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Träume zu erschaffen ist eine Kunst. Sie zu hüten die wohl größte Gefahr … Schillernde Luftblasen, leuchtende Fische und Wale – dass Kiki sich im Schlaf fantastische Abenteuer ausmalt, hielt sie nie für eine besondere Fähigkeit. Bis plötzlich eine schwarze Katze auftaucht und sie in ein geheimes Reich führt. Kiki ist auserkoren, eine Traumkünstlerin zu werden. Von nun an soll sie gemeinsam mit der Katze Bobbi Träume erschaffen und sie beschützen. Doch eine finstere Gestalt erhebt sich aus den Schatten und wird von Nacht zu Nacht mächtiger. Der Auftakt einer magischen Abenteuerreihe Ein fesselndes und geheimnisvolles Fantasy-Abenteuer für Kinder ab 9 Jahren aus der Feder des chinesischen Bestseller-Autors Chen Jiatong. Coolness, Natur, Action, Tiere und die Macht der Träume sorgen für spannenden Lesespaß. Begleite Kiki und ihre schwarze Katze in dieser modernen Parabel rund um Traum und Wirklichkeit, Wünsche und Gefahren. Für alle Fans von White Fox! Mit beeindruckenden Schwarz-Weiß-Illustrationen von Marie Beschorner. Der Titel ist bei Antolin gelistet.
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Seitenzahl: 167
INHALT
Kikis Traum
Der Traumlotse
Traumkünstler
Von der Kunst, Träume zu erschaffen
Drei Träume
Die neue Schülerin
Das Reich der Schatten
Kiki
Traumkünstlerin
Kraft: Wasser
Hat einen schwarzen Kater als Traumlotsen
Lilian
Kikis neue Mitschülerin
Zeigt Kiki, wie sich Freundschaft anfühlt
Der Traumälteste
Regiert über das Reich der Träume
Durch seine Haare ist er mit den Traumräumen der Menschen verbunden
Marlon
Traumkünstler
Hat einen magischen Pinsel
Herr Yama
Kikis strenger Mathematik- und Klassenlehrer
Ruben
Kikis Mitschüler
Ein schmächtiger Junge, steckt seine Nase am liebsten in Schulbücher
Elias
Schüler aus einem höheren Jahrgang
Gut aussehend, fröhlich und sehr beliebt
KAPITEL 1
Kikis Traum
Heia hei, kleines Mädchen schlaf schnell ein,
Dein Haar kämmt die Mutter, dir näht sie
ein Kleid,
Dir zwinkern die Sterne, der Mond gibt dir Geleit,
Du bist Mamas Schatz allein …
Heia hei, kleines Mädchen schlaf schnell ein,
Für dich tanzt der Nachtfalter, dir singt
die Nachtigall,
Bei Hitze und Kälte, dich schützt sie überall,
Du bist Mamas Schatz allein …
Die Lichter schon gelöscht, die Nacht ist
eingeschlafen,
Meine Wärme und Liebe gehören ganz dir.
Nun schlaf auch du, mein Kind, im Traum sehn
wir uns wieder,
Ich träum schon von dir, ich hör dich schon
lachen …
Ein Mädchen, recht dünn und sehr blass, lag summend auf einem klapprigen alten Holzbett gegen das Kopfpolster gelehnt. Seine Füße baumelten über der Bettkante, während es durch ein Paar dunkler lebhafter Augen auf die Schlafzimmerwand starrte. Auf die Wand hatte jemand Sterne gemalt und einen Mond, dessen Linien das Mädchen selbstvergessen mit dem Finger in die Luft nachzeichnete. Das Mädchen hatte ein rundes Gesicht, feine Sommersprossen auf den Wangen und sein kurzes Haar war zerzaust und strubbelig. Als es sich in seinem weiten alten Pyjama nach einem Buch streckte, das aufgeschlagen neben seinem Polster lag, knarzte das Bett. White Fox lautete der Titel auf dem Umschlag.
