von der Decke und spendeten Helligkeit; zwei Scheinwerfer warfen ihre Kegel auf einen geräumigen Käfig mit mannsdicken Stahlstäben, hinter denen der Gesuchte lag und mit geschlossenen Augen döste: der goldene Drache Nie-Lung.

»Meister!«, rief Alfred ergriffen und schluckte, dann eilte er zum Käfig und sank auf die Knie; Klara tat es ihm nach. »Göttlicher«, sprach er ehrfurchtsvoll und verneigte sich vor dem Wesen, das bis auf die kleinste Schuppe der Illusion im Zirkus glich. Er holte einen Zettel aus der Tasche, faltete ihn auseinander und schob ihn durch das Gitter. Auf Chinesisch stand geschrieben, was er nun in Lautschrift vorlas und heißen sollte: »Wir sind gekommen, um Euch zu befreien.«

Es war wichtig, dem Drachen zu zeigen, was sie beabsichtigten. Die Befreiung blieb ein gefährliches Unterfangen, nicht nur wegen der Chinesen. Im Fall eines Missverständnisses seitens der Kreatur konnte es den Tod der gesamten Gruppe bedeuten. Apropos, wo bleiben sie eigentlich?

Der Drache hob das rechte Lid, eine geschlitzte Pupille musterte zuerst das Papier, dann ihn. Der Kopf blieb weiterhin auf den Vordertatzen liegen.

»Ahnte ich es doch: Er ist geschwächt. Er kann nicht einmal mehr das Haupt erheben«, sagte Alfred entrüstet. »Die Reisfresser geben ihm nicht, was ein stolzes Wesen wie er zum Leben benötigt. Schon allein dafür jagen wir ihren Zirkus in die Luft!«

»Meister, wir sind die Drachenfreunde. Wir hörten vor einem Monat, dass der Zirkus es wagt, Euch zur Schau zu stellen, und sind gekommen, um dem ein Ende zu bereiten«, erklärte Klara beseelt von Glück, weil sie in der Nähe des verehrten Wesens sein durfte. »Ihr habt sicherlich von uns vernommen. Auch in China, nicht wahr? Wir kämpfen dafür, dass die Europäer Drachen nicht länger als Feinde, sondern als anbetungswürdige Geschöpfe …«

»Das kannst du ihm später haarklein berichten«, fiel Alfred ihr maßregelnd ins Wort. Dass ihre Freunde noch nicht zu ihnen aufgeschlossen waren, ließ ihn Ungutes für ihr Schicksal vermuten. Jede Sekunde zählt. Er packte das dicke Schloss, mit dem die Doppeltür zusätzlich gesichert war, langte mit der freien Hand unter seine Jacke und zog einen Bund Dietriche hervor. »Eure Flucht ist vorbereitet, Meister. Ihr sollt nicht länger unwürdig zur Schau gestellt werden und zur Ergötzung derer dienen, die Euch verabscheuen.« Wieder zitierte er, was auf dem Blatt geschrieben stand. Da sie nicht wussten, ob er Deutsch verstand, hatte Alfred es lieber übersetzen lassen. Nicht, dass der Meister sie tragischerweise angriff. Es klickte mehrmals, doch noch weigerte sich der Mechanismus. »Verdammt!«

Jetzt öffnete sich Nie-Lungs zweites Auge, und der Drache hob langsam den Kopf und schaute den Menschen bei ihren Bemühungen zu.

»Meister, welche Freude!«, rief Alfred erleichtert. »Die nahe Freiheit bringt Euch die nötige Kraft zurück.«

»Lass mich es versuchen.« Klara bewegte den Dietrich leicht hin und her.

Das Rumpeln von Stiefeln erklang auf der Treppe; gleichzeitig schnappte der Bügel des Schlosses auf.

Alfred riss die Tür des Käfigs auf und winkte dem Geschöpf, dessen goldene Schuppen schimmerten und funkelten. »Meister, kommt! Wir haben Euer Entkommen gut geplant …«

»Alfred!«

Klaras Schrei ließ ihn herumwirbeln: Durch den Eingang kamen chinesische Arbeiter gestürmt, die lange Holzlatten, Hämmer und Schwerter mit sich trugen. Aus ihrer Mitte ragte Wu Li stumm empor, während die anderen riefen und brüllten.

Klara stand vor ihnen, in den Händen hielt sie zwei Revolver. »Bleibt stehen, verdammte Schlitzaugen!«, schrie sie und schwenkte die Läufe umher. »Ich lasse nicht zu, dass ihr den Meister länger so schäbig behandelt.«

Alfred zog seine beiden Mauser C96 Halbautomatik und richtete die langen Läufe ebenfalls auf die unvermutet aufgetauchten Angreifer. Dann haben es die anderen wohl nicht geschafft. Er überlegte. Noch konnte ihnen die Befreiung des Göttlichen gelingen. »Meister, Ihr müsst uns beistehen«, sagte er. »Versteht Ihr mich?«

Ja, vernahm er die Stimme des Drachen in seinem Kopf. Wie alle mächtigen Geschuppten verständigte er sich mit Menschen auf telepathische Weise.

Alfred war erleichtert und überrascht zugleich. Zum ersten Mal wurde ihm diese Ehre leibhaftig zuteil. Wie es schien, bedienten sich die Geschöpfe dabei einer universellen Sprache. »Könnt Ihr … in … Eurem geschwächten Zustand … fliegen?«, stotterte er zu seiner Verärgerung. Eine fremde Stimme im eigenen Verstand zu hören, machte ihn trotz der Vorbereitung darauf perplex. Er fokussierte seine Gedanken auf den Befreiungsplan.

Ich müsste es versuchen.

»Das braucht ihr nicht. Wir haben vorgesorgt: Auf der Wiese neben dem Zirkus wartet ein Zeppelin, in dessen Gondel Ihr hineinpasst.« Alfred gratulierte sich selbst zu der Entscheidung, das Luftschiff in den ausgeklügelten Plan einzubinden. »Bitte, Ihr müsst uns mit Eurem Feueratem Deckung geben, bis wir beim Luftschiff angelangt sind.« Er ging rückwärts, um den Drachen hinauszulassen. »Mit ihm bringen wir Euch zu einem Freund, der bereits viele Eurer Art um sich herum versammelt hat.«

Wenn es so ist. Der Drache erhob sich auf seine vier Beine und blieb dabei geduckt, um mit dem Rücken nicht gegen die Decke des Gefängnisses zu stoßen. Du meintest es ernst, als du davon sprachst, den Zirkus in die Luft zu jagen?

Alfred nickte. »Alles ist vorbereitet. Wir haben in der Pagode Bomben verteilt, um Eure Kerkermeister für deren frevelhafte Taten zu strafen! In knapp zwanzig Minuten gehen sie hoch, Meister. Kommt!«

Wu Li hob die Arme, und die chinesischen Arbeiter verstummten. »Wenn ihr zwei jetzt nicht geht, wird es ein böses Ende nehmen«, sagte er mit seiner dunklen Stimme. »Drachen sind sensible Wesen, die Störungen nicht mögen, egal in welcher Absicht sie geschehen.«

»Sei still!« Alfred hielt die Läufe der Pistolen noch immer auf die Meute gerichtet.

