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Edgar Allan Poe

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Beschreibung

Was Edgar Allan Poe zwischen 1841 (“The Murders in the Rue Morgue”) und 1844 (“The Purloined Letter”) erschaffen hat, war nichts weniger als den modernen Detektiv, und um ihn herum das Narrativ des urbanen Kriminalromans. “Tales of ratiocination” nennt Poe selbst das Genre, in dessen Zentrum die auf den ersten Blick oft absurd und unglaublich erscheinenden Schlussfolgerungen des Chevalier C. Auguste Dupin stehen, die — siehe die “Fallstudien” von Dr. James Watson — aus der Perspektive eines faszinierten Freundes, Mitbewohners und Berichterstatters erzählt werden. “Er liebt Rätsel, Geheimnisse und Hieroglyphen, und zeigt bei der Lösung eine Art von Scharfsinn, die gewöhnlichen Menschen übernatürlich erscheinen muß”, schreibt Poe im Vorwort zu “The Murders in the Rue Morge” über den Typus des “Analytikers”, der seinen Geist ähnlich trainiere wie ein physisch starker Mensch seine Muskeln. Dupin ist genau so ein genialer Kombinatoriker, und diente als Vorbild für alle späteren Detektive der Literaturgeschichte, allen voran Sherlock Holmes, Hercule Poirot und Lord Peter Wimsey. Viele Stilelemente des modernen Krimis treten überhaupt erstmals in “The Murders in the Rue Morgue” und den weiteren Kriminalgeschichten auf: vom exzentrischen Privatermittler selbst über den ebenso selbstgefälligen wie unfähigen Kriminalpolizisten (Polizeipräfekt “G–“) bis hin zum “Closed Room”-Rätsel, dessen Lösung am Ende vom Detektiv präsentiert wird. Überarbeitete, ungekürzte Ausgabe, ergänzt mit einem literaturhistorischen Nachwort des Herausgebers.

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Edgar Allan Poe

Drei Fälle für Dupin

Die Morde in der Rue Morgue

Das Geheimnis um Marie Rogêt

Der entwendete Brief

 

edition ©opy ©at ©rime

Impressum
Copyright © 2024
krautpublishing
Dr. Ansgar Warner
Rungestr. 20 (V)
10179 Berlin
Veröffentlicht überTolino Media
Herausgegeben &
mit Nachwort versehen
von Ansgar Warner
Überarbeitete Neuausgabe,
basierend auf:
Poe, Seltsame Geschichten
Übersetzt v. Alfred Mürenberg
Verlag W. Spemann
Stuttgart 1890 

Die Morde in der Rue Morgue

What song the Syrens sang, or what name Achilles assumed when he hid himself among women, although puzzling questions are not beyond all conjecture. Sir Thomas Browne.
Die geistig-analytischen Fähigkeiten sind selbst der Analyse durch den Geist nur schwer zugänglich. Wir beurteilen sie ausschließlich über ihre Effekte. Stehen sie in einem ungewöhnlich hohem Maße zur Verfügung, sind sie für ihren Besitzer eine Quelle außerordentlicher Genüsse. So wie sich ein physisch starker Mensch an seiner Tüchtigkeit berauscht und sich an Übungen erfreut, die seine Muskeln in Tätigkeit versetzen, so hat der Analytiker Freude an geistiger Tätigkeit, die die Dinge entwirrt. Das gilt selbst für die einfachsten Beschäftigungen, so lange sie ihm nur ermöglichen, seine Talente ins Spiel zu bringen. Er liebt Rätsel, Geheimnisse und Hieroglyphen, und zeigt bei der Lösung eine Art von Scharfsinn, die gewöhnlichen Menschen übernatürlich erscheinen muß. Tatsächlich haben die Resultate, wenn sie auch auf methodischem Vorgehen beruhen, einen Anschein von Intuition.
Die Begabung zur Problemlösung wird durch mathematische Studien gefördert, insbesondere durch das Studium der höchsten Mathematik, die man, wenn auch zu unrecht, wegen ihres rückwärts gerichteten Vorgehens Analysis nennt, gleichsam als sei es eine Analyse par excellence. Jedoch ist bloßes Rechnen noch nicht gleichbedeutend mit dem Analysieren. Ein Schachspieler zum Beispiel tut das eine, ohne sich im anderen Bereich zu bemühen. Demzufolge wird das Schachspiel, was seine Wirkungen auf den Intellekt betrifft, vollkommen falsch eingeschätzt.
Nun schreibe ich hier keine Abhandlung, sondern stelle lediglich einer merkwürdigen Erzählung einige eher zufällige Beobachtungen voran. Und so möchte ich allenfalls hinzufügen, daß die höheren Kräfte des reflektierenden Geistes durch das bescheidene Damespiel weitaus entschiedener wie auch gewinnbringender angestrengt werden als durch die anspruchsvollen Nichtigkeiten des Schachspiels.
Nehmen wir als Beispiel eine Partie Dame, bei der die Spielsteine sich bereits auf auf vier Könige reduziert haben, so daß kein Mangel an Überblick herrscht. Ganz offensichtlich kann hier der Sieg nur durch einen sehr geschickten Zug davongetragen werden, der auf einer besonderen geistigen Anstrengung beruht. Seiner üblichen Ressourcen beraubt, versetzt sich der Analytiker in sein Gegenüber, identifiziert sich mit ihm, und erkennt nicht selten auf einen Blick die einzige Methode (nicht selten eine absurd einfache), mit der er seinen Gegner in die Irre führen oder zu einem Fehlschluß verleiten kann.
Lange Zeit war das Kartenspiel Whist wegen seines Einflusses auf die Fähigkeit der Berechnung berühmt, und man kennt Männer von höchster Intelligenz, die ein scheinbar nicht zu erklärendes Vergnügen an diesem Spiel fanden, das Schachspiel jedoch als kleinlich verschmähten. Zweifellos gibt es nichts Ähnliches in der Art, was die analytischen Fähigkeiten so gründlich in Bewegung bringt. Der beste Schachspieler der gesamten Christenheit muß nichts weiter sein als eben der beste Schachspieler, die Tüchtigkeit beim Whist jedoch beinhaltet Fähigkeiten in allen anderen und wichtigeren Bereichen des Kampfes von Geist gegen Geist.
Mit “Tüchtigkeit” meine ich das umfasssende Verständnis aller Quellen, aus denen legitime Vorteile gezogen werden können. Diese sind nicht nur zahlreich, sondern auch äußerst vielfältig und verbergen sich in gedanklichen Gegenden, die dem durchschnittlichen Verstand kaum zugänglich sind.
Aufmerksam beobachten heißt, sich einzelner Details gut erinnern zu können, und diesbezüglich wird ein konzentrierter Schachspieler sich beim Whist sehr wohl hervortun, zumal die Regeln in ausreichendem Maße verständlich sind. Tatsächlich werden ein gutes Gedächtnis und die Einhaltung von Regeln im Allgemeinen sogar als die Summe aller Erfordernisse zu gutem Spiel angesehen.
Die Kunst des analytisch Denkenden erweist sich dagegen bei all jenem, was außerhalb der Regel liegt. Ganz in Ruhe macht er Beobachtungen und zieht daraus seine Schlüsse. Die Mitspieler werden es ihm gleichtun, und der Unterschied im Ausmaß der erhaltenen Informationen liegt nicht so sehr in der Gültigkeit der Schlußfolgerungen, als in der Qualität der Beobachtungen. Es geht darum zu wissen, was man beobachten soll. Unser Spieler legt sich hier keine Beschränkungen auf – nur weil das Spiel das Objekt seiner Beobachten darstellt, heißt das nicht, daß er seine Schlußfolgerungen nicht auch aus Dingen ziehen würde, die außerhalb des reinen Spiels liegen.