Durch ein Fenster fiel silbriges Mondlicht in das kleine Zimmer. Nur das Bett und ein kleiner Schreibtisch standen darin. Viel mehr passte auch gar nicht hinein. Auf dem Schreibtisch lagen Hefte und Zettel mit Hausaufgaben aus den Sommerferien. In einer Ecke türmte sich auf dem Boden ein Stapel Kinderbücher. Die Zimmerdecke war voller Schimmelflecken und die Wände mit den verschiedensten Motiven bemalt: Ein Sternenhimmel war da und das Meer, außerdem Dilah, der Polarfuchs, und Sun Wukong, der Affenkönig.
Was das Mädchen namens Kiki da so sanft und leise vor sich hin summte, war ein Schlaflied. Ihre Mutter hatte dieses Lied oft gesungen. Und so stellte sich Kiki auch jetzt vor, ihre Mutter säße neben ihr und singe sie in den Schlaf. Nach und nach wurde ihre Stimme leiser. Langsam schloss sie die Augen und versank tief in einen Traum …
Bunte Luftbläschen trieben dicht an Kiki vorüber. In diesem Traum trug sie ein rotes Kleid und saß auf einer feinen weißen Koralle auf dem Meeresgrund. Wie ein unendlich großer weißer Wald zogen sich die Äste und Stämme des Korallenriffs weit über den sandigen Boden hinweg. Der Meeresboden war weder kalt noch düster, wie man vielleicht annehmen würde. Das Licht hier war von einem durchscheinenden Hellblau, das Wasser angenehm warm und Kiki konnte darin problemlos atmen. Fantastisch leuchtende Fische flitzten immer wieder an ihr vorbei. Alles hier wirkte wie ein riesiges wunderbares Gemälde. Luftblasen perlten aus Kikis Mund. Ihr schwarzes Haar tanzte im Rhythmus der Strömung. Derselbe Rhythmus trug die Leuchtquallen über ihr durch das Wasser. Zu ihren Füßen schwankte das Seegras wie zur Melodie eines stillen Walzers hin und her. Irgendwo in der Ferne klang lange das Lied eines Walgesangs nach, dem die Wellen den Takt klatschten. Ein paar gelb schimmernde Segelflosser und Clownfische umrundeten Kiki. Sie schwammen auf und ab, mal schnell und mal langsam. Verspielt streckte Kiki eine Hand nach ihnen aus.
»Blubb, blubb!« Kiki lachte und aus ihrem Mund stieg ein fröhliches Gluckern. Sie strampelte ein paarmal mit den Beinen, dann stand sie auf und blickte in die Ferne. Die Hände wie einen Trichter vor den Mund gelegt, rief sie laut: »Kun!«
»Tuuut …«, antwortete eine Stimme von weit her. Ihr Echo hallte über den Meeresgrund.
Es dauerte nicht lang, da kam ein Wesen auf Kiki zugeschwommen – es war ein Tier, groß wie ein Berg: ein beinahe durchsichtiger cremeweißer Buckelwal, der hell leuchtete. Mit einem glücklichen Grinsen im Gesicht sprang Kiki leichtfüßig auf den Wal auf. Aus der Entfernung sah das Mädchen kaum größer aus als ein kleiner roter Punkt auf seinem Kopf.