Der riesige Chinese lächelte unverbindlich. »Wir haben deine Motivation falsch eingeschätzt und dachten, du und deine Freunde wolltet dem Geschöpf etwas antun. Für deine Begleiter kommt diese Erkenntnis leider zu spät, aber dir und der Frau kann es das Leben retten.«

»Sie sind tot?«, rief Klara und spannte die Hähne ihrer Revolver klickend. »Ihr Bastarde! Wir haben Munition für euch alle!« Sie schoss zwei der Arbeiter nieder, mitten durch die Brust. Ächzend fielen sie zu Boden, während die Umstehenden sich erschrocken niederbeugten, um ihnen beizustehen.

Wu Li hielt die Übrigen zurück, die sich auf die Frau stürzen wollten. »Das war unklug.«

»Wieso? Klara hat recht: Ihr habt den Tod verdient«, sagte Alfred düster und hob seine Waffen. »Ihr habt unsere besten Leute getötet und den Meister beleidigt. Ihr …«

Klara sah aus den Augenwinkeln, dass der Leib des Drachen blitzartig nach vorn zuckte, dann knackte und krachte es. Ein Körper fiel, es plätscherte leise.

Mit einem Laut des Entsetzens wandte sie sich um. »Meister, was tut Ihr?« Sie sah Alfreds entsetzlich zugerichtete Leiche auf den Brettern liegen. Der Oberkörper war flach gequetscht worden; vier breite Löcher klafften in seiner Brust, aus denen das Blut in Strömen auf die groben, schmutzigen Dielen lief. An Nie-Lungs rechter Klaue troff das Blut herab, seine Augen leuchteten golden und strahlten auf sie nieder.

Er hat ihn umgebracht? Klara konnte nicht fassen, was geschehen war. Ein Missverständnis oder Betrug an ihnen? Ihre Arme senkten sich, sie zitterte vor Abscheu und Furcht. »Meister … wieso?«

Ich kann nicht zulassen, was du und dein übereifriger Freund tut. Nie-Lung sah auf seine verschmierte Klaue. Ich muss euch verschwinden lassen.

Klara nahm seine Worte wahr und konnte sie dennoch nicht verstehen. Es war ihr unbegreiflich, welch ungerechten Lohn sie für ihre Tat erhielten. Die Wochen der Planung, die umfangreichen Vorbereitungen, um den Göttlichen aus der Gefangenschaft zu holen … Und jetzt lässt er mich dafür umbringen? Sie wich zwei Schritte vor der abwartenden Kreatur zurück. »Nein«, flüsterte sie geschockt. Ihr Leben und ihre Ideale, die sie in den Dienst der Drachenfreunde gestellt hatte, erschienen auf einen Schlag sinnlos und vergeudet.

Jemand hielt ihre Kehle von hinten fest und schlug ihr in den Rücken. Zumindest dachte Klara das, bis sie die lange Spitze aus ihrer Brust ragen sah, an der Blut haftete. Ihr Blut! Dann kam der peinigende Schmerz und gleich darauf der zweite Stich zusammen mit dem erlösenden Tod, bevor sie etwas zu sagen vermochte.

Wu Li machte achtlos einen Schritt über die junge Frau hinweg, die er soeben beiläufig ermordet hatte, und schritt auf Nie-Lung zu. Dabei veränderte sich seine Haltung, er wurde regelrecht kleiner und zeigte seine Unterwürfigkeit, seine Schuld. »Vergebt mir und meinen Männern, dass Euch diese Menschen belästigt haben, Lǎozǐ.« Er verneigte sich tief vor ihm.

Ich vergebe dir, Wu Li. Der Drache kehrte in den Käfig zurück, rollte sich halb zusammen und legte den Kopf auf die geschuppten Vorderläufe. Auch du konntest nicht damit rechnen, dass sich Drachenfreunde berufen fühlen, mich befreien zu wollen. Dann lachte er leise. Schade, dass wir sie töten mussten, doch auf die Schnelle gab es keine bessere Lösung. Es wimmelt draußen nur so von Besuchern. Wir brauchen nicht noch mehr Aufmerksamkeit. Keine solche.

»Ja, Lǎozǐ.« Wu Li gab mit einer Handbewegung Anweisung, die Leichen wegzuschaffen und die Lache aufzuwischen. Ein Chinese trat in den Käfig und säuberte Nie-Lungs blutige Klaue. »Die Bomben lasse ich sofort suchen. Um den Zeppelin kümmere ich mich ebenfalls.«

Ich habe volles Vertrauen in dich.

Wu Li verneigte sich erneut; auf dem langen, schmalen Gesicht zeigte sich ein Anflug von Stolz. »Wir machen nach Weihnachten also weiter wie bisher, Lǎozǐ?«

Sicher. Eine bessere Tarnung als diesen Zirkus gibt es nicht für unsere Mission. Nie-Lung schloss die Lider und schnaubte; es roch bitter und schwefelig im Zelt. Lass die Menschen zu mir kommen, sobald das Blut aufgewischt ist. Sie sollen einen echten Drachen aus Asien zu Gesicht bekommen. Doch schärfe ihnen nochmals ein, keine Steinchen nach mir zu werfen, während ich mich schlafend stelle, damit ich ihren Anblick nicht ertragen muss. Sollte eines der Bälger es dennoch tun, werde ich mich noch vergessen!

Wu Li lächelte und verbeugte sich. »Gewiss, Lǎozǐ. Niemand wird Euch belästigen.« Er sah nach den Arbeitern, die soeben die letzten Flecken aufgewischt hatten. »Tragt die Leichen zu den anderen«, befahl er. »Sie sollen zu Löwen- und Krokodilfutter verarbeitet werden.«

Er scheuchte sie hinaus, trat ins Freie und öffnete den dunklen Vorhang. »Verehrte Herrschaften«, rief er mit getragener Bassstimme. Die Aufmerksamkeit war ihm sicher. »Kommt und seht Nie-Lung! Den wahren Nie-Lung. Doch erinnern Sie sich an das Schicksal der Hunnen: Wer seinen Schlaf stört«, er sah drohend einen kleinen Jungen an, dessen spitzbübisches Grinsen abrupt erlosch, »wird von ihm verspeist!« Wu Li zwinkerte den Eltern entwarnend zu, die daraufhin lachten und ihren verunsicherten Sprössling durch den Eingang schoben.

Der Meister der Traumkugeln blickte über den Platz, auf dem Männer, Frauen und Kinder von Wagen zu Wagen gingen und die fremdartigen Tiere bestaunten, und strich über seinen Kinnbart. »Gafft nur«, murmelte er lächelnd. »Gafft, ihr eingebildeten Europäer. Nicht lange, und ihr gehört zu uns!«

I.

