Drowning in Stars - Debra Anastasia - E-Book

Drowning in Stars E-Book

Debra Anastasia

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Beschreibung

Ich musste mich zwischen dir und mir entscheiden. Ich habe dich gewählt!

Das Leben war nie einfach für Pixie und Gaze. Pixies Mutter ist nur selten zu Hause, Gaze’ Vater trinkt zu viel. Aber sie haben einander - und für Gaze war eins von Anfang an klar: Pixie ist die Eine. Sie hat ihn beschützt, als er neu im Viertel war. Ohne einander wären sie untergegangen. Sie haben sich versprochen, immer zusammenzubleiben. Doch eines Tages muss sich Pixie entscheiden: für ihr Versprechen oder für Gaze’ Leben. Als sie sich Jahre später wiedertreffen, ist es Gaze, der für sie beide stark sein muss. Denn nur wenn Pixie sich von ihren Dämonen befreien kann, hat ihre Liebe eine Chance ...

"Die Tiefe der Gefühle, die ich beim Lesen empfand, war fast schmerzhaft. Doch bei all dem Herzzerreißenden war da auch so viel Liebe und Hoffnung." 25 READINGS OR MORE

Auftakt der dramatischen New-Adult-Dilogie


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Seitenzahl: 553

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

Epilog

Liebe Pixie Rae

Danksagungen

Die Autorin

Die Romane von Debra Anastasia bei LYX

Impressum

Debra Anastasia

Drowning in Stars

Roman

Ins Deutsche übertragen von Firouzeh Akhavan-Zandjani

Zu diesem Buch

Sie sind zwölf, als Gaze ins Haus gegenüber einzieht, als sie sich am Fenster begegnen, ein paar Meter zwischen und fünf Stockwerke unter sich. Pixies Mutter ist nur selten zu Hause, Gaze’ Vater trinkt zu viel, aber sie haben einander – und für Gaze ist eins von Anfang an klar: Pixie ist die Eine. Sie beschützt ihn, als er neu im Viertel ist, ihre Zeit miteinander ist voller Magie, und gemeinsam erscheint die Zukunft viel heller. Sie versprechen sich, immer zusammenzubleiben. Doch eines Tages muss sich Pixie entscheiden: für ihr Versprechen oder für Gaze’ Leben – eine Wahl, die keine ist. Als Gaze zwei Jahre später zu ihr zurückkehrt, begreift er erst wirklich, was Pixie für ihn getan und was sie geopfert hat, um ihn zu retten. Einst war sie stark für ihn. Nun ist es Gaze, der für sie beide kämpfen muss. Denn nur wenn Pixie sich von ihren Dämonen befreien kann, hat ihre Liebe eine Chance …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

T, J und D – immer nur für euch.

Prolog

Das Geräusch, wenn ein Mensch aus dem vierten Stock stürzt und auf den Bürgersteig klatscht, sollte in einer Liebesgeschichte eigentlich nicht vorkommen. Aber wir hatten nie irgendetwas richtig gemacht – er und ich.

Das Feuer warf einen flackernden orangen Lichtschein auf sein Gesicht. Ich wollte nicht nach unten schauen und sehen, was passiert war, also tat er es. Und so sah ich zu, wie er vor meinen Augen seine Kindheit hinter sich ließ.

Seine Gesichtszüge wurden hart, und er ballte die Hände zu Fäusten. Ich beobachtete, wie er die Lippen bewegte, als würde er etwas zu der unten liegenden Gestalt sagen.

Auch ich schloss mit meiner Kindheit ab, während ich mühsam die nächsten Worte hervorbrachte. »Ist er tot?«

»Ja.« Er spuckte aus dem Fenster, und ich würde alles darauf wetten, dass er getroffen hatte. Er war sehr gut im Spucken. »Es ging zu schnell. Es war zu leicht für ihn.«

Ich wollte mich aus dem Fenster beugen, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, mich mit eigenen Augen überzeugen zu müssen.

Aber er drehte sich um, versperrte mir den Weg und packte meine Schultern. »Nein. Du sollst diesen Anblick nicht in deinem Kopf behalten. Das werde ich für uns beide tun.«

Ich rückte näher in Richtung Fenster, wodurch ich wie zufällig auch in seinen Armen landete. Er konnte toll umarmen.

»Sollte ich jetzt nicht vielleicht in Tränen ausbrechen? Verhalte ich mich richtig?« Bestimmt stand ich unter Schock.

Tröstend strich er über mein Haar, dann streichelte er meinen Rücken. »Du kannst weinen, wenn du willst.«

Er würde mich nicht dafür verurteilen. Das hatte er nie getan und würde er auch nie tun.

»Wir haben gerade jemanden umgebracht.«

Und dann sah ich mit einem Mal völlig klar. So erging es mir immer in seiner Gegenwart. Er sprach meine Gedanken aus. Nur mit ihm hatte ich diese Verbindung. »Nein. Er hat es verdient.«

Er verstand mich. Er wusste, was ich wollte. Ich wollte mich mit dem Tod dieses Monsters wie mit einer Trophäe schmücken. Ich hatte sie mir verdient. So wahr mir Gott helfe, ich hatte sie mir hart erarbeitet.

Ich schlang die Arme wieder fester um ihn und lauschte seinem Herzschlag, während das Gebäude nebenan knackte und brannte. Sein Herz schlug fest und ruhig, trotz der Last, die es zu tragen hatte.

Ich hoffte inständig, dass wir nur mit diesem einen Tod fertigwerden mussten.

1. KAPITEL

Pixie Rae

Sechs Jahre früher …

Die Seifenblasen, die ich mit meiner Spielzeugpistole aus dem Billigladen abschoss, flogen heute Abend richtig gut. Ich zielte auf das offen stehende Fenster im gleichen Stockwerk des gegenüberliegenden Hauses. Ein Spielchen, mit dem ich mir die Zeit vertrieb, weil ich nicht schlafen konnte. Es war eine schwülheiße Nacht, und wir hatten keine Klimaanlage. In unserer Gegend war so etwas Luxus.

Ich wünschte mir etwas, als die Blasen durch das offene Fenster gegenüber schwebten, welches ebenso wie meines kein Fliegengitter besaß. Ich schaute zum Mond auf und zwinkerte ihm zu. Sterne waren in der Stadt nur schwer zu erkennen, doch der Mond lieferte immer eine Riesenshow ab.

Ich wünschte mir … etwas. Es war eher ein Gefühl und nicht so sehr eine Sache. Ich wünschte mir, so entspannt und sorglos wie die reichen Mädchen in meiner Schule zu sein. Ich sehnte mich nach ihrer Lässigkeit im Umgang mit ihren Handys und ihrer Gewissheit, dass der Magen nicht während des Matheunterrichts knurrte. Diese Unbekümmertheit und Leichtigkeit waren es wohl, die ich wollte.

Als ich von unten Schritte hörte, zog ich schnell den Kopf zurück. Ich befand mich vier Stockwerke oberhalb der Straße, sodass ich mir eigentlich keine Gedanken zu machen brauchte. Aber es war die Macht der Gewohnheit. Hier in dieser Gegend machte man sich lieber unsichtbar, damit einem nichts passierte. Es konnte immer sein, dass derjenige, in dessen Blickfeld man geriet, üble Gedanken hegte oder etwas vorhatte, was kein bisschen nett war. Außerdem zeigte mein Wecker, der auf dem Boden stand, drei Uhr morgens an. Selbst um diese Zeit waren in der schmalen Straße unten Leute.

Ich wollte mein Glück erneut auf die Probe stellen, indem ich mir noch etwas wünschte. Heute war mein Geburtstag. Tja, vermutlich würde ich erst mal schlafen gehen müssen, damit der Wunsch zählte, aber es war bereits nach Mitternacht. Die Seifenblasenpistole war mein Geschenk, und obwohl der Sommer gerade erst angefangen hatte, war die Pistole reduziert gewesen.

Ich steckte den Kopf wieder zum Fenster hinaus und sah, dass sich niemand unten auf der Straße befand. Die Müllcontainer quollen über, und die Leute hatten angefangen, ihren Müll einfach danebenzustellen.

Im Augenwinkel sah ich kurz etwas aufblitzen, aber ich war nicht schnell genug. Ein Schaumstoffpfeil traf mich mitten auf der Stirn.

»Au!« Ich rieb mir den Kopf und warf dem Jungen, der am gegenüberliegenden Fenster stand, einen bitterbösen Blick zu. Dann zeigte ich ihm sogar den Stinkefinger.

»Was? Du hast damit angefangen! Ich hab geschlafen, und plötzlich hab ich Seifenblasen im ganzen Gesicht und in den Augen!«

Ich spähte nach unten. Die Leute, die da eben noch herumgelungert hatten, waren weitergegangen. Ich streckte meine Pistole durchs Fenster. »Wenn du geschlafen hast, wie willst du dann Seifenblasen in die Augen bekommen haben? Dann wären deine Augen doch geschlossen gewesen.«

Der Junge von gegenüber log. Das war mir völlig klar. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, sodass es weniger wild abstand. »Ich habe versucht zu schlafen. Es ist heiß. Deine Seifenblasen sind mir immer wieder ins Gesicht geklatscht.«

Er schoss erneut einen Schaumstoffpfeil durch mein Fenster. Zischend flog er an meiner Wange vorbei.

