Dracula - Bram Stoker - E-Book + Hörbuch

Dracula Hörbuch

Bram Stoker

3,0

Beschreibung

Der Urvater aller Blutsaugerromane machte bei seinem Erscheinen, 1897, Furore. "Keine Lektüre für Schwachnervige" kündigte die Werbung für die deutsche Übersetzung an, und das ist nicht übertrieben. Das schaurige Geschehen entrollt sich wie ein Tatsachenbericht Stück für Stück in Tagebuchaufzeichnungen, Gesprächsnotizen, Briefen, Telegrammen und Zeitungsartikeln, und ganz allmählich erst kommt der Leser dahinter, welch fürchterliche Bedrohung sich hinter den rätselhaften Ereignissen verbirgt, deren Zeuge die Protagonisten werden. Nicht wenige der Beteiligten lassen dabei ihr Blut. – Mit einer kompakten Biographie des Autors.

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,0 (1 Bewertung)
0
0
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bram Stoker

Dracula

Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich BossierNachwort von Elmar Schenkel

Reclam

2012, 2022 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Coverabbildung: © shutterstock.com / Channarong Pherngjanda (Fledermaus); © shutterstock.com / Golden Shrimp (Hand)

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961699-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020352-1

www.reclam.de

Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Anhang

Anmerkungen

Nachwort

Zeittafel

Meinem lieben Freund Hommy-Beg

Wie diese Blätter entstanden und warum sie gerade so angeordnet sind, ergibt sich aus der Lektüre. Alles nicht zur Sache Gehörige wurde getilgt. Das Geschehen erscheint in treustmöglicher Wiedergabe, denn sie fußt auf den Berichten Beteiligter. Die üblichen Veränderungen und Verzerrungen, welche eine größere zeitliche Distanz zum Erlebten mit sich bringt, dürften sich so in engen Grenzen halten. Es handelt sich durchweg nicht um ein Erinnern an weit zurückliegende Dinge, das sich ja sehr leicht irrt. Alle Personen, die hier zu Worte kommen, haben ihre Aufzeichnungen unter dem noch frischen Eindruck der Ereignisse gefertigt – aus ihrer damaligen Sichtweise und ihrem damaligen Wissensstand heraus.

Erstes Kapitel

Jonathan Harkers Tagebuch

Stenogramm

3. Mai. Bistritz. – Abfahrt München 1. Mai, 8.35 abends. Ankunft Wien in den frühen Morgenstunden. Planmäßige Ankunft 6.46, hatten aber eine Stunde Verspätung. Budapest scheint eine herrliche Stadt zu sein; das wenige, das ich aus dem Zugfenster und dann auf einem kurzen Spaziergang sah, sprach jedenfalls dafür. Ich mochte mich nicht gar zu weit vom Bahnhof entfernen; wir waren spät eingetroffen und wollten so pünktlich wie möglich weiterfahren. Einen Eindruck immerhin gewann ich: Wir verließen den Westen und kamen in den Osten. Über die westlichste der prächtigen Brücken, welche die hier geradezu majestätisch breite und tiefe Donau queren, gelangten wir in Gebiete, die erkennen ließen, dass sie einmal unter türkischer Herrschaft standen.

Wir fuhren einigermaßen pünktlich los und erreichten nach Einbruch der Nacht Klausenburg. Ich nahm Quartier im Hotel Royal. Zum Diner oder vielmehr Souper servierte man mir ein Huhn in besonderer Zubereitung, gewürzt mit rotem Pfeffer. Es schmeckte großartig, machte aber gewaltigen Durst. (NB: Rezept für Mina besorgen.) Ich fragte den Kellner, und er sagte, man nenne es Paprikahendl; es sei ein Nationalgericht und in den Karpaten außerordentlich verbreitet. Meine paar Brocken Deutsch kamen mir jetzt sehr zustatten; ohne sie hätte ich wohl ziemlich hilflos dagestanden.

In London hatte ich vor meiner Abreise noch etwas Zeit zur Verfügung gehabt, die ich nutzte, um mich ein wenig kundig zu machen über Transsilvanien. Ich besuchte das Britische Museum und studierte Bücher und Karten. Schließlich müsste ich bald mit einem Edelmann jenes Landes verkehren, und da konnte, so dachte ich bei mir, eine gewisse Kenntnis der Landeseigenheiten nicht schaden. Der Distrikt, den er mir genannt hatte, lag nun im äußersten Osten des Landes: dort, wo sich die Grenzen dreier Provinzen – Transsilvanien, Moldau und Bukowina – treffen, mitten in den Karpaten; also in einer der wildesten und am wenigsten bekannten Bergregionen Europas. Leider hatten die vorliegenden Materialien nicht die Exaktheit unserer Generalstabskarten; kein Wunder also, dass man aus ihnen nicht ersehen konnte, wo Schloss Dracula genau liegt. Immerhin aber erfuhr ich, dass Bistritz, wohin Graf Dracula sich seine Post senden lässt, ein ziemlich bekannter Ort ist. Ich füge hier ein paar meiner Notizen ein; dann habe ich eine Erinnerungsstütze, wenn ich Mina von meinen Reisen erzähle.

In Transsilvanien leben vier verschiedene Völkerschaften: die Sachsen im Süden und, sich teilweise mit ihnen vermischend, die Walachen, Nachkommen der Daker; die Magyaren im Westen; schließlich die Szekler im Osten und Norden. Mein Weg nun führt mich zu den Letztgenannten. Die Szekler behaupten, sie stammten von Attila und seinen Hunnen ab; dies könnte stimmen, denn als die Magyaren im 11. Jahrhundert das Land eroberten, fanden sie dort die Hunnen vor. Ich las ferner, dass in den Karpaten und den Gebieten, die sie hufeisenförmig umschließen, aller Aberglaube der Welt geballt sei, als befände sich dort das Zentrum eines Wirbelstroms der Phantasterei. Sollte dem so sein, verspricht dies ein interessanter Aufenthalt zu werden. (NB: Unbedingt den Grafen hierzu befragen.)

Ich schlief nicht gut, obwohl mein Bett recht bequem war, denn mich plagten alle möglichen verworrenen Träume. Vielleicht lag das an dem Hund, der die ganze Nacht unter meinem Fenster heulte, oder am Paprika; ich hatte eine Karaffe Wasser komplett ausgetrunken und war immer noch durstig. Gegen Morgen nickte ich schließlich ein und erwachte erst durch ein ununterbrochenes Pochen an meiner Tür, also muss ich wohl um diese Zeit tief und fest geschlafen haben. Zum Frühstück bekam ich wieder Paprika, außerdem servierte man mir erstens einen festen Brei aus Maisgrieß, den sie mamaliga nennen und der in der Konsistenz unserem Porridge ähnelt; zweitens ein paar patlagele umplute, das sind mit Hackfleisch gefüllte Auberginen, die ebenfalls trefflich mundeten. (NB: Auch hierfür Rezept besorgen.) Leider blieb mir nicht viel Muße zum Essen, denn mein Zug ging kurz vor acht. Oder, richtiger gesagt: hätte gehen sollen. Nachdem ich nämlich zum Bahnhof gehastet und dort um halb acht eingetroffen war, musste ich fast eine Stunde im Wagen hocken, bis der Zug endlich losrollte. Mir scheint, je weiter man nach Osten kommt, desto unpünktlicher werden die Züge. Wie mag es da erst in China sein?

Den ganzen Tag zockelten wir durch eine Landschaft von mannigfaltigem Reiz. Ein schöner Anblick folgte nahtlos dem anderen. Bald sahen wir Burgen oder auch ganze Städtchen, die hoch oben auf steilen Bergen lagen, so wie wir es aus den Illustrationen alter Stundenbücher kennen; bald fuhren wir an Bächen und Flüssen entlang, die, den breiten Geröllstreifen nach zu schließen, welche sie beidseitig säumen, wohl oft über ihre Ufer treten. Ein Fluss bedarf schon einer Menge Wassers und einer starken Strömung obendrein, um ein so sauberes und makelloses Kiesgestade hinzubekommen. An jeder Station warteten Einheimische, hier in kleineren Gruppen, dort in regelrechten Schwärmen. Ihre Trachten zeigten ein vielfältiges Bild. Einige der Passagiere, Landvolk zumeist, glichen ganz den Bauern, wie ich sie von zu Hause oder von meinen Reisen durch Frankreich und Deutschland kenne: kurze Jacken, runde Hüte und selbstgeschneiderte Hosen. Andere freilich kamen höchst pittoresk daher. Die Frauen waren hübsch – solange man sie nicht aus der Nähe betrachtete; dann bemerkte man ihre unförmigen Hüften. Ihre Kleider hatten verschiedenartige, lange weiße Ärmel und meistens breite Gürtel, an denen jede Menge Streifen, keine Ahnung aus welchem Stoff, beständig hochflatterten wie das Tutu einer Balletteuse; anders als diese trugen sie aber natürlich Unterröcke. Das fremdartigste Erscheinungsbild boten die Slowaken; sie wirkten noch barbarischer als die anderen: riesige Hirtenhüte, schlottrige schmutzig weiße Pluderhosen, weiße Leinenhemden und ungeheure, schwere Ledergürtel, fast einen Fuß breit und reichlich mit Messingnieten bestückt. Sie trugen hohe Stiefel, in denen ihre Hosenbeine steckten, und hatten lange schwarze Haare und mächtige schwarze Schnauzbärte. Pittoresk wirken sie zweifelsohne, aber nicht eben vertrauenerweckend. Auf unseren Bühnen wären sie die ideale Besetzung für eine altorientalische Räuberbande. In Wahrheit jedoch, sagte man mir, habe man von ihnen nichts zu befürchten; ihr natürliches Selbstbehauptungsvermögen sei sogar eher unterentwickelt.

Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten, als wir Bistritz erreichten, eine sehr interessante alte Stadt. Sie liegt praktisch genau auf der Grenze – dicht hinter ihr beginnt der Borgópass, der in die Bukowina hinüberführt – und hat eine entsprechend stürmische Geschichte, von der sie bis heute unverkennbare Spuren trägt. Vor fünfzig Jahren hatten gewaltige Brände dort gewütet; fünfmal kurz hintereinander waren große Teile des Orts in Schutt und Asche gefallen. Gleich zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde Bistritz drei Wochen lang belagert und verlor dabei 13000 Bewohner; außer den Kämpfen forderten damals auch noch Hunger und Seuchen ihren Tribut.

Graf Dracula hatte mir das Hotel Zur Goldenen Krone empfohlen. Es entpuppte sich als ein Haus ganz nach altem Stil, was mich sehr freute, denn ich wollte natürlich so viele Einblicke wie irgend möglich in Sitten, Gebräuche und Lebensart der Menschen dort gewinnen. Ich wurde offensichtlich erwartet, denn kaum war ich eingetreten, kam mir schon eine freundlich dreinblickende ältere Frau entgegen. Sie trug landestypische Bauerntracht: weißes Unterkleid, darüber eine bunte Schürze, und zwar eine doppelte, also eine, die Vorder- und Rückseite des Körpers bedeckt; das Gewand saß freilich so knapp, dass man es fast als unschicklich empfinden mochte. Ich trat näher; sie verbeugte sich und fragte: »Der Herr Engländer?« »Jawohl«, antwortete ich, »Jonathan Harker mein Name.« Sie lächelte und gab einem ältlichen Mann, der ihr zur Tür gefolgt war, eine Anweisung. Er verschwand, kehrte aber gleich zurück, und zwar mit diesem Brief:

Lieber Freund,

willkommen in den Karpaten. Ich erwarte Sie voller Ungeduld. Heute erst einmal gute Nachtruhe! Übermorgen früh um drei geht die Postkutsche in die Bukowina. Ein Platz ist für Sie reserviert. Am Borgópass erwartet Sie mein Wagen und bringt Sie zu mir. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise von London hierher, und wünsche Ihnen wunderschöne Tage in meinem herrlichen Land.

Ihr Freund

Dracula

4. Mai. – Der Wirt hatte, wie ich erfuhr, selbst einen Brief des Grafen erhalten, in dem ihn dieser beauftragte, mir den besten Platz in der Kutsche zu sichern. Als ich mich aber nach näheren Einzelheiten erkundigte, schien seine Auskunftsfreudigkeit doch sehr gedämpft. Plötzlich verstand er mein Deutsch nicht mehr – behauptete er wenigstens. Bestimmt eine Ausrede, denn bisher hatte er es perfekt verstanden; jedenfalls ließen seine stets exakten Antworten darauf schließen. Er und seine Frau – die Dame, die mich empfangen hatte – tauschten verängstigte Blicke. Er habe zwei Briefe bekommen, brachte er gerade noch murmelnd hervor, einen mit der Bitte um besagte Reservierung, einen mit dem nötigen Geldbetrag; mehr könne er nicht sagen. Als ich ihn fragte, ob er Graf Dracula kenne und ob er mir etwas über sein Schloss berichten könne, bekreuzigten sich die beiden nur, beteuerten, sie wüssten überhaupt nichts, und erklärten das Thema für beendet. Leider blieb mir nur wenig Zeit bis zu meiner Abfahrt; ich hätte sonst gern weitergeforscht und noch andere Leute befragt. Denn das alles war sehr mysteriös und ganz und gar nicht geeignet, mein Wohlbefinden zu befördern.

Kurz bevor ich das Gasthaus verließ, kam die alte Dame zu mir hoch aufs Zimmer und sprach in hysterischem Ton: »Müssen Sie dorthin? Ach, junger Herr, müssen Sie dorthin?«

Sie war in solcher Aufregung, dass ihr das wenige Deutsch, welches sie beherrschte, mehr und mehr zu entschwinden schien; sie vermischte es mit einer Sprache, von der ich kein Wort verstand. Was sie meinte, konnte ich nur herausfinden, indem ich viele Fragen stellte. Als ich ihr schließlich mitteilte, ja, ich müsse dorthin, und zwar möglichst rasch, es gehe um wichtige Geschäfte, schob sie eine neue Frage nach: »Wissen Sie eigentlich, welchen Tag wir heute haben?«

Ich antwortete, ja, den 4. Mai. Sie schüttelte den Kopf und redete weiter: »Ja, ja, schon, schon; aber wissen Sie denn auch, was für ein Tag das ist?«

Als ich versetzte, ich begriffe nicht, worauf sie hinauswolle, fuhr sie fort: »Es ist Sankt-Georgs-Nacht. Wissen Sie das nicht? Wenn heute Abend die Uhr Mitternacht schlägt, hat alles Böse in der Welt freien Lauf. Wissen Sie, wo Sie hingehen und was Sie dort erwartet?« Sie war sichtlich über alle Maßen verstört, und ich versuchte sie zu trösten, leider ohne Erfolg. Schließlich warf sie sich auf die Knie und beschwor mich, nicht hinzugehen oder meine Abfahrt wenigstens um ein, zwei Tage zu verschieben. Das Ganze erschien mir höchst lächerlich, dennoch beschlich mich ein Unbehagen. Andererseits hatte ich meinen Geschäften nachzukommen, und nichts durfte mich davon abhalten. Ich versuchte sie emporzuziehen und sprach zu ihr im ernstesten Ton, den ich zuwege brachte: Zwar wisse ich ihre Sorge um mich zu schätzen, aber gehen müsse ich, die Pflicht gebiete es. Da erhob sie sich endlich und trocknete ihre Tränen. Dann löste sie einen Rosenkranz mit Kruzifix von ihrem Hals und reichte ihn mir. Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte; uns Anglikanern wird ja gelehrt, dass solche Dinge in gewisser Weise Götzendienst sind. Andererseits mochte ich mich einer alten Dame gegenüber auch nicht undankbar verhalten, die es offenkundig gut mit mir meinte und sich obendrein in einem solchen Gemütszustand befand; daher zögerte ich, die Gabe einfach zurückzuweisen. Vermutlich las sie mir den Widerstreit vom Gesicht, denn sie legte den Rosenkranz um meinen Hals und sagte: »Um Ihrer Mutter willen.« Dann ging sie aus dem Zimmer. – Ich schreibe diese Seite meines Tagebuchs, während ich auf die Postkutsche warte, die natürlich auch Verspätung hat. Das Kruzifix hängt immer noch um meinen Hals. Ich weiß nicht, liegt es an den Befürchtungen der alten Dame, an den vielfältigen Traditionen des Geisterglaubens hierzulande oder gar am Kruzifix selbst – jedenfalls fühle ich mich längst nicht so unbeschwert wie sonst. Sollte dieses Buch tatsächlich vor mir bei Mina eintreffen, möge es ihr mein Lebewohl überbringen. Da kommt der Wagen!

5. Mai. – Im Schloss. Das Grau des Morgens ist gewichen, und die Sonne steht schon über dem fernen gezackten Horizont. Ob es Bäume oder Berge sind, kann ich nicht erkennen, denn alles ist so weit weg, dass Groß und Klein sich kaum unterscheiden lassen. Ich bin nicht schläfrig, und da Weisung erteilt wurde, mich nicht zu wecken, bevor ich von allein erwache, nutze ich natürlich die Zeit und schreibe, bis der Schlaf mich übermannt. Es gibt so viele merkwürdige Dinge zu berichten, dass, wer diese Zeilen liest, womöglich meint, ich hätte, bevor ich Bistritz verließ, gar zu reichlich gespeist und getrunken. Um dem entgegenzutreten, will ich mein Abschiedsdiner genau beschreiben. Ich aß ein Gericht namens ›Räuberspieß‹ – kleine mit rotem Pfeffer gewürzte Stücke Rindfleisch, Speck und Zwiebeln, auf einen Stab gesteckt und überm Feuer gebraten. Vom Prinzip her ist das die gleiche schlichte Zubereitungsart wie bei dem bekannten Londoner cat’s meat. Der Wein, ein ›Goldener Mediasch‹, verursacht ein eigentümliches, jedoch nicht unangenehmes Brennen auf der Zunge. Von dem habe ich aber nur ein paar Glas konsumiert; und das war es schon.

Als ich mich zur Kutsche begab, hatte der Postillion seinen Sitz noch nicht eingenommen. Ich sah, dass er bei der Wirtin stand und mit ihr sprach. Sie redeten fraglos über mich, denn immer wieder blickten sie zu mir her. Ein paar der Leute, die auf der Bank vor dem Hause saßen – sie hat bei den Einheimischen übrigens einen Namen, der so viel bedeutet wie ›Trägerin des Tratsches‹ –, näherten sich den beiden und lauschten ihnen. Und dann warfen auch sie mir Blicke zu, meist mitleidige. Ich hörte aus dem Gespräch einige Worte heraus, die immer wiederkehrten, Worte, die mir wunderlich klangen, denn in der Versammlung waren mehrere Nationalitäten vertreten. Also zog ich unauffällig das Polyglott-Wörterbuch aus meiner Reisetasche und schlug nach. Ich muss gestehen, es war nicht gerade erbaulich für mich, was ich da las, zum Beispiel ördög ›Satan‹, pokol ›Hölle‹, strigoiaca ›Hexe‹; daneben vlkolak und vukodlak, das eine ist slowakisch, das andere serbisch, und beide bedeuten sie ›Werwolf‹ oder ›Vampir‹. (NB: Unbedingt den Grafen über diesen Aberglauben befragen.)