Er studiert den Gesichtsausdruck seines Vis-à-Vis, und vergleicht es sorgfältig mit dem der beiden Gegner. Er betrachtet sehr genau, wie die anderen ihre Karten in der Hand anordnen, nicht selten zählt er Trumpf um Trumpf, Honneur um Honneur allein über die einzelnen Blicke, die deren Besitzer darauf richten. Er verzeichnet jede Veränderung im Gesichtsausdruck, während das Spiel voranschreitet, und gründet seine Gedankengänge auf den vom Gesicht ablesbaren Ausdruck von Sicherheit, Überraschung, Triumph oder Bedauern.
Wie jemand einen Stich aufnimmt, verrät ihm, ob diese Person noch einen anderen in der selben Farbe aufnehmen kann. An der Mimik beim Abwerfen der Karten erkennt er zudem, ob ein Mitspieler eine Finte spielt. Ein zufälliges oder unabsichtlich hingeworfenes Wort, das versehentliche Ablegen oder Umdrehen einer Karte, zusammen mit der begleitenden Reaktion, das Zählen der Stiche, deren Anordnung, sowie Verlegenheit, Zögern, Eile, Bestürzung, alles dient der scheinbar intuitiven Erfassung des Spielzustandes.
Nachdem zwei oder drei Runden ausgespielt wurden, weiß er genau, was die anderen in der Hand haben, und legt von nun an seine Karten mit einer absoluten, so zielgerichteteten Präzision ab, als hätten die Mitspieler ihr Blatt offengelegt.
Die Befähigung zur Analyse sollte nicht mit schlichter Klugheit gleichgesetzt werden, denn während der Analytiker notwendigerweise klug sein muß, ist der kluge Mensch nicht selten in hohem Maße unfähig zur Analyse. Die konstruierende, kombinatorische Kraft, durch welche sich Klugheit normalerweise zeigt, und der die Phrenologen (meiner Meinung nach irrigerweise) ein bestimmtes Organ zuordnen, da sie diese für eine angeborene Fähigkeit halten, ist so oft an Menschen beobachtet worden, deren Verstand an Schwachsinnigkeit grenzte, daß diese Tatsache bereits zahlreichen Schriftstellern als Gleichnis gedient hat.
Der Unterschied zwischen Klugheit und der Fähigkeit zur Analyse ist weitaus größer als der zwischen Phantasie und Einbildungskraft, obwohl er zugleich einer strikten Analogie folgt. Man wird in der Tat immer finden, daß die klugen Menschen viel Phantasie besitzen, und die mit wirklicher Einbildungskraft begabten stets Analytiker sind.
Die nun folgende Erzählung dürfte dem Leser in mancherlei Hinsicht als ein Kommentar zu den gerade vorgebrachten Behauptungen erscheinen.
Während meines Aufenthalts in Paris im Frühjahr und Sommer 18 . . lernte ich dort einen gewissen C. Auguste Dupin kennen. Dieser junge Herr gehörte einer guten, ja einer hochberühmten Familie an, war aber durch allerlei Mißgeschick derartig verarmt, daß er alle Energie, alles Streben verloren hatte. Durch die Nachsicht seiner Gläubiger blieb ihm noch ein kleiner Rest seines Erbes, und seine außerordentliche Sparsamkeit machte es ihm möglich, von den Zinsen zu existieren. Sein einziger Luxus bestand in Büchern, und diese sind ja in Paris leicht und billig zu beschaffen. Wir trafen uns zum erstenmal in einer obskuren Leihbibliothek der Rue Montmartre, woselbst uns der Zufall, daß wir beide nach einem und demselben seltenen und wertvollen Buche fragten, näher zusammenführte. Seitdem sahen wir uns häufiger. Ich nahm warmen Anteil an der kleinen Familiengeschichte, welche er mir mit all der Offenherzigkeit eines Franzosen erzählte. Seine außerordentliche Belesenheit setzte mich in Erstaunen, und was die Hauptsache war, ich fühlte, wie an der lebendigen Frische, an der wilden Glut seiner Phantasie meine eigene Seele sich entflammte — ich fühlte, daß die Gesellschaft eines solchen Mannes für mich ein Schatz von unberechenbarem Wert sein würde, und gestand ihm dies offen ein. Schließlich kamen wir dahin überein, daß wir, so lange ich noch in der Stadt verweilte, zusammen wohnen wollten, und da meine Finanzen sich in besserer Ordnung befanden als die seinigen, so mietete ich in einem sehr abgelegnen Teile des Faubourg St. Germain ein altes, verfallenes Haus von groteskem Aussehen und möblierte dasselbe in einer Weise, wie sie unsrer phantastisch-düstern Gemütsstimmung zusagte.
Hätte die Welt erfahren, welche Art von Leben wir dort führten, sie würde uns für ein paar — allerdings harmlose — Verrückte gehalten haben. So aber bewahrten wir die strengste Abgeschiedenheit. Niemand besuchte uns; selbst meinen alten Bekannten blieb unser Wohnort unbekannt, und was Dupin betrifft, so war er schon seit Jahren für die Pariser verschollen. Kurz, wir lebten nur für uns selbst.
Zu den phantastischen Grillen meines Freundes — denn wie sollte ich es sonst nennen? — gehörte auch seine Schwärmerei für die Nacht, und ich, der ich mich mit vollständigem ,abandon' all seinen bizarren Launen hingab, teilte dieselbe bald mit ihm. Wollte die dunkle Göttin nicht aus freien Stücken allezeit bei uns weilen, so konnten wir sie doch auf künstlichem Wege herbeirufen. Beim ersten Morgengrauen schlossen wir sämtliche schwere Fensterläden des alten Bauwerks, zündeten ein paar parfümierte Kerzen an, welche nur ein mattes, geisterhaftes Licht gaben, und versenkten unsre Seelen in Träumereien — lasen, schrieben oder plauderten, bis die Uhr uns verkündete, daß die wirkliche Nacht gekommen sei. Dann schlenderten wir Arm in Arm hinaus auf die Straßen, wo wir die Gespräche des Tages fortsetzten oder stundenlang weit umherstreiften, um inmitten der gespenstischen Schatten und Lichter der Riesenstadt jene endlose Fülle geistiger Anregung zu suchen, welche ruhige Beobachtung zu bieten vermag.
