2,99 €
Fesselnde Unterhaltung – und ein Blick in die Schatten der Angst Ein einsamer Reisender verirrt sich in eine düstere, verlassene Gegend. Die Luft ist eisig, das Mondlicht trügerisch – und irgendwo in der Ferne lauert etwas, das nicht von dieser Welt zu sein scheint. Was als harmloser Ausflug beginnt, wird zu einem Kampf mit dem Übernatürlichen, in dem die Grenzen zwischen Realität und Wahnsinn verschwimmen. Bram Stoker entführt den Leser in eine Welt voller düsterer Vorahnungen und unerklärlicher Schrecken. Diese 1914 posthum veröffentlichte Anthologie enthält eine aus seinem Meisterwerk entnommene Episode und acht weitere, packende Geschichten (u. A. »Das Haus des Richters«, »Das Rattenbegräbnis«). Eine Reise in die dunklen Winkel der menschlichen Seele – dorthin, wo Angst und Verlangen untrennbar miteinander verknüpft sind. »Angst ist nicht nur in der Dunkelheit – sie ist in uns selbst.« Bram Stoker nexx classics – WELTLITERATUR NEU INSPIRIERT
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 270
Veröffentlichungsjahr: 2025
Bram Stoker
Draculas Gast
Bram Stoker
Draculas Gast
ISBN/EAN: 978-3-95870-724-5
1. Auflage
Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.
Covergestaltung: nexx verlag, 2025
www.nexx-verlag.de
Bram Stoker, geboren am 8. November 1847 in einem kleinen Dorf bei Dublin / Irland, studierte von 1864 bis 1870 am Trinity College in Dublin Geschichte, Literatur, Mathematik und Physik. Danach wurde er, wie sein Vater, Beamter bei der Dubliner Justizverwaltung, was ihn aber nicht zufriedenstellte. Nebenher arbeitete er deshalb als Journalist und Theaterkritiker. Sein Interesse am Theater führte schließlich zu einer lebenslangen Freundschaft mit dem Schauspieler Henry Irving.
Verheiratet war Bram Stoker von 1878 bis zu seinem frühen Tod mit Florence Stoker, geb. Balcombe, die aus einem Nachbardorf seiner irischen Heimat stammte und an der auch Oscar Wilde Interesse gehabt haben soll. Sie hatten einen gemeinsamen Sohn, Noel Thornley, der 1879 geboren wurde und dessen Patenonkel Henry Irving war.
Nach Chelsea / London umgezogen, freundete er sich dort mit Mitgliedern der »High Society« (u. a. mit Sir Arthur Conan Doyle und George Bernard Shaw) an, Oscar Wilde und dessen Familie kannte er aus Dublin, ebenso seinen Freund Sir Henry Irving, für den er von 1878 bis 1904 in dessen Londoner Lyceum Theatre arbeitete.
Bram Stoker starb am 20 April 1912 nach mehreren Schlaganfällen und erlebte den großen Erfolg von »Dracula« leider nicht mehr. Nach Bram Stokers Tod verwaltete seine Frau Florence dessen Nachlass und veröffentlichte 1914 eine Sammlung von Bram Stokers Kurzgeschichten – darunter eine Episode, die ihr Mann wegen der Länge des fertigen Dracula-Textes aus dem Buch herausgenommen hatte – unter dem Titel »Draculas Gast«.
Bram Stokers Interesse galt – neben der Politik – der Folklore, Mythologie, modernen Medizin und okkulten Themen, was sich auch in seinen Werken widerspiegelt. So ist »Dracula« bei weitem nicht nur der Horrorroman, zu dem er so gerne gemacht wird. Er behandelt auch Themen wie Sexualität, Angst vor dem Fremden, den Konflikt zwischen alten Traditionen und moderner Gesellschaft – und vor allem die Wichtigkeit von Freundschaft, Anstand und Zusammenhalt.
Im Jahr 1890 traf Bram Stoker den ungarischen Professor Arminius Vámbéry, der ihm von der Legende des rumänischen Fürsten Vlad III. Drăculea erzählte. Aus diesem Charakter entwickelte Stoker die Figur des Vampirs Dracula. Sieben Jahre arbeitete Stoker an diesem Roman, bis er am 18. Mai 1897 schließlich veröffentlicht wurde.
Bram Stokers Werke hatten und haben einen enormen Einfluss auf die heutige Literatur. Seine Verwendung des epistolaren Stils, bei dem die Geschichte durch Briefe, Tagebucheinträge und Zeitungsartikel erzählt wird, hat viele Autoren dazu inspiriert, ähnliche Techniken in ihren Werken zu verwenden. Sie ermöglicht es dem Leser, verschiedene Perspektiven zu erleben und steigert die Spannung.
Zu Ehren des Autors verleiht die US-amerikanische »Horror Writers Association« (HWA) seit 1987 jährlich in verschiedenen Kategorien den »Bram Stoker Award«.
Ihnen nun viel Vergnügen beim Lesen dieses wunderbaren Werkes eines beeindruckenden Autors.