Als wir losfuhren, vollführte die inzwischen beträchtlich angewachsene Menge vor der Wirtshaustür eine eigenartige Zeremonie. Jeder Einzelne bekreuzigte sich und streckte zwei gespreizte Finger in meine Richtung. Ich hatte einige Mühe herauszubekommen, was diese Geste bedeutete. Der Reisegefährte, den ich danach fragte, wollte zunächst nicht antworten; erst als ich ihm sagte, ich sei Engländer, erklärte er, es handele sich um eine Art Abwehrzauber gegen den bösen Blick. Das war nicht eben erfreulich für jemanden wie mich, der sich gerade auf dem Wege an einen unbekannten Ort zu einem unbekannten Herrn befand. Aber die Leute schienen alle so gutherzig, so besorgt und so voller Mitgefühl, dass ich mich einer gewissen Rührung nicht erwehren konnte. Nie werde ich dieses Bild vergessen, das sich mir da zum Abschied bot: der Wirtshausgarten und die Schar pittoresker Gestalten, die sich um den breiten Torbogen drängten und sich allesamt bekreuzigten, hinter ihnen das dichte Blattwerk von Oleanderbüschen und Orangenbäumen, welche, in grüne Kübel eingepflanzt, die Mitte des Hofes zierten. Endlich bestieg unser Wagenlenker den Kutschbock, der unter seinen weiten leinenen Pumphosen – gatya nennen die Hiesigen solch ein Beinkleid – fast völlig verschwand. Vier kleine Pferde waren vor dem Gefährt nebeneinander festgeschirrt. Der Postillion ließ seine lange Peitsche über sie knallen. Die Rösser zogen an, und unsere Reise ging los.

Kaum waren mir diese heftigen Bekundungen von Gespensterfurcht aus den Augen, gerieten sie mir auch aus dem Sinn. Die Schönheit der Gegend, die wir durchquerten, trug das ihre dazu bei. Hätte ich freilich die Sprache oder besser die Sprachen meiner Reisegenossen verstanden, wäre es mir wohl nicht so leicht gelungen, die unangenehmen Eindrücke zu verjagen. Vor uns lag ein grünes Land mit sanft ansteigenden bewaldeten Hügeln. Hier und da ragte ein steiler Berg, gekrönt von einer Baumgruppe oder von Bauernhäusern, die ihre hellen Giebelseiten der Straße zukehrten. Überall zeigten Apfel, Pflaume, Birne und Kirsche ihren üppigen Flor. Das grüne Gras unter den Bäumen war – ich sah es, als wir vorbeifuhren – über und über mit herabgefallenen Blütenblättern bedeckt. Ein ums andere Mal verschwand die Kutsche in einem Tal, um kurz danach wieder aufzutauchen. »Mittelland« heißt jene Region der grünen Hügel bei den Einheimischen. Zwischen diesen Erhebungen verlief die Straße, wenn auch nicht überall mit ordentlicher Randbefestigung und nicht geradlinig. Hier konnte man sie unter dem starken Grasbewuchs einer Kurve kaum noch erahnen, dort musste sie vor einem jener Kiefernwälder scharf abknicken, die sich stellenweise in spitzen Streifen wie Flammenzungen die Berghänge abwärts ausbreiten. Der Weg war holprig, und doch flogen wir in geradezu fiebriger Eile darüber hin. Der Kutscher schien dringlich darauf erpicht, so rasch wie möglich den Marktflecken Borgó Prund zu erreichen; weshalb, wollte sich mir zunächst noch nicht erschließen. Im Sommer, belehrten mich die anderen Passagiere, sei die Straße ausgezeichnet; die jetzigen Beschwernisse lägen nur daran, dass man die Winterschäden noch nicht beseitigt habe. Nicht allen Straßen, die durch die Karpaten führen, werde übrigens solche Pflege zuteil. Es gebe hierzulande sogar eine alte Tradition, sie nicht zu sehr in Schuss zu halten. Seit jeher fürchteten die Gospodare, dass, wenn sie die Verkehrswege reparieren ließen, die Türken sofort dächten, dies geschehe nur, damit feindliche Truppen darübermarschieren könnten. Und dann würde der im Verborgenen glimmende Funke des Zwistes sehr schnell zur hellen Kriegsflamme auflodern.

Hinter den sanften grünen Hügeln erhoben sich mächtige Berghänge, die sich hinzogen bis zu den hohen Steilfelsen der eigentlichen Karpaten. Rechts und links stieg der Boden wuchtig an; die Nachmittagssonne bestrahlte das herrliche Land mit ihrem vollen Glast und brachte all seine Farben zum Leuchten: Tiefblau und Purpur, wo die Höhen Schatten warfen; Grün und Braun, wo sich Gras und Stein vermischten. Das Auge schweifte schier endlos über schroffe Zacken und spitze Klippen, bis sich auch diese in der Ferne verloren, wo die höchsten Gipfel majestätisch ihre Schneehäupter emporhielten. Hier und da klafften gewaltige Spalten im Gestein, durch die wir im Licht der sinkenden Sonne den weißen Schimmer von Wasserfällen entdeckten. Als wir um einen Hügel bogen, erblickten wir den mächtigen, schneebedeckten Gipfel eines Berges, der die ganze Zeit, während sich der Wagen die Serpentinen hinaufmühte, unmittelbar vor uns lag. Einer meiner Gefährten berührte mich am Arm und wies nach draußen: »Schauen Sie! Istenszéke – der Gottesstuhl!« – und er bekreuzigte sich ehrfürchtig.

Während wir den endlosen Weg emporklommen, sank die Sonne tiefer und tiefer, und die Schatten des Abends begannen ringsum näherzukriechen. Sie traten besonders markant hervor, weil weiter oben noch ein Rest Helligkeit verharrte: der verschneite Berggipfel schien die scheidende Sonne festzuhalten, die in einem kühlen Blassrot verglühte. Da und dort begegneten wir Tschechen und Slowaken, alle in ihrer malerischen Kleidung; mir fiel auf, dass der Kropf hier offenbar ein weitverbreitetes Übel ist. Am Wegesrand standen viele Kruzifixe. Jedes Mal, wenn wir eines in eiliger Fahrt passierten, bekreuzigten sich die anderen Passagiere. Hier und da kniete ein Bauer oder eine Bäuerin vor einem Opferstock; sie drehten sich nicht einmal nach uns um, hatten in ihrer hingebungsvollen Andacht wohl auch weder Auge noch Ohr für anderes. Ich entdeckte eine ganze Reihe Dinge, die ich so noch nicht kannte: etwa Heuhaufen um Bäume herum oder dichte Gruppen wunderschöner Hängebirken, deren weiße Stämme wie Silber durch das Zartgrün der Blätter leuchteten. Immer wieder begegnete uns ein sogenannter Leiterwagen, das landesübliche Bauernfuhrwerk; dessen lange, schlangengleich flexible Achsen sind so konstruiert, dass sie die Unebenheiten der Straße auszugleichen vermögen. Auf diesen Wagen saßen stets ganze Gruppen heimkehrender Bauern – Tschechen mit weißen, Slowaken mit farbigen Lammfellwesten. Letztere hielten ihre Feldhacken – lange Stäbe, an deren Ende ein axtförmiges Blatt steckte – in einer Weise, dass diese wie Lanzen oder Hellebarden aussahen. Als der Abend hereinbrach, wurde es sehr kalt, und das zunehmende Dämmerlicht schien die düsteren Umrisse der Bäume – der Eichen, Buchen und Kiefern – zu einer einzigen dunklen und verschwommenen Masse zu verschmelzen. Nur in den tief eingeschnittenen Tälern, auf die wir herabschauten, während wir näher zum Pass gelangten, zeichneten sich einzelne Tannen noch schwarz und schartig gegen ihren Hintergrund ab, denn der bestand aus altem Schnee. Manchmal arbeitete sich die Straße durch dichte Tannenwälder voran, die in der Dunkelheit über uns zusammenzuschlagen schienen. Hier und da hingen große Massen Dunstgrau in den Bäumen, was auf sonderbare Weise unheimlich und feierlich zugleich wirkte. Das Bild brachte die Gedanken erneut in Wallung, weckte wieder die gruseligen Phantastereien, die am früheren Abend die sinkende Sonne ausgelöst hatte, als sie den geisterhaften Schwaden, die sich schier endlos durch die Karpatentäler winden, seltsam deutliche Konturen verlieh. Oft waren die Hänge so steil, dass die Pferde trotz der Hast unseres Fuhrmanns nur langsam vorankamen. Ich wollte aussteigen und neben dem Gespann hergehen, wie wir es bei uns daheim in solchen Fällen zu tun pflegen, aber der Kutscher war entschieden dagegen. »Nein, nein«, rief er, »Sie dürfen nicht draußen rumlaufen. Die Hunde sind hier zu wild.« Und schob eine Bemerkung nach, die er wohl als grimmigen Scherz verstanden wissen wollte, denn er schaute die übrigen Passagiere an, um sich ihres beifälligen Lächelns zu versichern: »Sie werden heute Nacht vielleicht noch genug Spannendes erleben, bevor Sie sich schlafen legen.« Ohne Pause ging die Fahrt weiter. Nur einmal hielt er kurz, um die Laternen anzuzünden.