Bei derartigen Ausflügen hatte ich wiederholt Gelegenheit, Dupins außerordentliches Analysier-Talent zu bewundern. Es schien ihm große Freude zu machen, wenn er dasselbe üben konnte, und er machte aus dieser Freude keinen Hehl. Unter leisem Kichern rühmte er sich, daß er den meisten Menschen, wie durch ein Fenster, in ihr Inneres blicken könne, und dann pflegte er alsbald den Beweis hierfür in der überraschendsten Weise zu liefern, indem er die Geheimnisse meines eigenen Herzens enthüllte. Zu solchen Zeiten schien er in tiefes Grübeln verloren — sein Blick war starr ins Innere gerichtet, seine sonst so vollklingende Tenorstimme verflog sich zu einem Diskant, welcher einen Anflug voll Mutwillen gehabt hätte, wenn die Worte nicht so bedächtig, so klar und deutlich gesprochen worden wären. Wenn ich ihn in solcher Stimmung beobachtete, dann kam mir oft die alte Philosophie von der zweiteiligen Seele in den Sinn, und ich ergötzte mich durch die Idee von einem doppelten Dupin — dem schaffenden und dem auflösenden. Ein Beispiel wird hier den Charakter, welchen seine Äußerungen zu solchen Zeiten trugen, am besten deutlich machen. Eines Nachts wandelten wir durch eine schmutzige Gasse in der Nähe des Palais Royal, und da wir beide unsern eigenen Gedanken nachhingen, so hatte während einer vollen Viertelstunde keiner von uns eine Silbe gesprochen. Da platzte Dupin ganz urplötzlich mit den Worten heraus:
“Es ist wahr, der Kerl hat eine sehr winzige Figur und würde besser auf das Théâtre des Variétés passen.”
“Ganz gewiß”, antwortete ich unwillkürlich; denn in meiner Zerstreutheit war mir anfänglich die wunderbare Art, in welcher seine Bemerkung zu meinen Grübeleien stimmte, gar nicht ausgefallen. Um so größer war mein Erstaunen, als ich mich einen Moment später gesammelt hatte.
“Dupin”, sagte ich sehr ernst, “das übersteigt meine Fassungskraft. Ich gestehe, daß ich starr bin vor Staunen und kaum meinen Ohren trauen mag. Wie in aller Welt konnten Sie wissen, daß meine Gedanken gerade in diesem Augenblick bei —”
Hier hielt ich inne, um über allen Zweifel festzustellen, ob er wirklich wisse, an wen ich gedacht hatte.
“Bei Chantilly waren”, sagte er. “Weshalb stocken Sie? Sie sagten sich soeben, daß seine kleine Gestalt ihn für die Tragödie untauglich mache.”
Das war genau mein Gedanke gewesen. Chantilly war ein ehemaliger Flickschuster aus der Rue St. Denis, der den Theatersparren bekommen und den Xerxes in Crebillons gleichnamiger Tragödie gespielt hatte, wofür er nun öffentlich verhöhnt wurde.
“Erklären Sie mir”, rief ich aus, “um des Himmels willen, welche Methode Sie anwenden, um derartig in mein Innerstes zu blicken!”
“Es war der Obsthändler”, versetzte mein Freund; “welcher Sie zu dem Schluß brachte, daß der einstige Flicker der Sohlen nicht die genügende Körperhöhe für Xerxes et id genus omne besitze.”
“Der Obsthändler? — ich verstehe Sie nicht; ich kenne gar keinen Obsthändler —”
“Der Mann, welcher gegen Sie rannte, als wir in diese Straße einbogen; es kann vor etwa einer Viertelstunde gewesen sein.” Jetzt besann ich mich in der Tat, daß ich beim Einbiegen aus der Rue — in die Gasse, wo wir uns eben befanden, von einem Obsthändler, welcher einen großen Korb mit Äpfeln auf dem Kopfe trug, beinahe umgerannt worden war. Was dies jedoch mit Chantilly zu tun haben sollte, vermochte ich nicht zu begreifen.
Dupin war jeder Art von Charlatanerie abhold. “Ich will es Ihnen erklären”, sagte er sofort; “und damit Sie alles ganz deutlich verstehen, wollen wir zuerst Ihren Gedankengang von dem Moment, in welchem ich zu Ihnen sprach, bis zu dem Rencontre mit dem Obsthändler rückwärts verfolgen. Die Hauptstationen desselben sind folgende: Chantilly — Orion — Dr. Nichols — Epikur — die Stereotomie — die Pflastersteine — der Obstmann.”
— Es dürfte wenige Personen geben, die sich niemalsdas Vergnügen gemacht haben, eine bestimmte Gedankenreihe Schritt für Schritt rückwärts zu verfolgen. Diese Bestätigung ist oft hochinteressant, und wer sich ihr zum erstenmal hingibt, staunt über die anscheinend maßlose Entfernung zwischen Ausgangs- und Endpunkt und über deren scheinbare Unvereinbarkeit. So war auch meine Verwunderung eine außerordentliche, als ich meinen Freund obige Worte sprechen hörte und mir doch eingestehen mußte, daß sie Wahrheit enthielten. Er fuhr fort:
“Wenn ich mich recht entsinne, hatten wir in der Rue — zuletzt über Pferde geplaudert. Dann bogen wir hierein, und ein Obsthändler mit einem großen Korbe auf dem Kopf, der hastig an uns vorübereilte, stieß Sie gegen einen Haufen Pflastersteine, die man, um den Fahrdamm an jener Stelle zu reparieren, dort zusammengetragen hatte. Sie traten auf einen der lose daliegenden Steine, rutschten aus, vertraten sich den Fuß ein wenig, machten ein verstimmtes Gesicht, murmelten etwas, sahen sich nach dem Haufen um und gingen dann schweigend weiter.
“Im Fortschreiten blieb Ihr Blick auf den Boden geheftet und Sie betrachteteten die Löcher und ausgefahrenen Stellen noch immer mit trotziger Miene, bis wir an der kleinen, nach Lamartine benannten Seitengasse anlangten, welche man versuchsweise mit den neuen Blöcken gepflastert hat, die Übereinandergreifen und sich so gegenseitig festhalten. Hier klärte Ihre Miene sich auf — ich sah, daß Ihre Lippen sich bewegten, und war überzeugt, daß Sie das Wort ,Stereotomie' murmelten, denn diesen Namen hat man ja unberechtigterweise der neuen Pflasterung gegeben.
“Nun wußte ich, daß Sie das Wort ,Stereotomie' nicht aussprechen könnten, ohne von diesem auf ,Atome' und dadurch auf die Atomenlehre des Epikur zu kommen — um so weniger, als wir erst unlängst über dessen Theorien debattiert hatten. Damals nun hatte ich Sie darauf aufmerksam gemacht, in wie hohem Maße die Vermutungen jenes edeln Griechen durch die neuere Kosmogenie, namentlich durch die Untersuchungen des Dr. Nichols über Nebelflecke, ihre Bestätigung gefunden, und ich erwartete jetzt, daß Sie den Blick alsbald zu dem großen Ihnen bekannten Nebelfleck im Orion aufschlagen würden. Das taten Sie denn auch wirklich, und ich sah, daß ich bis dahin Ihrem Gedanken Schritt für Schritt gefolgt war. In jener bitterbösen Rezension aber, welche im gestrigen Musée über Chantilly erschien, hatte der Kritiker einige boshafte Anspielungen darauf gemacht, daß der Schuhmacher, als er selbst den Kothurn anzog, seinen Namen verändert habe, und bei der Gelegenheit einen lateinischen Vers zitiert, über welchen wir mehrfach miteinander gesprochen haben. Ich meine den Vers:
,Perdidit antiquum litera prima solum'
“Ich hatte Ihnen damals erzählt, daß mit diesem ersten Buchstaben, der seinen alten Laut verlor, das erste O in Orion gemeint sei, weil man anfänglich Urion geschrieben habe. Somit stand es für mich fest, daß Sie die Begriffe Orion und Chantilly miteinander verbinden mußten, und daß Sie es wirklich taten, ersah ich aus dem Lächeln, welches Ihre Lippen umspielte — Sie dachten an die literarische Abschlachtung des armen Schusters.