Joachim FeserVerleger
Einige Monate vor dem bedauerlichen Tod meines Mannes – ich könnte sogar sagen, als der Schatten des Todes schon über ihm lag – plante er die Veröffentlichung von drei Kurzgeschichten-Serien, und der vorliegende Band ist eine davon.
Zu seiner ursprünglichen Liste von Geschichten in diesem Buch habe ich eine bislang unveröffentlichte Episode aus »Dracula« hinzugefügt. Sie wurde ursprünglich aufgrund der Länge des Buches herausgenommen und könnte für die vielen Leser des als bemerkenswertestes Werk meines Mannes angesehenen Werkes von Interesse sein. Die anderen Geschichten wurden bereits in englischen und amerikanischen Zeitschriften veröffentlicht.
Hätte mein Mann länger gelebt, hätte er es vielleicht für angebrachtgehalten, dieses Werk, das hauptsächlich aus den frühen Jahren seines anstrengenden Lebens stammt, zu überarbeiten. Aber da das Schicksal mir die Veröffentlichung anvertraut hat, halte ich es für angemessen und richtig, es praktisch so weiterzugeben, wie er es hinterlassen hat.
Florence Stoker, 1914
Für meinen Sohn
Als wir unsere Fahrt antraten, schien die Sonne hell über München und die Luft war erfüllt von der Freude des Frühsommers. Gerade als wir abfahren wollten, kam Herr Delbrück (der Maître d’hôtel des »Vier Jahreszeiten«, in dem ich abgestiegen war) barhäuptig zum Wagen herunter und sagte – nachdem er mir eine angenehme Fahrt gewünscht hatte – zu dem Kutscher, wobei er mit der Hand den Türgriff der Kutsche festhielt:
»Denken Sie daran, dass Sie bei Einbruch der Nacht zurück sein müssen. Der Himmel sieht hell aus, aber der Nordwind ist kalt und könnte sich in einen Sturm verwandeln. Aber ich bin sicher, dass Sie nicht zu spät kommen werden.« Dabei lächelte er und fügte hinzu: »Denn Sie wissen ja, welche Nacht heute ist.«
Johann antwortete mit einem nachdrücklichen »Ja, mein Herr«, griff an seinen Hut und fuhr schnell davon. Als wir die Stadt hinter uns gelassen hatten, fragte ich, nachdem ich ihm ein Zeichen gegeben hatte, anzuhalten:
»Sagen Sie Johann, welche Nacht ist denn heute?«
Er bekreuzigte sich und antwortete lakonisch: »Walpurgisnacht.« Dann holte er seine Uhr heraus, ein großes, altmodisches, silbernes Ding, so groß wie eine Rübe, betrachtete sie mit zusammengezogenen Augenbrauen und einem kleinen, ungeduldigen Schulterzucken. Ich begriff, dass dies seine Art war, respektvoll gegen diese unnötige Verzögerung zu protestieren und sank in die Kutsche zurück, wobei ich ihm ein Zeichen gab, weiterzufahren. Er fuhr sehr schnell los, als wolle er die verlorene Zeit aufholen. Ab und an warfen die Pferde ihre Köpfe hoch und schnupperten argwöhnisch in die Luft, was mich dazu veranlasste, mich erschrocken umzusehen. Die Straße war recht öde, wir überquerten eine Art windgepeitschtes Hochplateau. Während wir fuhren, entdeckte ich eine Straße, die kaum benutzt und durch ein kleines, gewundenes Tal zu führen schien. Sie sah so einladend aus, dass ich Johann – auf die Gefahr hin, ihn zu beleidigen – zurief, anzuhalten. Als er angehalten hatte, sagte ich ihm, dass ich gerne diese Straße entlangfahren würde. Er brachte alle möglichen Ausreden vor, dies zu unterlassen und bekreuzigte sich dabei mehrmals. Das wiederum weckte meine Neugier, und so stellte ich ihm einige Fragen. Er antwortete ausweichend und schaute wiederholt anklagend auf seine Uhr. Schließlich sagte ich:
»Nun, Johann, ich möchte diesen Weg nehmen. Ich werde Sie nicht bitten, mitzukommen, es sei denn natürlich, Sie möchten es. Aber sagen Sie mir dann, warum Sie es nicht mitwollen – das ist alles, worum ich Sie bitte.« Als Antwort sprang er vom Kutschbock auf den Boden, streckte seine Hände nach mir aus und flehte mich an, von meinem Vorhaben abzusehen. Er mischte gerade so viel Englisch in das Deutsche, dass ich ungefähr verstand, was er sagen wollte. Offensichtlich wollte er mir etwas mitteilen, dessen bloße Vorstellung ihn schon sichtlich verängstigte. Bei jedem erneuten Versuch, etwas zu sagen, musste er sich zusammenreißen, bis er dann schließlich, wobei er sich bekreuzigte, hervorstieß: »Walpurgisnacht!«
Ich versuchte, ihn umzustimmen, aber es ist schwierig, mit einem Mann zu diskutieren, dessen Sprache man nicht versteht. Er war hier sicherlich im Vorteil, denn obwohl er jeden Satz mit einfachem, gebrochenem Englisch begann, verfiel er vor Aufregung immer wieder in seine Muttersprache – und schaute dabei jedes Mal auf seine Uhr. Die Pferde wurden unruhig und schnüffelten wieder in der Luft. Als er dies bemerkte, wurde er sehr blass, sah sich erschrocken um und sprang plötzlich vorwärts. Er nahm die Pferde am Zügel und führte sie etwa sechs Meter weit weg. Ich folgte ihm und fragte, warum er das getan habe. Als Antwort bekreuzigte er sich, zeigte auf die Stelle, die wir verlassen hatten, deutete ein Kreuz an und sagte zuerst auf Deutsch, dann auf Englisch: »Ihn begraben – ihn, der sich selbst umgebracht hat.«
Ich erinnerte mich an den alten Brauch, Selbstmörder an Kreuzungen zu begraben: »Ah! Ich verstehe, ein Selbstmörder. Wie interessant!« Aber ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum die Pferde deshalb Angst hatten.