Als es ganz dunkel geworden war, schien sich eine gewisse Unruhe bei meinen Reisekameraden zu verbreiten. Einer nach dem anderen sprach wiederholt auf den Kutscher ein; vermutlich wollten sie unbedingt, dass er noch schneller fuhr. Er ließ erbarmungslos seine lange Peitsche über die Pferde sausen und feuerte sie mit wilden Rufen an, ihr Letztes zu geben. Plötzlich erblickte ich in der Dunkelheit vor uns einen grauen Lichtschimmer; war da irgendwo ein Spalt in den Felswänden? Die Unruhe der anderen Passagiere steigerte sich. Die morsche Kutsche schaukelte in ihrer Lederfederung und schwankte wie ein Boot auf stürmischer See. Ich musste mich festhalten. Der Weg wurde ebener, und wir flogen nur so dahin. Die Berge schienen auf beiden Seiten heranzurücken und drohend auf uns herabzuschauen. Wir hatten den Borgópass erreicht. Meine Reisegefährten gingen nun, einer nach dem anderen, dazu über, mir Geschenke auszuhändigen; sie nötigten sie mir mit einem Ernst auf, der eine Ablehnung unmöglich machte. Es waren Gaben verschiedener und sicherlich auch seltsamer Art, doch hinter jeder spürte man die gute Absicht, geboren aus schlichter Frömmigkeit, und jede wurde begleitet von freundlichen Worten und Segenswünschen, aber eben auch von jener eigenartigen Mixtur furchtsamer Gesten, wie ich sie vor dem Hotel in Bistritz beobachtet hatte: dem Kreuzschlagen und dem Handzeichen gegen den bösen Blick. Während wir so dahinflogen, mehrten sich bei den anderen die Zeichen gespannter Aufmerksamkeit. Der Postillion saß weit vorgebeugt, die Passagiere lehnten sich links und rechts aus der Kutsche, reckten die Hälse und starrten angestrengt in die Dunkelheit. Offenbar meinten sie alle, dass da draußen bald irgendetwas sehr Beunruhigendes geschehen werde oder sogar schon im Gange war. Ich fragte, was denn los sei, aber keiner mochte mir auch nur die geringste Erklärung geben. Die Unruhe hielt eine ganze Weile an. Endlich kamen wir an die Stelle, wo sich der Pass nach Osten öffnete. Dunkle, grollende Wolken schwebten über uns, und in der Luft hing eine schwere, drückende Schwüle, die ahnen ließ, dass gleich Blitz und Donner losbrächen. Es war, als trennte das Gebirge zwei unterschiedliche Atmosphären, und wir gerieten jetzt in die gewittrige. Ich lehnte mich nun selbst hinaus, denn ich wollte nach der Karosse spähen, die mich zum Grafen bringen sollte. Jeden Moment mussten doch irgendwo da draußen zwei Laternen funkeln, aber alles blieb stockfinster. Das einzige Licht weit und breit war der flackernde Schein unserer eigenen Lampen, in dem der Dampf, den unsere strapazierten Pferde absonderten, als weiße Wolke aufstieg. Wir sahen ein Stück sandige Straße vor uns, das sich wie ein helles Band vor uns hinzog, doch nirgends gab es auch nur die Spur eines sich nähernden Fahrzeugs. Die Passagiere lehnten sich entspannt zurück und seufzten erleichtert; ich empfand dies regelrecht als Hohn auf meine Enttäuschung. Ich überlegte schon, was ich denn nun sinnvollerweise tun sollte, da blickte der Kutscher auf seine Uhr und raunte den anderen etwas zu. Er sprach so leise, dass ich es kaum hörte; und doch meinte ich zu verstehen: »Eine Stunde vor der Zeit.« Dann wandte er sich an mich und sagte in einem Deutsch, das noch schlechter war als meines: »Kein Wagen hier. Der Herr werden wohl doch nicht erwartet. Sie sollten jetzt mit uns fahren nach Bukowina und morgen zurück oder übermorgen, ja, besser übermorgen.«

Noch während er sprach, wieherten plötzlich seine Pferde los, schnaubten und schlugen so wild aus, dass der Postillion sie festhalten musste. Die Bauern schrien auf im Chor und bekreuzigten sich nach Kräften: von hinten kam eine Kalesche heran und bremste neben uns. Vier Pferde zogen sie: kohlrabenschwarze prächtige Tiere, wie ich im flackernden Strahl unserer Laternen erkannte. Es lenkte sie ein hochgewachsener Mann mit langem braunem Bart; er trug einen großen schwarzen Hut, der offenbar sein Gesicht vor uns verbergen sollte. Ich konnte nur zwei sehr helle, funkelnde Augen sehen, die im Lampenlicht rot erschienen, als er sich uns zuwandte. Er sagte zum Postillion: »Du bist aber früh dran heute Nacht, mein Freund.« Unser Fahrer stammelte verlegen: »Der englische Herr hatte es eilig.« Worauf der Fremde erwiderte: »Deshalb wolltest du ihn vermutlich auch gleich ganz weit in die Bukowina verfrachten. Du kannst mich nicht täuschen, mein Freund; ich weiß zu viel, und meine Pferde sind flink.« Bei diesen Worten lächelte er; das Laternenlicht fiel auf einen harten Mund mit tiefroten Lippen und scharf wirkenden elfenbeinweißen Zähnen. Einer meiner Reisekameraden flüsterte seinen Nachbarn den Vers aus Bürgers »Lenore« zu:

»Hurra, die Toten reiten schnell.«

Der seltsame Fuhrmann hatte die Worte offenbar gehört, denn er blickte auf und lächelte mit funkelnden Augen in Richtung des Sprechers. Dieser wandte sich ab, spreizte zwei Finger der einen Hand dem Bärtigen entgegen und bekreuzigte sich mit der anderen. »Gib mir das Gepäck des Herrn«, befahl der Fremde. Unser Fahrer gehorchte bereitwilligst und überreichte ihm meine Reisetaschen, die er in der Kalesche verstaute. Da diese ganz dicht an der Kutsche stand, konnte ich direkt umsteigen. Der Fremde half mir dabei; seine Hand umspannte meinen Arm mit stählernem Griff. Er musste ungeheure Kräfte besitzen. Wortlos zog er die Zügel an, die Pferde wendeten, und wir jagten hinein in den finsteren Pass. Als ich zurückblickte, sah ich im Laternenschein wieder den Dampf, der von den Kutschpferden aufstieg; davor zeichneten sich dunkel die Gestalten meiner bisherigen Reisekameraden ab, die sich immer noch bekreuzigten. Schließlich ließ ihr Fahrer seine Peitsche knallen, feuerte die Pferde an, und dann jagten auch sie davon, freilich anderen Zielen entgegen, in die Bukowina hinein.

Kaum waren sie in der Dunkelheit verschwunden, verspürte ich ein seltsames Schaudern, und ein Gefühl der Verlassenheit ergriff mich. Doch wurde mir auch schon ein Mantel um die Schultern gelegt und eine Decke über die Knie, und der Fahrer sagte zu mir in ausgezeichnetem Deutsch:

»Die Nacht ist kalt, und mein Herr, der Graf, hat mir aufgetragen, Sorge dafür zu tragen, dass Sie keinen Schaden nehmen. Unter dem Sitz finden Sie eine Flasche Sliwowitz (der Pflaumenbrand aus der Gegend hier), wenn Sie etwas zum Aufwärmen brauchen.« Ich trank nicht davon, aber es war beruhigend für mich zu wissen, dass ich mich im Notfall seiner hätte bedienen können. Das Geschehen löste zwar ein merkwürdiges Gefühl in mir aus, aber keineswegs Angst. Und doch – wäre da irgendeine Alternative gewesen zu dieser nächtlichen Reise ins Unbekannte: Ich hätte sie gewählt. Der Wagen fuhr zunächst in scharfem Tempo geradeaus; dann aber machten wir eine Kehrtwendung und fuhren erneut geradeaus weiter. Ich hatte den Eindruck, dass wir ständig wieder und wieder dasselbe Gelände durchquerten; also merkte ich mir ein paar besonders auffällige Punkte in der Gegend und musste schließlich feststellen, dass mein Eindruck richtig war. Gern hätte ich den Kutscher gefragt, was dies denn solle; aber ich ließ es lieber bleiben, denn ich befürchtete, dass, wenn das Ganze ein gezieltes Verzögerungsmanöver war, in meiner Situation ein Protest doch nichts nützen würde. Aber allmählich wuchs in mir die Neugier zu erfahren, wie viel Zeit schon verstrichen sei. Ich entzündete ein Streichholz, hielt die Flamme an meine Uhr und schaute aufs Zifferblatt. Es war wenige Minuten vor Mitternacht. Das versetzte mir denn doch einen Schreck. Der gewöhnliche Aberglaube, der sich um die Mitternachtsstunde rankt, wurde bei mir, so vermute ich, noch verstärkt durch meine jüngsten Erfahrungen. Mit einem Gefühl mulmiger Anspannung harrte ich der Dinge, die da kamen.