“Bisher waren Sie nachlässig und gebückt einhergeschritten; jetzt aber richteteten Sie sich in Ihrer ganzen Höhe empor, und nun wußte ich sofort, daß Sie an die zwerghafte Gestalt Chantillys dachten, und weckte Sie durch die Äußerung aus Ihren Grübeleien, daß er allerdings ein sehr kleiner Kerl sei und sich besser für das Théâtre des Variétés eignen würde.”
— Bald nach diesem Vorfall fesselte beim Durchlesen des Abendblattes der “Gazette des Tribunaux” der hier folgende Artikel unsere Aufmerksamkeit: “Ein Doppelmord unter ganz außergewöhnlichen Umständen. — Diesen Morgen gegen drei Uhr wurden die Bewohner des Quartier St. Roch durch anhaltendes, entsetzliches Geschrei aus dem Schlafe geschreckt, welches anscheinend aus dem vierten Stock eines Hauses in der Rue Morgue drang, das nur von einer Madame L'Espanaye und deren Tochter, Fräulein Camille L'Espanaye, bewohnt wird.
Nachdem man zuerst vergeblich versucht hatte, auf dem gewöhnlichen Wege Einlaß zu erlangen, wurde die Haustür mittelst eines Brecheisens erbrochen, und acht bis zehn von den Nachbarn drangen, von zwei Gendarmen begleitet, ein. Inzwischen hatte jenes Geschrei aufgehört; während aber die Leute die unterste Treppenflucht hinaufstürzten, konnten sie zwei oder mehrere rauhe, anscheinend mit einander streitende Stimmen unterscheiden, die gleichfalls von oben kamen. Sobald das zweite Stockwerk erreicht war, verstummten auch diese und alles blieb ruhig. Nun verteilten sich die Leute und eilten von Zimmer zu Zimmer. Als sie schließlich in einem geräumigen, nach hinten hinausliegenden Schlafgemach des vierten Stockes anlangten, dessen Tür von innen mittelst Schlüssels verschlossen war und ebenfalls aufgesprengt werden mußte, bot sich ihnen ein ebenso entsetzlicher wie staunenerregender Anblick.
“Das Zimmer befand sich in der wildesten Unordnung. Die Möbel waren zerbrochen und nach allen Richtungen umhergeworfen. Es stand nur eine einzige Bettstelle darin; das Bett war herabgerissen und mitten auf den Flur geworfen. Auf einem Stuhl lag ein mit Blut beschmiertes Rasiermesser. Im Kamin lagen zwei oder drei lange Strähnen grauen menschlichen Haares, die gleichfalls mit Blut befleckt und mit den Wurzeln ausgerissen worden waren. Auf den Dielen fand man vier Napoléons, einen Ohrring von Topas, drei große silberne Löffel, drei kleinere von Metall d'Alger, und zwei Beutel, die nahezu viertausend Francs in Gold enthielten. Die Schubfächer einer in der Ecke stehenden Kommode waren herausgezogen und allem Anschein nach teilweis geplündert, obwohl sich noch viele Gegenstände darin vorfanden. Unter dem Bette — nicht unter der Bettstelle — entdeckte man einen kleinen Kasten von Eisen; er war offen und der Schlüssel steckte noch darin; das Kästchen enthielt jedoch nichts weiter, als einige alte Briefe und andere wertlose Papiere.
“Von Madame L'Espanaye war keine Spur zu finden; da man aber auf der Feuerstelle eine ungewöhnliche Quantität von Ruß gewahrte, so untersuchte man den Schornstein und — entsetzliche Entdeckung! — zog den Leichnam der Tochter aus demselben hervor, welcher mit dem Kopf nach unten eine ziemliche Strecke weit in die enge Öffnung hineingezwängt worden war. Die Leiche war noch warm, die Haut, ohne Zweifel durch das gewaltsame Hinaufzwängen und Herabreißen, vielfach zerschunden. Das Gesicht war stark zerkratzt, und am Halse fanden sich dunkle Flecke und tiefe Eindrücke von Fingernägeln, als ob eine Erwürgung vorhergegangen sei.
“Nachdem die Leute, ohne mehr entdecken zu können, das ganze Haus durchsucht hatten, gelangten sie in einen kleinen gepflasterten Hof an der Rückseite des Gebäudes und fanden hier die Leiche der älteren Dame, welcher der Hals so vollständig durchschnitten war, daß beim ersten Versuch, sie aufzuheben, der Kopf abfiel. Kopf und Rumpf waren in so fürchterlicher Weise verstümmelt, daß sie kaum noch einen menschenähnlichen Anblick boten.
Bis jetzt fehlt, so viel uns bekannt, noch jeder Schlüssel zu diesem entsetzlichen Geheimnis.”
Die nächste Nummer des Blattes brachte noch folgende Einzelheiten: “Das Trauerspiel in der Rue Morgue. — Viele Zeugen sind bezüglich dieses außerordentlichen Vorfalles vernommen worden, ohne daß dadurch mehr Licht in das rätselhafte Dunkel desselben gekommen wäre. Wir lassen hier die Aussagen im wesentlichen folgen:
Pauline Dubourg, Wäscherin, erklärt, beide Verstorbnen seit drei Jahren gekannt zu haben, da sie während dieser ganzen Zeit die Wäsche für dieselben besorgt hat. Die alte Dame und ihre Tochter lebten im besten Einverständnis und waren einander herzlich zugetan. Bezahlten gut und pünktlich. Weiß nicht, wie, noch wovon sie lebten. Glaubt, daß Madame L. für Geld wahrsagte. Dieselbe stand in dem Rufe, Geld beiseite gelegt zu haben. Zeugin ist in dem Hause niemals einer dritten Person begegnet. Weiß bestimmt, daß kein Dienstbote dort war. Nur das vierte Stockwerk des Hauses schien möbliert zu sein.
Pierre Moreau, Tabakhändler, sagt aus, daß er bei Madame L'Espanaye seit nahezu vier Jahren kleine Quantitäten von Rauch- und Schnupftabak verkauft habe. Ist in der Nachbarschaft geboren und hat beständig dort gewohnt. Die Verstorbene und ihre Tochter hatten das Haus seit länger als sechs Jahren inne; vorher bewohnte es ein Juwelier, welcher die oberen Räume zu vermieten pflegte. Das Haus war das Eigentum der Madame L. Ärgerlich über mancherlei durch den Mieter verursachte Beschädigungen, bezog sie es später selbst und wollte keinen Teil desselben mehr vermieten. Die alte Frau war bereits kindisch. Zeuge hat die Tochter während der sechs Jahre etwa fünf- oder sechsmal gesehn. Beide lebten außerordentlich zurückgezogen und galten für wohlhabend. Zeuge hat die Nachbarn munkeln hören, Madame L. sei eine Wahrsagerin, hat dies aber nicht geglaubt. Hat nie einen Fremden das Haus betreten sehn, ausgenommen ein- oder zweimal einen Lastträger, und acht- oder zehnmal einen Arzt.
Ganz ähnlich lauteten viele Aussagen von Nachbarn. Niemand wußte, ob Verwandte oder Bekannte von Madame und Fräulein L. existierten. Die Läden der vorderen Fenster wurden nur selten geöffnet; diejenigen nach hinten heraus waren, mit Ausnahme jenes großen Schlafzimmers im vierten Stock, beständig verschlossen. Das Haus war in gutem Zustand und nicht allzu alt.
