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Kann eine Lüge Wahrheit werden?
Ruffian will nur eins: seiner verstorbenen Mutter ein Denkmal setzen, indem er die obdachlosen Menschen, um die sie sich gekümmert hat, aus der bitteren Armut befreit. Dafür ist er sogar bereit, das Gesetz zu brechen und ins Gefängnis zu gehen. Als es ihm gelingt, sich in die Kreise der wohlhabenden Gesellschaft einzuschleichen, trifft er auf ein unerwartetes Hindernis: Teddi Burathon und ihre liebevolle Familie. Ein Kuss ist genug, um zu begreifen, dass Teddi die Eine für Ruffian ist. Aber um seinen Plan durchzuziehen, muss er sie belügen, ganz gleich, wie sehr sein Herz dabei blutet. Doch er hat nicht mit Teddis Entschlossenheit gerechnet, ihn vor sich selbst zu beschützen und für ihre Liebe zu kämpfen ...
"Herzzerreißend und wunderschön!" BJ’S BOOK BLOG
Band 2 der dramatischen New-Adult-Dilogie
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Seitenzahl: 646
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
Epilog
Danksagungen
Die Autorin
Die Romane von Debra Anastasia bei LYX
Impressum
Debra Anastasia
Swimming in Light
Roman
Ins Deutsche übertragen von Firouzeh Akhavan-Zandjani
Für den siebzehnjährigen Ruffian ist nur eines wichtig: Er will seiner verstorbenen Mutter ein Denkmal setzen, indem er die kleine Gemeinschaft obdachloser Menschen, die seine erweiterte Familie ist, aus der bitteren Armut befreit. Aber für ein Straßenkind wie ihn ist der einzige Weg, dies zu erreichen, Geld zu stehlen – viel Geld. Als Ruffian erfährt, dass er einen Halbbruder mit reichen Adoptiveltern hat, bietet sich ihm die einmalige Chance, sich in die Kreise der wohlhabenden Gesellschaft einzuschleichen. Doch in seinem neuen Zuhause trifft er auf ein unerwartetes Problem: Seine neue Ziehschwester Teddi Burathon und ihre liebevolle Familie entsprechen so gar nicht dem Bild der herzlosen Reichen, das er bisher hatte. Ein Kuss von Teddi ist genug, um zu begreifen, dass sie die Eine für ihn ist. Aber um seinen Plan durchzuziehen, muss er sie belügen und von sich fernhalten, ganz gleich, wie sehr sein Herz dabei blutet. Er hat jedoch nicht mit Teddis Entschlossenheit gerechnet, ihn vor sich selbst zu beschützen und für ihre Liebe zu kämpfen …
T, J und D – immer nur für euch
Mein Polizeifoto würde der einzige Grabstein sein, den sie je bekäme.
Mein wunderbarer Junge! Mein Ruffian!
WenndudiesenBriefliest,wirdunserAbenteuerfürmichzuEndesein.Ichhoffeundbete,dassdubereitsaufdembestenWegebist,erwachsenzusein.Ichwünschte,ichkönntedirmehrSicherheitgeben.Dochjetztkannichnurnochdaraufvertrauen,dassdirunseregemeinsamenErlebnisseeineRichtschnurfürdieZukunftseinwerden.DieWeltkannbrutalsein.Aberwirwissenbeide,dassestrotzdemimmerOrteundMomenteindieserWeltgibt,womanwahreSchönheitentdeckenkann.DasLächelnderDankbaren.Diefesten,einwenigzulangenUmarmungeneinsamerMenschen.Momente,indenenmanMenschen,TiereunddieNaturumunsherumbegleitet,umaufeinenetwaseinfacherenPfadzufinden.FühresieallezudiesenverborgenenOrten,meinlieberJunge.IchhabenieinmeinemLebeneinenMenschengekannt,dessenSeelesorein war wie deine – so tapfer, so fantasievoll, so nachsichtig. Esmachtmichnureinbisschenwütend,dassichnundiesenBriefschreibe,bedeutetesdoch,dasswirkörperlichvoneinandergetrenntsind.AberdieLiebeerhebtsichüberalles.LiebebohrtsichauchdurchdenstärkstenPanzer.Daskannichdirversprechen.DuwirstmichimmerindenWäldernfinden,wenndumichbrauchst.DasraschelndeLaubwirddichumarmen,derBaldachinausSternenamtiefschwarzenHimmelwirddichermutigen,undselbstdieLuft,diedueinatmest,wirddichlieben.EineMuttergehtniewirklich,sondernerst,wennsieihreKindersicherundgeborgenweiß.AlsowerdeichmireinenOrtsuchen,andemicheinengroßartigenAusblickhabe,undauf dich warten. Sei mein größtes Geschenk an diese Welt.