Während wir redeten, hörten wir ein Geräusch, eine Mischung zwischen einem Jaulen und einem Bellen. Es war weit weg, aber die Pferde wurden wieder sehr unruhig, und Johann brauchte einige Zeit, um sie zu beruhigen. Er war blass und sagte: »Es klingt wie ein Wolf – aber hier gibt es keine Wölfe mehr.«
»Nein?«, fragte ich ihn. »Ist es schon lange her, seit Wölfe so nah an die Stadt herankamen?«
»Lange, lange her«, antwortete er, »im Frühling und im Sommer niemals, aber mit dem Schnee kommen sie ab und an.«
Während er die Pferde streichelte und sie zu beruhigen versuchte, jagten plötzlich dunkle Wolken über den Himmel. Die Sonne war verschwunden, und ein eiskalter Wind wirbelte über uns hinweg. Es war mehr wie ein kurzer Hauch und glich einer Warnung, danach kam die Sonne wieder hervor. Johann hielt die Hand über die Augen, blickte zum Horizont und sagte:
»Der Schneesturm wird bald kommen.« Dann schaute er wieder auf die Uhr, nahm die Zügel fest in die Hand – denn die Pferde scharren noch immer unruhig mit den Hufen und schüttelten heftig die Köpfe – und stieg auf den Kutschbock, als sei es an der Zeit, unsere Reise fortzusetzen.
Ich aber war noch ein wenig eigensinnig und stieg nicht sofort in die Kutsche.
»Erzählen Sie mir etwas über den Ort, zu dem diese Straße führt«.
Wieder bekreuzigte er sich und murmelte ein Gebet, bevor er antwortete: »Es ist unheilig.«
»Was ist unheilig?«, fragte ich.
»Das Dorf.«
»Aha, dann gibt es dort also ein Dorf?«
»Nein, nein. Dort lebt seit Hunderten von Jahren niemand mehr.« Meine Neugier war geweckt. »Aber Sie sagten doch gerade, es gibt da ein Dorf.«
»Es gab da ein Dorf.«
»Und wo ist es jetzt?«
Daraufhin sprudelte eine lange Geschichte auf Deutsch und Englisch aus ihm heraus, so durcheinander, dass ich nicht genau verstehen konnte, was er sagte. Aber ungefähr begriff ich, dass dort vor Hunderten von Jahren Menschen gestorben und begraben worden waren. Man habe Geräusche unter der Erde gehört, und als man die Gräber öffnete, fand man Männer und Frauen mit rosigen Gesichtern und blutverschmierten Mündern darin. Da flohen die Menschen in aller Eile, um ihr Leben und ihre Seelen (hier bekreuzigte er sich) zu retten, an andere Orte, wo die Lebenden lebten und die Toten tot waren und nicht … irgendetwas anderes. Er hatte offensichtlich Angst, diese letzten Worte auszusprechen. Während er erzählte, wurde er immer aufgeregter. Es schien, als ob seine Fantasie mit ihm durchging, und gegen Ende bekam er einen regelrechten hysterischen Anfall. Er war leichenblass, schwitzte, zitterte und sah sich ängstlich um, als ob er erwartete, dass hier, im hellen Sonnenschein und auf offenem Gelände, etwas Schreckliches erscheinen würde. Schließlich rief er in einem Anfall von Verzweiflung:
»Walpurgisnacht!« und deutete auf den Wagen, damit ich einsteigen solle. Mein englisches Blut kam bei diesen Worten in Wallung, und ich sagte zurücktretend:
»Sie haben Angst, Johann – Sie haben Angst. Gehen Sie nach Hause, ich werde alleine zurückgehen. Ein Spaziergang wird mir guttun.« Die Wagentür war offen. Ich nahm meinen Eichenstock vom Sitz – den ich auf meinen Urlaubsausflügen immer bei mir habe –, schloss die Tür, deutete zurück nach München und sagte: »Fahren Sie nach Hause, Johann – die Walpurgisnacht bedeutet uns Engländern nichts.«
Die Pferde waren jetzt unruhiger denn je, und Johann versuchte, sie festzuhalten, wobei er mich aufgeregt anflehte, doch nicht so etwas Dummes zu tun. Der arme Kerl tat mir leid, er meinte es absolut ernst. Aber gleichzeitig konnte ich es nicht verhindern, zu lachen. Sein Englisch war jetzt völlig verschwunden. In seiner Angst hatte er vergessen, dass die einzige Möglichkeit, mir etwas begreiflich zu machen, die war, mit mir in meiner Sprache zu sprechen und plapperte in seiner deutschen Muttersprache daher. Es wurde nun ein wenig ermüdend. Nachdem ich in Richtung München gezeigt und ihm die Anweisung »Nach Hause!« gegeben hatte, wandte ich mich Richtung der kleinen Straße.