Isidore Musèt, Gendarm, gibt an, daß er gegen drei Uhr morgens nach dem Hause gerufen wurde und hieran zwanzig oder dreißig Personen antraf, welche einzudringen versuchten. Sprengte schließlich die Tür mittelst eines Bajonetts — nicht einer Brechstange — auf, was ihm nicht allzuschwer wurde, da die Tür eine doppelte und weder oben noch unten der Riegel vorgeschoben war. Das Geschrei dauerte fort, bis die Tür offen war, und verstummte dann plötzlich. Es waren laute, langgezogene Töne, die wie Schmerzensrufe klangen und von einer oder mehr Personen herrühren konnten. Zeuge ging die Stiege hinauf voran. Im ersten Stockwerk angelangt, hörte er zwei Stimmen, die sich laut und heftig zu zanken schienen — die eine rauh, die andere viel höher, gellender — eine ganz fremdartige Stimme. Konnte von der ersteren, welche diejenige eines Franzosen war, einige Worte verstehen. Weiß bestimmt, daß es keine Frauenstimme war. Verstand die Worte: ,sacré' und ,diable'. Die gellende Stimme gehörte einem Ausländer an. Weiß nicht sicher, ob einem Manne oder einer Frau. Konnte das Gesagte nicht verstehen, hielt die Sprache aber für spanisch.
Henri Duval, einer der Nachbarn, seines Zeichens Silberschmied, bezeugt, daß er einer der ersten war, welche das Haus betraten. Bestätigt im ganzen die Aussage Musèts. Sobald sie eingedrungen waren, schlossen sie die Haustür wieder, um die Menschenmenge zurückzuhalten, welche sich trotz der Nachtzeit schnell angesammelt hatte. Dieser Zeuge hält die gellende Stimme für diejenige eines Italieners. Ist überzeugt, daß es nicht französisch war. Kann nicht bestimmt behaupten, daß es eine männliche Stimme gewesen. Die italienische Sprache ist ihm unbekannt. Konnte keine Worte unterscheiden, schließt aber mit Sicherheit aus dem Accent, daß der Sprecher ein Italiener war. Kannte Madame L. und ihre Tochter; hatte sich wiederholt mit beiden unterhalten. Weiß mit Bestimmtheit, daß die gellende Stimme keiner der beiden Verstorbenen angehörte.
Odenheimer, Restaurateur. — Dieser Zeuge stellte sich freiwillig. Da er nicht französisch spricht, muß ein Dolmetscher herbeigerufen werden. Ist in Amsterdam geboren. Ging gerade am Hause vorüber, als die Schreie ertönten. Dieselben hielten wohl zehn Minuten lang an. Sie waren langgedehnt und laut — klangen schrecklich und herzzerreißend. Gehörte ebenfalls zu denen, welche in das Haus eindrangen. Bestätigt die vorige Aussage in allen Punkten, ausgenommen, daß er bestimmt behauptet, die gellende Stimme sei diejenige eines Mannes und zwar eines Franzosen gewesen. Konnte keine einzelnen Worte unterscheiden. Dieselben wurden jedoch laut, schnell und ungleichmäßig ausgestoßen. Konnten ebensowohl Angst ausdrücken, wie Zorn. Die Stimme klang harsch — viel weniger gellend, als harsch, kann dieselbe nicht als “gellend" bezeichnen. Die rauhe Stimme sagte mehrmals: ,sacré', ,diable', und einmal ,mon dieu'.
Jules Mignaud, Bankier, von der Firma Mignaud & Fils, Rue Deloraine. — Zeuge ist der ältere Mignaud. Madame L. Espanaye besaß einiges Vermögen. Hatte seit acht Jahren ein Konto in seinem Geschäft. Deponierte häufig kleine Summen. Hatte früher nie darauf gezogen, bis sie drei Tage vor ihrem Tode persönlich 4000 Francs entnahm. Dieselben wurden ihr in Gold ausgezahlt und einem Sekretär mitgegeben, welcher das Geld trug.
Adolphe Le Bon, Sekretär bei Mignaud & Fils, bekundet, daß er an dem genannten Tage, gegen Mittag, Madame L'Espanaye mit den 4000 Francs, welche sich in zwei Beuteln befanden, nach Hause begleitete. An der Hanstür kam ihnen Fräulein L. entgegen und nahm ihm den einen Beutel ab, die alte Dame den anderen. Dann empfahl er sich und ging. Sah zur Zeit niemand in der Straße. Es ist eine Seitengasse und sehr menschenleer.
William Bird, Schneider, erklärt, daß er sich unter den Leuten befand, welche in das Haus drangen. Ist ein Engländer. Hat zwei Jahre in Paris gelebt. Hörte die sich zankenden Stimmen. Die rauhe Stimme war diejenige eines Franzosen. Verstand mehrere Worte, hat dieselben aber jetzt zum Teil wieder vergessen. Hörte deutlich ,sacré' und ,mon dieu'. Vernahm gleichzeitig ein Geräusch, als wenn mehrere miteinander rängen — ein Gebalge und Gescharre. Die gellende Stimme war sehr laut, lauter als die rauhe. Weiß bestimmt, daß es nicht die Stimme eines Engländers war. Dieselbe klang mehr wie deutsch. Kann eine Frauenstimme gewesen sein. Zeuge versteht nicht deutsch.
Vier von den oben genannten Zeugen werden nochmals aufgerufen und sagen aus, daß die Tür des Zimmers, in welchem Fräulein L's. Leiche sich befand, von innen verschlossen gefunden wurde. Alles war still, als sie eintraten — kein Stöhnen, kein Geräusch irgendwelcher Art zu hören — niemand zu sehen. Die Fenster, sowohl im Hinter- wie im Norderzimmer, waren zu und von innen fest verschlossen. Es waren keine Flügel-, sondern Schiebefenster. Die Tür, welche beide Gemächer miteinander verbindet, war zu, aber nicht verschlossen. Diejenige, welche vom Vorderzimmer nach dem Flur führt, war gleichfalls von innen verschlossen. Der Schlüssel steckte auch hier, wie in derjenigen des Schlafgemaches. Ein kleineres Zimmer in demselben Stockwerk, nach vorn heraus, stand offen. Dasselbe war mit alten Betten, Kisten und Kasten voll gepackt. Jeder Zollbreit des ganzen Hauses wurde auf das sorgfältigste durchforscht, jeder Schornstein mit Fegern untersucht. Das Haus hatte vier Stockwerke und darüber eine Mansarde. Eine auf dem Dache befindliche Falltür war fest vernagelt und allem Anschein nach seit Jahren nicht mehr geöffnet worden. Die Zeit, welche zwischen dem Gezänk und dem Erbrechen der Stubentür verstrich, wird von den Zeugen verschieden angegeben; einige meinen, es seien drei, andere, es seien fünf Minuten gewesen. Die Tür ging schwer zu öffnen.
Alfonso Garcio, Leichenbesorger, bezeugt, daß er in der Rue Morgue wohne. Ist Spanier von Geburt. War ebenfalls mit den übrigen im Hause. Ging nicht die Treppe hinauf. Ist nervenschwach und fürchtete die Folgen der Aufregung. Hörte die zankenden Stimmen. Die rauhe war diejenige eines Franzosen. Konnte keine einzelnen Worte unterscheiden. Die gellende Stimme war bestimmt diejenige eines Engländers. Versteht die englische Sprache nicht; schließt nur aus dem Accent.