Ich liebe dich, Ruff.
Der Brief war auf die leere Rückseite eines Werbebriefs geschrieben, die man so häufig mit der Post zugeschickt bekam. Unbeschriebenes Papier, das man einfach wegwarf, machte meine Mutter wütend, sodass sie einen verkniffenen Gesichtsausdruck bekam. Sie hasste die Vorstellung, dass ein Baum sein Leben ließ und jemand die Rückseite eines Blatts Papier verschwendete.
»Fülle das Blatt! Also, mal ernsthaft, Ruff. Wenn man einen Baum fällt, dann sollte man dem Papier zumindest so viel Respekt entgegenbringen, dass man beide Seiten nutzt.«
Als ich älter wurde, begriff ich, dass die Wirtschaft Geld sparte, indem sie eine Seite leer ließ. Es bedeutete schließlich, dass weniger Geld für Leute ausgegeben wurde, die Inhalte produzierten, und die Druckkosten waren geringer. Aber früher dachte ich, dass leeres Papier einfach eine Einladung für Ideen wäre … um zu malen, einen Plan zu machen, eine Schatzkarte zu zeichnen oder einen Origamistern zu falten. Meine Mutter formte mich mit ihren lächerlichen Vorstellungen. Das Problem war nur, dass sie meistens recht hatte. Es war tatsächlich Papierverschwendung, aber für mich war es auch eine Ermunterung, mich in vielfältiger Form auszudrücken.
Wenn diese Denkweise ein Kind nicht vermurkst, dann weiß ich nicht, was sonst. Ich war anders, ganz anders als andere Kinder. Ich hatte kein Problem damit, zusammen mit meiner Mutter in den Vorraum eines Postamtes zu gehen – außerhalb der Öffnungszeit natürlich – und dort die Mülleimer und die Altpapiersammelstellen zu durchwühlen, um die leeren Seiten von Werbezetteln zu »retten«.
Im Grunde genommen waren wir obdachlos. Aber sie war mein Zuhause, und deshalb war ich sorglos.
Während ich den Brief las, hielt ich ihre kalte Hand und wartete darauf, dass sie zuckte oder meine große Hand drückte. Der Lärm um mich herum, außerhalb des Zeltes, wäre ihr schlimmster Albtraum. Die Polizei löste unsere kleine Gemeinschaft, unsere Community, auf. Die Waldmenschen – so wurden wir von anderen genannt. Die meisten sagten, wir seien gefährlich, dabei versuchten wir einfach nur zu leben.
Meine Waldnachbarn wehrten sich – ein paar zumindest. Die meisten ergaben sich in ihr Schicksal, packten zusammen, was sie tragen konnten, und zogen weiter. Damit kannten wir uns aus: weiterziehen.
Ich versuchte es. Ich holte tief Luft. Doch ich spürte nur einen stechenden Schmerz in der Brust, weil ich die ganze Nacht geweint hatte. Wenn ich ihre Hand losließe, würde ich auch meine Kindheit hinter mir lassen. Meine Träume. Mein Zuhause.
In Momenten wie diesen, wenn man weiterziehen musste, schaute die Gemeinschaft immer auf Mom. Sie warteten auf ihren Rat. Sie hatte sich auf ihre Art um alle gekümmert. Zumindest sollte ich ihren Tod nutzen, um ihnen mehr Zeit zu verschaffen, damit sie sich etwas sammeln konnten.
Ich beugte mich vor und küsste meine Mutter auf die Stirn. »Du hast es großartig gemacht, Mom. Du bist die beste Mutter der Welt.«
Wieder kamen mir die Tränen. Es war mir schleierhaft, wie ich überhaupt noch weinen konnte. Ich musste mittlerweile völlig dehydriert sein.