Da drehte Johann seine Pferde mit einer verzweifelten Geste in Richtung München um. Ich stützte mich auf meinen Stock und sah ihm nach. Eine Weile ritt er langsam die Straße entlang, dann kam über den Kamm des Hügels ein großer, dünner Mann. Als er sich den Pferden näherte, begannen sie zu springen, herumzutreten und vor Angst zu wiehern. Johann konnte sie nicht bändigen, sie gingen durch und rannten wie verrückt die Straße hinunter. Ich sah ihnen nach, bis sie außer Sichtweite waren, und suchte dann nach dem Fremden, doch ich stellte fest, dass er verschwunden war.
Leichten Herzens bog ich in die kleine Seitenstraße ein, die durch das tiefer werdende Tal führte, in das Johann sich weigerte, zu fahren. Ich konnte nicht den geringsten Grund für seine Weigerung erkennen, und ich wage zu behaupten, dass ich einige Stunden lang wanderte, ohne an Zeit oder Entfernung zu denken, und ohne eine Person oder ein Haus zu sehen. Was das Dorf betraf – es war völlig verwüstet. Aber das fiel mir zunächst nicht auf, bis ich an einer Kurve der Straße auf einen völlig verwachsenen Waldrand stieß. Erst dort bemerkte ich, dass mir die Verwüstung der Gegend, durch die ich gewandert war, nur unbewusst aufgefallen war.
Ich setzte mich hin, um mich etwas auszuruhen, und sah mich dabei um. Es fiel mir auf, dass es erheblich kälter geworden war als zu Beginn meiner Wanderung – eine Art Seufzen schien mich zu umgeben, und ab und zu erklang hoch oben ein gedämpftes Brausen. Als ich nach oben schaute, bemerkte ich, dass große, dicke Wolken in großer Höhe schnell von Norden nach Süden über den Himmel zogen. Weit oben kündigte sich ein aufziehender Sturm an. Mir war ein wenig kalt, und ich nahm an, dass es vom Stillsitzen nach dem langen Marsch kam, deshalb stand ich auf und ging weiter.
Das Gelände, das ich durchquerte, war jetzt viel malerischer. Zwar gab es keine auffälligen Einzelheiten, aber insgesamt wirkte alles bezaubernd schön. Ich achtete nicht auf die Zeit, bis mir die zunehmende Dämmerung auffiel, und ich darüber nachzudenken begann, wie ich den Weg nach Hause finden sollte. Die Helligkeit des Tages war verschwunden. Die Luft war kalt, und das Vorbeiziehen der Wolken hoch über mir war deutlich zu erkennen. Sie wurden von einem weit entfernten Rauschen begleitet, das in unregelmäßigen Abständen von jenem Geheul unterbrochen wurde, von dem Johann gesagt hatte, es stamme von Wölfen. Ich zögerte einige Augenblicke. Ich hatte gesagt, ich wolle das verlassene Dorf sehen, also ging ich weiter und kam bald in ein weites Tal, das von Hügeln umgeben war. Diese waren mit einzelnen Bäumen bedeckt, die sich bis zur Ebene erstreckten und dort zu Gruppen und Wäldchen verdichteten. Ich folgte mit meinem Auge dem Verlauf der Straße und sah, dass sie sich dicht an einem der Wäldchen entlangschlängelte und dann dahinter verschwand.
Während ich mich so orientierte, wehte ein eiskalter Schauer daher und es begann zu schneien. Ich dachte an die vielen Meilen, die ich zurückgelegt hatte, und eilte auf den vor mir liegenden Wald zu, um dort Schutz zu suchen. Der Himmel wurde immer dunkler und der Schnee fiel immer heftiger, bis alles um mich herum mit einem glitzernden weißen Teppich belegt war, dessen Ende sich in nebliger Unschärfe verlor. Die Straße war hier nur vorsintflutlich, und im freien Gelände schlechter zu erkennen als in den Waldlichtungen. Nach kurzer Zeit erkannte ich, dass ich von der Straße abgekommen sein musste, denn statt einer harten Oberfläche fühlte ich unter meinen Füßen nur noch nachgiebiges Gras und Moos. Dann wurde der Wind noch stärker und blies mit so großer Kraft, dass ich gezwungen war, vor ihm herzulaufen. Dabei wurde es eiskalt und trotz meiner körperlichen Anstrengung fing ich an zu frieren. Der Schnee fiel jetzt so dicht und wurde durch den Sturm derart aufgewirbelt, dass ich kaum etwas sehen konnte. Ab und an zerrissen grelle Blitze den dunklen Himmel, dann konnte ich vor mir eine große Baummasse erkennen, hauptsächlich Eiben und Zypressen bestehend, die alle dick mit Schnee bedeckt waren.