23. Dezember 1926, Neu-Edinburgh,

Provinz Schottland,

Königreich Großbritannien

Kalter Regen nieselte auf Neu-Edinburgh nieder; dazu kroch der Nebel durch die Straßen und Gassen und brachte den Gestank der Kanalisation und nach erloschenen Bränden mit. Das penetrante Odeur von Verfall passte so gar nicht zu der ehemals so stolzen Stadt.

Grigorij Wadim Basilius Zadornov stand auf dem Gehweg der belebten Queen Street und betrachtete die Baugerüste, die sich überall schemenhaft erhoben: In jedem Winkel wurde renoviert oder neu erbaut. Lastwagen, Automobile und Kutschen fuhren die Straße entlang. Das bisschen Schnee, das vor zwei Tagen gefallen war, hatte sich in unansehnlichen grauen Matsch verwandelt und wurde vom Nieselregen zersetzt.

Auld Reekie wird allmählich. Der Spitzname der Stadt, schottisch für die alte Rauchige, rührte ursprünglich von den vielen Kaminen und den Kohle- und Torffeuern her. Jetzt bekam er eine neue Bedeutung: Nach dem verheerenden Feuer, das von einem Drachen ausgelöst worden war, gaben sich die Schotten Mühe, ihrem Wahrzeichen den alten Glanz zurückzugeben. Doch viele Mauern dünsteten noch immer Rauch und damit eine Erinnerung an die Tragödie aus. Sie mahnten, nicht zu vergessen, was mit Edinburgh geschehen war.

Es wird wieder kälter. Grigorij ging weiter, schlug den Mantelkragen hoch und rückte den Zylinder zurecht. Der Wettergott könnte sich endlich entscheiden. Er mochte die schwankende, feuchte Witterung überhaupt nicht, und entsprechend schlecht stand es um seine Laune.

Nach ein paar Schritten blockierte ein korpulenter und teuer gekleideter Mann den schmalen Gehweg, zum einen durch seine Fülle, zum anderen durch die auseinandergefaltete Zeitung.

Auch das noch! »Aus dem Weg, Sir. Sie werden einen anderen Platz finden müssen, um Ihre Nachrichten zu lesen.« Grigorij hatte die Hoffnung, ihn mit seiner dunklen Stimme zur Seite zu scheuchen. In den Klang legte er etwas Forderndes.

Der Mann rührte sich nicht, der Kopf senkte sich nach unten. Er las ungerührt weiter.

Grigorijs Lippen wurden schmal. Unter anderen Umständen, wie bei Sonnenschein oder herrlichem Schnee, wäre er irgendwie an dem breiten Mann vorbeigelangt. Heute jedoch nicht. Ihm fehlte noch ein passendes Präsent für seine Gemahlin, die Feuchte schlug sich auf seinem schwarzen Pelzmantel und den dunkelrot gefärbten Brillengläsern nieder. Und auf sein Gemüt. »Ich bin auf dem Weg, meine letzten Weihnachtsgeschenke zu erstehen, und ich gedenke nicht, Ihretwegen auf die belebte Straße und in die Pferdeäpfel zu treten. Es liegt mir fern, überfahren und beschmutzt zu werden, mein Lieber.«

Es schien, als prallten seine Worte wirkungslos gegen die weiche Wand aus Mantel und Mann. »Halt die Schnauze, langhaariger Idiot, und geh außen rum«, murmelte er auf Deutsch, das Grigorij trotz seiner russischen Herkunft sehr wohl verstand.

»Sir?«, wiederholte er seine Aufforderung und stampfte mit dem Stock auf. Es war fast schon zu viel verlangt, Gentleman zu bleiben.

Der Dicke faltete endlich die Zeitung zusammen. Die größte Schlagzeile, das nahm Grigorij beiläufig wahr, fragte nach der Zukunft des Sudans, der unter ägyptisch-britischer Verwaltung stand. Gleich darunter stand zu lesen: Zar lässt auf Volk schießen – quo vadis, Russland?

»Verzeihung, Sir«, gab der Mann auf Englisch mit bekanntem Akzent zurück und sah gelangweilt nach ihm. »Ich war beim Lesen.«

Erst jetzt wurde die brünette Dame sichtbar, die vor ihm an den Auslagen gestanden hatte. Sie gehörte, ihrer aufwendigen Garderobe nach zu urteilen, der gehobenen Schicht der schottischen Provinzhauptstadt an.

Anhand des Ausdrucks in ihren dunkelgrünen Augen und der Art, wie sie den Kopf leicht zur Seite drehte, sich an die Haare fasste und dabei leicht errötete, schloss Grigorij, dass sie ihn erkannt hatte. Und dass sie um seinen Ruf als perfekter Liebhaber wusste. Er deutete die Signale der Frau zumindest als Interesse an ihm und grinste draufgängerisch.

Dabei sah er mit seinen etwas mehr als zwanzig Jahren recht jung und unerfahren aus für jemanden, der so viel erlebt hatte: einst gehetzt von den Mördern des Zaren, Held im Kampf am Berg Triglav gegen zahlreiche Drachen, ein Hellseher, dessen Prophezeiungen so gut wie jedes Mal eingetroffen waren.

Er rieb sich über die schwarzen, dichten Koteletten und die Stoppeln des Drei-Tage-Barts am Kinn. Welch ein Fluch. Selbst als verheirateter Mann habe ich meine Attraktivität wohl nicht verloren. Die Avancen enden nie.

Der Dicke hatte den Blick seiner Begleiterin nicht bemerkt und versuchte indes, bis zu den Auslagen des Geschäfts zurückzuweichen, doch es war immer noch zu wenig Platz. Die Fuhrwerke, Droschken und Automobile ratterten gefährlich dicht an ihnen vorbei.

»Sie müssen Knjaz Zadornov sein«, hauchte die Dame, glitt an ihrem korpulenten Begleiter vorbei und hielt die Hand ausgestreckt. Sie buhlte regelrecht um seine Gunst, musterte seine schlanke Figur.

Eine, die sich aufdrängt. Abgesehen davon, dass Grigorij in festen Händen war, konnte er diesen Typus Frau, der ihn anhimmelte und alles für ihn tun würde, nicht leiden. »Was immer Sie über mich gehört haben«, antwortete er, »früher hätte es gestimmt.« Trotz seiner leichten Abneigung juckte es ihn herauszufinden, was er bei ihr auslösen konnte. Er nahm die behandschuhten Finger und deutete einen Kuss an. Strähnen seiner langen schwarzen Haare rutschten von der Schulter nach vorn, die restlichen wurden vom Zylinder gebändigt. »Ich hätte Sie umgehend zu mir eingeladen, wir hätten Haschisch geraucht und uns mit Absinth trunken gemacht, um uns danach hemmungslos im Rausch zu lieben«, sprach er leise. Sie schluckte, ohne die Augen von ihm abzuwenden, wie es schicklich gewesen wäre.

»Sir?«, sagte der Dicke und klang alarmiert. Was gesagt wurde, verstand er offenbar nicht, aber spürte auch so, dass sich vor seinen Augen etwas abspielte, das nicht rechtens war.