»Aber bewahr’ die Pfeile für mich auf. Ich brauch sie zurück.«

Ich sah ihn erbost an. »Nein! Ich bewahr’ deinen Kram nicht auf.«

Niedergeschlagen senkte er den Blick auf seine Waffe. »Ich hab nur noch vier.«

»Daran hättest du denken sollen, ehe du damit an meinem Geburtstag auf mich geschossen hast.« Ich rieb mir die Stirn.

Sein Gesicht leuchtete auf. »Herzlichen Glückwunsch! Wie alt bist du geworden?«

Sein Lächeln stimmte mich versöhnlich. »Zwölf …«

»Genau wie ich! Wir gehen bestimmt auch in dieselbe Schule.« Er zielte mit seiner Pistole auf mein Fenster, aber diesmal nicht auf mich, und er drückte auch nicht ab. »Ich hatte gestern Geburtstag. Ich bin auch zwölf.«

Ich teilte ihm mit, was er offensichtlich nicht wusste. »Dein Haus könnte zu einem anderen Bezirk gehören, deshalb wäre ich mir nicht so sicher, dass wir auf dieselbe Schule gehen.« Ich kratzte mich am Ellbogen, bevor ich ihn genauer musterte. Braune Haare und braune Augen. Dünn. Er wirkte jünger als ich, obwohl wir gleich alt waren. Auch in meiner Klasse gab es Jungen, die kleiner waren als ich. Ich legte wieder die Pistole an und ließ Seifenblasen fliegen. Er pikte mit dem Finger hinein und brachte sie zum Platzen, sobald sie nah genug waren.

»Wie ist deine Schule?« Er schnappte mit dem Mund nach einer Blase und verzog das Gesicht. Die Seife schmeckte sicher widerlich.

»Blöd. Die Schule in dem anderen Bezirk ist ziemlich schön.« Damals hatte meine Mutter versucht, eine Wohnung im Gebäude gegenüber zu bekommen, aber man hatte keine Mieter genommen, die von staatlicher Unterstützung lebten. Heute war das anders. Das Haus hatte vor ein paar Jahren den Besitzer gewechselt. Aber meine Mutter meinte, es sei zu spät, um jetzt noch umzuziehen.

»Warum ist sie schön?« Er kniff die Augen zusammen, während er meine Seifenblasen weiter platzen ließ.

»Ich hab gehört, dass es da einen kleinen Garten gibt, in dem man zwischen Bäumen und Blumen und so ’nem Zeug sein Pausenbrot essen kann. Es werden auch Ausflüge gemacht. Viele Ausflüge. Das erzählt meine Freundin zumindest. Sie kennt jemanden, dessen Cousine da hingeht.« Das leise Surren meiner Seifenblasenpistole verband sich mit den Geräuschen der Nacht. Wir hörten Laster, die die Gänge wechselten und hupten. Die Abgase vermischten sich mit der schwülen Luft, die es einem fast unmöglich machte zu schlafen.

»Wie heißt du?« Er lehnte sich aus dem Fenster und schaute auf den vier Stockwerke unter uns liegenden Asphalt.

»Pixie Rae Stone.« Mein bescheuerter Name. »Meine Mutter hatte sich eine Südstaatenelfe gewünscht und nicht die Tochter, die sie dann bekam.«

»Ich heiße Gaze Patrick Jones.« Er kniff ein Auge zusammen und zielte mit seiner Nerf Gun auf eine Taube, die auf einem Sims meines Hauses hockte.

Ich schoss ein paar Seifenblasen in ihre Richtung, und sie flog davon.

Daraufhin drückte er versehentlich auf den Abzug. Der Schaumstoffpfeil traf den Fensterrahmen und fiel zwischen den beiden Häusern nach unten. »Scheiße!«

»Hey! Darfst du fluchen?« Ich lehnte mich wieder aus dem Fenster, denn ich war mir ziemlich sicher, dass er nicht mehr schießen würde, weil er bestimmt keinen weiteren Schaumstoffpfeil verlieren wollte.

»Klar. Nachts hört mich doch keiner außer dir, Pixie Rae.« Er lächelte mich an, und ich erwiderte unwillkürlich sein Lächeln.

»Ist Gaze dein richtiger Name oder die Abkürzung von irgendetwas?«

»Na ja, mein Vater hat mich nach dem Superhelden Gazerbeam aus DieUnglaublichen genannt, aber auf meiner Geburtsurkunde steht Gaze.« Er kratzte sich mit seiner Nerf Gun am Kopf.

»Okay.« Ich war mir noch nicht sicher, ob ich Gaze mochte oder eher nicht. Die zierliche alte Dame, die früher in der gegenüberliegenden Wohnung gelebt hatte, war selten in dem Zimmer gewesen, ihre Katze dagegen schon. Ich war ziemlich enttäuscht gewesen, als die dicke, getigerte Katze ausgezogen war.

Gaze zielte mit seiner Pistole auf die Taube, die wieder angeflattert war, um sich auf ihren alten Platz zu setzen. »Ich hasse Luftratten.«

»Ich mag sie. Sie sind mutig.«

Er sah erst mich an und dann wieder die Taube. »Dir hat wohl noch nie eine auf den Kopf geschissen, hm?«

»Bisher nicht«, gab ich zu. »Aber da heute mein Geburtstag ist, habe ich ja vielleicht Glück.«

Gaze lachte. »Vielleicht. Ich drücke dir die Daumen.« Er hob die Faust, in der sein Daumen steckte. Hinter ihm ging plötzlich die Tür auf, und Licht fiel aus dem Flur in sein Zimmer. Er löste sich vom Fenster und drehte sich zu dem Mann um, der hereingekommen war.

Ich zog mich in mein Zimmer zurück. Das Gespräch zwischen Gaze und dem Mann war für mich nur ein leises Murmeln, einzelne Wörter konnte ich nicht verstehen.

Ich ging zu meinem Bett und setzte mich hin. Nun war offiziell mein Geburtstag. Schließlich hatte mir bereits jemand gratuliert, und damit war es amtlich. Ich war jetzt zwölf Jahre alt.

Ich legte mich aufs Bett und beobachtete Gaze und den Mann. Sie schienen eine längere Unterhaltung zu führen. Während des Sommers hatte ich viel Zeit allein verbracht. Meine Mutter hatte zwei Jobs und bewarb sich gerade um einen dritten. Seit ich acht war, konnte sie mich allein lassen. Ich liebte Bücher und durfte ohne Begleitung zur Bücherei gehen, die drei Querstraßen entfernt lag … allerdings nur tagsüber und vor dem Abendbrot, aber ich durfte, und das war die Hauptsache.

Meine Mutter arbeitete hart, damit wir über die Runden kamen. Das erzählte sie mir häufig, wenn sie nach Hause kam. Zum einen hatte sie einen Ganztagsjob bei einer Tankstelle, wo man auch ein paar Lebensmittel kaufen konnte. Diese Arbeitsstelle lag am anderen Ende der Stadt. Dort arbeitete sie fünf Tage die Woche, und sie musste für Kollegen einspringen, die sich krankmeldeten oder kündigten. Als Zweitjob ging sie in einem Bürogebäude putzen, das nur ein paar Häuser von der Tankstelle entfernt war. Von dem dritten Job, der ihr gerade in Aussicht gestellt worden war, hatte sie bei der Putzstelle erfahren. Dabei würde sie einige der Angestellten auf Geschäftsreisen begleiten, für einen reibungslosen Ablauf sorgen, sich um die Businesskleidung kümmern, Termine vereinbaren, Zimmer sauber halten und Konferenzräume herrichten.

Sie war wirklich ganz erpicht auf diesen dritten Job. Sie sagte, dass sie dann bei der Tankstelle aufhören könne, aber natürlich viel reisen müsse. Mit dem Problem würden wir uns aber erst dann befassen, wenn es so weit war. Aber da ich mehr Zeit als sie hatte, machte ich mir natürlich trotzdem schon vorher Gedanken. Ich war nicht gern so viel allein, und vom Gesetz her war es eigentlich nicht erlaubt, aber wie meine Mutter immer so schön sagte – wir mussten Opfer bringen.

Ich schoss so lange mit meiner Pistole, bis kein Seifenwasser mehr drin war. Als ich mich auf die Ellbogen hochstützte, war das Licht vom Flur nicht mehr in Gaze’ Zimmer zu sehen. Ein Schaumstoffpfeil kam durch mein Fenster reingeflogen. Er prallte gegen die Wand und fiel auf meine Brust. Ein Zettelchen war mit einem Klebestreifen an dem Pfeil befestigt.

Herzlichen Glückwunsch!

Gaze’ Handschrift war echt miserabel, aber ich lächelte. Es könnte nett sein, jemanden zu haben, mit dem man sich unterhalten konnte … wenn er nicht wieder wegzog und kein Idiot war.