»Lass uns losschwimmen, einfach so und ohne Ziel!«, entschied Kiki. Mit einem lauten Ruf wandte sich der weiße Wal um und schwamm hinaus in die offene Tiefsee. Kiki stand auf seinem Kopf, streckte beide Arme in die Höhe und jubelte laut. Sie genoss die Schönheit des Meeresbodens, den Rausch der Geschwindigkeit und das Wasser, das ihr über das Gesicht floss …
In ihrem dreizehnjährigen Leben hatte Kiki schon immer selbst bestimmen können, wovon sie träumte. Dass sie die Kontrolle über ihre Träume hatte, hielt sie deshalb auch nicht für eine besondere Fähigkeit, sondern für ganz normal. Am allermeisten begeisterte sie sich dabei für das Meer. Das lag daran, dass ihre Mutter ihr einmal versprochen hatte, ihr das Meer zu zeigen. Doch dann war ihre Mutter verstorben, bevor sie Gelegenheit dazu hatten. So hatte das unerfüllte Versprechen den Weg in Kikis Träume gefunden. Sie schuf sich eben selbst eine wunderbare Meereslandschaft, ganz nach ihren eigenen Vorstellungen. Im Unterschied zu den Bildern, die Kiki im Fernsehen und auf Fotos gesehen hatte, war das Meer in ihren Träumen immer warm und das Wasser klar und durchsichtig. Es fühlte sich an wie eine Umarmung ihrer Mutter, wie ein Ort, an dem alle Anspannung von ihr abfiel. Hier fand sie Ruhe und Zuflucht vor der Wirklichkeit.
Drrring! Zum dritten Mal klingelte der silberne Wecker auf Kikis kleinem Schreibtisch. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Ein paar Haarsträhnen standen wild von ihrem Kopf ab und durch das Fenster schien die Sonne auf ihr Bett. Verschlafen sah Kiki nach der Uhrzeit – oh nein, sie war zu spät dran! Dabei durfte sie auf keinen Fall unpünktlich sein, nicht heute! Sie sprang aus dem Bett, schlüpfte in ihre Schuluniform, stopfte ihre Hefte und Schulbücher in den Ranzen und stürzte aus dem Zimmer. Nicht einmal für eine schnelle Katzenwäsche reichte die Zeit noch. Kiki rannte durch das unaufgeräumte kleine Wohnzimmer, vorbei an dem verschlissenen Sofa, dem alten Fernseher und dem Esstisch. Auf dem Couchtisch stapelten sich Zeitungen und in der Luft lag ein Geruch von Schimmel. Auf dem Esstisch sah Kiki eine umgestoßene leere Schnapsflasche. Die Tür zum Schlafzimmer stand sperrangelweit offen. Lautes Schnarchen dröhnte daraus hervor – ihr Vater war abends bestimmt wieder betrunken zu Bett gegangen.
Miro hieß ihr Vater und er war Facharbeiter in einer Autofabrik. Kikis Mutter war Näherin gewesen und hatte ihre eigene kleine Schneiderei betrieben. Sie war in der Nachbarschaft für ihre Freundlichkeit und ihr Geschick bekannt gewesen und das Geschäft war gut gelaufen. Oft hatte sie bis spät in die Nacht hinein gearbeitet. Die langen Arbeitstage und die Erschöpfung waren auch der Grund für eine schwere Krankheit gewesen, an der ihre Mutter schließlich gestorben war. Kikis Eltern hatten sich nahegestanden und sich so sehr geliebt, dass ihr Vater den Tod ihrer Mutter nie ganz überwunden hatte. Seit diesem Verlust hatte er sich verändert. Miro war verschlossen und selbstsüchtig geworden. Oft trank ihr Vater zu viel und Freunde hatte er auch keine mehr. Er hatte sich selbst aufgegeben. Auch seine Leistungen in der Arbeit waren miserabel. Sein Vorgesetzter ermahnte ihn regelmäßig und drohte bereits mit Lohnkürzungen und sogar mit Entlassung.
Drei Jahre war es jetzt her, dass Kikis Mutter gestorben war. Ihr Zuhause war seitdem nicht mehr das, was es einmal gewesen war. Kikis Leben sah ganz anders aus als früher: Von einem mit Liebe umsorgten kleinen Mädchen hatte sie sich in ein Kind verwandelt, das vollkommen auf sich allein gestellt war – in ein Kind, das sich um alles selbst kümmern musste. Abgesehen von den Hausaufgaben, bei denen ihr niemand half, kümmerte sie sich auch um die Wäsche, das Putzen und Kochen und um ihren Vater. Die behüteten Tage der Kindheit waren für Kiki jedenfalls vorbei. Sie war in jeder Hinsicht zäh und körperlich genauso stark wie ein Junge.