»Sie wären auf Ihre Kosten gekommen wie ich auf meine.« Grigorij lächelte und gab sie frei. »Dabei wäre es mir gleich gewesen, ob der Gentleman neben mir Ihr Gatte, Ihr Verlobter, Ihr Bruder oder sonst wer ist. Auf ein Duell mehr oder weniger kommt es mir nicht an. Ich würde ohnehin siegen und Sie, Teuerste, gleich wieder ins Schlafzimmer entführen.«

Die Frau hauchte etwas Unverständliches.

»Verzeihen Sie, Sir?«, hob der Dicke wieder an und tippte ihm auf die Schulter. »Sie wollten doch an mir vorbei. Dann gehen Sie endlich, Sir!«

Grigorijs blaue, ozeantiefe Augen hatten ihren Blick angezogen und erlaubten kein Ausweichen. Er wusste: Seine nahezu hypnotische Stimme schuf in ihrem Verstand Bilder der Wollust. »Da diese Zeiten jedoch vorüber sind …« Grigorij beließ es grinsend bei der Andeutung und unterbrach den Blickkontakt. Mehr als Illusionen und falsche Versprechungen gab es nicht mehr. Ich kann es noch!

»Oh«, entschlüpfte es ihr seufzend. Sofort schlug sie sich errötend die Hand vor den Mund.

»Sie sagen es, Teuerste.« Grigorij zeigte mit seinem Stock auf den Dicken. »So wird das nichts, Sir. Würde es Ihnen etwas ausmachen, ein paar Schritte nach hinten zu gehen? Bis zum Eingang? Wenn Sie sich hineinmanövrieren, könnte ich vorbeiziehen wie ein schnittiger Segler an einem behäbigen Dampfer.«

Ein Automobil fuhr dicht vorbei, Wasser spritzte aus einer braunen Pfütze gegen seine von Gamaschen gezierten Lackschuhe.

»Dann segeln Sie mal schön weiter, dreckig, wie Sie sind.« Der Korpulente grinste schadenfroh und wich bis in den Eingang zurück. »Sollten Sie Duraluminium für Ihre Luftschiffe oder Ihre abenteuerlichen Neukonstruktionen benötigen, Fürst Zadornov«, sagte er, als Grigorij an ihm vorbeischritt, und streckte ihm eine Karte hin, »lassen Sie es mich wissen. Wir liefern alle Formen, die Sie benötigen.«

Grigorij blieb stehen und nahm die Karte aus den Wurstfingern entgegen. »Wilhelm Voss«, las er halblaut und wechselte dabei ins Deutsche. »Aus Berlin? Das ist weit weg.«

»Das Wetter ist das Gleiche«, gab der Mann zurück. Er wirkte kurz verunsichert, zumal er sich seiner deutschen Worte von vorhin erinnerte.

»Geschäftlich hier, Sir?«

»Man braucht deutsches Metall beim Wiederaufbau von Edinburgh. Ich bin hier, um letzte Verhandlungen zu führen. Die Dame, mit der Sie sich so eindringlich flüsternd und meines Erachtens unhöflich mir gegenüber unterhielten, ist Lady Susan MacCarthy. Sie unterstützt mich bei den Treffen.«

Und ist erfreulicherweise nicht an dir interessiert, Voss. Grigorij sah in die dunkelgrauen Augen des Deutschen, in denen er Abneigung gegen sich las: Der Geschäftsmann nahm ihm einerseits sein Benehmen krumm und witterte andererseits die Gelegenheit, ein einträgliches Geschäft anzubahnen. »Dann wünsche ich Ihnen Erfolg. Es ist noch immer viel zu tun.«

»Wem sagen Sie das?! Neu-Edinburgh wird anders aussehen, wenn ich hier fertig bin. Moderner«, erwiderte Voss selbstgefällig. »Wir haben den Stadtoberen und Queen Viktoria der Zweiten Pläne vorgelegt, die es wie New York erscheinen lassen werden. Die Flammen haben der Stadt im Grunde etwas Gutes gebracht.«

»Wirklich?« Grigorij zuckte mit den Achseln. »Mir gefiel der alte Charme besser.«

Die Abneigung gegen ihn war nun noch deutlicher auf Voss’ Zügen zu lesen, dennoch sagte er: »Sie können mich jederzeit anrufen oder mir ein Telegramm senden. Es wäre mir eine Freude, die Skyguards zu meinen Kunden zählen zu dürfen.« Mit diesen Worten lupfte er kurz den Hut von den vollen grauen Haaren und drängelte sich an Grigorij vorbei. Er ging zu seiner Begleiterin, die mit ratloser Miene danebengestanden hatte, dann machten sie sich auf den Weg. Voss lief dabei hinter ihr, weil sie nicht nebeneinander auf den Bürgersteig passten. Schließlich sah er noch einmal über die Schulter zum Fürsten. Dieses Mal fehlte jeder Anflug von Freundlichkeit. Die Kälte, die aus seinen Augen schlug, schien sogar die Temperaturen in Edinburgh zu senken. Es wurde tatsächlich eisig.

Ich hätte wohl etwas zurückhaltender sein sollen. Grigorij tat sein Benehmen mäßig leid, aber der Deutsche war ihm einfach unsympathisch. Für die Beschimpfung zu Anfang hatte er sich auch nicht entschuldigt.

Grigorij sah Voss und die Lady im Nebel verschwinden. Es hatte ihm großen Spaß bereitet, ansatzweise das alte Spiel zwischen Mann und Frau zu spielen, auf das er sich so hervorragend verstand. In diesen Tagen kam jedoch nur eine in den vollen Genuss seiner Liebe und Leidenschaft.

Er steckte die Karte in die Tasche und sah nun erst auf die Auslagen. Schlagartig hob sich seine Laune. »Sieh mal einer an: Whisky! Litzow, wenigstens dein Geschenk habe ich«, murmelte er und betrat pfeifend den Laden.

Zwei Stunden später packte Grigorij die Geschenke auf die Rückbank des Ford Modell T Phaeton. Er hatte alles beisammen, was er für das Fest der Liebe benötigte: eine Flasche schottischen Whisky einer einmaligen Abfüllung für Litzow sowie den dezenten, aber geschmackvollen Schmuck für seine Gemahlin, den er vor zwei Wochen bestellt hatte. Und nicht zuletzt ein seidenes, außergewöhnlich besticktes Strumpfband für die Sammlung für Anastasia, wie er sie in der Öffentlichkeit nannte. Denn ihren eigentlichen, wahren Namen Silena gab es nicht mehr. Die Person Silena gab es nicht mehr: Sie war am Triglav gegen die Drachen gefallen. Nur so konnten sie beide in Ruhe vor der Vergangenheit leben.

Die verpackten Geschenke lagen beruhigend vor ihm, und er schloss die Tür. Auch wenn er seit einem Jahr das Motorradfahren für sich entdeckt hatte, bevorzugte er bei einer solchen Witterung das Automobil.

Starker, eisiger Wind hatte den Nebel vertreiben.