2. KAPITEL

Gaze

Ich lag im Dunkeln und starrte an die Decke. Meine neue Decke. Dad hatte mich noch nicht einmal angeschrien, weil ich noch wach war. Mein neuer Dad. Der sanfte Dad. Er sei resozialisiert … zumindest behauptete er das. Er sagte, es würde gut laufen. Das hatte er mir ein paarmal erzählt. Er verkaufte jetzt elektronische Geräte und hatte mir versprochen, ein paar gute Sachen aus dem Laden mitzubringen. Die coole Nerf Gun war sein erstes Geschenk gewesen, um die neue Wohnung zu feiern.

Ich hätte mir eigentlich keine Hoffnungen machen sollen, dass es so bleiben würde, aber das war Dads Masche. Er konnte jeden dazu bringen, alles zu glauben. Sogar mich.

Ich musste am Ende des Sommers in der neuen Schule anfangen. Pixie Rae schien nett zu sein. Zumindest war sie jemand, mit dem man reden konnte. Und mit Seifenblasen konnte sie auch gut schießen. Vielleicht könnten wir uns ja mal einen Ball zuwerfen. Sie wirkte ein bisschen einsam. Aber möglicherweise war sie einfach nur müde – es war schließlich mitten in der Nacht.

Ich drehte mich auf die Seite und legte meine Nerf Gun neben mich. Meine Matratze war schön groß, aber sie war nicht neu. Dad hatte sie von einem alten Ehepaar aus dem Viertel bekommen, in dem wir vorher gewohnt hatten. Sie hatten die Matratze auf beiden Seiten durchgelegen, und in der Mitte war ein deutlich sichtbarer Buckel, weshalb ich immer auf einer Seite liegen blieb. Ich kam mir wie ein Ei in einem Eierkarton vor. Aber es war trotzdem sehr bequem und dass die Matratze direkt auf dem Boden lag, half ein bisschen. Dad hatte gesagt, dass noch ein Rahmen geliefert werden würde, aber nicht wann. Die Matratze einfach weiter auf dem Boden liegen zu lassen, schien mir eigentlich ganz okay.

Es war heiß hier in der Stadt. Wir hatten in einer Wohngegend am Stadtrand gelebt. Dort war es kühler, und die Bäume und Felder waren schön. Aber jetzt wohnten wir hier. Man musste dorthin, wo man Geld verdienen konnte. Ich hatte noch den ganzen Sommer vor mir, ehe die Schule wieder anfing, und in der neuen Gegend gab es viel zu entdecken …

Ich wusste nicht recht, wie ich Pixie Rae treffen sollte. Sie war nicht mehr da, als ich am Morgen aufwachte. Zumindest reagierte sie nicht auf den Schaumstoffpfeil, den ich durch ihr Fenster schoss. Nachdem ich T-Shirt und Hose angezogen hatte, ging ich in unsere neue Küche, wo sich die Umzugskartons stapelten. Die Wohnung hatte zwei Schlafzimmer. Dad hatte mir auf einer Umzugskiste eine Nachricht hinterlassen.

Hi, pack die Küchensachen aus und räum sie weg.

Das war mein Marschbefehl für heute. Außerdem hatte Dad noch einen Fünf-Dollar-Schein hingelegt. Wahrscheinlich sollte ich mir davon Essen kaufen. Ich war nicht scharf darauf, bei der drückenden Hitze in der Wohnung zu bleiben, deshalb stopfte ich das Geld in die eine und den neuen Haustürschlüssel in die andere Hosentasche. Nachdem ich mir meine nachgemachten Converse-Sneakers angezogen hatte, verließ ich das Haus.

Es gab keinen funktionierenden Fahrstuhl, weshalb der Umzug ganz schön nervig gewesen war. Ich bemerkte einen Lastenaufzug, aber für den brauchte man einen Schlüssel. Ich ging die Treppe runter und verließ das Haus durch den Notausgang. Die Morgenluft war kühl genug, um einmal tief durchzuatmen. Ich ahnte schon, dass ich den Geruch von frisch gemähtem Gras hier bald vermissen würde. Ich musterte die Bar auf der anderen Seite der Straße, als würde ich einen Schurken in einem Film ins Visier nehmen. Sie war geschlossen, aber so ein Lokal derart dicht bei unserer Wohnung zu haben, könnte sich als Problem erweisen. Mir war klar, dass Dad wahrscheinlich nicht trocken bleiben würde, und der Laden würde ihn magisch anziehen, wenn alles schwieriger wurde. Ich schaute die Straße hoch und runter. Es herrschte zwar ein wenig Verkehr, aber es hielt sich noch in Grenzen. So früh am Morgen wirkte die Gegend verschlafen. Ich kratzte mich am Ellbogen und überlegte, wo ich zuerst hingehen sollte. Schließlich beschloss ich, erst einmal die Hauptstraße ein paar Blocks hochzugehen und dann immer wieder links abzubiegen, um wieder da anzukommen, wo ich losgegangen war.

Als ich das zweite Mal abbog, hatte ich das Gefühl, als würde man mich beobachten. Selbst die Gebäude wirkten mit einem Mal weniger einladend. Die meisten Ladentüren waren geschlossen und vergittert. Es war noch gar nicht Wochenende, weshalb ich mich fragte, wie die überhaupt Geschäfte machen wollten.

Endlich erreichte ich ein Gebäude, das geöffnet war. Die Bücherei. Ich betrat den Vorraum, als Pixie Rae gerade herauskam. Sie hatte zwei dicke Bücher und einen Puzzlekarton mit einem Katzenmotiv im Arm.

»Hi Gaze!« Sie trug einen Haarreif in Regenbogenfarben, der ihr haselnussbraunes Haar zurückhielt. Mit schnellen Schritten kam sie auf mich zu.

Ich hob lässig das Kinn zur Begrüßung, denn ich wollte nicht zu aufgeregt wirken. Während meines Spaziergangs bis zur Bücherei war ich ein bisschen vorsichtiger und zurückhaltender geworden.

Wie befürchtet war Pixie größer als ich. In meiner letzten Klasse war ich der Zweitkleinste gewesen. Mein Vater meinte, dass ich eines Tages in die Höhe schießen würde, aber bestimmt nicht heute.

»Musst du die über den Sommer lesen?« Der Gedanke machte mich nervös. Ich wollte ungern erfahren, dass meine neue Schule besonders streng im Hinblick auf Hausaufgaben war. Ich hasste alle Hausaufgaben bis auf die für Mathe. Das war mein Lieblingsfach – außer Sport natürlich.

»Ja, ich lese in den Ferien, aber nur, weil ich es mag. Das sind keine Hausaufgaben oder so.« Sie versuchte, sich das Haar über die Schulter zu werfen, aber es fiel eigensinnig wieder nach vorn. »Hast du eine Büchereikarte?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich weiß nicht mal, wie das hier läuft. Ich hatte früher keine Bücherei in der Nähe. Ich hab Geld bekommen, um mir was zu essen zu besorgen, und schau mich gerade um.«

»Magst du Bagels? Wir haben hier einen Laden, der gute verkauft.« Sie machte einen Schritt auf mich zu. »Ich muss die Sachen hier nach Hause bringen, aber unterwegs kann ich dir zeigen, wo der Laden ist.«

»Ich mag Bagels.« Ich bot ihr an, die Bücher für sie zu tragen, woraufhin sie mir eins reichte.

Ich warf einen Blick über ihre Schulter, konnte von der Bücherei aber nur einen breiten Tresen und einen Metalldetektor erkennen. Pixie Rae machte einen sehr weltgewandten Eindruck auf mich.

»Übrigens, noch mal herzlichen Glückwunsch.« Wir gingen zusammen die Treppe runter.

»Gleichfalls.«

Ich wollte denselben Weg zurückgehen, den ich gekommen war.

Pixie blieb stehen und gab einen missbilligenden Schnalzlaut von sich. »Da gehen wir ohne Erwachsene nicht entlang.«

»Die Gegend kam mir wirklich ein bisschen unheimlich vor.« Ich machte auf dem Absatz kehrt und folgte ihr.

»Das glaube ich. Von der Bücherei nach Hause ist dieser Weg hier besser. Der ist auch insgesamt schöner. Man kommt zum Beispiel am Bagel-Laden vorbei, und es gibt auch einen Zeitschriftenladen. Die haben Comics, falls du so etwas magst.«

Sie hatte richtig geraten. Ich war ein Riesenfan von Marvel-Comics. Die Kombination aus Bildern und Text machte es mir leichter, dem Inhalt zu folgen.

»Der Laden macht aber erst später auf.« Sie zeigte mit einem Nicken auf die leicht getönte Schaufensterscheibe des Comicladens.

Wir rochen den Bagel-Laden schon, ehe wir dort ankamen, und ich war mir ziemlich sicher, dass ich ihn auch mit verbundenen Augen hätte finden können. Als wir an der dicken Glastür ankamen, die von innen beschlagen war, hob ich fragend das Buch aus der Bücherei.