Ich wandte mich von ihr ab. Das Kissen und eine Decke ließ ich ihr. Den Rest von unseren Sachen packte ich in den großen Rucksack, den Mom immer getragen hatte. Die zerbeulte Blechdose, die mit Abbildungen von Keksen verziert war, enthielt wichtige Papiere, und ich tat den Brief, der Gott weiß wie lange darin gelegen hatte, wieder hinein. Auch ihr Führerschein, meine Geburtsurkunde und Kinderbilder sowie ein paar neuere Zeichnungen wanderten in die Dose. Die Blechdose wurde als Erstes ein- und als Letztes ausgepackt. Immer. Im Grunde wurde die Dose nur aus dem Rucksack genommen, wenn wir irgendwo waren, wo wir ein festes Dach über dem Kopf hatten und unsere Sachen trocken blieben.
Ich berührte immer wieder ihre Hand, bis wirklich der Moment gekommen war zu gehen. Jemand schlug von außen auf die Zeltplane – einmal, zweimal und dann noch ein drittes Mal. Ich zog den Reißverschluss auf und trat aus dem Zelt. Vor mir stand ein Polizist, der nur seinen Job erledigte.
»Oh. Geht’s dir gut?«
Trauer und Schock pressten meinen Brustkorb, mein Herz wie ein Schraubstock zusammen. So fühlte es sich wohl an, wenn die Zeit stehen blieb.
»Meine Mutter ist gestorben.« Angesichts des Aufruhrs, der um uns herum herrschte, war meine Stimme zu leise.
Der Bulle legte den Kopf auf die Seite und zog die Augenbrauen so eng zusammen, dass sie sich in der Mitte seiner Stirn trafen. »Was ist los?«
Ich musste es lauter sagen … damit die Zeit anhielt. »Meine Mutter ist tot!«
Und dann hielt die Zeit tatsächlich an. Ich hörte, wie einige keuchten, spürte die Wogen des Schmerzes, der Fassungslosigkeit.
Einige der Polizisten, die uns als Waldmenschen betrachteten, ignorierten es und drängten weiter, rückten vor.
Aber der, der vor mir stand – seine Emotionen waren nicht deutlich zu erkennen, aber sie waren da. Sorge. Mitgefühl.
»Junge, wie alt bist du?« Sanft legte er mir eine Hand auf die Schulter.
»Ich bin siebzehn.« Ich musste nicht mehr brüllen.
Ein anderer Cop trat zu unserem Zelt und hockte sich hin, um reinzuschauen. »Oh ja. Sie ist mausetot.«
Die Gefühllosigkeit seiner Worte schoss wie eine Kugel durch meinen Körper.
»Wir haben hier ’ne Leiche. Ruft den Gerichtsmediziner und bringt das Kind auf die Wache.«
Als der Polizist, der etwas Mitgefühl gezeigt hatte, dies hörte, sah ich, wie ein resignierter Ausdruck in seine Augen trat.
Sie legten mir Handschellen an. Noch ehe der Reißverschluss des Leichensacks ganz hochgezogen war, wusste ich, was ich als Nächstes tun würde.
Ich würde etwas so Riesengroßes, Gewaltiges rauben, dass sich dadurch die Welt verändern würde.
Man würde sich an Ivy Lucy Lawson erinnern, auch wenn mein Polizeifoto der einzige Grabstein wäre, den sie je bekäme.
»Du siehst toll aus!«
»Die Farbe passt zu dir. Da steht die Welt kopf!«
»Jetzt zeig uns, was du draufhast. Halt dich nicht zurück!«
Meine Mädels machten, was sie am besten konnten: anfeuern.
»Der Lippenstift hier steht dir am besten. Der Ton passt perfekt zum Rouge auf deinen Wangen.«
Vier meiner Freundinnen, mit denen ich früher zusammen bei den Cheerleadern gewesen war, gaben gerade ihr Bestes. Make-up konnten wir fast im Schlaf auflegen, und manchmal fühlte es sich auch so an, als würden wir genau das tun.
»Okay. Wir sind fertig. Vielleicht können wir ein schnelles TikTok-Video machen?«
Geduldig gingen sie den neusten Tanz noch einmal durch. Wir waren alle hoch konzentriert.
»Willst du es posten? Gefällt es dir?«
Und mit einem wunderschönen Lächeln nickte unser derzeitiger Schützling, dem wir uns voller Hingabe gewidmet hatten. Sie glaubte an sich. Sie strahlte, und ihre Augen funkelten. Meine Mädels hatten dezent die dunklen Ringe unter ihren Augen abgedeckt und die Perücke sorgsam in Form gebracht. Die volle, begeisterte Aufmerksamkeit von einem Haufen Highschool-Cheerleaderinnen zu bekommen, konnte ziemlich überwältigend sein, aber Fawna machte ganz toll mit.