Kiki wollte gerade hinauslaufen, da zögerte sie kurz, die Hand bereits auf der Türklinke. Sie wusste, dass sie keine Antwort bekommen würde, und doch gab sie die Hoffnung nicht ganz auf. Laut rief sie in Richtung des Schlafzimmers: »Pa, ich gehe zum Unterricht!«
Schnarchen drang durch die offene Tür.
Kiki seufzte leise, schnallte sich den Schulranzen auf den Rücken und lief hinaus.
Kiki und ihr Vater lebten in Meliaka, einer alten Stadt mit einer langen Geschichte und mehreren Millionen Einwohnern. Das Klima war mild und feucht und hohe Sonnenschirmbäume säumten die Straßen. Diese Bäume spendeten mit ihren großen Blättern angenehmen Schatten, und wenn ihnen zu heiß wurde, falteten sie die Blätter zusammen wie einen Schirm. Daher hatten sie ihren Namen. Kiki kannte sich mit Geografie eigentlich nicht besonders gut aus, aber eine Sache wusste sie: Vom nächsten Meer war ihre Heimatstadt weit entfernt.
Meliaka hatte eine interessante Besonderheit: Sie war in Bezirke unterteilt, denen jeweils eine Farbe des Regenbogens zugewiesen war. Es gab also einen roten, orangen, gelben, grünen, blauen und einen violetten Bezirk. Die Stadt hatte sich im Laufe der Zeit kreisförmig ausgebreitet, und so ähnelten die verschiedenen Stadtteile sieben Kuchenstücken, die das Zentrum in der Mitte umschlossen. Kiki wohnte im blauen Viertel. Dieser Bezirk war leicht zu erkennen: Alle Geschäfte, Steintreppen, Straßenschilder, Gassen, Gehwege und Wohnhäuser waren blau angemalt. Der blaue Bezirk war ein ruhiger Stadtteil. Weitab von den belebten Einkaufsstraßen und dem Trubel war er eher so etwas wie das Bildungsviertel der Stadt, denn hier befanden sich die wichtigsten Universitäten sowie Museen und Schulen.
»Das war’s, ich bin erledigt!«, heulte Kiki ihren Frust heraus und trat fest in die Pedale. Sie kurvte durch eine verwinkelte, enge Gasse und verärgerte dabei ein paar Fußgänger, die sich erschraken. Am Ende der Gasse bog sie in eine Allee mit hohen Sonnenschirmbäumen ein. Durch die Lücken des Blätterdickichts fiel Sonnenlicht. Kiki schwitzte vor Anstrengung und beeilte sich so sehr, dass ihr kurzes Haar und ihr Rock im Gegenwind flatterten.
Es war Anfang September und der Beginn eines neuen Schuljahres. Mit dem Herbstbeginn war auch das Wetter wieder abgekühlt. Die Blätter an den Bäumen färbten sich gelb. Es war der erste Tag des neuen Schuljahres und ausgerechnet heute würde sich Kiki zum Unterricht bei ihrem Klassenlehrer gehörig verspäten. Herr Yama, der in ihrer Schule Mathematik unterrichtete, war jähzornig, streng und stur. Er war gefürchtet und bekannt dafür, seine Schüler gern zu bestrafen.
Außerdem war er ein sehr schlechter Verlierer: Man brauchte ihn zum Beispiel nur mit dem Fahrrad zu überholen, und schon trat er kräftiger in die Pedale, um schnell wieder vorne zu fahren. Seine Klasse führte er mit eiserner Disziplin. Gegen Kiki, die andauernd irgendwelche Regeln brach, hegte er eine besonders tief sitzende Abneigung. Er war ständig auf der Suche nach neuen Gründen, sie aus dem Unterricht zu werfen. Das dämpfte Kikis Freude an Mathematik und ihre Noten in diesem Fach zählten grundsätzlich zu den schlechtesten.