»Nein. Behalt es erst mal. Ich hol es mir später. Vielleicht magst du es ja lesen.«

Ich schaute auf den Titel. Es war die Biografie eines berühmten Filmstars.

Ich würde es nicht lesen, aber vielleicht schaute ich mir die Bilder an. Da ich beeindruckt war, dass sie mir so schnell ein Buch aus der Bücherei anvertraute, fragte ich sie: »Möchtest du auch einen Bagel?«

Sie schüttelte den Kopf, und ihre Haare strichen über den Deckel des Buches, das sie im Arm hielt. »Nein, danke. Besorg dir welche, solange sie frisch sind! Wir sehen uns.«

Dann drehte sie sich um und ging.

Als ich den Laden betrat, merkte ich, dass der Verkaufsraum überraschend klein war, und der Tresen befand sich oberhalb meines Kopfes. Es gab offensichtlich eine bestimmte Reihenfolge, nach der bestellt wurde, aber ich begriff nicht, wie es funktionierte. Die Erwachsenen traten einfach immer vor mich. Ich wollte schon aufgeben, obwohl die Bagels unglaublich gut dufteten, als mir jemand auf die Schulter klopfte.

Pixie Rae stand genau hinter mir. »Ich dachte mir schon, dass es vielleicht schwierig werden könnte. Halt mal.« Sie gab mir ihre Sachen und ging dann direkt zum Tresen, wo sie sich einen Tritthocker herauszog. Sie stieg auf den Hocker, um mit dem Mann hinter dem Tresen auf Augenhöhe zu sein.

»Pixie! Herzlichen Glückwunsch, mein Sonnenschein!« Alle hier schienen ihren Namen zu kennen. Es kamen extra einige Leute von hinten aus der Backstube, um sie mit Mehl an den Händen per Handschlag zu begrüßen. Nachdem sie alle Glückwünsche entgegengenommen hatte, deutete sie mit dem Daumen über ihre Schulter.

»Gaze ist neu in der Gegend. Wir müssen ihm also helfen, sich etwas Gutes zum Essen zu besorgen.«

Und dann präsentierte sie mich wie ein Zauberer. Ich erwiderte das Lächeln der Angestellten, die jetzt über den Tresen schauten, um mich zu begrüßen und sich vorzustellen.

Nachdem alles gesagt und getan war, verließen Pixie und ich den Laden. Sie hatte einen Kuchenkarton mit einer rot gestreiften Schleife in der Hand und ich einen noch ofenwarmen Bagel mit Frischkäse und eine weitere kleine Tüte mit allerlei Leckereien. Der Fünf-Dollar-Schein steckte immer noch in meiner Hosentasche, und Pixies Bücher und das Puzzle balancierte ich auf den Unterarmen.

Dass ich von Pixies Zauberkräften wie geblendet war, durfte man getrost als Untertreibung bezeichnen. Sie war so tatkräftig. Auf mich wirkte sie wie eine kleine Erwachsene.

Bei unserem Spaziergang durchs Viertel lernte ich durch sie viele weitere Leute kennen. Einige waren in unserem Alter, die meisten aber im Alter unserer Eltern.

Wir gingen an meinem Wohnhaus vorbei und in ihres hinein. Sie holte einen Schlüssel hervor, der an einem Band um ihren Hals hing. Eigentlich hätte sie die Haustür aufschließen müssen, doch sie stand offen, sodass wir gleich rein konnten und dann zu ihr in den vierten Stock hinaufliefen. Ich ahnte schon, welches ihre Wohnung sein würde, da sich unsere Fenster ja gegenüberlagen.

Als Pixie die Tür aufschloss, warnte sie mich vor. »Guck nicht so genau hin. Meine Mutter hat mehrere Jobs, und ich bin dafür zuständig, für Ordnung zu sorgen.«

Ich zuckte die Achseln, weil es mir wirklich total egal war. Mein Vater und ich lebten wie Junggesellen, wie er sich immer ausdrückte. Bei Pixie sah alles sauber und aufgeräumt aus, und deshalb wusste ich nicht, was an der Wohnung auszusetzen sein sollte. Sie gab mir mit einer Geste zu verstehen, ihre Bücher auf einem verkratzten Couchtisch abzulegen, während sie ihren Kuchen im Kühlschrank verstaute.

»Du kannst deinen Bagel in der Küche essen, wenn du möchtest.« Sie klopfte auf den runden Metalltisch, der dort stand.

Ich nahm ihr Angebot an, da ich glatt am Verhungern war. Die Haustür wurde aufgeschlossen, als ich gerade zum dritten Mal abbiss. Von meinem Platz aus konnte ich ins Wohnzimmer sehen.

»Hi, Kleines.«

Selbst Mrs Stones Begrüßung klang müde, ehe ich die dunklen Ränder unter ihren Augen sah. Sie war eine hübsche Frau. Eine größere, ältere Ausgabe von Pixie. Ich wollte schon aufstehen und verschwinden, als Pixie mir mit einer Geste zu verstehen gab, dass ich sitzen bleiben sollte. Ich sank wieder auf meinen Stuhl zurück und aß weiter.

Mrs Stone schaffte es kaum bis ins Wohnzimmer, sondern wankte, als würde sie barfuß über glühende Lava laufen, bis sie endlich in einem Sessel saß. Pixie stellte ihrer Mutter mit leiser Stimme ein paar Fragen, aber soweit ich das erkennen konnte, bekam sie keine Antwort.

Dann hatte ich auf einmal das Gefühl, als würde ich wieder bei ihr durchs Fenster schauen, als ich Pixie dabei beobachtete, wie sie routiniert die nächsten Handgriffe ausführte. Offensichtlich tat sie das öfter. Sie öffnete den Kragen ihrer Mutter, damit diese es bequemer hatte, und streifte ihr die Schuhe ab. Dann nahm sie eine flauschige Decke vom Sofa, breitete sie über ihrer Mutter aus und hob ihre Füße auf den Couchtisch.

Mit zärtlicher, leicht besorgter Miene verschränkte sie die Arme ihrer Mutter auf deren Brust. Als sie einen forschenden Blick in meine Richtung warf, deutete ich auf die jetzt leere Bagel-Tüte. Pixie gab mir mit einem Handzeichen zu verstehen, dass ich leise sein und ihr folgen sollte. Also ging ich auf Zehenspitzen hinter ihr her, als sie die Wohnung verließ. Sie achtete darauf, die Tür sehr leise hinter sich zuzuziehen.

Nachdem wir die Treppe runtergestiegen waren, fing sie wieder an zu reden. »Bist du satt? Ich kann dich mit zum Spielplatz nehmen, wenn du darfst. Morgens kann man da gut hin.«

Ich warf meinen Müll in einen Abfalleimer neben dem Fußgängerübergang. »Ich kann gehen, wohin ich will. Ich muss nur heute Abend wieder zu Hause sein.«

»Das bekommen wir hin.« Sie wartete, bis die Fußgängerampel umsprang. »Wir müssen ja auch noch den Kuchen essen.«

»Dann geht es deiner Mutter also gut? Sie ist nicht krank oder so?«

Nach meiner Frage fühlte ich mich etwas schlecht, denn ich erinnerte mich an den besorgten Ausdruck, den ich auf Pixies Gesicht gesehen hatte.

»Nein. Sie ist nicht krank. Nur müde. Wie ich schon sagte: Sie arbeitet viel.« Pixie ging zu einem Tor und stieß es auf. Es schnappte wieder zu, als wir durchgegangen waren.

Der Park.

Kein Wunder, dass ich ihn bisher nicht bemerkt hatte. Die Eingangstore waren hoch und abweisend. Im Park befand sich ein in die Jahre gekommener Spielplatz, ein abgenutztes Basketballfeld und ein paar Picknicktische aus Metall. Ich erwähnte nicht, dass der Park bei meinem alten Zuhause in eine sanfte Hügellandschaft gebettet war, dass es dort zwei Spielplätze, Tennisplätze, Basketballfelder und so viele Fußballplätze gab, dass ich sie nie gezählt hatte. In Vororten war das nun mal so.

Sie griff nach meinem Arm und zog mich zu den Schaukeln. Zwei davon waren intakt. Die Ketten waren zwar verrostet, aber bei den anderen beiden fehlten die Sitze.

Ihre helle Freude darüber, zwei Schaukeln nebeneinander ergattert zu haben, war ansteckend, und ich ließ mich gern von ihr mitziehen.

Wir sprangen auf die Schaukeln und stießen uns sofort ab. Die Bewegung war so natürlich, als hätten wir es niemals lernen müssen. Es wurde bereits wärmer, doch für uns fühlte sich der Morgen kühler an, als wir hin- und herflogen und unsere eigene Brise erzeugten. Manchmal lächelten wir uns in diesem Schwebezustand an, wenn wir aus der Rückwärtsbewegung wieder nach vorne schossen. Dann gerieten wir aus dem Takt, und ihr haselnussbraunes Haar flatterte hinter ihr her wie eine Seele, die ihren Glücksmoment einholen wollte.