Plötzlich heulte ein Hund los, in einem Bauernhaus irgendwo weit vor uns an der Straße. Es war ein lang gezogenes, herzzerreißendes Klagen wie aus großer Furcht. Ein zweiter Hund griff den Ton sofort auf, dann noch einer und noch einer, bis endlich, getragen vom Wind, der jetzt sachte über den Pass glitt, ein vielstimmiges Heulen anfing, das aus allen Teilen des Landes herdrang – zumindest mochte sich die Phantasie in stockfinsterer Nacht dies so ausmalen. Beim ersten Geheul schon zerrten die Pferde am Geschirr und bäumten sich hoch, aber der Fahrer sprach besänftigend auf sie ein, und sie beruhigten sich, zitterten aber und schwitzten, als seien sie eben dem Schrecken einer plötzlichen Bedrohung davongaloppiert. Nun aber begann, noch weit entfernt, auf den Bergen rechts und links der Straße ein lauteres und schärferes Geheul – Wölfe! –, das in mir und den Pferden gleichermaßen Entsetzen hervorrief. Ich war geneigt, aus der Kalesche zu springen und wegzurennen, während sie sich erneut bäumten und wie toll nach vorne warfen; der Fahrer musste all seine enormen Kräfte aufbieten, dass sie ihm nicht durchgingen. Nach ein paar Minuten hatten sich meine Ohren jedoch an das Geräusch gewöhnt, und die Pferde beruhigten sich zumindest so weit, dass der Fahrer absteigen und vor sie hintreten konnte. Er streichelte und besänftigte sie und flüsterte ihnen etwas in die Ohren, wie es, so habe ich mir sagen lassen, bei Pferdebändigern Brauch ist. Die Wirkung war erstaunlich, denn unter seinen Liebkosungen wurden die Tiere wieder einigermaßen fügsam, wenn sie auch immer noch bebten. Der Kutscher stieg wieder auf seinen Bock, schüttelte die Zügel, und weiter ging es im flotten Trab. Diesmal bog er, nachdem die Passhöhe überwunden war, plötzlich scharf nach rechts in eine schmale Seitenstraße ein.

Bald war unser Weg gesäumt von Bäumen, deren Äste die Straße überwölbten, so dass wir wie durch einen Tunnel fuhren. Und wieder bildeten links und rechts schroff aufragende Felsen ein bedrohliches Spalier. Obwohl wir dank all diesen Sperren vor Luftbewegungen eigentlich hätten geschützt sein müssen, hörten wir den auffrischenden Wind; er winselte und pfiff durch die Felsen und ließ die Zweige der Bäume zusammenklatschen, während wir vorwärtsglitten. Es wurde kälter und kälter; feiner, pulveriger Schnee begann zu fallen und bedeckte uns und die gesamte nähere Umgebung mit einer weißen Hülle. Der frische Wind trug uns noch immer das Heulen der Hunde zu; freilich wurde dies immer leiser, je weiter wir kamen. Dagegen klang das Jaulen der Wölfe näher und näher, und zwar von allen Seiten, so dass man hätte meinen können, sie umzingelten uns. Mich ergriff grausame Furcht, und die Pferde teilten meine Angst. Der Fahrer jedoch zeigte sich nicht im Mindesten beunruhigt. Er wandte ständig den Kopf nach rechts und nach links, als suche er etwas; ich aber konnte bei der Dunkelheit nichts erkennen.

Plötzlich sah ich zu unserer Linken, etwas abseits, eine blasse blaue Flamme flackern. Der Fahrer sah sie im selben Moment auch; sofort hielt er die Pferde an, sprang ab und verschwand in der Dunkelheit. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, zumal das Geheul der Wölfe immer näher drang. Doch während ich noch überlegte, kam der Fahrer schon zurück, hockte sich auf seinen Bock, und wir setzten die Reise fort. Dieses Geschehen wiederholte sich nun endlos. Oder bin ich etwa eingenickt, und es verfolgte mich im Schlaf? Im Rückblick kommt mir das Ganze jetzt jedenfalls vor wie ein grauenhafter Albtraum. Einmal erschien die Flamme so dicht an der Straße, dass ich trotz der Dunkelheit ringsum die heftigen Bewegungen des Fahrers wahrnahm. Er ging schnellen Schrittes dorthin, wo die blaue Flamme hochschlug – besonders hell war sie wohl nicht, sie erleuchtete kaum ihre allernächste Umgebung –, sammelte ein paar Steine auf und legte sie zu einer Art Muster aus. Während er dies tat, erlebte ich einen merkwürdigen optischen Effekt. Als nämlich der Fahrer zwischen mir und der Flamme stand, verdeckte er sie nicht; ich konnte ihr gespenstisches Flackern trotzdem sehen. Entsetzen packte mich; da das Phänomen jedoch nur ein paar Sekunden währte, sagte ich mir, meine Augen hätten mich wohl getäuscht: eine Folge allzu langen Hinausstarrens in die Dunkelheit. Eine Weile waren dann keine blauen Flammen mehr zu sehen, und wir sausten weiter durch die Finsternis – begleitet vom Geheul der Wölfe, die uns offenbar in einem Kreis folgten, der sich mit uns bewegte.

Schließlich begab es sich, dass der Fahrer sich erneut entfernte, diesmal freilich weiter als bei den vorigen Unterbrechungen. Kaum hatte er die Kutsche verlassen, begannen die Pferde schlimmer denn je zu zittern, zu schnauben und angstvoll zu wiehern. Ich begriff zuerst nicht warum, denn das Geheul der Wölfe hatte inzwischen gänzlich aufgehört. Im nächsten Augenblick jedoch erschien der Mond, der bisher hinter schwarzen Wolken einhergesegelt war, und erstrahlte über dem gezackten Kamm eines vorkragenden, kiefernbewachsenen Felsens. Bei seinem Licht nun sah ich die Wölfe. Sie bildeten einen Ring um uns: Wölfe mit weißen Reißzähnen und heraushängenden roten Zungen, mit langen, sehnigen Läufen und zottigem Fell. Das grimmige Schweigen, das sie jetzt wahrten, war hundertmal grässlicher noch als ihr Geheul. Mich befiel eine Angststarre. Nur wer einem solchen Schreckbild einmal selbst unmittelbar gegenübergestanden hat, kann sein Ausmaß recht erfassen.

Sofort heulten die Wölfe wieder los, als hätte das Mondlicht eine besondere Wirkung auf sie. Die Pferde schlugen aus, bäumten sich, schauten hilflos umher und verdrehten verzweifelt die Augen – ein Anblick, der regelrecht schmerzte. Doch der lebendige Ring des Verderbens schloss sie von beiden Seiten ein und nötigte sie, in ihm zu verharren. Ich rief nach dem Fahrer, denn wir hatten, glaubte ich, nur eine Chance, wenn er den Ring durchbrechen und zur Kutsche zurückkehren konnte. Um ihn dabei zu unterstützen, brüllte ich laut und schlug gegen die eine Seite der Kalesche; der Lärm würde, hoffte ich, wenigstens auf dieser Seite die Wölfe verscheuchen, so dass eine Bresche für den Fahrer entstünde. Er kam indes auch ohne meine Hilfe durch; wie, weiß ich nicht. Jedenfalls hörte ich plötzlich seine Stimme, die laut und herrisch klang, als erteilte sie einen Befehl. Ich blickte in Richtung des Geräusches und sah ihn mitten auf der Straße stehen. Er schwang seine langen Arme, als räumte er eben ein verborgenes Hindernis beiseite, und die Wölfe wichen weiter und weiter zurück. Da schob sich eine schwere Wolke vor den Mond, und erneut legte sich Finsternis über uns.

Als ich wieder einigermaßen sehen konnte, stieg der Fahrer gerade wieder auf den Bock, und die Wölfe waren verschwunden. All dies erschien mir so seltsam und unheimlich, dass eine grässliche Furcht sich meiner bemächtigte und ich nicht wagte, mich zu rühren oder etwas zu sagen. Mir war, als wollte die Zeit gar nicht vergehen, wie wir so dahinglitten, jetzt wieder in fast völliger Dunkelheit, denn die vorüberziehenden Wolken verdeckten abermals den Mond. Meist ging es aufwärts, nur zwischendurch sackte der Weg ein paar Mal kurz und scharf ab; die Steigungen überwogen aber eindeutig. Plötzlich bemerkte ich, dass der Fahrer die Pferde in den Hof einer gewaltigen, freilich schon sehr verfallenen Burg lenkte. Aus den hohen schwarzen Fenstern drang kein Lichtstrahl. Zerbröckelte Zinnen zeichneten eine gezackte Linie vor den mondhellen Himmel.

Zweites Kapitel

Jonathan Harkers Tagebuch

(Fortsetzung)

5. Mai. – Ich muss zwischendurch doch eingeschlafen sein, denn wäre ich hellwach gewesen, hätte ich ja wohl wahrgenommen, dass wir uns einem so markanten Gebäude näherten. Im Finstern schien der Schlosshof beträchtliche Ausmaße zu besitzen; vielleicht ließ ihn aber auch die Tatsache, dass mehrere Durchfahrten unter mächtigen Torbögen von ihm abzweigten, größer wirken, als er tatsächlich ist. Ich habe ihn bisher noch nicht bei Tageslicht gesehen.