Grigorij sah zum dunklen Himmel, aus dem die ersten, dicken Schneeflocken fielen. Zeit, dass ich nach Hause komme. Eine Sache fehlt mir noch. Er verschloss den Wagen und ging auf den Tabakladen zu, ye Smokin Aces, der sein Lieblingskraut verkaufte. Es handelte sich um einen milden, mit Rotwein, Nelken und Vanille aromatisierten Tabak, der ein unglaubliches Aroma entfaltete. Von den vielen Lastern aus seiner Vergangenheit, wie Frauengeschichten, Absinth, Haschisch und Alkohol jeglicher Art, hatte er sich getrennt. Bis auf seine Wasserpfeife.

Schnee. Die Heimfahrt kann ja heiter werden. Ich hätte mich vorhin nicht über den Nebel beschweren sollen. Er hielt den Zylinder am Rand fest, damit er nicht davongeweht wurde.

Ein Schatten näherte sich ihm, und Grigorij wich zur Seite aus.

Aber der Mann folgte seinen Bewegungen und stand unvermittelt vor ihm. Die einfache Kleidung und die fleckige Cordschirmmütze wiesen ihn als Arbeiter aus. In seiner Rechten hielt er einen Schlagstock, mit dem er ohne Vorwarnung nach dem Fürsten hieb.

»Ho, Bursche! So nicht!« Grigorijs Reflexe waren gut genug, um die Attacke mit dem Spazierstock abzufälschen. »Verdiene dir dein Weihnachtsgeld mit anständiger Arbeit.« Dann schlug er dem Unbekannten gegen den Hals. »Touché!« Hustend und geräuschvoll nach Luft ringend, sank der Mann vor ihm nieder – da griff der nächste an.

Er kam direkt aus dem Gestöber, schwang einen Prügel und warf sich mit einem wütenden Schrei gegen den Fürsten.

Grigorij sprang zur Seite, und die grob in Form geschnitzte Latte krachte gegen die Motorhaube des Coupés, wo sie eine deutliche Beule hinterließ. »He! Das wirst du mir bezahlen!«

Sein Gegner kümmerte sich nicht um den Einwurf und setzte seine Attacken schnell und ungestüm fort. Grigorij wich immer wieder aus, bis er ihm den Fuß in den Bauch trat und ihn gegen eine Straßenlampe schleuderte. Eine der schweren Glasscheiben löste sich aus der Halterung. Sie fiel dem Mann auf den Kopf und zerschellte klirrend. Stöhnend sank er nieder.

Das Platschen eines Fußes in eine Pfütze warnte Grigorij; er wirbelte herum und hob den Stock. Klirrend traf das Hartholz gegen eine Eisenstange, die ihm ansonsten in den Nacken gerauscht wäre. Vor ihm standen zwei weitere Männer, die ihre Gesichter hinter Schals verborgen hatten.

»Ach, umbringen wollen mich die Ungentlemen?« Er machte einen Schritt zurück, packte seinen Stock, entriegelte die Sperre und zog die armlange Degenklinge aus der verborgenen Scheide. »Ihr werdet verstehen, dass ich in diesem Fall zu anderen Waffen als stumpfem Holz greife!« Grigorij nahm die klassische Fechterhaltung ein. »Wer schickt euch? Der Zar? Hat er immer noch nicht aufgegeben?«

Der erste Mann griff an.

Grigorij parierte, Metall schabte über Metall. Mit einem raschen Ausfall stach er seinem Angreifer durch das Handgelenk, woraufhin dessen Finger sich öffneten. Klirrend fiel die Eisenstange auf das Kopfsteinpflaster, und der Mann hüpfte schreiend nach hinten. Blut tropfte in den Schnee.

Plötzlich klirrte berstendes Glas, und Feuerschein loderte auf der Straße.

»Mein Phaeton!«, rief Grigorij wütend, als er die brennenden Umrisse erkannte. »Du hast meinen Wagen angezündet?« Der Zorn über die Ungeheuerlichkeit und grobe Unsportlichkeit versetzte ihn in Rage. Die Geschenke!

»So ein Pech, was?« Der letzte Gegner hob die Waffe auf und setzte dem Fürsten mit zwei Stangen gleichzeitig zu.

Die Wucht der Schläge war kaum abzufangen, und so musste Grigorij immer weiter zurückweichen. Der Kämpfer stellte sich geschickter an als die drei vorher, das Duell war ausgeglichen.

Grigorij riss den linken Fuß in die Höhe und schleuderte Schnee sowie Wasser ins Gesicht des Mannes. Die Sekunde der Verwirrung genügte, um ihm zuerst einen tiefen Stich in die Schulter zu versetzen und ihm dann die Faust gegen die Schläfe zu hämmern. Ächzend sackte er zusammen.

Die sind erledigt. Grigorij rannte zum brennenden Wagen und öffnete die hintere Tür, um Whisky, Schmuck und Seidenband zu retten. Hoffentlich ist es nicht zu spät. Das Feuer war auf den Vordersitzen und im Fußraum gelegt worden, es stank nach Kraftstoff.

Ein harter Schlag in den Rücken raubte ihm die Luft und ließ ihn tanzende Sternchen sehen. Noch bevor er sich umwenden konnte, um sich gegen den heimtückischen Angreifer zur Wehr zu setzen, sauste ein harter Gegenstand auf seinen Schädel. Benommen rutschte er am Türrahmen herab.

Der Fürst konnte nichts dagegen tun, als ihn starke Hände packten, ihn in den Fond des brennenden Wagens schoben und die Tür hinter ihm schlossen.

Grigorij sah unter Aufbietung seiner letzten Kräfte zum Fenster, wo er ein vermummtes Gesicht erblickte und ein Finger ein dickes V mit Blut auf die Scheibe malte: Victory. Seine Feinde sahen sich bereits als Sieger. Dann wurde der Rauch zu dicht, das Zeichen verschwand.

Die Flammen schlugen hoch, leckten am Wagendach entlang und schienen sich nach hinten in den Fond zu biegen, um ihn zu erreichen. Grigorijs Lungen füllten sich mit Qualm, er musste husten. Orientierungslos tastete er um sich.

23. Dezember 1926, Bilston (ca. fünf Meilen südlich

von Neu-Edinburgh), Provinz Schottland,

Königreich Großbritannien

»Um zu verhindern, dass ein Flugdrache sich Ihnen aus dem Schutz der gleißenden Sonne nähern kann«, Silena hob den Helm, damit alle die Vorrichtung an der rechten Seite sahen, »klappen Sie das gefärbte Glas vor die Brille. Damit können Sie für einige Sekunden ungeblendet in die Sonne schauen und mögliche Bestien erkennen. Das gilt selbstverständlich ebenso für Maschinen. Wie Sie feindliche Jagdflieger mit den Maschinengewehren abschießen, wissen Sie.«

Ihre Blicke schweiften über die fünf Männer und vier Frauen im Saal, die vor ihr in dunkelblauen Uniformen ohne Rangabzeichen saßen und sich Notizen machten. Die nächste Generation der Skyguards erhielt von ihr persönlich die weiterführende Ausbildung zum erstklassigen Kampfpiloten.