Endlich kam Kiki vor der Schule an. Gengu Mittelschule war auf dem riesigen weißen Marmorschild am Eingang eingraviert. Der Schulhof war menschenleer, die anderen Kinder saßen bereits in ihren Klassenzimmern. Kiki fuhr durch das Haupttor, stellte ihr Fahrrad unter den dicht wachsenden Blättern eines Sonnenschirmbaums ab und lief über den Schulrasen zu einem blauen Gebäude. Die große Uhr auf dem Dach zeigte, dass sie bereits zehn Minuten zu spät kam.
Kiki rannte keuchend die Treppen hinauf in den dritten Stock. Auf Zehenspitzen schlich sie zu ihrem Klassenzimmer, das am Ende des Gangs lag. Sie hoffte auf das Unmögliche: Vielleicht war ihr Lehrer ja noch gar nicht da? Doch schon ein kurzer, vorsichtiger Blick durch das Fenster machte diese leise Hoffnung auf der Stelle zunichte. Da stand Herr Yama und informierte die Klasse mit seiner typisch unzufriedenen Miene über den Stoff des neuen Schuljahres.
Möglichst lautlos lief Kiki zur hinteren der beiden Türen, die in den Klassenraum führten, und drehte zaghaft am Knauf. Es klickte, sie war nicht verschlossen! Kiki holte tief Luft, schluckte und schob die Tür einen Spaltbreit auf. Dann ging sie in die Hocke und quetschte sich durch den Türschlitz. Im Klassenzimmer war es mucksmäuschenstill, nur die Stimme von Herrn Yama war zu hören. Starr und stumm hielten die eingeschüchterten Schüler ihre Augen nach vorne gerichtet.
»Die Verwendung von Mobiltelefonen im Unterricht ist ab sofort verboten. Die Weitergabe von Notizen und Zettelchen ist ebenso verboten. Wen ich dabei erwische …« Herr Yama musterte seine Klasse wie ein Wolf seine Beute. Mit schroffer Stimme zählte er dabei eine neue Regel nach der anderen auf. Er war breit und stämmig und trug sein schwarzes Haar streng nach hinten gekämmt. Auf seiner Nase saß eine Brille mit einem klobigen schwarzen Rahmen und darunter, über den Lippen, prangte ein buschiger Schnurrbart. Sein altmodisches weißes Hemd steckte in einer hellblauen Hose. Der Hosenbund war durch einen Gürtel ungewöhnlich hochgeschnallt.
Kiki krabbelte hinter dem Schutz der letzten Tischreihe näher an ihren Platz heran und wartete auf den richtigen Moment, um sich unbemerkt hinzusetzen.
»… Und denkt immer daran: Lernen bestimmt euer Schicksal!«, brüllte Herr Yama plötzlich. Ein Schüler ließ vor Schreck den Stift fallen, mit dem er gerade gespielt hatte. »Darüber hinaus werde ich alles tun, um die gravierenden Anwesenheitsprobleme des vergangenen Halbjahres zu beheben! Schwänzen, unerlaubtes Fehlen, Zuspätkommen und Frühergehen, davon spreche ich!«
Kiki schob sich näher und näher an ihren Stuhl heran. Die Schüler in der Reihe vor ihr bemerkten, dass sich hinter ihnen etwas bewegte … und wandten sich, einer nach dem anderen, zu ihr um.
»Oha? Wen haben wir denn da?«, knurrte Herr Yama und starrte Kiki zwischen den beiden Tischreihen grimmig an. »Aufstehen!«
Kiki wurde schwarz vor Augen. Widerwillig richtete sie sich auf, den Blick verlegen auf ihre Schuhe gesenkt. Eine widerspenstige Haarsträhne stand nach oben von ihrem Kopf ab. Die anderen Schüler begannen zu tuscheln und ein paar lachten schadenfroh.