Alberto Montani, Konditor, bekundet, daß er sich unter den vordersten befand, welche die Treppen hinaufeilten. Hörte die Stimmen. Die rauhe Stimme sprach französisch. Verstand mehrere Worte. Es klang, als ob der Sprecher jemand heftige Vorwürfe machte. Konnte den anderen — mit der gellenden Stimme — kein Wort verstehn. Dieser sprach schnell und ungleichmäßig. Glaubt, daß es ein Russe gewesen sein muß. Bestätigt im ganzen das Zeugnis der anderen. Zeuge ist Italiener und hat sich noch nie mit einem Russen unterhalten.
Nach nochmaligem Aufruf erklären mehrere Zeugen, daß sämtliche Schornsteine des vierten Stockwerks zu eng seien, um ein menschliches Wesen hindurchzulassen. Unter Fegern verstehen sie cylindrisch geformte Bürsten, wie solche von den Schornsteinkehrern benutzt werden. Jeder Rauchabzug im ganzen Hause wurde mittelst dieser Kehrbesen untersucht. Ein zweiter Flur oder Ausgang, durch welchen irgend jemand hätte entkommen können, während die Leute die Treppen hinaufdrangen, ist nicht vorhanden. Die Leiche des Fräulein L'Espanaye war so fest in den Kamin eingekeilt, daß sie erst herabgeholt werden konnte, nachdem vier oder fünf Männer gleichzeitig daran zogen.
Paul Dumas, Arzt, erklärt, daß er gegen Tagesanbruch zur Besichtigung der Leichen herbeigerufen wurde. Beide lagen auf dem Strohsack in der Bettstelle des Schlafgemaches, in welchem Fräulein L. gefunden worden war. Der Körper der jungen Dame zeigte viele Beulen und Hautabschürfungen, die sehr wohl bei dem gewaltsamen Hinaufzwängen in den Kamin entstanden sein konnten. Der Hals war vielfach verletzt. Gerade unterhalb des Kinns zeigten sich tiefe Kratzwunden, sowie eine Anzahl schwarzblauer Stellen, augenscheinlich Fingereindrücke. Die Gesichtsfarbe war entsetzlich entstellt und die Augäpfel traten hervor. Die Zunge war zum Teil durchbissen. An der Magengrube entdeckte er eine umfangreiche Beule, dem Anscheine nach durch den Druck eines Kniees erzeugt. Nach Ansicht des Zeugen war Fräulein L. erwürgt worden. Die Leiche der Mutter war entsetzlich verstümmelt. Sämtliche Knochen des rechten Armes und Beines waren zerschmettert. Das linke Schienbein und alle Rippen der linken Seite waren zersplittert, der ganze Körper war auf das schrecklichste mit Beulen bedeckt und entfärbt. Kann nicht sagen, in welcher Weise die Verletzungen beigebracht wurden. Eine wuchtige Holzkeule, eine breite Eisenstange — ein Stuhl oder irgend sonst ein großes, schweres, stumpfes Werkzeug könne, von einem starken Mann geführt, ähnliche Wirkungen Hervorbringen. Eine Frau könne solche Schläge unmöglich geführt haben. Der Kopf der Verstorbenen war, als Zeuge ihn sah, ebenfalls zerschmettert und total vom Rumpfe getrennt. Die Kehle mußte mittelst eines scharfen Instrumentes, wahrscheinlich eines Rasiermessers, durchschnitten worden sein.
Alexandre Etienne, Wundarzt, wurde mit Herrn Dumas gleichzeitig zur Leichenschau gerufen. Bekräftigt das Zeugnis des vorigen. Obgleich noch mehrere andere Personen verhört wurden, stellte sich weiter nichts von Belang heraus. Noch nie ist in Paris ein so mysteriöser, ein so nach allen seinen Einzelheiten rätselhafter Mord verübt worden — wenn überhaupt ein Mord vorliegt. Die Polizei tappt vollständig im Dunkeln.”
Das Abendblatt brachte die Meldung, daß im Quartier St. Roch noch immer die größte Aufregung herrsche, daß man die Lokalität nochmals sorgfältig untersucht, neue Zeugen vernommen, aber nicht das Geringste dadurch zu Tage gebracht habe. Eine Nachschrift fügte dann noch hinzu, daß Adolphe Le Bon verhaftet worden sei, obwohl außer dem bereits Bekannten weiter nichts gegen ihn vorliege.
Dupin schien sich ungemein für diese Angelegenheit zu interessieren; doch schloß ich dies nur aus seinem Benehmen, denn er enthielt sich aller Bemerkungen über dieselbe. Erst nachdem die Verhaftung Le Bons bekannt wurde, fragte er mich nach meiner Meinung.
Ich antwortete ihm, daß ich nur mit ganz Paris übereinstimme, indem ich die Sache für ein unlösbares Rätsel halte, denn ich sähe keine Möglichkeit, dem Mörder nachzuspüren.
“Man darf die Möglichkeit nicht nach einer oberflächlichen Untersuchung, wie eine solche hier vorliegt, beurteilen”, erwiderte Dupin. “Die wegen ihres Scharfsinns so hochgepriesne Pariser Polizei ist verschlagen, aber weiter auch nichts. Sie geht nicht methodisch vor, sondern handelt lediglich, wie es der Moment ihr eingibt. Sie macht viel Wesens von ihren Maßnahmen, aber diese passen oft so schlecht zu dem vorgesetzten Zweck, daß sie einen an Monsieur Jordain erinnern, wenn er nach seinem Schlafrock verlangt — ,pour mieux entendre la musique' Sie gelangt nicht selten zu staunenerregenden Resultaten, aber in den meisten Fällen nur durch Eifer und Unermüdlichkeit. Wo diese Eigenschaften nicht ausreichen, bleiben ihre Pläne erfolglos. Vidocq z. B. hatte einen richtigen Treffer und große Ausdauer. Aber da er nicht logisch zu denken gelernt hatte, irrte er fast beständig, und zwar gerade durch sein allzuheftiges Darauflosforschen. Er schädigte seine Sehkraft, indem er sich das Objekt zu dicht vor die Augen hielt. Er sah vielleicht diesen oder jenen Punkt mit außerordentlicher Klarheit, aber indem er so tat, verlor er die Angelegenheit als Ganzes aus den Augen. Er war in der Tat allzu verschmitzt, allzu gründlich. Die Wahrheit liegt nicht immer auf dem tiefsten Grunde — im Gegenteil, insofern es sich um Sachen von Wichtigkeit handelt, suche ich sie sogar stets auf der Oberfläche. Durch übertriebne Gründlichkeit verwirren und schwächen wir nur unsre Gedanken.
“Was nun den vorliegenden Fall betrifft, so wollen wir ihn vorerst selber prüfen, ehe wir uns eine Ansicht darüber bilden. Die Untersuchung wird uns Vergnügen bereiten” (— ich hielt diesen Ausdruck für nicht ganz passend, sagte jedoch nichts davon —) “und zudem hat Le Bon mir einmal einen Dienst erwiesen, für den ich ihm gern dankbar wäre. Lassen Sie uns die Lokalität einmal selbst in Augenschein nehmen. Ich kenne G—, den Polizei-Präfekten, und werde die nötige Erlaubnis ohne Mühe erhalten.”