Kaum hatte die Kalesche gehalten, sprang der Kutscher ab und streckte mir seine Hand entgegen, um mir beim Aussteigen zu helfen. Wieder gewahrte ich, über welch ungeheure Kraft er verfügte. Seine Hand fühlte sich buchstäblich an wie ein stählerner Schraubstock, in dem er meine, wäre ihm danach gewesen, ohne Weiteres hätte zerdrücken können. Er lud meine Koffer aus und stellte sie neben mich auf den Boden. Dicht vor mir erhob sich eine schwere, alte Tür, beschlagen mit mächtigen Eisennägeln und eingelassen in einen überkragenden Bogen aus massivem Stein. Trotz des fahlen Lichts erkannte ich, dass die Mauern im Hof üppig behauen waren, ebenso aber, dass Zeit und Wetter den Figuren und Ornamenten schon arg zugesetzt hatten. Während ich dastand, schwang sich der Fahrer wieder auf seinen Bock und griff die Zügel. Die Pferde zogen an, und Mann, Ross und Wagen verschwanden in einem der dunklen Torwege.

Schweigend blieb ich stehen, wo ich war, denn ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Nirgends konnte ich eine Glocke oder einen Türklopfer entdecken; und meine Stimme würde kaum durch diese drohenden Mauern und dunklen Fenster dringen. Die Zeit des Wartens schien mir endlos, und ich fühlte, wie Zweifel und Ängste mich beschlichen. Wohin war ich geraten, und unter was für Leute? Auf was für ein grausiges Abenteuer hatte ich mich da eingelassen? Man hatte mich losgeschickt, einem Fremden, der ein Londoner Grundstück erwerben wollte, ein geeignetes Objekt zu erläutern – nicht unüblich in meinem Metier. Aber lag das hier noch im Rahmen der normalen Tätigkeiten eines Anwaltsgehilfen? Oha, eben hätte mir Mina wohl einen Verweis erteilt, weil ich mich selber kleinmache. Nicht ›Anwaltsgehilfe‹ – ›Anwalt‹! Kurz bevor ich London verließ, erhielt ich nämlich die Nachricht, dass ich mein Examen bestanden habe; ich bin also jetzt ein richtiger Anwalt. Ich rieb mir die Augen und zwickte mich, um festzustellen, ob ich wach war. Mir kam dies alles vor wie ein grässlicher Albtraum; so etwas befällt mich gelegentlich, wenn ich tagsüber zu viel arbeite. Gleich würde ich, so meine Vermutung, daheim aufwachen und das Morgendämmerlicht durch die Fenster hereinsickern sehen. Aber meine Haut spürte das Zwicken. Ich war also wach und befand mich tatsächlich in den Karpaten. Jetzt konnte ich mich nur noch in Geduld fassen und den Morgen abwarten.

Kaum war ich zu diesem Schluss gelangt, hörte ich von jenseits des gewaltigen Tores einen schweren Schritt. Er kam näher, desgleichen ein Licht, dessen Schein ich durch die Ritzen sah. Dann klirrten Ketten, und massive Riegel wurden zurückgeschoben, dass es nur so schnarrte und klackte. Ein Schlüssel drehte sich laut quietschend im offenbar selten benutzten Schloss, und das mächtige Tor schwang auf.

Im Eingang stand ein hochgewachsener alter Mann, schwarz gekleidet von Kopf bis Fuß, nicht den kleinsten Tupfer einer anderen Farbe an seinem Gewand. Er trug einen langen weißen Schnurrbart, sonst war er glatt rasiert. In der Hand hielt er eine altertümliche silberne Lampe. Die Flamme, die auf ihr brannte – ohne Zylinder oder Kugel, also ohne jeden Glasschutz –, warf in der Zugluft des offenen Tores gedehnte, zitternde Schatten. Mit einer höflichen Geste seiner rechten Hand bat mich der alte Mann hinein und sagte dabei in vortrefflichem Englisch, bei dem nur der starke Akzent den Fremdling verriet: »Willkommen in meinem Hause! Treten Sie aus freien Stücken und aus eigenem Antrieb ein!«

Er kam mir nicht einen Schritt entgegen, sondern verharrte starr wie eine Statue, als hätte seine Willkommensgeste ihn versteinert. Kaum aber war ich über der Schwelle, trat er schwungvoll auf mich zu, streckte seine Hand aus und packte meine mit einer Kraft, die mich zusammenzucken ließ in einem Erschrecken, das auch nicht durch die Tatsache gemildert wurde, dass sich seine Hand eiskalt anfühlte, mehr wie die Hand eines Toten als eines Lebendigen. Wieder sagte er: »Willkommen in meinem Hause! Treten Sie frei herein, kehren Sie sicher heim, und lassen Sie ein wenig von der Freude hier, welche Sie bringen!« Die Heftigkeit des Händedrucks erinnerte mich dermaßen an den eisernen Klammergriff des Kutschers – dessen Gesicht ich ja nicht gesehen hatte –, dass ich einen Moment glaubte, der Fahrer und der Herr, zu dem ich jetzt sprach, sei ein und dieselbe Person. Um sicherzugehen, fragte ich also: »Graf Dracula?« Er verbeugte sich höflich und erwiderte: »Ich bin Dracula und heiße Sie willkommen in meinem Hause, Mr Harker. Treten Sie näher; die Nachtluft ist kühl, und Sie sind gewiss hungrig und müde.«

Während er dies sprach, setzte er die Lampe auf eine Konsole an der Wand, ging nach draußen und holte mein Gepäck. Ehe ich ihn zu hindern vermochte, hatte er es schon hereingetragen. Ich wandte ein, das könne ich doch selber tun, doch er insistierte: »Nein, Sir, Sie sind mein Gast. Es ist spät, und meine Dienstboten sind nicht mehr verfügbar. Lassen Sie mich getrost selbst für Ihre Bequemlichkeit sorgen.« Kein Protest half; er schleppte tatsächlich meine Koffer durch den Gang, dann eine breite Wendeltreppe hoch, schließlich durch einen langen Korridor, dessen Steinfußboden unsere Schritte besonders laut widerhallen ließ. Am Ende des Ganges stieß er eine schwere Tür auf, und ein erfreulicher Anblick bot sich: ein hell erleuchteter Raum, darin ein gedeckter Esstisch und ein mächtiger Kamin, in dem ein Feuer über frisch aufgelegten Holzscheiten flammte und flackerte.

Der Graf blieb stehen, setzte mein Gepäck ab und schloss die Tür. Dann schritt er durch den Raum und öffnete eine zweite Tür. Dahinter lag ein kleiner achteckiger Raum, in dem nur eine Lampe brannte und der offenbar keinerlei Fenster besaß. Wir ließen auch diesen hinter uns, der Graf öffnete eine weitere Tür und hieß mich eintreten. Wieder ein willkommener Anblick: ein großes Schlafzimmer, ebenfalls hell erleuchtet und warm beheizt von einem Kaminfeuer. Auch hier hatte man das Holz erst vor Kurzem gerichtet, denn die obersten Scheite brannten noch nicht. Dumpf dröhnte das Geprassel in dem weiten Rauchfang wider. Der Graf trug erneut persönlich mein Gepäck hinterher und zog sich dann zurück, sagte aber noch, ehe er die Tür schloss: »Sie hatten eine anstrengende Reise; da werden Sie sich frisch machen und umziehen wollen. Ich bin sicher, Sie finden hier alles nach Wunsch. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie in das andere Zimmer; dort erwartet Sie Ihr Abendessen.«

Das Licht, die Wärme und der höfliche Willkommensgruß des Grafen zerstreuten fürs Erste all meine Zweifel und Ängste. Nachdem ich meine normale Geistes- und Seelenverfassung wiedererlangt hatte, fühlte ich mich plötzlich halbtot vor Hunger. Ich beeilte mich also mit meiner Toilette und ging rasch hinüber ins andere Zimmer.

Das Souper war, wie ich bemerkte, schon aufgetragen. Mein Gastgeber stand neben der großen Feuerstelle, ans Gesims gelehnt, und wies verbindlich zum Tisch hin: »Ich bitte Sie, nehmen Sie doch Platz und essen Sie nach Herzenslust. Sie entschuldigen hoffentlich, dass ich nicht mithalte. Aber diniert habe ich bereits, und soupieren bin ich nicht gewohnt.«

Mir fiel der Brief ein, den Mr Hawkins mir für Graf Dracula mitgegeben hatte. Ich überreichte ihm das versiegelte Schreiben. Er öffnete es und las die Zeilen ernst und aufmerksam. Dann lächelte er charmant und reichte mir das Blatt. Nun las auch ich, was mein Chef zu Papier gebracht hatte. Eine Stelle begeisterte mich besonders:

»Gern hätte ich mich selbst zu Ihnen verfügt, wäre da nicht meine Arthritis – ein Übel, das mir ja schon ewig zu schaffen macht. Eine neuerliche Gichtattacke verbietet mir leider für die nächste Zeit jeden Gedanken an eine Reise. Zum Glück aber kann ich Ihnen einen gleichwertigen Vertreter senden, der mein absolutes Vertrauen besitzt. Er ist ein junger Mann, energisch, einzigartig talentiert und von seinem ganzen Wesen her gewissenhaft und loyal. Auch Diskretion und Verschwiegenheit kennzeichnen ihn, wie ich aus jahrelanger Erfahrung weiß: Er ist in meinen Diensten zur Mannesreife erwachsen. Er wird Sie während seines Aufenthaltes in jeder Hinsicht beraten und all Ihre Anweisungen entgegennehmen.«

Der Graf trat selbst zum Tisch und hob den Deckel einer Schüssel. Darunter lag ein prächtiges Brathuhn. Sofort machte ich mich darüber her, desgleichen über die anderen Sachen, die zusammen mit dem Geflügel mein Abendessen bildeten: etwas Käse, ein Salat und eine Flasche alten Tokaiers, von dem ich zwei Glas trank. Während ich speiste, stellte mir der Graf eine Menge Fragen zu meiner Reise, und ich erzählte ihm der Reihe nach all meine Erlebnisse.