Ich wünschte, wir hätten länger schaukeln können, doch als ich verwegen mitten im Schwung von der Schaukel hüpfte, schnappte sich ein anderes Kind meine Schaukel. Das Problem war, dass es nur diese zwei Schaukeln gab, aber deutlich mehr Kinder auf dem Spielplatz herumliefen.

Pixie hüpfte bald nach mir herunter, und ihre Schaukel ereilte das gleiche Schicksal. An diesem Morgen fand ich heraus, dass ich bisher kein schöneres Gefühl erlebt hatte, als mit Pixie zu schaukeln, obwohl der Spielplatz nur wenig besser als ein Schrottplatz war.

Gemeinsam liefen wir über das kleine Gelände. Das Basketballfeld war voller Kinder in unserem Alter.

»Die Großen stehen später auf und vertreiben sie dann. Deswegen sind sie so früh da.«

Pixies Erklärung machte das überdrehte Spiel der Kinder verständlich. Und ich war mir ziemlich sicher, dass der verblichene Ball, den sie benutzten, in Wirklichkeit ein Fußball war.

Bei den Bäumen im Park waren keine Blätter mehr an den Ästen in Reichweite, als wäre es für alle ein Sport, sie abzurupfen. Kaum war mir dieser Gedanke gekommen, bewies Pixie, dass ich damit recht hatte, als sie sich nach einem Blatt reckte, das zu hoch für sie hing.

Sie war einen Kopf größer als ich, aber ich konnte gut springen. Ich schob sie sanft zur Seite, trat zurück und nahm Anlauf. Es gelang mir, das Blatt mit den Fingerspitzen meiner rechten Hand vom Baum zu zupfen.

Ich reichte ihr das Blatt mit einem breiten Grinsen, was mir erst bewusst wurde, als ein Kind in der Nähe anfing, uns zu hänseln. »Schaut mal, Pixie hat ’nen Babyfreund.«

Als dann auch noch einige anfingen, »Pixie ist verliebt, Pixie ist verliebt« zu rufen, wollte ich Pixie mit einer passenden Bemerkung verteidigen, aber ich lief nur rot an und brachte plötzlich kein Wort mehr hervor.

»Alfie, halt die Klappe. Keiner hat dich nach deiner Meinung gefragt.« Pixie zeigte ihm einen sehr erwachsenen Mittelfinger und streckte die Zunge raus.

Alfie verzog das Gesicht und antwortete, indem er ihr ebenfalls die Zunge herausstreckte.

Pixie stampfte mit dem Fuß auf, und er wich sofort einen Schritt zurück.

»Bring mich nicht dazu, dass ich zu dir rüberkomme.« Sie drehte sich zu mir um. »Er ist ein Idiot. Lass dich nicht von ihm ärgern.« Und dann sagte sie lauter, damit Alfie es auch hörte: »Für jemanden, der sich bei der Schulaufführung letztes Jahr noch in die Hosen gemacht hat, hat er ’ne ganz schön große Klappe.«

Alfie schien zu bedauern, überhaupt den Mund aufgemacht zu haben, und kehrte uns den Rücken.

»Hab ich’s mir doch gedacht.« Pixie rümpfte die Nase. Ich verfolgte die ganze Szene belustigt. Meine Fensternachbarin ließ sich nichts gefallen, und ich konnte nicht behaupten, dass mich das störte.

Als wir den Park Seite an Seite verließen, wurde das Tor nun von drei großen Jungs im Teenageralter bewacht, die miteinander herumflachsten. Der größte ließ einen Basketball auf seinem Finger kreisen. Mein Bauchgefühl riet mir, wegzulaufen und den Jungs um jeden Preis aus dem Weg zu gehen. Doch Pixie ging geradewegs auf sie zu. Sie nickte dem mit dem Basketball zu, und er warf ihn in ihre Richtung. Ich bemerkte, dass er ihn weniger fest warf, als er wahrscheinlich gekonnt hätte.

Pixie fing ihn auf und begann, mit beiden Händen zu dribbeln. Sie war eher kein Basketball-Superstar.

»Haben die da drin Ärger gemacht?«, fragte der mit den langen schwarzen Haaren, der neben Pixie stand, während sie sich auf den Ball konzentrierte.

»Nö. Aber Gaze ist neu hier, also wollten sie ihm zeigen, dass sie taff sind. Sind sie aber nicht.« Sie gab den Ball wieder an den Größten zurück.

»Die haben von Tuten und Blasen keine Ahnung.« Der mittlere von den Jungs hatte einen Rotstich im Haar, sodass man auf die Idee hätte kommen können, er wäre mit Pixie verwandt.

Pixie trat zurück und legte ihre Hand auf meine Schulter. »Die Jungs hier sind morgens immer auf dem Basketballfeld. Das sind Tim, Tocks und Drizzle.« Sie zeigte so schnell auf jeden, dass ich nicht wusste, wer wer war. »Gaze ist cool. Und er gehört zu mir.«

Die Jungs musterten mich von oben bis unten und sahen einander dann mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich hatte sogar das Gefühl, dass einer von ihnen kicherte. Der größte von ihnen streckte mir lässig eine Hand entgegen. Ich hatte keine Ahnung, was ich damit machen sollte. Klar hatte ich schon mal beobachtet, wie mein Vater Kunden die Hand schüttelte, aber ein förmliches, altmodisches Händeschütteln würde sie wohl nicht von Pixies Behauptung überzeugen, dass ich cool sei.

»Ich bin Tocks.« Der größte von den drei Basketballspielern reichte den Ball dem Rothaarigen und gab mir dann eine sehr schnelle Anleitung zu dem, was von mir erwartet wurde. Die Hände sollten in schneller Folge vorn und hinten abgeklatscht werden. Dann hakte man die Fingerspitzen ein und riss sich voneinander los, als wäre man zusammengeklebt.

Jeder der Jungs führte die gleiche Begrüßung mit mir durch, und als das erledigt war, wusste ich, dass der Rothaarige Tim hieß, und dass Drizzle einen ziemlich harten Handschlag hatte.

Das hier war toll. Wirklich toll. Ich würde Pixie später fragen, wie sie es schaffte, so beliebt bei ihnen zu sein, aber sie war schon beim nächsten Schritt ihres Plans. »Wartet ihr auf Greg? Er war letzte Nacht in der Seitenstraße – ziemlich spät noch.«

Die Jungs gaben erst unverständliche Laute von sich, dann nannten sie Greg einen Schlappschwanz.

»Nehmt Gaze. Ich wette, er kann spielen.« Sie zeigte auf mich, und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Ich war gut in Sport. Wirklich gut. Ich war immer der Erste, der in eine Mannschaft gewählt wurde, und so. Aber ich war zwölf. Diese Jungs hier waren fast achtzehn.

Tocks drehte den Kopf Richtung Spielfeld, auf dem bereits zwei Mannschaften mit jüngeren Kindern spielten. Als Tocks und seine Kumpel darauf zugingen, rannten sie weg, als hätte es einen Feueralarm gegeben. Pixie lächelte mich an. »Ist das okay für dich?«

Ich sagte Ja, weil ich nicht wie ein Weichei dastehen wollte, doch ich war mir ziemlich sicher, dass ich ungefähr so nützlich wie ein Schweißtuch sein würde. Ich hoffte nur, dass sie mich nicht wie eins behandeln würden.

»Ich gehe jetzt nach Hause und sehe nach meiner Mutter, aber ich werde mit einem Buch zurückkommen. Bleib bei Tocks.«

Dann ging sie davon, und ich blieb mit drei riesigen Typen zurück, die Zwei-gegen-zwei spielen wollten.

3. KAPITEL

Pixie Rae

Gaze wirkte scheu, aber ich wusste, dass Tocks auf ihn aufpassen würde. Ich machte mir Sorgen, Mom könnte so tief schlafen, dass sie durch die sitzende Position später Nackenschmerzen bekäme. Das war schon mal passiert.

Auf dem Heimweg behielt ich die Umgebung im Auge. Das war für mich völlig normal. Jedes Kind, das in der Stadt aufwuchs, war stets wachsam auf der Straße. Die Eingangstür zu unserem Haus stand sperrangelweit offen, obwohl sie immer geschlossen sein sollte. Bestimmt war die Hintertür auch auf. Ich war immer vorsichtig, denn man musste wissen, von wo jemand kommen könnte. Tagsüber konnte man sich aber deutlich freier bewegen. Verlassen durfte man sich allerdings nicht darauf, denn vor ein paar Wochen hatte es zwei Straßen weiter um die Mittagszeit eine Schießerei gegeben.

Ich legte die Hand um die Schlüssel, die um meinen Hals hingen, um die Wohnung so leise wie möglich zu betreten. Mom saß nicht mehr im Sessel, und als ich der Spur ihrer abgelegten Kleidungsstücke folgte, fand ich sie in ihrem Bett. Sie hatte nicht mehr die Energie gehabt, die abgenutzte Decke über sich zu ziehen, und so tat ich das für sie.