Bald war ich im Schutz dieser Bäume angekommen. Dort war es relativ still, und so konnte ich das Brausen des Sturmes hoch über mir hören. Bald verschmolzen die Schwärze des Sturms und die Dunkelheit der Nacht. Der Sturm ließ nach und nur noch vereinzelt kam ein heftiger Windstoß daher. Dann schien das unheimliche Geheul der Wölfe ein vielfältiges Echo zu finden.
Ab und zu stahl sich ein vereinzelter Mondstrahl durch die schwarzen Wolken und beleuchtete die Gegend um mich herum. Ich befand mich am Rand eines Wäldchens aus Zypressen und Eiben. Nachdem es aufgehört hatte zu schneien, wagte ich mich aus meinem Unterschlupf heraus und untersuchte die Gegend genauer. Dabei überlegte ich, dass zwischen all den alten Hausfundamenten, an denen ich vorbeigekommen war, noch ein Haus stehen müsste, das mir – auch wenn es eine Ruine war – etwas Schutz bieten könnte. Als ich am Rand des Wäldchens entlangging, stellte ich fest, dass es von einer niedrigen Mauer umgeben war, und als ich dieser folgte, fand ich bald eine kleine Öffnung darin. Hier bildeten die Zypressen eine Allee, die zu einem massiven, quadratischen Gebäude führte. Doch kaum hatte ich es erblickt, schoben sich vorbeiziehende Wolken vor den Mond, und ich ging die Allee in völliger Dunkelheit entlang. Es musste wieder kälter geworden sein, denn während ich ging, überkam mich ein kalter Schauer. Doch es gab dort Hoffnung auf etwas Schutz, und so tastete ich mich blindlings weiter.
Ich blieb stehen, denn plötzlich war es um mich herum vollkommen ruhig. Der Sturm war vorüber, und auch mein Herz schien – wie im Einklang mit der Stille der Natur – stillzustehen. Aber dies dauerte nur einen kurzen Augenblick, dann brach das Mondlicht wieder durch die Wolken und zeigte mir, wo ich war: ich stand auf einem Friedhof und das quadratische Gebäude vor mir war eine gewaltige, massive Gruft aus weißem Marmor, so weiß wie der es umgebende Schnee! Mit dem Mondlicht ertönte auch ein wildes Seufzen des Sturms und vereinte sich mit einem langenanhaltenden, leisen Heulen, wie von Hunden oder Wölfen. Angst und Grauen ergriffen mich derart, dass die Kälte mein Herz zu packen schien. Und während das Mondlicht noch immer auf das Grabmal fiel, schien der Sturm wieder losbrechen zu wollen. Von einer unerklärlichen Neugier getrieben, näherte ich mich dem Grabmal, um herauszufinden, für wen es sein mochte und warum es an einem so verlassenen Ort stand. Ich ging darum herum und las über der im dorischen Baustil gestalteten Tür auf Deutsch:
GRÄFIN DOLINGEN VON GRATZIN DER STEIERMARK GESUCHTUND TOT AUFGEFUNDEN1801
An der Oberseite der Gruft – die aus riesigen Marmorblöcken bestand – war ein mächtiger, eiserner Stab durch den massiven Marmor getrieben worden. Ich ging auf die Rückseite der Gruft und sah dort in großen russischen Buchstaben eingraviert:
DIE TOTEN REISEN SCHNELL
Das Ganze war so seltsam und unheimlich, dass es mich erschauern ließ und mir ganz schwindlig wurde. Zum ersten Mal wünschte ich mir, ich hätte Johanns Rat befolgt. Und dann erinnerte ich mich urplötzlich: Es war Walpurgisnacht!
Walpurgisnacht, das war nach dem Glauben von Millionen Menschen die Nacht, in der der Teufel umging – in der sich die Gräber öffneten, die Toten aufstanden und umherwandelten! Die Nacht, in der alle bösen Dinge der Erde, der Luft und des Wassers ein Fest feierten. Und genau diesen Ort, an dem ich mich jetzt befand, hatte Johann gemieden. Dies hier war das entvölkerte Dorf, das vor Jahrhunderten existiert hatte. Dies war der Ort, an dem der Selbstmörder beerdigt war. Und dies war der Ort, an dem ich ganz alleine, vor Kälte zitternd, von einem Leichentuch aus Schnee umgeben war, während sich über mir ein neuer wilder Sturm zusammenbraute! Ich musste all meine Philosophie und Religion, die ich gelernt hatte, und all meinen Mut zusammennehmen, um nicht unter einem Anfall entsetzlicher Angst zusammenzubrechen.