Schließlich hatte ich fertig gegessen. Mein Gastgeber bat mich, mir einen Stuhl zu holen und mich vor das Feuer zu setzen. Er bot mir eine Zigarre an, und ich rauchte sie. Nein, er selbst rauche nicht, entschuldigte er sich. Nun hatte ich Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten, und fand, dass er ein mehr als markantes Äußeres besitzt.

Das Gesicht: adlerähnlich, sehr sogar, nicht zuletzt dank einer kräftigen Nase mit scharf gebogenem Rücken und seltsam geschwungenen Nüstern. Die Stirn hoch und gewölbt; das Haar an den Schläfen dünn, sonst aber voll. Die sehr dichten Augenbrauen wachsen über der Nasenwurzel fast zusammen und scheinen sich vor lauter Buschigkeit zu kräuseln. Der Mund – soweit unter dem mächtigen Schnurrbart sichtbar – starr und von beinahe grausamem Ausdruck; die weißen Zähne wirken scharf und ragen über die Lippen, deren bemerkenswerte Röte eine erstaunliche Lebenskraft für einen Mann seines Alters bekunden. Die Ohren dagegen farblos und oben extrem spitz; das Kinn breit und kräftig; die Wangen fest, aber mit wenig Fleisch bedeckt. Die Haut ganz allgemein außerordentlich blass.

Von seinen Händen, die auf seinen Knien lagen, hatte ich bisher nur die Rückseiten wahrgenommen. Im Widerschein des Feuers waren sie mir recht weiß und feingliedrig vorgekommen. Jetzt aber, da ich sie aus der Nähe beschaute, musste ich feststellen, dass sie eher grob waren, mit breiten, platten Fingern. Seltsamerweise wuchsen ihm auch auf den Handinnenflächen Haare. Die Nägel waren lang und schmal und spitz zugefeilt. Als sich der Graf einmal zu mir herbeugte und seine Hände mich berührten, schauderte es mich unwillkürlich. Vielleicht hatte er auch unreinen Atem; jedenfalls durchlief mich eine Welle von Übelkeit, die ich trotz aller Mühe nicht verbergen konnte. Der Graf merkte dies offenbar und fuhr zurück. Mit einem grimmigen Lächeln, das seine vorstehenden Zähne zeigte, setzte er sich wieder auf die andere Seite des Kamins. Dann blieben wir eine Weile stumm. Als ich zum Fenster sah, entdeckte ich den ersten schwachen Streifen des aufkommenden Tages. Eine sonderbare Stille lag über alldem. Plötzlich aber vernahm ich etwas: Tief im Talesgrund heulten Wölfe, eine ganze Horde. Mit funkelnden Augen sagte der Graf: »Hören Sie nur – die Kinder der Nacht! Was für eine Musik sie machen!«

Ich muss daraufhin ziemlich befremdet dreingeblickt haben, denn er fügte hinzu: »Tja, Sir, ihr Stadtfräcke begreift eben nicht, wie ein Jäger fühlt.« Dann stand er auf und meinte: »So. Sie werden müde sein. In Ihrem Gemach ist alles bereit. Morgen können Sie schlafen, solange es Ihnen beliebt. Ich habe bis zum Abend auswärts zu tun. Also, schlafen Sie gut, und träumen Sie wohl!« Mit einer höflichen Verbeugung öffnete er mir die Tür zu dem achteckigen Raum, und ich betrat mein Schlafzimmer.

Ich schwimme in einer Flut von Rätseln. Ich hege Zweifel. Ich habe Angst. Ich denke seltsame Dinge, die ich meiner eigenen Seele nicht einzugestehen wage. Gott schütze mich, und sei es nur um derer willen, die mir teuer sind!

7. Mai. – Es ist wieder früher Morgen. Aber zumindest habe ich die letzten vierundzwanzig Stunden geruhsam verbracht und es mir wohl sein lassen. Ich schlief spät in den Tag hinein und erwachte von selbst. Schließlich zog ich mich an, ging hinüber in den Raum, wo ich soupiert hatte, und fand dort ein kaltes Frühstück vor; der Kaffee war jedoch noch warm, da er auf einer heißen Herdplatte stand. Neben dem Geschirr lag eine Karte mit folgenden Worten: »Ich bin leider noch eine Weile verhindert. Warten Sie nicht auf mich. D.«

So setzte ich mich hin und ließ mir das herzhafte Frühstück munden. Als ich fertig war, wollte ich klingeln, um der Dienerschaft mitzuteilen, dass sie abräumen konnte; ich fand jedoch keine Glocke. Wieder eine jener merkwürdigen Unzulänglichkeiten in diesem Haus hier, das sonst so viele Anzeichen beträchtlichen Reichtums aufweist, schon bei den Dingen, die mich unmittelbar umgeben. Das Tafelgeschirr etwa ist aus Gold und so wunderbar geschmiedet, dass sein Wert unermesslich sein muss. Für die Vorhänge an den Fenstern und an meinem Bett, ebenso für die Bezüge der Stühle und der Sofas wurden nur die kostbarsten und schönsten Materialien verwendet; sie müssen schon damals, zur Zeit ihrer Herstellung, einen immensen Wert besessen haben. Damals – denn sie sind jahrhundertealt, jedoch exzellent erhalten. Zwar habe ich solche Stoffe auch in Hampton Court gesehen; die zeigten sich aber zerschlissen, ausgefranst und mottenzerfressen. In keinem der Zimmer befindet sich jedoch ein Spiegel. Sogar an meinem Waschtisch fehlt der übliche Toilettenspiegel. Ich musste erst meinen kleinen Rasierspiegel aus der Reisetasche holen, sonst hätte ich mir gar nicht den Bart scheren oder mich kämmen können. Des Weiteren habe ich bisher nirgends einen Diener erblickt. Und zu hören ist auch fast nichts, außer dem Heulen der Wölfe. Nach Beendigung meiner Mahlzeit – ich weiß nicht, ob ich sie Frühstück oder eher Vesper nennen soll, denn als ich sie einnahm, war es so fünf, sechs Uhr – schaute ich, ob ich nicht irgendwo etwas zum Lesen fand. Eigentlich wollte ich ja nicht ohne die Erlaubnis des Grafen im Schloss herumspazieren. Aber in meinem Zimmer war nichts dergleichen vorhanden, kein Buch, keine Zeitung, nicht einmal Schreibzeug. Also öffnete ich eine Tür, die von meinem Gemach ausging, und stand in einer Art Bibliothek. Gegenüber dem Eingang zu meinem Zimmer gab es ebenfalls eine Tür; die jedoch war, wie sich herausstellte, verschlossen.

In der Bibliothek fand ich zu meiner großen Freude jede Menge englischer Bücher, ganze Regale voll, daneben gebundene Jahrgänge englischer Zeitungen und Zeitschriften; zusätzlich lagen lose Exemplare auf einem Tisch in der Mitte des Raumes – keines war freilich neueren Datums. Die Bücher behandelten vielerlei Gebiete – Geschichte, Geographie, Politik, Nationalökonomie, Botanik, Geologie, Rechtspflege; alle jedoch bezogen sich auf England, englisches Leben, englische Sitten und Gebräuche. Vertreten waren auch praktische Nachschlagewerke wie das Londoner Branchenverzeichnis, das Rote Buch – der Hof- und Adelskalender, das Blaue Buch – die jährliche Sammlung regierungsamtlicher Texte –, das beliebte universelle Jahrbuch Whitaker’s Almanac, die Armee- und Marinelisten sowie – hier lachte mir natürlich das Herz – das Rechtsanwaltsregister.

Während ich so in den Büchern herumstöberte, öffnete sich die Tür, und der Graf trat ein. Er begrüßte mich herzlich, erkundigte sich, wie ich geschlafen hätte – gut, hoffentlich – und fuhr dann fort: »Freut mich, dass Sie von allein in meine Bibliothek gefunden haben. Ich habe da nämlich einiges, das Sie bestimmt interessiert. Diese Gefährten hier« – er strich mit der Hand über ein paar Bücher – »sind mir gute Freunde geworden. Sie haben mir, seit ich vor Jahren den Entschluss fasste, nach London zu gehen, schon viele, viele angenehme Stunden geschenkt. Durch sie habe ich Ihr stolzes England kennengelernt, und es zu kennen, heißt, es zu lieben. Ich möchte so gern durch die belebten Straßen Ihres gewaltigen London gehen, mitten im Trubel und Treiben der Menschen dort sein, teilhaben an ihrem Leben, ihrem Wandel, ihrem Sterben, eben an allem, was London zu dem macht, was es ist. Bedauerlicherweise jedoch kenne ich Ihre Sprache bisher nur aus Büchern. Sie können mir vielleicht helfen, dass ich sie sprechen lerne.«

»Aber Graf«, hielt ich dagegen, »Sie verstehen und sprechen doch perfekt Englisch!« Er verbeugte sich würdig.