»Kiki, du schon wieder?!« Herr Yama sah Kiki böse an, zeigte mit dem Finger auf sie und brüllte: »Es ist der erste Schultag und du kommst schon wieder zu spät!«
Kiki hob den Kopf und lächelte ihren Klassenlehrer verunsichert an.
»Warum? Warum bist es immer du?«, schrie Herr Yama aufgebracht. Er war so wütend, dass ihm dabei kleine Speicheltropfen aus dem Mund flogen. »Ich habe die Schule mehrmals darum gebeten, die Verletzung der Anwesenheitspflicht mit einem Verweis zu bestrafen! Ist dir das klar?«
In diesem Moment öffnete sich quietschend die vordere Tür des Klassenzimmers und ein dünner Junge mit einer großen Schultasche auf dem Rücken trat ein. Schweigend ging er an seinen Platz und setzte sich. Dann begann er ruhig, die Lehrbücher, Hefte und Stifte aus seiner Tasche zu holen und zu sortieren. Dabei beachtete er weder den Lehrer noch die anderen Schüler. Er benahm sich, als seien sie alle nur Luft. Über sein schmales, blasses Gesicht, in dem eine Brille mit dicken Gläsern saß, fiel langes Haar. All dies ließ sein Gesicht noch kleiner und hagerer erscheinen. Das war Ruben – Leseratte, Bücherwurm und Klassenbester.
Unangenehmes Schweigen lag für ein paar Sekunden in der Luft, in denen Herr Yama tat, als hätte er Ruben nicht bemerkt. »Los, stell dich mit den beiden Eimern draußen vor die Tür!«, befahl der Lehrer Kiki und deutete auf zwei Wassereimer, die neben dem Pult standen. »Wehe, du stellst sie wieder auf den Boden, bevor ich es dir erlaubt habe!«
Herr Yama hatte ganz offensichtlich nicht vor, seinen Lieblingsschüler Ruben zu bestrafen – auch wenn er sich noch mehr verspätet hatte als Kiki. Für Herrn Yama zählten lediglich die Noten. Schulischer Erfolg war das einzige Kriterium, an dem sich ein Schüler in seinen Augen wirklich messen ließ. Und so ließ er bei guten Schülern Nachsicht walten, die mit den schlechten Noten verschonte er hingegen nie.
»Oh …«, murmelte Kiki niedergeschlagen, holte die Eimer und stellte sich damit vor die Klassentür.
Drring!
Mit dem Läuten der Schulglocke begann die Pause und die Schüler entspannten sich. Kiki stand in ihre Gedanken versunken noch immer mit den Wassereimern vor der Tür. Nur hin und wieder warf sie einen Blick auf Herrn Yama.
»Schon wieder zu spät, die Schlafmütze!« Tavis, ein dicker Junge mit stoppeligem Haar, kam laut spottend aus dem Klassenzimmer. Dicht hinter ihm folgte ein magerer Mitschüler namens Ifu. Die beiden waren beste Freunde und unzertrennlich. Gemeinsam stellten sie jede Menge Unfug und schlimme Dinge an, stahlen ihren Mitschülern das Pausenbrot, schikanierten und quälten andere und machten mit Begeisterung alle möglichen Dinge in der Schule kaputt. Kiki hatte unter den beiden besonders oft zu leiden.
»Richtig, unsere kleine Kiki versucht doch nur, mit diesem Trick Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen!«, pflichtete Ifu ihm frech bei.
Kiki hatte sich längst an ihre Hetzereien gewöhnt. Sie drehte sich weg und ignorierte die beiden. Als Tavis und Ifu merkten, dass Kiki ihnen keine Beachtung schenkte, ließen sie sich immer gemeinere Dinge einfallen. »Blöde Kuh, die will doch lieber ein Junge sein! Loserin! Keiner liebt dich, nicht mal deine Eltern!«, riefen sie laut im Chor.