Für das Abendessen würde ich heute zuständig sein. Mal wieder. Ich vermisste es, dass Mom immer gekocht hatte, als ich jünger gewesen war. Auch wenn es manchmal nur Hotdogs gewesen waren, so hatte sie sich doch um alles gekümmert: Sie hatte das Essen gekocht, abgewaschen und mich ins Bett gebracht. Das war, ehe Dad uns verlassen hatte. Jetzt musste sie Geld verdienen, um alle Rechnungen bezahlen zu können. Ich verstand es, aber ich vermisste sie trotzdem sehr.

Ich sah in den Kühlschrank und runzelte die Stirn. Käse-Makkaroni wären eine Möglichkeit, denn wir hatten Butter, Mehl, Milch und Nudeln, aber keinen Käse. Ich ging zu meinem Spezialbriefumschlag und nahm fünf Dollar heraus. Im Supermarkt an der Ecke gab es Käse in der Kühlung, doch der Laden war teurer als der Discounter ein paar Straßen weiter.

Aber ich wollte wieder zu Gaze, und deshalb war es mir egal. Ich schnappte mir ein Taschenbuch und zwei Flaschen Wasser für uns beide, ehe ich die Tür hinter mir schloss. Zumindest war Mom zu Hause.

Als ich wieder beim Spielplatz ankam, war es schon richtig warm. Das Basketballfeld würde bald in der prallen Sonne liegen, und dann würden Tocks, Tim und Drizzle mit Spielen aufhören und nach Hause gehen.

Ich setzte mich unter den einzigen Baum, der genug Blätter hatte, um Schatten zu spenden, und lehnte mich mit dem Rücken an den rauen Stamm. Es war ein kräftiger Baum, denn er war mit Initialen und Wörtern übersät, die in die Rinde geritzt waren, und trotzdem schlug er jedes Jahr aufs Neue aus.

Ganz begeistert, dass ich in der Bücherei das neuste Buch von Tijan ergattert hatte, schlug ich es auf. Aber ehe ich in die Fantasiewelt eintauchen würde, auf die ich mich freute, beobachtete ich Gaze eine Weile. Tocks spielte mit ihm in einem Team. Der Größte und der Kleinste gegen die anderen beiden. Ich konnte nicht erkennen, ob die Jungs ebenso hart wie sonst spielten, doch es war auf jeden Fall ein schnelles Spiel. Gaze war zwar kein überragender Basketballer, aber er hielt sich gut und spielte Tocks regelmäßig Bälle zu.

Ich hatte erst eine Seite meines Buches gelesen, als Gaze plötzlich schwer atmend vor mir stand. Ich reichte ihm eine Wasserflasche. Er kippte sie in sich hinein, ohne auch nur Danke zu sagen. Tocks winkte mir zu, als er mit den anderen den Park verließ.

Weil Gaze immer noch durstig wirkte, reichte ich ihm auch noch die zweite Flasche. Er trank sie bis zur Hälfte leer und gab sie mir dann zurück. »Sorry, danke. Ich hatte so einen Durst, dass ich schon Angst hatte, meine Augäpfel würden sich in Rosinen verwandeln.«

Ich stand auf. »Kein Problem. Heute werden es fünfunddreißig Grad, und es bleibt schwül. Ist also kein Wunder, dass du so einen Durst hast. Ich muss für heute Abend noch Käse kaufen.«

Er beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und atmete ein paarmal tief durch. »Kannst du das allein machen? Ich muss duschen und die Umzugskartons, die bei uns in der Küche stehen, auspacken.«

Als er sich wieder aufrichtete, begleitete ich ihn zum Tor, damit ihn keiner anmachte. Sobald ich sicher war, dass er wusste, wie er nach Hause kam, ließ ich ihn gehen.

Ich hatte das Gefühl, Gaze beschützen zu müssen. Schon früher hatte ich erlebt, dass auf Kindern, die neu in der Gegend waren, sofort herumgehackt wurde. Dieses Muster wollte ich ändern. Es musste nicht immer so laufen. Niemand sollte auf sich allein gestellt sein.

Als ich beim Supermarkt ankam, war ich in Schweiß gebadet. Es war fürchterlich heiß, aber so ging es schon den ganzen Sommer. Ich freute mich, als ich die neuen Artikel für das bald beginnende Schuljahr sah. Ich ging gern zur Schule. Vor allem gefiel es mir, dass es in manchen Klassenräumen eine Klimaanlage gab. Ich holte mir einen Cheddar aus der Kühlung und ging damit zur Kasse. Dort saß jemand Neues, den ich noch nicht kannte. Ich schob ihm den Käse hin.

Auf seinem Namensschild stand Butter. Ich lächelte und begrüßte ihn. »Das ist ja ein toller Name.«

Er schien verwirrt und schaute dann auf sein Namensschild. »Ach ja. Stimmt. Das Namensschild ist nur für den Übergang gedacht. Ich konnte zwischen diesem hier und Marigold wählen.« Er zuckte die Achseln.

»Ich denke, du hast eine gute Wahl getroffen, Butter.« Ehe ich seinen richtigen Namen in Erfahrung bringen konnte, musste ich weitergehen, weil sich hinter mir eine Schlange bildete.

Er sah mich erst mit durchdringendem Blick an, ehe er kurz den Kopf schüttelte und die Lider senkte. Er hatte lange dunkle Wimpern.

Auf dem Weg nach draußen drehte ich mich noch einmal um und winkte Butter zu.

4. KAPITEL

Gaze

Allmählich war es richtig schwül geworden, und ich war sehr enttäuscht, als ich merkte, dass es immer heißer wurde, je weiter ich die Treppe hochstieg. Als ich endlich oben angekommen war und die Wohnungstür öffnete, war mir klar, dass die Sommerhitze ein echtes Problem werden würde.

Ich schloss die Tür hinter mir ab und ging in mein Zimmer, um mir neue Klamotten zu holen. Dabei warf ich einen Blick nach drüben in Pixies Zimmer, aber sie war nicht da. Oder zumindest konnte ich nicht erkennen, ob sie dort war oder nicht.

Ich stellte die Dusche an, und es dauerte eine ganze Weile, bis ich die richtige Temperatur – und zwar kalt – eingestellt bekam. Eiskalt. Ich hüpfte unter den Strahl und zwang mich, in der Dusche zu bleiben, bis mein Körper sich abkühlte. Dann wurde das Wasser von ganz allein wieder wärmer. Es pendelte sich auf Zimmertemperatur ein, und damit verlor es seinen Reiz. Also verließ ich die Dusche.

Ich zog ein ärmelloses Shirt und Basketball-Shorts an. Dann sah ich noch einmal nach Pixie, konnte sie aber immer noch nicht entdecken. Es wurde langsam Zeit, dass ich meine Aufgabe für den heutigen Tag erledigte. Ich musste die Umzugskartons in der Küche auspacken. Es dauerte nicht sehr lange, alles einzuräumen, da wir nicht viel besaßen. Ich verstaute die Gabeln und das restliche Besteck in einer Schublade neben dem Kühlschrank, und die Teller stellte ich in den Schrank über der Spüle.

Dann war ich fertig, aber von Pixie war immer noch nichts zu sehen. Deshalb fing ich mit meinem Zimmer an. Nachdem ich eine Weile geräumt hatte, schwitzte ich erneut. Weil mir heiß war und ich das Gefühl hatte, in der Wohnung zu ersticken, ging ich wieder nach draußen. Die Sonne war gerade dabei, hinter den Gebäuden zu verschwinden, aber auf der Straße wurde man trotzdem gebraten. Zumindest hatte man nicht das Gefühl, eingesperrt zu sein. Ich war gerade auf dem Weg zum Basketballplatz, als ich Pixie auf mich zukommen sah. Auf ihrem Gesicht lag ein breites Grinsen, und die Haare hatte sie mit einem Tuch hochgebunden. Mit dem blauen T-Shirt und den Jeans, die sie trug, verschmolz sie mit den anderen Kindern auf der Straße.

»Hast du etwa Wasser fürs Duschen verschwendet?« Sie deutete auf mein Gesicht und meine Arme, die mit Schweiß bedeckt waren.

»Ja. Komplett verschwendet.«

Sie reichte mir die Hand zum Gruß, wie es die Jungs vorhin getan hatten, und nun wusste ich ja, was von mir erwartet wurde. Wir klatschten uns ab, aber sie legte dabei eindeutig eine mädchenhafte Art an den Tag.

»Wie ist dein Buch?« Ich deutete auf das hübsche Cover des Buches, das sie sich unter den Arm geklemmt hatte.

»Total klasse. Ich wollte eigentlich Käse-Makkaroni kochen, aber es ist viel zu heiß, um auch noch den Backofen anzuschalten.« Sie fächelte erst sich und dann mir mit dem Buch ein bisschen kühlere Luft zu.

»Du kochst?« Dad und ich waren miserable Köche. Wir waren Fast-Food-Experten und konnten sehr gut Essen bestellen.