Derzeit verfügte die Einheit über nur mehr elf Flieger-Asse. Sieben hatten sie bei Einsätzen gegen die Bestien verloren, wodurch die Schulung des Nachwuchses umso wichtiger wurde. Was Silena bislang bei den Flugmanövern gesehen hatte, stimmte sie überwiegend hoffnungsvoll. Mindestens die Hälfte der Rekruten taugt für den Kampf gegen die Drachen.

Der Saal war einer von mehreren Unterrichtsräumen, die in dem Gebäude ebenso zu finden waren wie Schlafsäle, eine Bibliothek, Arbeitszimmer, Mensa und eine Sporthalle. Es hatte sie und Grigorij eine Menge Geld gekostet, das alles aus dem Boden zu stampfen.

Silena sah hinaus, wo die Hangars und das Rollfeld durch den nachlassenden Schnee zu erkennen waren. Darin standen die Zeppeline, Simulatoren und Flugzeuge ihrer Drachenjäger-Einheit. In einem brannte Licht. Litzow und seine Ingenieure waren unermüdlich bei der Arbeit und tüftelten an Verbesserungen der Jagdmaschinen.

»Gibt es dazu noch Fragen?« Sie richtete die Augen auf die schwarzhaarige Rekrutin vor sich. Angèlique, so hieß sie, war mit dreiundzwanzig Jahren die Älteste von ihnen. Die zielstrebige Französin drängte darauf, die schwarzrote Uniform der Skyguards zu tragen, die dem Schnitt der Royal Scots Greys angelehnt war. Dazu wird sie noch viel üben müssen. Silena nahm die schwere Silbermünze aus der Tasche und ließ sie mit geschickten Bewegungen über die Fingerknöchel der rechten Hand wandern. Diese Münze war ein Geschenk ihres ermordeten Bruders Demetrius, das sie hütete, als säße seine Seele darin.

»Verzeihung, mir will nicht in den Kopf, dass uns andere Flieger während eines Einsatzes abschießen wollen«, vernahm sie die Stimme der blonden Ivana. Die junge Frau bekam zustimmendes Gemurmel.

»Glauben Sie mir: Sie wollen nicht nur, sie tun es auch. Vier unserer Verluste gehen auf Abschüsse zurück, nicht auf Dracheneinwirkung.« Silena blickte sie an. »Ivana, die Skyguards sind eine Drachenjäger-Einheit, die nicht den Segen des Officium Draconis besitzt – und was habe ich Ihnen dazu beigebracht?«

»Dass wir nach deren Verständnis gegen das Gesetz verstoßen«, kam es von ihr.

Silena deutete mit der Münze auf einen jungen Mann mit abstehenden Ohren, der die braunen Haare mit Brillantine unvorteilhaft nach hinten gelegt hatte. »Rupert?«

Er sprang auf, salutierte und legte die Hände an die Hosennaht. »Gemäß Paragraf eins a, Absatz vier des Europäischen Gesetzes zur Allgemeinen Abwehr von Drachentieren hat das Officium Draconis das alleinige Anrecht auf das gezielte Verfolgen und Töten von Drachen jeglicher Art«, ratterte er herab. »Es darf seinen Anspruch mit Gewalt gegen jeden durchsetzen, der sie vor Ort behindert. Somit ist es wahrscheinlich«, er sah zu Ivana, »dass man bei einem Einsatz an das Officium gerät.« Rupert setzte sich langsam und lächelte stolz.

Er wird ein hervorragender Geräteverwalter werden. Silena hob den Zeigefinger. »Danke, Rupert. Sie haben glänzend referiert. Auch wenn wir am Himmel die Einzigen sind, die Flugdrachen in ihrem natürlichen Element bekämpfen, heißt es nicht, dass das Officium uns keine Söldner auf den Hals hetzen kann, um die Eigeninteressen zu wahren. Achten Sie auf alles, wenn Sie in der Luft sind, Ivana! Sie können nicht anhalten und sich umschauen. All Ihre Sinne müssen aufmerksam sein. Und letztlich geht es dem Officium neben dem Stolz auch ums Geld. Sie wissen, wie viel man mit einem Drachenkadaver verdienen kann.«

Ivana nickte und sah dabei sehr nachdenklich aus.

Für Silena gehörte es dazu, dass die Rekruten jeden Aspekt und jede Gefahr ihrer Berufung kannten. Verharmlosung brachte nur den Tod. »Dann würde ich sagen, dass es für heute ausreichen soll«, schloss sie den theoretischen Unterricht. Sie zeigte hinter sich auf die Tafel, an der sie Zeichnungen zum Zielen mit den Sprenglanzen im Flug angefertigt hatte. »Haben das alle in die Hefte übertragen?« Sie erhielt Kopfnicken zur Antwort. »Fein. Bis zum Abendessen sind es noch gute zwei Stunden. Aufgrund des schlechten Wetters müssen wir das Schießen aus der Simulatorkanzel auf morgen verschieben. Ich schlage vor, dass die Gruppe in die Turnhalle marschiert und der Leibesertüchtigung nachgeht. Rupert lässt sich ein paar Übungen einfallen.« Sie verstaute die Münze, grüßte und ging zur Tür. Die Rekruten sprangen auf, salutierten.

Silena verließ den Saal, eilte den Gang hinab und die Treppe hinunter in den Bunker, wo die Mannschaftsquartiere und ihre Privaträume getrennt voneinander lagen.

Sie betrat ihr Reich, das in einer Mischung aus russischer Opulenz, einer gehörigen Portion Art déco und ein wenig Bauhaus-Stil eingerichtet war. Erstaunlicherweise ergänzten sich die einzelnen Elemente recht gut und verbanden sich zu etwas Neuem. Grigorij nannte es adin-dwa-tri, was Russisch war und so viel wie einszwei-drei bedeutete. Silena mochte ihre Wohnung gerade wegen des Ungewöhnlichen.

Im Wohnzimmer stand bereits eine Teekanne auf dem Stövchen, dazu gab es selbst gebackene Scones, Clotted Cream und Bitterorangenmarmelade.

Darauf habe ich mich schon seit einer Stunde gefreut. Sie zog die Stiefel aus, setzte sich in den Sessel und legte die Füße auf den Schemel, während sie sich Tee eingoss.

In der Scheibe des Bilderrahmens ihr gegenüber spiegelte sich ihr Gesicht. Silena fand es nach wie vor ungewohnt, sich mit langen, dunklen Haaren anstatt mit dem gewohnten Pagenschnitt zu sehen. Ihre Züge waren reifer geworden. Grigorij nannte es attraktiver, weiblicher und weniger mädchenhaft, sie fand es einfach nur älter. Die Verantwortung schlägt mir Falten.

Sie drehte den Kopf ein wenig, um die Augenpartie besser betrachten zu können – und durch ihren Nacken zuckte ein stechender Schmerz. Die Finger ihrer rechten Hand zitterten, beinahe hätte sie die Kanne fallen lassen. Obwohl sie den Schmerz zur Genüge kannte, überrumpelte er sie immer wieder aufs Neue.