»Ihr …« Kiki funkelte die beiden böse an, innerlich schäumend vor Wut. Da kam Herr Yama aus dem Klassenzimmer. Tavis und Ifu suchten eilig das Weite.
»Zurück in die Klasse!«, befahl Herr Yama säuerlich und ging weiter ins Lehrerzimmer.
Nachdem der Lehrer sie auf diese Weise »begnadigt« hatte, stellte Kiki die Eimer endlich wieder ab. Mit schmerzenden Armen schleppte sie sich zurück an ihren Platz. Dort holte sie ihre Schulsachen heraus und ordnete die Hausaufgaben, die sie den Sommer über aufgehabt hatten.
Die nächsten beiden Stunden hatten sie Geschichte bei Herrn Livius, dem ältesten Lehrer an der Gengu-Mittelschule. Er hatte schneeweißes Haar, einen leichten Buckel und trug eine goldgerahmte Brille. Er war ein chaotischer, vergesslicher und irgendwie sehr typischer Gelehrter. Sein Unterricht war unbestritten der eintönigste und langweiligste von allen. Seine raue Stimme hatte eine hypnotische, einschläfernde Wirkung. Zu allem Überfluss bestand seine Unterrichtsmethode darin, den Text aus dem Buch nuschelig Wort für Wort abzulesen. Gegen die Müdigkeit, die einen dabei ergriff, konnte sich kaum jemand wehren. Die Schüler hatten seinen Unterricht deshalb heimlich »Schlafistik« getauft.
»In der heutigen Stunde nehmen wir den zweiten Teil der Geschichte der Neuzeit durch. Die moderne Industrie unserer Nation begann mit …« Herr Livius las aus seinem Buch vor und suchte dabei nach Schülern, die ihm aufmerksam folgten. Durch die altmodischen Brillengläser wirkten seine Augen seltsam groß. Enttäuscht musste er feststellen, dass die eine Hälfte seiner Zuhörer es sich bereits bequem gemacht hatte und teilnahmslos auf den Tischen lag. Die zweite Hälfte unterhielt sich flüsternd. Einige Schüler spielten unter dem Tisch mit dem Handy oder schrieben in letzter Sekunde noch schnell Hausaufgaben ab. Kiki lümmelte auf ihrem Pult, die Gedanken Tausende Kilometer weit fort, irgendwo anders, nur nicht im Klassenzimmer. Die Zeit bis zur Pause schien endlos.
In der Mittagspause spazierte sie allein durch den lauten Tumult in der Mensa. Sie holte sich ein vegetarisches Gericht mit Reis, setzte sich damit schweigend an einen Tisch in der Ecke und schob sich das Essen in großen Bissen in den Mund. Unter den zahlreichen Grüppchen, die gemeinsam aßen und sich miteinander unterhielten, wirkte Kiki einsam und allein. Sie hatte keine Freunde. Oder besser gesagt: dass sich niemand um ihre Freundschaft bemühte, war ihr egal.
Kiki war anders, sie passte nicht dazu – so dachten die meisten ihrer Klassenkameraden. Sie war eigenwillig und benahm sich ziemlich verrückt. Zum Beispiel starrte sie oft für lange Zeit wie gebannt auf völlig uninteressante Gegenstände. Manchmal wirkte sie konzentriert und in ihre eigenen Gedanken versunken, und manchmal lachte sie einfach so laut auf, weil ihr plötzlich etwas eingefallen war. Im Gegensatz zu vielen der Mädchen legte Kiki kaum Wert auf ihr Äußeres. Sie machte sich nie hübsch oder schminkte sich, war oft ungekämmt und trug häufig alte Kleidungsstücke ihrer Mutter. Im Sportunterricht war Kiki sogar mutiger als die meisten Jungen. Und was manche Mädchen zum Weinen brachte, entlockte Kiki nur ein Lächeln. Nichts auf dieser Welt schien wirklich in ihr Herz vorzudringen.
»Kiki, ich … darf ich mich hier hinsetzen?«, fragte eine sanfte Stimme.