Dies geschah, und wir brachen alsbald nach der Rue Morgue auf. Sie gehört zu jenen elenden Gassen, welche zwischen der Rue Richelieu und der Rue St. Roch liegen. Es war schon nahezu Abend, als wir dort anlangten. Das Haus war nicht zu verfehlen, denn noch immer standen müßige Gaffer auf dem gegenüberliegenden Seitenwege und starrten die geschlossnen Fensterläden an. Ehe wir eintraten, gingen wir durch ein Nebengäßchen um das Gebäude herum nach dessen Rückseite, und Dupin untersuchte alles mit einer mir völlig zwecklos erscheinenden Sorgfalt. Wieder an der Haustür angelangt, klingelten wir, zeigten unsre Erlaubniskarte und wurden von den beaufsichtigenden Beamten eingelassen. Wir stiegen die Treppen hinauf und begaben uns in das Zimmer, in welchem die Leiche des jungen Mädchens gefunden worden war. Beide Opfer lagen noch dort, und auch die Unordnung war, wie in solchen Fällen üblich, genau dieselbe geblieben. Ich konnte nichts sehen, als was ich bereits durch den Artikel in der “Gazette des Tribunaux" erfahren hatte. Dupin untersuchte alles, auch die Körper der Ermordeten, auf das genaueste. Dann betraten wir, stets von einem Gendarmen begleitet, die übrigen Gemächer und schließlich den Hof. Als wir mit allem fertig waren und uns entfernten, war es bereits dunkel. Auf dem Heimwege trat mein Begleiter in die Expedition einer täglich erscheinenden Zeitung ein, wo er nur wenige Minuten verblieb.
Ich sagte bereits, daß der Launen meines Freundes Legion war und daß ich — daß je les menageais — ich kenne in unserer Sprache kein entsprechendes Wort. Diesmal nun beliebte es ihm, einstweilen jede den Mord betreffende Unterhaltung abzulehnen. Erst am folgenden Mittag fragte er mich ganz plötzlich, ob ich an dem Schauplatz des Verbrechens nicht etwas Eigentümliches bemerkt habe.
Das Wort “eigentümlich" betonte er so seltsam, daß ich unwillkürlich zusammenschauderte, ohne recht zu wissen, warum.
“Nein, nichts Eigentümliches”, entgegnete ich; “wenigstens nicht mehr, als was wir beide in der Zeitung gelesen haben.”
“Ich fürchte, der ,Gazette' ist das Entsetzliche, Grauenhafte dieses Ereignisses nicht genügend klar geworden”, gab er zurück. “Doch genug von den müßigen Betrachtungen dieses Blattes. Mir kommt es vor, als halte man dieses Rätsel gerade aus demjenigen Grunde für unlösbar, welcher dasselbe erst recht leicht lösbar macht — ich rede von dem outrierten Charakter, welchen alles trägt. Die Polizei ist bestürzt, weil anscheinend das Motiv fehlt — nicht sowohl zu dem Morde selbst, als zu der scheußlichen Weise, in welcher der Mord vollbracht wurde. Sie zerbricht sich ferner den Kopf, weil es ihr unmöglich erscheint, die im Streit begriffenen Stimmen mit der Tatsache zu vereinbaren, daß außer dem ermordeten Mädchen niemand oben gefunden wurde und es dennoch keinen Ausgang gab, durch welche ein Mensch hätte entkommen können, ohne von den Eindringenden bemerkt zu werden. Die wüste Unordnung im Zimmer, der mit dem Kopf nach unten in den Rauchfang gezwängte Körper, die gräßliche Verstümmelung der anderen Leiche — alles das kommt hinzu, um ihre Geisteskräfte total zu lähmen, weil es ihren so hochgepriesnen ,Scharfsinn' zuschanden werden laßt. Sie ist in den groben, aber alltäglichen Irrtum verfallen, das Ungewöhnliche mit dem Unbegreiflichen zu verwechseln. Aber eben durch diese Abweichungen von der gewöhnlichen Bahn wird es dem Verstande möglich, den Weg zur Wahrheit zu finden. Bei derartigen Nachforschungen sollte man nicht sowohl fragen: Was ist geschehen?', als: ,Was ist geschehen, das vordem noch niemals geschah?' Glauben Sie mir, die Leichtigkeit, mit welcher ich zur Lösung dieses Rätsels gelangt bin, steht im direkten Verhältnis zu der Unlösbarkeit, welche es in den Augen der Polizeibeamten kennzeichnet.”
Sprachlos vor Verwunderung starrte ich ihn an.
“Ich erwarte soeben jemand”, fuhr er mit einem Blick auf unsre Stubentür fort, “der, obwohl er mutmaßlich jene Schlächterei nicht selbst ausführte, dennoch bis zu einem gewissen Grade in dieselbe verwickelt sein muß. An dem schlimmsten Teil der begangnen Greueltat trägt er aller Wahrscheinlichkeit nach keine Schuld. Ich hoffe, daß diese Mutmaßung richtig ist, denn auf sie baue ich die Erwartung, bald das ganze Geheimnis enthüllen zu können. Ich erwarte den Mann hier in diesem Zimmer — er kann jeden Augenblick eintreten. Mag sein, daß er nicht kommt, aber die Wahrscheinlichkeit ist, daß er kommt. Im letztem Falle müssen wir ihn festhalten. Hier sind Pistolen — wir wissen ja beide sie zu gebrauchen, wenn die Notwendigkeit es erheischen sollte.”
Kaum wissend was ich tat, noch was ich von dem Gehörten denken sollte, nahm ich die Pistolen, während Dupin wie in einem Selbstgespräch fortfuhr. Ich erwähnte bereits das zerstreute Wesen, welches ihm bei solchen Gelegenheiten eigen war. Seine Rede schien an mich gerichtet, und doch klangen die Worte, ohne im geringsten laut gesprochen zu werden, als seien sie aus eine große Entfernung berechnet. Sein Blick heftete sich ausdruckslos an die Zimmerwand.
“Die Zeugenaussagen haben zur Genüge bewiesen”, sagte er, “daß jene mit einander hadernden Stimmen nicht diejenigen der beiden Frauen waren. Damit fällt gleichzeitig die Annahme, Madame L'Espanaye könne ihre Tochter getötet und darauf Selbstmord begangen haben. Ich erwähne dies lediglich der Methode halber, denn die alte Frau hätte nimmermehr die Kraft besessen, den Leichnam der Tochter in der uns bekannten Weise den Rauchfang hinaufzuschieben, und die Natur der an ihrem eigenen Körper gefundnen Wunden schließt die Möglichkeit eines Selbstmordes aus. Folglich hat eine dritte Partei den Mord begangen, und die zankende Stimme dieser dritten Partei war es, welche man beim Hinaufeilen hörte. Ich komme jetzt — nicht etwa zu dem ganzen, jene Stimmen betreffenden Zeugnis, sondern zu dem, was bei diesem Zeugnis eigentümlich war. Ist Ihnen nichts Eigentümliches darin aufgefallen?”
Ich bemerkte, daß allerdings die Meinungen in Bezug auf die gellende, oder wie einer sie bezeichnet hatte, die harsche Stimme sehr geteilt gewesen seien, während doch alle darin übereingestimmt hätten, daß die rauhe Stimme einem Franzosen gehört habe.