Und jetzt brach ein heftiger Tornado über mich herein. Der Boden bebte, als würden tausend Pferde darüber hinwegdonnern. Und dieses Mal trug der Sturm keinen Schnee auf seinen eisigen Flügeln, sondern große Hagelkörner, die mit solcher Gewalt herunterprasselten, als ob sie von balearischen Steinschleuderern verschossen wurden – Hagelkörner, die Blätter und Zweige durchschlugen und gegen die diese Zypressen keinen Schutz mehr boten – ich hätte mich genauso gut in einem Kornfeld verbergen können. Zuerst war ich zum nächststehenden Baum gerannt, mir wurde aber schnell bewusst, dass ich den einzigen Ort aufsuchen musste, der mir wirklichen Schutz bieten konnte: die tiefe dorische Tür der Marmorgruft. Dort fand ich dann auch, wenn ich mich an die massive Bronzetür drückte, einen gewissen Schutz vor den Hagelkörnern, hier trafen sie mich nur noch, wenn sie vom Boden oder den Marmorwänden abprallten.
Als ich fest gegen die Tür drückte, gab sie plötzlich nach und öffnete sich nach innen. Bei diesem erbarmungslosen Sturm war mir selbst der Schutz einer Gruft willkommen, und ich wollte sie gerade betreten, als ein gewaltiger Blitz die ganze Szenerie erhellte. Und so wahr ich lebe – in diesem Augenblick sah ich in der Dunkelheit der Gruft eine wunderschöne Frau mit runden Wangen und roten Lippen, anscheinend schlafend, auf einer Bahre liegen! Als der Donner über mir losbrach, schien mich plötzlich die Hand eines Riesen zu packen und in den Sturm hinauszuschleudern. Das geschah so schnell, dass ich, noch bevor ich den psychischen wie auch den physischen Schock realisieren konnte, von den herabschießenden Hagelkörnern niedergestreckt wurde. Gleichzeitig hatte ich das seltsame, aber deutliche Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Ich schaute zur Gruft und in diesem Augenblick erhellte ein weiterer gewaltiger Blitz die Umgebung und schlug in den eisernen Pfahl, der aus der Gruft ragte, ein. Dies sprengte den Marmor, der in dem Feuersturm geradezu zerbröselte. Die Frau bewegte sich – umringt von den Flammen – qualvoll, ihr entsetzlicher Schmerzensschrei ging im folgenden Donnerschlag nahezu unter. Das Letzte, was ich hörte, war dieses Gewirr aus schrecklichen Geräuschen, dann wurde ich wieder von einer riesigen Hand gepackt und weggezerrt, die Hagelkörner schlugen auf mich ein und die Luft um mich herum schien vom Geheul der Wölfe erfüllt zu sein. Das Letzte, was ich sah, war eine weiße, undefinierte, sich bewegende Masse, als hätten sich alle Gräber um mich herum geöffnet und ihre mit Leichentüchern bedeckten Toten ausgespuckt, die sich jetzt durch den niederprasselnden Hagel auf mich zubewegten …
Allmählich kam ein vages Bewusstsein zurück, dann ein Gefühl unendlicher, schrecklicher Erschöpfung. Eine Zeitlang konnte ich mich an nichts erinnern, aber langsam kehrten meine Sinne zurück. Meine Füße schmerzten entsetzlich, ich konnte sie nicht bewegen, sie waren wie gelähmt. Mein Nacken, die Wirbelsäule waren erstarrt, meine Ohren waren wie abgestorben, alles tat mir weh. Nur in meiner Brust fühlte ich eine wohlige Wärme, die im Vergleich sehr angenehm war. Es war wie ein Albtraum – ein physischer Albtraum sozusagen – denn ein schweres Gewicht auf meiner Brust erschwerte mir das Atmen.
Dieser Dämmerzustand schien ziemlich lange angedauert zu haben, und als er schließlich nachgelassen hatte, muss ich eingeschlafen oder ohnmächtig geworden sein. Als ich dann wieder zu mir kam, fühlte ich einen Ekel, als würde ich seekrank werden, und ein wildes Verlangen, mich von etwas befreien zu müssen überkam mich – wovon, wusste ich nicht. Eine gewaltige Stille umhüllte mich, als ob die ganze Welt schliefe oder tot wäre. Sie wurde nur durch das leise Keuchen eines Tieres in meiner Nähe unterbrochen. Ich fühlte ein warmes Kratzen an meiner Kehle – da wurde mir mit einem Schlag die ganze schreckliche Realität bewusst, die mir das Herz erfrieren und das Blut durch mein Gehirn schießen ließ: ein riesiges Tier lag auf mir und leckte an meiner Kehle! Ich traute mich nicht, mich zu bewegen, denn mein Instinkt gebot mir, still liegen zu bleiben. Aber das Tier schien bemerkt zu haben, dass sich etwas in mir verändert hatte, denn es hob den Kopf. Blinzelnd sah ich über mir die großen, glühenden Augen eines gigantischen Wolfes! In seinem weit aufgerissenen roten Maul glänzten weiße, scharfe Zähne und ich konnte seinen heißen, beißenden Atem in meinem Gesicht spüren.