»Ja, einer muss es ja tun.« Sie schirmte mit der Hand die Augen gegen die Sonne ab und schaute über meine Schulter. »Tocks macht den Hydranten auf. Komm!«

Ich drehte mich um und folgte ihr, nachdem sie ihr Buch abgelegt hatte. Die Kinder auf der Straße jubelten, als Tocks das Ventil der Feuerwehr aufdrehte. Er hatte das achteckige Werkzeug, mit dem sich der Verschluss öffnen ließ. Und dann brach ein ziemliches Chaos aus. Ein paar der größeren Kinder drängelten sich vor, aber irgendwann kam jeder an die Reihe und konnte sich unter die Fontäne stellen. Einige Kinder wurden von anderen davor festgehalten, bis sie leicht panisch wirkten, aber Tocks scheuchte sie weiter.

Pixies Tuch löste sich, und ihr Haar ringelte sich durch die Feuchtigkeit. Sie sah mich breit grinsend an und hielt meine Hände fest, als wollte sie auf mich aufpassen, damit mir nichts passierte. Ich hielt den Atem an.

Der Sprühnebel des Hydranten und die tief stehende Sonne schufen einen Regenbogen, der ihren Kopf einrahmte. Ich spürte es bis in die Zehenspitzen. Intuitiv wurde mir klar: Pixie Rae gehörte zu mir. Ich liebte sie.

Sie zog mich an den Händen unter die Fontäne, und ich folgte ihr. Ich war zwölf. Ich wäre ihr überallhin gefolgt.

5. KAPITEL

Pixie Rae

Die Fontäne des Feuerhydranten bot an einem Tag wie heute wirklich die einzige Möglichkeit, sich Erleichterung zu verschaffen. Das Wasser war kalt. Eiskalt. Der Hydrant, den Tocks ausgewählt hatte, sorgte für eine riesige, tiefe Pfütze, in der wir planschen konnten, während das Wasser auf uns herabregnete. Die Pfütze war dreckig, aber das war egal.

Gaze und ich waren klitschnass, und unsere Finger ganz runzelig, als wir in der Sonne trockneten. Wir saßen eine Weile auf der Treppe des Hauses, in dem er wohnte, und genossen es, wie unsere Gänsehaut sich allmählich wieder glättete.

»Wie lange kennst du Tocks schon?« Gaze holte ein Päckchen Pfefferminzkaugummi hervor und reichte mir einen schlaffen, nassen Streifen.

»Er wohnt in meinem Haus. Zwei Stockwerke über mir. Er war mein Babysitter, als ich klein war.« Ich kaute so lange, bis ich Blasen machen konnte, die ich platzen ließ.

Eine Weile lieferten Gaze und ich uns einen Wettkampf, wer die größeren Blasen hinbekam, aber keiner konnte eindeutig gewinnen. Gaze meinte, dass er heute ein zweites Mal duschen müsse, nachdem er in der Pfütze gespielt hatte. Und dann erstarrten seine Gesichtszüge. Ein Mann kam auf uns zu. Gaze’ Kiefer war mit einem Mal verspannt, und ich konnte erkennen, dass er die Zähne zusammenbiss.

»Hey. Willst du jetzt nicht mal nach Hause?« Gaze stand auf, und ich erhob mich ebenfalls. Er sah den Mann an, während er die Worte sprach, und deshalb dachte ich einen Moment lang, er würde mit dem Erwachsenen sprechen. Doch dann legte Gaze seine Hand an meinen Ellbogen. »Ist das okay? Kannst du jetzt gehen?«

Da erkannte ich, dass er tatsächlich mich meinte. Vielleicht erkannte ich es an den Augen von Gaze und dem Mann, die sich so sehr ähnelten. Ich wusste sofort, dass dies sein Vater war. Der Mann setzte ein breites Lächeln auf und sagte: »Na, Gaze, mein Sohn, geht’s dir gut?«

Sein Vater war betrunken. Ich konnte es riechen. Ich merkte es an der leicht schleppenden Art, wie er sprach. Und jetzt wusste ich auch, warum Gaze wollte, dass ich wegging. So war das hier eben manchmal. Die Kneipe war gleich um die Ecke, und viele Leute brachten ihren Gehaltsscheck direkt dorthin.

Es war eigentlich noch ziemlich früh für so etwas, aber Gaze’ Vater hatte einen eindeutig schwankenden Gang. Ich warf einen Blick über die Schulter und sah gerade noch, wie Gaze sich abrupt abwendete und die Treppe hochstürmte.

»Warte, nein. Es war nur ein Kunde. Ein Drink zur Feier des Tages. Ich feiere einen großen Geschäftsabschluss. Wir werden uns ein paar tolle Sachen für die neue Wohnung besorgen. Gaze? Gaze, komm zurück.« Gaze’ Vater sprach ins Leere, denn sein Sohn war längst weg.

Ich ging nach Hause. Währenddessen überlegte ich, was es heute zum Abendessen geben sollte. Vielleicht könnte ich die Käse-Makkaroni ja auf dem Herd zubereiten, ohne sie auch noch in den Ofen zu schieben.

Als ich die Wohnung betrat, war von meiner Mutter nur noch die Arbeitskleidung da und ein Klebezettel, der am Kühlschrank hing.

Hallo Pix, ich muss eine zusätzliche Schicht übernehmen. Schlaf gut. Ich hab dich lieb.

Ich stieß einen leisen Seufzer aus. Unter einem der Kühlschrankmagnete klemmte ein Zehn-Dollar-Schein. Das war Moms Art, sich dafür zu entschuldigen, dass sie den Abend nicht mit mir verbrachte. Ich könnte wieder nach unten gehen, mir bei Subway ein Menü inklusive Cookie besorgen – was mich nicht die ganzen zehn Dollar kosten würde –, und mir das Kochen sparen. Außerdem gab es ja auch noch den Kuchen, den ich mir mit Gaze teilen wollte.

Aber als Erstes musste ich den Dreck von der Straße loswerden, und so stieg ich unter die Dusche und wusch mir die Haare mit meinem Lieblingsshampoo, das nach Erdbeeren duftete. Nachdem ich mich angezogen hatte, drehte ich das nasse Haar zu einem hohen Knoten und befestigte es mit einem Haargummi. So würde es länger nass bleiben und auch später noch schön kühl sein. Manchmal fühlten sich Sommertage endlos an. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es erst fünf war und somit noch lange hell bleiben würde.

Ich ging in mein Zimmer und schaute zu Gaze’ Fenster rüber. Da tauchte er plötzlich über dem Fensterbrett auf.

Ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte. Jetzt kannte ich sein Problem: Sein Vater betrank sich während der Woche.

»Esst ihr gleich zu Abend?«

»Meine Mutter ist wieder zur Arbeit gegangen.«

Man sah Gaze die Überraschung an, als er die Augenbrauen hochzog. »Sie war doch kaum zu Hause.«

Ich schaute nach unten in die Seitenstraße. Wahrscheinlich erkannte er in diesem Moment mein Problem.

»Mein Vater ist eingeschlafen, deshalb weiß ich noch nicht, was ich heute Abend essen soll.«

Ich fischte den Zehn-Dollar-Schein aus meiner Tasche und hielt ihn hoch. »Ich hab was außer der Reihe bekommen. Wollen wir uns zusammen was zum Abendessen besorgen?«

Er strich sich das Haar aus der Stirn, und seine Miene hellte sich auf. »Das wäre toll. Danke.«

Wir trafen uns unten und liefen dann drei Straßen weiter zu Pete’s Pizza, dem besten Pizzaladen in der Gegend. Für weit unter zehn Dollar bekamen wir zwei Stücke Pizza und ein Getränk, das wir uns teilten. Wir setzten uns in eine Nische am Fenster, wo unsere Beine am orangefarbenen Kunststoffbezug der Sitze klebten. Damit wir beide aus dem Fenster schauen konnten, setzten wir uns auf dieselbe Seite. Die Pizza von Pete’s konnte man nur auf eine Art essen. Sie war tierisch heiß und duftete köstlich. Deshalb musste man langsam anfangen und hatte mit dem heißen Käse zu kämpfen. Er zog sich wie Kaugummi.

Leute zu beobachten, war in der Stadt ein Sport, mit dem man sich stundenlang beschäftigen konnte. Ich liebte es, weil ich mir immer Geschichten zu den Leuten ausdachte, die interessant aussahen.

Gaze zeigte auf einen Mann, der von Kopf bis Fuß so tätowiert war, dass er wie ein Skelett aussah.

»Ich glaube, ich hätte auch gern solche Tätowierungen. Was meinst du, wie alt muss man dafür sein?« Er wischte sich einen Tomatenspritzer vom Kinn.

»Ich denke mal, es hängt davon ab, ob man im Gefängnis sitzt oder nicht. Im Knast kommt man da bestimmt jederzeit ran. Aber draußen, hm, vielleicht fünfzehn? Ich will auf keinen Fall ein Tattoo haben. Ich hasse Nadeln.«

»Ich hab mit Nadeln kein Problem. Aber wie soll das denn im Gefängnis funktionieren? Man braucht doch so einen speziellen Stuhl und anderen Kram dafür. Ich hab mal eine Sendung darüber gesehen.« Gaze zerknüllte seine Serviette und strich sie dann mit beiden Händen wieder glatt.