Schon wieder! Silena fuhr mit der linken Hand über den Hals zum Genick und ertastete die unscheinbare Narbe, die sie seit ihrer schweren Verwundung am Triglav trug. Der Preis, den sie für ihr Leben zu entrichten hatte, waren die gelegentlichen Qualattacken und das Zittern der Hand. Im Zimmer war es nicht weiter schlimm, im Gefecht aber könnte es tödliche Folgen haben.

Am Tee nippend, entsann sie sich an den Tag, an dem sie gegen Gorynytsch und seine Drachenbrut gekämpft hatte.

Unterstützt von Gargyoles und deren Anführer Cyrano, von Truppen des Zaren, vom Officium Draconis und sogar von Drachen, die sie normalerweise abschlachtete, hatte sie einen Sieg errungen und verhindert, dass das magische Artefakt, der Weltenstein, in Gorynytschs Drachenklauen und die seiner Verbündeten geraten war.

Silena sah Arsènie Sàtra vor sich, das französische Medium, das sich zur Helferin des russischen Drachen gemacht hatte, um selbst an den Weltenstein zu gelangen. Auch sie war tot, verbrannt am Triglav.

Gestorben wie ich. Silena hatte die Gelegenheit genutzt und sich für tot erklären lassen. Grigorij war zu ihren Vorgesetzten gegangen und hatte von ihrem Tod berichtet sowie die notwendigen Beweise erbracht. Als Tote gehörte sie nicht länger dem Officium Draconis an, für das sie als letzte Nachfahrin des heiligen Georg die Geschuppten in der Luft gejagt hatte. Ihre Akte war damit für alle geschlossen. Die gelegentlich aufkommenden Zweifel, mit dieser List auch wirklich durchgekommen zu sein, verdrängte sie beharrlich.

Heimlich war sie im Zug mit ihrem Mann nach England aufgebrochen und als Anastasia Zadornova im Königreich Großbritannien angekommen, wo sie ihre eigene Drachenjäger-Einheit ins Leben gerufen hatte: die Skyguards.

Silena konnte trotz des Risikos, erkannt zu werden, schwere Verletzungen oder gar den Tod zu erleiden, nicht ohne das Fliegen und Jagen leben. Finanziert wurde ihr Vorhaben zum einen mit dem Erlös aus dem Verkauf der Drachenstücke, zum anderen mit dem Gewinn, den Grigorijs Transportunternehmen machte. Seine Zeppeline beförderten Fracht und Passagiere in der Alten Welt sowie über den Atlantik in die Vereinigten Staaten.

Ein gutes Leben. Silena bewegte den Kopf und sah auf den Stapel Briefe, den die Einheit erhalten hatte. Auch wenn sie einen eigenen Verwalter eingestellt hatte, sichtete sie jegliche Korrespondenz zuvor selbst. Was haben wir denn alles?

Sie öffnete und überflog die Schreiben, während sie von einem der Scones abbiss und Tee trank: Bewerbungen von Neulingen und einstigen Kampfpiloten des Weltkriegs, Deserteure aus den unterschiedlichsten Armeen Europas, die um eine Anstellung baten, und ein Brief mit dem Siegel von … »Großmeister Brieuc?«

Silena hörte vor Überraschung auf zu kauen. Ihre Vergangenheit beim Officium Draconis meldete sich einen Tag vor Heiligabend. Das klang gar nicht gut. Was kann er von mir wollen?

Sie riss den Umschlag auf.

Hochverehrte Mistress Anastasia Zadornova,

Wäre ich ein Heuchler, müsste ich schreiben: Sieht man Sie auf den wenigen Bildern, die es von Ihnen gibt, könnte man wirklich dem Irrtum erliegen, dass Sie die Zwillingsschwester einer viel zu früh verstorbenen Großmeisterin seien. Silena war ihr Name, die letzte Nachfahrin des heiligen Georg.

Ich bin jedoch weit entfernt von dem, was man einen Heuchler nennt.

Und ich denke, wie übrigens alle im Officium Draconis, dass Sie es sind, Großmeisterin, die meinen Brief in Händen hält.

Silena wurde schlecht. Ihre Selbsttäuschung fand ein jähes Ende.

Sie spürte, dass die Scones ihr aufstießen und der letzte Schluck Tee gefährlich weit nach oben stieg. Grigorij hat mich oft genug gewarnt. Wäre es nach ihrem Gemahl gegangen, hätte sie die Einheit aus dem Hintergrund geleitet. Aber ich musste ja unbedingt fliegen!

Schnell las sie weiter.

Warum Sie damals unter Vortäuschung Ihres Todes gingen, kann ich mir denken: Die Auseinandersetzung mit Erzbischof Kattla über Ihre Zukunft und seine Erwartungen an Sie müssen daran schuld sein. Hierüber erlaube ich mir kein Urteil.

Der Grund, weswegen ich Ihnen schreibe, ist ein Appell, eine Bitte, ein Flehen – nennen Sie es, wie Sie möchten.

Lassen Sie mich jedoch zunächst unsere Lage erklären.

Der Glanz des Officium Draconis hat schwer nachgelassen, die Zeit der Heiligen scheint vorbei.

Es ist Ironie, dass die Unbefleckten am Triglav ins Gefecht zogen und starben, während die Aufrührer, Bonvivants und aufgeblasenen Angeber überlebt haben: Großmeister Ademar, der offen mit Drachenjägern zusammenarbeitet; Donatus sucht sich seine Bilder und Statuen noch immer aus Drachenhorten; und ich, dem man vorwirft, einen Landstrich in Valencia entvölkert zu haben, weil ich einen verwundeten Drachen entkommen ließ, der sich grausam an den Menschen rächte.

Uns schützt vor dem Ausschluss, dass das Officium über keine Alternative zu uns verfügt. Unsere Kinder sind noch nicht so weit.

Weitaus schwerer wiegt der Umstand, dass ein geheimer Kampf hinter den Kulissen entbrannt ist, und zwar zwischen Erzbischof Kattla und Prior Prokop über den Kurs des Officiums. Diese Lagerbildung schadet der Organisation und birgt Gefahren für Leib und Leben der Drachenheiligen. Ohne die Gargoyles aus der Zucht desOfficiums wäre mancher Drache, gegen den ich zog, nicht zu besiegen gewesen.

Doch: Wir haben eine große Anzahl kriechender und laufender Drachenbrut erlegt!

In vielen Gegenden Europas sind sie nahezu ausgerottet, wie Sie gewiss im fernen Neu-Edinburgh vernommen haben. Für unsere Verdienste gab es bereits mehrere Auszeichnungen verschiedenster Königshäuser. Und des Papstes.

Es ist inzwischen schon so weit, dass es unter uns Drachenheiligen beinahe zu Wettläufen kommt, sobald ein Drache gesichtet wird. Auch die Konkurrenz mit den Drachenjägern hat an Heftigkeit zugenommen.

Aber ein echtes Mittel gegen die fliegenden Teufel fehlt uns – seitdem Sie gegangen sind, Großmeisterin. Einige Einheiten haben wir bereits durch deren Attacken verloren.