»Ich danke Ihnen, mein Freund, für Ihre lobende Einschätzung, aber Sie schmeicheln mir gar zu sehr. Ich fürchte nämlich, ich bin auf dem Weg, den ich zurücklegen möchte, noch nicht sehr weit vorangeschritten. Sicher, ich kenne die Grammatik und die Wörter, aber um eine Sprache wirklich zu sprechen, bedarf es mehr.«

»Glauben Sie mir«, beteuerte ich, »Sie sprechen ausgezeichnet.«

»Ach wo«, erwiderte er. »Ich weiß doch: Wenn ich mich durch Ihr London bewegte und so spräche, würde mich jeder gleich als Fremden erkennen. Deshalb reicht mir nicht, was ich bisher schon vermag. Hier bin ich ein Edelmann, ein Bojar. Das einfache Volk kennt mich, und ich bin sein Herr. Aber als Fremder in einem fremden Land ist man ein Nichts. Keiner kennt einen, und jemanden nicht kennen, heißt ihn nicht achten. Fürs Erste würde mir genügen, nicht ausgegrenzt zu werden. Also: niemand soll stehen bleiben, wenn er mich sieht, oder sich unterbrechen, wenn er mich reden hört, und sagen: ›Haha – ein Fremder!‹ Ich bin so lange Herr gewesen, dass ich auch weiter Herr zu sein begehre; wenigstens aber will ich nicht, dass jemand Herr über mich sei. Sie kommen ja hauptsächlich als Geschäftsträger meines Freundes Peter Hawkins aus Exeter zu mir und sollen mich genauestens über meine neuen Besitztümer in London informieren. Sie könnten mir aber einen zusätzlichen Gefallen tun, indem Sie noch eine Weile mein Gast bleiben und Gespräche mit mir führen, bis ich gelernt habe, akzentfrei Englisch zu sprechen. Wenn ich im Reden einen Fehler mache, korrigieren Sie mich sofort, auch beim kleinsten Schnitzer. Übrigens tut mir leid, dass ich heute so lange weg war; aber Sie werden zweifelsohne einem Manne vergeben, der solch eine Unzahl wichtiger Angelegenheiten zu besorgen hat.«

Natürlich versicherte ich ihm gleich, ich täte alles, was in meinen Kräften stehe, und schob die Frage nach, ob ich die Bibliothek jederzeit betreten dürfe, wenn es mir beliebe. Er antwortete: »Aber sicher«, und setzte hinzu: »Sie dürfen sich im Schloss frei bewegen und alle Räume betreten, ausgenommen jene, deren Türen verschlossen sind. Glauben Sie mir, da würden Sie auch gar nicht hineinwollen. Dass die Dinge so geregelt sind, hat seine Gründe. Und sähen Sie mit meinen Augen und wüssten Sie, was ich weiß, verstünden Sie mich vermutlich noch besser.«

Ja, selbstverständlich, erwiderte ich, und er fuhr fort: »Wir sind in Transsilvanien, und Transsilvanien ist nicht England. Unsere Lebensart ist nicht die Ihre; deshalb wird Ihnen gewiss manches hier seltsam erscheinen. Oder vielmehr, nach dem, was Sie mir so erzählt haben, sind Sie ja bereits einigen Dingen begegnet, die Ihnen seltsam vorkamen.«

Und wir gerieten in eine ausgedehnte Konversation. Er wollte reden, eindeutig, wenn auch nur um des Redens willen, und so nutzte ich die Gelegenheit, ihn über Verschiedenes zu befragen, das mir in jüngster Zeit selbst geschehen oder sonstwie zur Kenntnis gelangt war. Manchmal wich er vom Thema ab oder brachte den Dialog zum Erliegen, indem er vorgab, nicht zu verstehen, aber im Allgemeinen antwortete er recht offen auf meine Fragen. Nach einer Weile traute ich mich sogar, die merkwürdigen Ereignisse der vergangenen Nacht anzusprechen. Was etwa mochte den Kutscher bewogen haben, den blauen Flämmchen hinterherzugehen? Hierzu erklärte mir der Graf, laut weitverbreitetem Glauben zeigten sich in einer bestimmten Nacht des Jahres, während der, wie es heißt, alle bösen Geister freie Bahn hätten, blaue Flämmchen über jedem Ort, an dem ein Schatz vergraben liege. Diese Nacht sei gestern gewesen. »Und dass die Gegend, durch die Sie gestern kamen, Schätze birgt«, fuhr er fort, »daran hege ich wenig Zweifel. Schließlich haben auf diesem Boden jahrhundertelang Walachen, Sachsen und Türken gekämpft. Es gibt dort kaum einen Fußbreit Erde, der nicht Menschenblut getrunken hätte, das Blut der Eindringlinge und der Verteidiger gleichermaßen. Das waren wilde Zeiten, als die Österreicher und die Ungarn scharenweise ins Land kamen und die Patrioten ihnen entgegenzogen – Männer und Frauen, Greise und Kinder. Sie lauerten in den Felsen über den Pässen und sandten mit künstlichen Lawinen und Steinschlägen Tod und Verderben auf die Feinde hinab. Blieben diese doch Sieger, machten sie zumindest wenig Beute; die Einheimischen hatten das meiste ihrer Habe der freundlichen Scholle anvertraut.«

»Aber«, wandte ich ein, »warum wurden diese ganzen Schätze dann bis heute nicht gehoben, wenn es doch einen so sicheren optischen Hinweis gibt und man sich nur die Mühe zu machen bräuchte, genau hinzuschauen?«

Der Graf lächelte; dabei hob sich seine Oberlippe übers Zahnfleisch, so dass die merkwürdig langen, scharfen Eckzähne deutlich sichtbar wurden. Er antwortete: »Weil die Bauern hier feige und dumm sind. Die Flämmchen erscheinen nur in einer bestimmten Nacht, und in dieser Nacht wird sich kein Bewohner dieses Landes, wenn er es irgend vermeiden kann, aus dem Haus wagen. Und, mein bester Herr, sogar wenn er sich überwände – er hätte ja keine Ahnung, wie er weiter vorgehen müsste. Selbst angenommen, er kennzeichnet die Stelle – der Mann, von dem Sie mir berichteten, hat dies ja offenbar getan –: Er würde bei Tageslicht seine eigene Markierung verfehlen, weil er schlicht nicht wüsste, wo er sie suchen sollte. Auch Sie, das getraue ich mir zu schwören, wären nicht in der Lage, die Stelle wiederzufinden, oder?«

»Ganz recht«, bestätigte ich. »Ich wüsste genauso wenig wie all die verblichenen Generationen der Einheimischen, wo ich suchen sollte.« Dann glitt das Gespräch zu anderen Themen hin.

»Kommen Sie«, sagte er schließlich, »erzählen Sie mir von London und von dem Haus, das Sie für mich ausgesucht haben.« Ich entschuldigte mich wegen meiner Säumigkeit, ging in mein Zimmer und nahm die einschlägigen Unterlagen aus meiner Reisetasche. Während ich sie ordnete, hörte ich aus dem Zimmer nebenan das Klappern von Porzellan und Silber; als ich auf meinem Rückweg dort hindurchkam, bemerkte ich, dass jemand den Tisch abgeräumt und die Lampe angezündet hatte; inzwischen war es nämlich schon sehr dunkel geworden. Auch in der Bibliothek brannten bereits die Lampen; der Graf lag auf dem Sofa und blätterte in einem dicken Band – ausgerechnet im englischen Eisenbahnkursbuch. Als ich eintrat, erhob er sich und räumte Bücher und Zeitschriften vom Tisch. Gemeinsam vertieften wir uns in Pläne, Urkunden und Aufstellungen aller Art. Er interessierte sich für jedes Detail und stellte mir eine Unmenge Fragen zum Grundstück und zu seiner Umgebung. Über die Nachbarschaft hatte er sich offenbar selbst schon eingehend informiert, ja, letzten Endes wusste er, was diesen Punkt betraf, sehr viel mehr als ich. Das erstaunte mich, was ich ihm auch mitteilte; er erwiderte: »Wohl wahr, mein Bester, ich habe mich selber unterrichtet. Aber gebot dies nicht die bloße Notwendigkeit? Wenn ich dorthin komme, werde ich doch allein sein. Mein Freund Harker Jonathan – oje!, verzeihen Sie, jetzt habe ich nach den Gepflogenheiten meiner Sprache Ihren Familiennamen vorangestellt –, nun denn: mein Freund Jonathan Harker ist dann nicht an meiner Seite und kann mich nicht beraten und vor möglichen Fehlern bewahren. Er wird um diese Zeit in Exeter weilen und vermutlich mit meinem anderen Freund Peter Hawkins Gerichtsakten wälzen. Also!«

Wir regelten dann gewissenhaft die geschäftliche Seite. Es ging ja im Kern um den Erwerb einer Besitzung in Purfleet nahe London. Ich nannte ihm alle wesentlichen Einzelheiten; er leistete die erforderlichen Unterschriften, und ich verfasste noch einen Begleitbrief an Mr Hawkins. Nun fragte mich der Graf, wie es mir denn nur gelungen sei, eine seinen Wünschen so gemäße Örtlichkeit aufzutun. Ich las ihm einfach die Notizen vor, die ich mir seinerzeit gemacht hatte und die ich im Folgenden wörtlich wiedergebe.

»In Purfleet fand ich in einer Nebenstraße ein Grundstück, das meines Erachtens den Vorstellungen des Klienten genau entspricht. Eine verwitterte Tafel zeigte an, dass es zu verkaufen sei. Es ist umgeben von einer hohen Mauer aus klobigen Natursteinen, die offenbar seit Jahren keine Instandsetzungsarbeiten mehr erlebt hat. Das verschlossene Tor besteht aus schwerem Eichenholz und trägt eiserne, inzwischen freilich rostzerfressene Beschläge.

Das Anwesen heißt Carfax – zweifellos eine Verschleifung der alten anglonormannischen Worte quatre faces