Nach einer Weile schwanden mir die Sinne. Dann hörte ich ein leises Knurren, gefolgt von einem sich immer wiederholenden Jaulen. Von weitem hörte ich im Gleichklang erklingende »Hallo! Hallo!«-Rufe. Vorsichtig hob ich den Kopf und schaute in die Richtung, aus der die Rufe kamen, aber der Friedhof versperrte mir die Sicht. Der Wolf jaulte noch immer auf seine sonderbare Weise. Ein roter Schein begann sich um den Zypressenhain zu bewegen, als würde er den Rufen folgen. Je näher die Stimmen kamen, desto schneller und lauter jaulte der Wolf. Ich wagte es nicht, einen Laut von mir zu geben oder mich zu bewegen. Der rote Schein kam über dem weißen Leichentuch, das sich in der Dunkelheit um mich herum erstreckte, immer näher. Und plötzlich erschienen jenseits des Wäldchens eine Gruppe Reiter mit brennenden Fackeln. Der Wolf erhob sich von meiner Brust und rannte auf den Friedhof zu. Ich sah, wie einer der Reiter (nach ihren Mützen und den langen Militärmänteln mussten es Soldaten sein) seinen Karabiner anlegte und zielte. Ein Kamerad schlug dessen Arm in die Höhe und ich hörte, wie die Kugel über meinen Kopf hinwegpfiff. Offensichtlich hatte der Schütze meinen Körper mit dem des Wolfes verwechselt. Ein anderer Reiter erblickte das fliehende Tier und ein weiterer Schuss folgte. Dann ritt die Truppe im Galopp vorwärts – einige auf mich zu, andere verfolgten den Wolf, der zwischen den schneebedeckten Zypressen verschwand.
Als sie näherkamen, versuchte ich mich zu bewegen, konnte mich aber immer noch nicht rühren, obwohl ich alles hören und sehen konnte, was um mich herum geschah. Zwei, drei Soldaten sprangen von ihren Pferden und knieten sich neben mir nieder. Einer von ihnen hob meinen Kopf hoch und legte seine Hand auf mein Herz.
»Gute Nachrichten, Kameraden!«, rief er. »Sein Herz schlägt noch!«
Dann wurde mir etwas Brandy eingeflößt, was mir neue Kraft gab, so dass ich meine Augen ganz öffnen und mich umsehen konnte. Lichter und Schatten bewegten sich zwischen den Bäumen und ich hörte, wie Männer sich einander Dinge zuriefen. Sie versammelten sich und stießen erschrockene Ausrufe aus. Mehr Lichter blitzten auf, als weitere Soldaten wie Besessene Hals über Kopf auf den Friedhof strömten. Als sie näherkamen, fragten diejenigen, die mich umringt hatten eifrig:
»Und, habt ihr ihn gefunden?«
Die Antwort kam schnell und gehetzt:
»Nein! Nein! Schnell weg von hier – schnell! Das ist kein Ort zum Verweilen, und erst recht nicht in dieser Nacht!«
»Was war es denn?«, fragten alle wild durcheinander. Unterschiedliche Antwort wurden in die Runde gerufen, alle unbestimmt, als ob alle Männer einem gemeinsamen Impuls folgten, etwas sagen zu müssen, aber von einer gemeinsamen Angst davon abgehalten wurden, ihre Gedanken zu äußern.
»Es … es …«, stotterte einer, der in diesem Moment offensichtlich den Verstand verloren hatte.
»Ein Wolf – und doch kein Wolf!«, rief schaudernd ein anderer.
»Es hat ja eh keinen Sinn, es ohne eine geweihte Kugel zu versuchen«, bemerkte ein Dritter etwas sachlicher.
»Geschieht uns ganz recht, wenn wir gerade in dieser Nacht hier herauskommen! Die tausend Mark haben wir uns wirklich mehr als verdient!«, rief ein Vierter.
»Auf dem zerbrochenen Marmor ist Blut«, sagte ein anderer nach einer Pause – »der Blitz hat das sicher nicht dorthin gebracht. Und was ihn betrifft – sind wir vor ihm sicher? Seht Euch seine Kehle an! Der Wolf hat auf ihm gelegen und ihn warmgehalten.«
Der Offizier untersuchte meinen Hals und antwortete dann:
»Ihm ist nichts geschehen, seine Haut ist unverletzt. Was bedeutet das alles? Ohne das Gejaule des Wolfes hätten wir ihn nie gefunden.«
»Und was ist mit dem Wolf?«, fragte der Mann, der meinen Kopf hielt und der am wenigsten in Panik zu sein schien, denn seine Hände waren ruhig und zitterten nicht. Auf seinem Ärmel erkannte ich das Abzeichen eines Unteroffiziers.
»Er ist in seinen Unterschlupf geflohen«, antwortete der Mann, dessen langes Gesicht bleich war und der vor Angst zitterte, als er sich ängstlich umsah. »Hier gibt es genug Gräber, in denen er liegen könnte. Kommt, Kameraden – kommt endlich! Lasst uns diesen verfluchten Ort verlassen.«
Der Offizier setzte mich auf und gab einen Befehl, woraufhin mich mehrere Männer auf sein Pferd hoben. Er sprang hinter mir in den Sattel, hielt mich fest, gab den Befehl zum Abrücken und wir ritten schnell und in militärischer Ordnung davon.