Also bitte ich Sie ohne das Wissen des Erzbischofs und des Priors, doch im Namen aller Drachenheiligen: Kehren Sie zurück!

Wir brauchen Sie und Ihre begnadete Kunst! Verhindern Sie, dass weitere tapfere Recken sterben, und schließen Sie unsere Reihen, auf dass wir die Drachen ausrotten!

Nur mit Ihrer Hilfe vermögen wir dies.

Wir finden eine Lösung für Ihre Wiederaufnahme.

Silena senkte das Schreiben. Sie zitterte vor Aufregung, ihr war kalt. Was soll ich tun?

Tausend Gedanken gingen ihr gleichzeitig durch den Kopf, warnten sie vor einer List, rieten ihr von einer Antwort ab, verlangten gleichzeitig, die einstigen Kampfgefährten nicht im Stich zu lassen. Die vielen Jahre beim Officium und ihre elterliche Erziehung hatten den Korpsgedanken und den Zusammenhalt geprägt. Hätte Erzbischof Kattla einen solchen Brief an sie gesandt, sie hätte ihn nicht einmal angefasst. Es konnte natürlich sein, dass Brieuc ihn im Auftrag von Kattla verfasst hatte …

Ich kann das nicht alleine entscheiden. Sie legte den Brief oben auf den Stapel mit wichtiger Korrespondenz, um ihn Grigorij sofort nach seiner Rückkehr zu zeigen.

Es klopfte an der Tür, wild und hektisch.

»Herein.« Silena hörte ihre eigene Stimme und fand, dass sie gereizt klang. Wie so oft in den letzten Wochen.

Ivana streckte den Kopf herein. »Madam, kommen Sie! Der Fürst, er … es ist … ein Überfall in der Stadt auf offener Straße …«

Nein! Silena sprang auf. »Wer? Was haben sie ihm angetan?«

Die Rekrutin sah verstört aus. »Ich weiß es nicht.« Sie senkte den Blick.

In Silena krampfte sich alles zusammen. Silena hetzte los, stieß Ivana grob zur Seite, die daraufhin gegen die Wand prallte und einen Schmerzenslaut von sich gab.

Es kümmerte Silena nicht.

II.

23. Dezember 1926, Freie Hansestadt

Hamburg, Deutsches Kaiserreich

Nie-Lung hielt die Augen fest geschlossen und stellte sich in seinem Käfig schlafend, wie er es Wu Li angekündigt hatte.

Er wollte nichts sehen. Schlimm genug zu wissen, dass sie da sind. Er roch die vielen Menschen um sich herum mit allem, was sie hereinschleppten. Und es waren keine Gerüche, die er als angenehm empfand: feuchte Kleidung, fürchterliche Duftwässer, Schweiß in schrecklichen Varianten, klebrige Süßigkeiten und Frittiertes, Schnupftabak und Zigarettenqualm … Seiner empfindlichen Nase entging keine peinigende Nuance. Dazu gesellten sich das unentwegte Getrappel der Schuhsohlen, die penetranten Stimmen, die schreckliche polternde Sprache. Auch das schrille Gelächter der kleinen Kinder und deren erstaunte Rufe verlangten ihm enorm viel Selbstbeherrschung ab.

Am liebsten hätte er die Gitter beiseitegestoßen und wäre über sie hergefallen: mit Hieben davongeschleudert, mit Schwanzschlägen zerschmettert, mit Tritten zermalmt und an seinen Klauen aufgespießt, damit er sie zappeln lassen konnte. Oh, wie gern hätte er das getan!

Bleib ruhig, sagte er zu sich selbst und schnaubte – was zur Folge hatte, dass wieder irgendwelche Kinder vor Schreck und Vergnügen aufkreischten.

Dann spürte er den sanften Einschlag eines weichen Gegenstandes über seinem linken Auge. Erneut hatte es jemand unter Ignorieren der Warnschilder gewagt, ihn zu bewerfen. Nie-Lung harrte aus und hoffte, dass einer der chinesischen Aufpasser einschritt.

»Nein, Ernst August! Lass das!«, vernahm er die strenge Stimme einer Frau. Er inhalierte ungewollt ihren Veilchenduft, der zusammen mit ihrem Atem zu ihm wehte.

In so etwas würde er nicht einmal beißen können. Der Geruch des Drachenfreundes haftete noch immer an seinen Nägeln. Menschen waren nicht nur widerlich, sie schmeckten auch noch ekelhaft. Wie gut, dass ich ihn nicht gefressen habe. Wer weiß, wo er sich überall herumgetrieben hat. Außerdem wird ihr Fleisch überschätzt.

»Aber Mama, das Drachenviech soll mal was machen«, verteidigte sich der Junge weinerlich, der gerade eben eine gebackene Banane mit Honig gegessen haben musste.

»Es hat geschnaubt. Reicht dir das nicht?«

Es sollte ihm reichen, wenn er sein Leben liebt, denn wenn ich mich bewege, ist die Wanze tot, dachte Nie-Lung. Wo sind die Aufpasser?

»Das kann auch … eine Attrappe sein, liebe Mama«, sagte Ernst August besserwisserisch. »Und sie haben ihr einen Blasebalg eingebaut, damit es echt aussieht.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte sie. »Asiatische Drachen sind eben fauler.«

Nie-Lung bewunderte sich für seine Gelassenheit. Wir besitzen die Weisheit des Ostens, schäbige, dumme Menschenfrau. Er züngelte herablassend.

»Riechst du denn nicht, wie er stinkt, Mama? Das Viech ist bestimmt schon tot und verwest hier.«

Ich stinke nicht! Nie-Lung hob das Lid und heftete den Blick auf Ernst August: ein dickliches Kind mit einem Topfhaarschnitt, auf dem eine Mütze saß, umgeben von einem marineblauen Mantel und mit schwarzen Schuhen an den Füßen. In seinem rechten Mundwinkel hing noch etwas Honig. Hinfort, fetter Plagegeist!, wisperte er in die Gedanken des Jungen. Oder ich komme und reiße dir deinen Darm raus, um dich damit zu erwürgen!

Ernst August machte einen Schritt nach hinten. »Der Drache hat etwas Böses zu mir gesagt!«

Die Frau mit dem einfachen schwarzweißen Kleid und dem alten Mantel darüber lachte und tätschelte seine Wange. »Nee, nee, der Lütt«, sagte sie. »Was du dir wieder für Sachen ausdenkst.«

Der Junge streifte ihre Hand zur Seite. Er langte in die Tasche und nahm eine Murmel hervor. Es war unstrittig, was er im Sinn hatte.

HINFORT, FETTE, HÄSSLICHE WURST! BIST DU NICHT AUGENBLICKLICH VERSCHWUNDEN, LASSE ICH DICH DEINEN EIGENEN MAGEN FRESSEN UND DEN DEINER MUTTERDAZU!, donnerte Nie-Lung. Seine Worte würden im Kopf des Jungen dröhnen, als wären sie der Schwengel in einer Glocke, während niemand sonst im Zelt diese Botschaft erhielt.