»Jeder mit ’ner Nadel und ein bisschen Tinte kann ein Tattoo stechen.« Ich hatte es mal mit eigenen Augen gesehen.

»Das klingt nicht nach einer guten Idee.« Sein Blick war nachdenklich in die Ferne gerichtet, daher schien er dennoch ernsthaft darüber nachzudenken.

Gaze richtete sich auf. »Ich muss nach meinem Vater sehen. Aber danke fürs Essen.«

Ich fragte Gaze nicht, warum er nach seinem Vater sehen müsste. Wahrscheinlich wollte er sichergehen, dass er noch lebte oder dass sein Vater nicht irgendetwas machte, das er nicht tun sollte. Ich ging Erwachsenen, die sich wie sein Vater aufführten, nach Möglichkeit aus dem Weg.

Als wir aufstanden, machten unsere Beine Geräusche, als würden wir gleichzeitig pupsen. Lachend verließen wir den Pizzaladen.

Nachdem wir uns wieder beruhigt hatten, meinte ich zu Gaze: »Wir müssen nach Hause, ehe es dunkel wird. Nachts ist es hier für Kinder nicht so toll.«

»Dann sehen wir uns am Fenster«, schlug er vor, als sich unsere Wege vor seinem Haus trennten. Er wartete auf der Treppe, bis ich mein Wohnhaus betreten hatte.

Ich hasste diesen Teil des Tages. Den Abend. Die Nacht würde hereinbrechen, und ich wäre allein zuhause. Mit meiner Mutter konnte ich nicht darüber reden, dass ich Angst hatte, denn sie wiederholte ständig, wie toll es sei, dass ich schon so groß war.

Sobald ich die Wohnung betrat, knipste ich das Licht an und schloss gleich hinter mir ab. Ich hatte mir angewöhnt, als Erstes alles zu überprüfen. Ich schnappte mir meinen Baseballschläger, sah in jeden Schrank und sogar in die Dusche … und unter die Betten. Die Lampen machte ich auch alle an. Den ganzen Abend würde ich sie nicht brennen lassen, nur während ich überall nachschaute.

Heute Abend ging ich, nachdem ich das erledigt hatte, in mein Zimmer und sah einen Ball, der hinter Gaze’ Fenster immer wieder hochgeworfen wurde.

Ich griff nach meiner Seifenblasenpistole, füllte Seifenlauge nach und schoss in seine Richtung. Es dauerte ein bisschen, bis es mir gelang, dass die Seifenblasen auch in die richtige Richtung flogen. Gaze steckte den Kopf durchs Fenster. Er lächelte.

Unsere Fenster lagen so dicht zusammen, dass wir uns ganz normal unterhalten konnten. Die schwüle, stehende Luft trug unsere Stimmen.

»Wie geht’s deinem Vater?«

Gaze zuckte die Achseln und gab keine Antwort, also ließ ich das Thema fallen. »Kannst du gut werfen?«

Der Ball schien ein Basketball aus Hartschaum zu sein. Ich hob die Hände.

Seine Augen funkelten, ehe er ihn mir in einem sanften Bogen zuwarf. Es war ein bisschen aufregend zu beobachten, wie er über die Straße flog. Ich fing den Ball in der Luft auf und drückte den Schaumstoff.

Dann stützte ich mich mit den Ellbogen auf dem Fensterbrett ab und holte tief Luft. Gaze schien zu glauben, dass ich gut werfen könnte, also versuchte ich es einfach. Er musste sich ein bisschen vorbeugen, um ihn zu fangen, aber er schaffte es.

An diesem Abend warfen wir uns über eine Stunde lang immer wieder den Ball zu. Ich war nicht mehr allein. Ich warf ihm sogar ein Stück Kuchen rüber. Ein paar Krümel fielen hinunter, aber er bekam noch ein einigermaßen großes Stück zu essen. Dann warfen wir wieder den Ball.

Als unsere Arme müde waren, sahen wir einander über die Straße hinweg an.

»Hey, ich bin hier. Die ganze Nacht. Wenn du mich rufst, wache ich auf.«

Ich nickte. Er hatte verstanden. Er wusste, dass es für mich nicht einfach war, so ganz allein zu sein.

Als ich schließlich ins Bett ging, ließ ich mein Fenster offen. Das machte ich normalerweise auch immer, denn es lag hoch über der Straße, und es kam ein bisschen Luft herein. Aber heute Abend war das offene Fenster auch eine Erinnerung daran, dass jemand für mich da war. Ganz nah.

6. KAPITEL

Gaze

Ich sah noch ein paarmal nach Dad. Er entschuldigte sich immer wieder … aber ich roch den Whiskey. Es war einfach furchtbar, wenn er so die Kontrolle über sich verlor. Solange ich lebte, hatte es diese Aufs und Abs gegeben. Trotzdem war ich immer voller Hoffnung, wenn er eine Weile nicht trank. Die Kneipe auf der anderen Straßenseite war ein schlechtes Omen gewesen. Ich hatte gewusst, dass das ein Problem werden würde, und gleichzeitig gedacht, dass er vielleicht länger durchhalten könnte.

Mit den Entschuldigungen gingen haufenweise Versprechungen einher. Er versicherte mir immer wieder, dass es eine Ausnahme und nur ein Drink gewesen sei. Aber es war mehr als nur ein Drink. Das wusste ich ganz genau. Dad blieb nie bei nur einem Drink. Also sorgte ich dafür, dass er auf der Seite lag. Denn es war schrecklich, wach zu werden und zu sehen, wie er beinahe an seinem Erbrochenen erstickte.

Wenn er nicht trank, war er streng zu mir. Doch wenn er trank, existierte ich fast nicht für ihn. Manchmal war ich dann einfach nur derjenige, der ihm das nächste Bier aus dem Kühlschrank holte.

Aber heute Abend war Pixie da, mit der ich Ball spielen konnte. Und ich fühlte mich wichtig, weil ich ihr gesagt hatte, dass sie nicht allein sei. Darin war ich gut. Vielleicht waren alle Kinder von Alkoholikern gut darin, die Körpersprache anderer Menschen zu lesen. Sie waren auf der Hut. Immer.

Doch Pixie gab mir ebenfalls ein Gefühl von Sicherheit. Hier … in dieser für mich neuen Gegend, wo sie alles und jeden zu kennen schien. Ich schätzte mich glücklich, sie in meiner Nähe zu haben.

Am nächsten Morgen lag Dad immer noch im Bett. Er hatte sich nicht übergeben, sodass ich nichts saubermachen musste. Ich hoffte, dass er aufstehen und ins Badezimmer gehen würde, wenn er mal musste. Nachdem ich mich angezogen hatte, verließ ich die Wohnung und war so früh unterwegs, dass ich das Getöse der Müllabfuhr mitbekam. Es würde etwas dauern, bis ich mich an das Stadtleben gewöhnt hatte.

Hinter Pixies Fenster war noch alles ruhig, und ich war nicht sicher, ob sie vielleicht länger schlief. Ich schoss keinen Nerf-Pfeil hinüber.

Ich wollte mein Glück versuchen und schauen, ob die großen Jungs noch einmal mit mir Basketball spielen würden, aber da Pixie nicht bei mir war, fragte ich mich, ob sie wieder nett zu mir sein würden.

Es war still im Park, als ich durchs Tor ging. Auf den Bänken, die um den Spielplatz verteilt waren, lagen ein paar Gestalten, die im gleichen Zustand wie mein Vater waren. Ohne meinen Basketball konnte ich nicht allein auf dem Platz spielen. Ich schwang ein paarmal auf einer der Schaukeln hin und her, doch wegen des Quietschens und Knirschens der Ketten erntete ich ein paar Flüche von einem grantigen Kerl auf einer der Bänke. Deshalb setzte ich schnell die Füße auf und brachte die Schaukel in einer Staubwolke zum Stehen.

Ich verließ den Spielplatz und ging zu der Seitenstraße zwischen Pixies und meinem Fenster. Dort lagen Bretter und Schutt von irgendeinem Bauprojekt. Das meiste war nur noch Müll, doch unter einer modrigen Rigipsplatte entdeckte ich eine schöne breite Planke aus Holz. Ich versuchte, den Abstand zwischen den beiden Gebäuden abzuschätzen, und kam zu dem Ergebnis, dass es passen könnte.

Ich zog und zerrte das schwere Brett bis nach oben zu unserer Wohnung. Das war gar nicht so leicht, und ein paar ältere Damen, die gerade die Treppe runtergehen wollten, waren ziemlich genervt. Aber schließlich hatte ich es in meinem Zimmer und schob es durch mein Fenster nach draußen. An der Fassade unterhalb meines Fensters war ein kleiner Vorsprung, und auf Pixies Seite gab es den auch.

Ich war mir ziemlich sicher, dass ich jemanden umbringen würde, wenn ich das Brett fallen ließe, aber unten war niemand. Ich stützte es auf meiner Seite ab, und wenn ich mich nicht verrechnet hatte, würde es auf Pixies Seite auf dem Vorsprung landen. Dann könnten wir vielleicht den Ball über das Brett hin- und herrollen lassen.