Noch immer verweigerte meine Zunge ihren Dienst und ich war gezwungen, zu schweigen. Dann war ich wohl eingeschlafen, denn das nächste, woran ich mich erinnerte, war, dass ich – zu beiden Seiten von einem Soldaten gestützt – aufrecht dastand. Es war jetzt fast schon heller Tag, im Norden spiegelte sich ein roter Sonnenstrahl wie eine Blutspur auf der Schneewüste. Der Offizier befahl den Männern, nichts von dem zu erzählen, was sie gesehen hatten, außer dass sie einen Engländer gefunden hatten, der von einem großen Hund bewacht worden sei.
»Großer Hund! Das war doch kein Hund«, unterbrach ihn der Mann, der solche Angst gehabt hatte. »Ich denke, ich erkenne einen Wolf, wenn ich ihn sehe.«
Der junge Offizier antwortete ruhig: »Ich sagte großer Hund.«
»Großer Hund!«, wiederholte der Soldat ironisch. Sein Mut stieg offensichtlich mit dem Aufgehen der Sonne. Er zeigte auf mich und sagte: »Sehen Sie sich seine Kehle an. Ist das das Werk eines Hundes, Herr Offizier?«
Instinktiv fasste ich mit meiner Hand an die Kehle – und schrie vor Schmerz auf. Die Männer drängten sich um mich, einige beugten sich aus ihren Sätteln herab, um besser sehen zu können. Wieder erklang die ruhige Stimme des jungen Offiziers:
»Es war ein großer Hund, wie ich sagte. Wenn wir etwas anderes sagen würden, würde man uns auslachen.«
Dann stieg ich hinter einen Kavalleristen aufs Pferd und wir ritten weiter in die Vororte von München. Hier stießen wir auf eine einsame Kutsche, in die ich hineingesetzt wurde und in der ich schließlich beim »Vier Jahreszeiten« ankam. Der junge Offizier und ein Soldat, der das Pferd des Offiziers führte, begleiteten mich, während die anderen Soldaten zu ihren Kasernen ritten.
Als wir ankamen, eilte Herr Delbrück so schnell die Stufen hinunter, um mich zu begrüßen, dass es offensichtlich war, dass er uns von drinnen beobachtet hatte. Er nahm mich bei beiden Händen und führte mich fürsorglich hinein. Der junge Offizier salutierte knapp und wollte sich gerade – etwas langsam – zurückziehen, als ich seine Absicht erkannte und darauf bestand, dass er mit mir hereinkommen solle. Bei einem Glas Wein dankte ich ihm und seinen tapferen Kameraden herzlich für meine Rettung. Er antwortete, dass er mehr als froh darüber sei und dass es Herr Delbrück gewesen war, der die Schritte unternommen habe, um die Suchmannschaft loszuschicken. Bei diesen Worten lächelte der Maître d’hôtel, während der Offizier sich mit einem Hinweis auf seine dienstlichen Pflichten empfahl und zurückzog.
»Aber Herr Delbrück«, fragte ich, »wie und warum haben die Soldaten nach mir gesucht?«
Er zuckte mit den Schultern, als würde er seine eigene Tat geringschätzen, und antwortete:
»Ich hatte das Glück, vom Kommandanten des Regiments – in dem ich selbst gedient habe – die Erlaubnis zu erhalten, Freiwillige für eine Suchaktion zu suchen.«
»Aber woher wussten Sie denn, dass ich mich verirrt hatte?«, fragte ich.
»Der Kutscher kam mit dem, was von seiner Kutsche nach dem Durchgehen der Pferde noch übrig war, hierher.«
»Aber nur deshalb würden Sie doch keinen Suchtrupp aus Soldaten losschicken?«
»Oh nein!«, erwiderte er. »Aber noch bevor der Kutscher hier ankam, erhielt ich ein Telegramm von dem Grafen, dessen Gast Sie sein werden.« Und damit zog er ein Telegramm aus seiner Tasche und reichte es mir herüber. Ich las:
Bistritz – Tragen Sie Sorge um meinen Gast – seine Sicherheit liegt mir am Herzen. Sollte ihm etwas zustoßen oder sollte er vermisst werden, scheuen Sie keine Mühen, um ihn zu finden und seine Sicherheit zu gewährleisten. Er ist Engländer und daher abenteuerlustig. Schnee, Wölfe und die Nacht bergen oft Gefahren. Verlieren Sie keine Zeit, wenn Sie vermuten, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Ich vergelte Ihren Einsatz mit meinem Vermögen. – Dracula
Ich hielt das Telegramm in der Hand und der Raum schien sich um mich zu drehen. Hätte der aufmerksame Maître d’hôtel mich nicht aufgefangen, wäre ich wohl umgefallen. Das alles war so seltsam, so unheimlich und unvorstellbar, dass ich das Gefühl bekam, ich müsse der Spielball fremder Mächte sein – allein die Vorstellung daran lähmte mich. Aber ich stand offensichtlich unter einem geheimnisvollen Schutz. Aus einem fernen Land war genau im richtigen Augenblick eine Nachricht eingetroffen, die mich der Gefahr des Erfrierens und dem Rachen eines Wolfes entrissen hatte ...