“Das war das Zeugnis selbst, nicht aber seine Eigentümlichkeit.” entgegnete Dupin. “Sie haben nichts Auffallendes bemerkt, und doch liegt etwas derartiges vor. Wie Sie richtig sagen, waren die Zeugen sämtlich einig über die rauhe Stimme. Die Eigentümlichkeit ihrer Aussagen über die gellende Stimme jedoch liegt nicht darin, daß sie uneins waren, sondern darin, daß ein Italiener, ein Engländer, ein Spanier, ein Holländer und ein Franzose dieselbe für ausländisch erklärten — daß jeder von ihnen bestimmt behauptete, dieselbe habe keinem Landsmann von ihm gehört, vielmehr alle aussagten, sie habe eine ihnen unbekannte Sprache gesprochen. Der Franzose hält sie für die Stimme eines Spaniers, kennt aber selbst die spanische Sprache nicht. Der Holländer besteht darauf, sie sei diejenige eines Franzosen gewesen; wir hören aber gleichzeitig, daß ein Dolmetscher herbeigerufen werden muß, weil dieser Zeuge nicht französisch spricht' Dem Engländer klang es wie deutsch, aber 'Zeuge versteht nicht deutsch'. Der Spanier erklärt es 'bestimmt für englisch, ,versteht aber die englische Sprache nicht und schließt nur aus dem Accent' Der Italiener glaubt, daß es ein Russe gewesen sein muß, hat sich aber 'noch nie mit einem Russen unterhalten'. Noch mehr: ein zweiter Franzose behauptet, abweichend von dem ersteren, es sei italienisch gewesen; ,da ihm aber die italienische Sprache unbekannt, schließt er — wie der Spanier — nur aus dem Accent'. Wie seltsam, wie ungewöhnlich muß nun jene Stimme geklungen haben, in deren Tönen fünf Vertreter der Hauptnationen Europas nichts Bekanntes finden konnten! Sie werden sagen: 'Es wird ein Asiat gewesen sein oder ein Afrikaner'. Nun sind zwar Asiaten und Afrikaner in Paris sehr selten, indes lassen Sie mich hiervon absehen und vorerst Ihre Aufmerksamkit auf drei verschiedne Punkte richten:
“Der eine Zeuge nennt die Stimme 'harsch — viel weniger gellend als harsch'. Zwei andere bezeichnen dieselbe als 'schnell und ungleichmäßig'. Kein einziger von allen vermag irgend ein Wort oder auch nur einen wortühnlich klingenden Laut zu unterscheiden. “Ich weiß nicht”, fuhr Dupin fort, “welchen Eindruck ich bis dahin auf Ihr Verständnis gemacht habe, aber ich stehe nicht an zu behaupten, daß die aus diesem Teil der Zeugenaussagen gezogenen berechtigten Schlußfolgerungen schon an und für sich genügen, um einen Verdacht zu erwecken, der allen weitern Nachforschungen eine bestimmte Richtung gibt. Wenn ich von 'berechtigten Schlußfolgerungen' sprach, so meinte ich damit jene einzig richtigen, aus welchen der erwähnte Verdacht unvermeidlich entspringen muß. Welcher Art dieser ist, bleibe vorläufig noch unausgesprochen; ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß er stark genug war, um meinen Untersuchungen im Zimmer selbst eine bestimmte Tendenz zu verleihen.
“Kehren wir nun im Geiste noch einmal zu jenem Zimmer zurück. Wonach haben wir dort zuerst zu suchen? Nach den Auswegen, welche die Mörder benutzten. Keiner von uns glaubt an übernatürliche Erscheinungen — Madame und Fräulein L'Espanaye können nicht durch Geister umgebracht worden sein. Die Täter waren materielle Wesen und entkamen auf materielle Weise. Aber wie? Glücklicherweise gibt es hier nur einen einzigen Weg, auf welchem wir folgern können, und dieser muß uns zu einer bestimmten Entscheidung führen. Untersuchen wir nun die möglichen Auswege im einzelnen. Es steht fest, daß die Mörder sich in diesem, oder mindestens doch im anstoßenden Zimmer befanden, als die Leute die Treppe heraufdraugen; wir haben somit nur allein nach den Auswegen aus diesen beiden Piècen zu suchen.
“Die Polizei hat Dielen, Zimmerdecken und Zimmerwände geprüft — ein geheimer Ausgang würde ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen sein. Trotzdem traute ich ihren Augen nicht, sondern untersuchte mit meinen eigenen und fand wirklich, daß keine geheimen Auswege vorhanden waren. Beide aus diesen Zimmern auf den Hausflur führende Türen waren von innen fest verschlossen und die Schlüssel steckten. Wir kommen jetzt zu den Schornsteinen. Dieselben bieten, obwohl im untern Teile von gewöhnlicher Weite, oben nicht Raum genug für eine größere Katze. Da also hier ein Entkommen absolut unmöglich war, bleiben uns nur noch die Fenster. Durch diejenigen der vorderen Stube konnte niemand entschlüpfen, ohne von der inzwischen auf der Straße versammelten Volksmasse gesehen zu werden. Die Mörder müssen also diejenigen des Hinterzimmers benutzt haben. Sind wir aber einmal in so unzweideutiger Weise zu diesem Schluß gelangt, so dürfen wir ihn nicht angesichts der scheinbaren Unmöglichkeit verwerfen, sondern haben einfach nachzuweisen, daß diese scheinbare Unmöglichkeit in Wirklichkeit gar nicht vorliegt.
“In dem Schlafgemach befinden sich zwei Fenster. Das eine ist nicht durch Möbel verstellt und in allen Teilen sichtbar. Der untere Teil des andern wird durch die kolossale Bettstelle verdeckt, welche mit ihrem hohen Kopfende dicht an dasselbe herangeschoben ist. Das erstere fand man von innen fest verwahrt; die Leute wendeten vergebens ihre ganze Kraft an, um die untere Hälfte — Sie entsinnen sich, daß es Schiebefenster sind — in die Höhe zu heben. An seiner linken Seite war mit einem großen Bohrer ein Loch in den Rahmen gebohrt worden, und in diesem steckte, beinahe bis an den Kopf hineingeschoben, ein Nagel von ungewöhnlicher Stärke. Als man darauf das andere Fenster untersuchte, sah man einen eben solchen Nagel in ähnlicher Weise darinstecken, und ein kraftvoller Versuch, dasselbe in die Höhe zu schieben, schlug gleichfalls fehl. Die Polizei war nun überzeugt, daß auch auf diesem Wege an ein Entrinnen nicht zu denken sei, und hielt es deshalb für überflüssig, die Nägel herauszuziehen und die Schieber zu öffnen.
“Meine Untersuchung war nun etwas schärfer, denn ich folgerte so — a posteriori: Die Mörder sind aus einem dieser beiden Fenster entkommen, mithin können sie dieselben nicht von innen befestigt haben. Die Schieber waren aber dennoch in dieser Weise befestigt, folglich muß eine Vorrichtung vorhanden sein, mittelst welcher dieselben sich von selbst schließen; dieser Schluß war unvermeidlich. Ich trat also an das freiliegende Fenster, zog mit einiger Mühe den Nagel heraus und versuchte die untere Hälfte hochzuschieben. Wie ich erwartet hatte, widerstand sie allen meinen Allstrengungen. Ich wußte jetzt, daß eine geheime Feder existieren müsse, und diese Bekräftigung meiner Annahme überzeugte mich, daß meine Prämissen zumindestens richtig seien, so unerklärlich auch die Sache mit den Nägeln mir noch immer blieb. Nach sorgfältigem Suchen fand ich denn auch die verborgene Feder, drückte darauf, und unterließ, mit meiner Entdeckung zufrieden, das Öffnen dieses Fensters.
---ENDE DER LESEPROBE---