Wir tanzten mit ihr gemeinsam und nahmen genug Bilder und Filme auf, um mehrere Social-Media-Accounts zu füllen. Doch das Wichtigste war, dass unsere Klientin des heutigen Tages strahlte.
Fawnas Eltern standen in der Nähe. Sie hatten sie für ein paar Stunden in unserer Obhut gelassen, um selbst ein Date miteinander zu haben, das ein anderer Teil meines Teams von »Meine Party« organisiert hatte. Die Jungs von der Football-Mannschaft und das Frauenfußballteam arbeiteten währenddessen bei ihnen zu Hause im Garten und erledigten kleinere Reparaturen.
Als Fawna schließlich so weit war, sich ihren Eltern anzuschließen, waren meine Mom und ihre Freundinnen an der Reihe. Sie hoben das Tischtuch von einem Couchtisch mit einem eingelassenen Schaukasten, der nach den besonderen Wünschen der Kunden angemalt worden war. Vor allem der Schaukasten war fantastisch geworden und erinnerte an einen Instagram-Account, den man darin angelegt hatte. Es waren noch freie Stellen, sodass Fawna weitere Erinnerungsfotos einfügen könnte, doch jetzt waren vor allem Babyfotos von ihr und Bilder, die sie mit ihren Eltern in besonderen Momenten zeigten, zu sehen, eingerahmt von ihren Lieblingsfarben.
Die Jungs hatten das Auto der Eltern gewaschen und dekoriert, und sie brachen nun auf, um den Abend zu genießen. Wir hatten nichts für danach geplant, aber im Handschuhfach befanden sich Geschenkgutscheine für ein Abendessen für Fawna, wenn ihr danach war.
Es war ein großartiges Erlebnis. Besser als eine Hochzeit und Weihnachten auf einmal. Doch jetzt ging’s ans Aufräumen, und alle machten sich an die Arbeit.
Die Jungs von der Football-Mannschaft flirteten und versuchten, ein paar von meinen Mädels mit dem Gartenschlauch nass zu spritzen. Ich ließ ihnen eine Weile ihren Spaß, weil ich mit meiner Mutter reden wollte.
Sie streckte einen Arm nach mir aus, als sie mich kommen sah, und ich schmiegte mich an sie, während sie ihre Unterhaltung beendete.
»Man könnte es für deine nächste Veranstaltung zurechtmachen, Ronna.« Jill nahm ihr Handy wieder zurück, auf dem sie Ronna ein Bild gezeigt hatte.
»Das ist vielversprechend. Lass uns das im Auge behalten. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest.« Mom wandte sich mir zu und umarmte mich fest. »Meine Hübsche. Wie läuft’s?«
»Großartig. Fawna ist wirklich toll.« Ich holte mein Handy hervor, um meiner Mutter das TikTok-Video zu zeigen, das bereits haufenweise Likes und Views hatte. In dem Moment war zu sehen, dass Austin, mein älterer Bruder, das Video teilte und kommentierte.
»Ah. Da ist er. Du weißt, dass du gute Arbeit geleistet hast, wenn Austin bereit ist, dich auf seinem Channel zu teilen.«
Gleich darauf wurde Mom von jemand anders in Beschlag genommen und in eine Unterhaltung verwickelt. Ich bekam den Anfang des Gesprächs mit, bei dem sie sich begeistert über die Veranstaltung ausließen.
Ich veranstaltete diese Art Partys, so oft ich konnte. Oder eher wir … ich und meine ganzen Freunde. Ich liebte es, zu organisieren, und als bei der Tochter unserer Nachbarn, die noch nicht einmal ein Teenager war, vor zwei Jahren Krebs diagnostiziert worden war, hatte ich für sie zum ersten Mal eine »Meine Party« ausgerichtet. Und dann war das Ganze immer größer geworden. Glücklicherweise unterstützten mich meine Cheerleader-Freundinnen. Seitdem wir in den sozialen Medien so viel Aufmerksamkeit erhielten, bekam ich viel leichter Gutscheine und Spenden, sogar von größeren Firmen. Kürzlich war eine Merchandising-Firma auf mich zugekommen, aber darum würde Austin sich für mich kümmern.
Ich bückte mich und hob ein paar liegen gebliebene Luftschlangen auf. Als ich wieder zu den anderen kam, hob ich die Hände und tat so, als würde ich mich ergeben.
»Okay. Lasst uns hier fertig werden und dann ins Diner fahren.« Bei der Erwähnung von Essen gaben alle noch mal Gas. Das Diner versorgte uns immer nach den Partys. Die Hälfte der Leute aus der Mannschaft arbeitete dort, wenn sie nicht gerade trainierten. Ich wollte auch dort jobben, aber meine Eltern meinten, dass ich mir damit zu viel aufhalsen würde.
Aber jedes Mal, wenn wir dort aufkreuzten, wirkte es so, als würden alle viel Spaß haben. Einmal die Stunde lief ein spezieller Song, nach dem alle Angestellten tanzten. Wir kannten alle den Text und die Schritte, weshalb es schon eine Tradition war, dass die Gäste mitmachten, wenn der Song gespielt wurde.
Ich hatte einen Hefter mit Checklisten dabei, die ich durchging, ehe ich bereit war, Feierabend zu machen. Ich schickte ein paar Nachrichten an meine Leute an den unterschiedlichen Locations, und wir einigten uns darauf, im Diner zu Abend zu essen. Taylor fuhr uns. Sie hatte einen alten VW, und ich sprang vorne rein, nachdem ich gesehen hatte, dass meine Mutter ebenfalls aufbrechen wollte.
»Bring mich zu den Pommes!« Ich setzte Taylors Sonnenbrille auf, während Selena und Peaches hinten einstiegen.
Wir waren in Hochstimmung. Es war ein berauschendes Gefühl, etwas so Gutes und Großes geschafft zu haben. Ich freute mich darauf, mit meinen Leuten heute Abend zu lachen und Milchshakes zu trinken.
Der Polizist nahm mich nicht wirklich in Gewahrsam, und als er feststellte, dass meine Mutter eines natürlichen Todes gestorben war, ließ er mich vor Ort bleiben. Ich durfte wieder in unser Zelt, wo ich als Erstes ihre zarte Gestalt zudeckte. Alles erschien mir so unwirklich, und meine Brust zog sich bei ihrem Anblick vor Schmerz zusammen. Ich musste mich beeilen, auch wenn mir die Cops wegen Moms Tod ein wenig mehr Zeit zugestanden als den anderen.
Ich überzeugte mich davon, dass ich alles hatte: den Rucksack und die etwas größere Umhängetasche mit all meinen Sachen.
Der Cop, der draußen vor dem Zelt stand, scheuchte die Leute weg, aber ich wusste nicht, wie lange ihm das noch gelingen würde. Ich zog die Decke wieder nach unten. Mom war jetzt noch weiter weg, obwohl sie sich nicht bewegt hatte. Ich strich ihr das Haar aus der Stirn, wobei mein Zeigefinger ihre Haut berührte. Sie war jetzt kühl. Sie hatte es immer gehasst, wenn ihr kalt war. Das war eins der wenigen Dinge gewesen, über die sie sich gelegentlich beklagt hatte.
»Hey, hab gehört, wir sollen noch jemanden für die Kühltruhe mitnehmen?«, sagte jemand draußen vor dem Zelt.
Ich hörte ein schroffes, leises Raunen. Der Cop versuchte, mir etwas Zeit zu verschaffen. Ich nahm an, dass es sich bei dem Neuankömmling um den Gerichtsmediziner handelte.
Ich brachte es nicht über mich, das Gesicht meiner Mutter wieder zu bedecken. Ich sah einmal, zweimal und dann noch ein drittes Mal zurück, während ich das Zelt verließ. Draußen standen bereits eine fahrbare Tragbahre und ein Leichensack. Ich machte mir keine Illusionen. Leute wie meine Mutter und ich bekamen keine Beerdigung voller Glanz und Gloria. Ihre Todesanzeige – ich würde sie nächste Woche in einer kostenlosen Zeitung finden, wenn ich wollte – würde in einer Polizeiakte landen.
Während der routinemäßigen Verlegung eines Obdachlosenlagers hinter dem Targier Plaza wurde eine Frau tot aufgefunden. Sie starb eines natürlichen Todes.
Das wäre alles. Ich würde keinen Anspruch auf ihren Leichnam erheben können, da ich nicht die Mittel dazu besaß. Sie hätte es eh nicht gewollt. Man sollte nach vorn schauen, war ihr Credo gewesen. Außerdem glaubte sie daran, dass der Geist eines Toten sich an einen schönen Ort begab. Sie würde auf mich warten, aber ich sollte mir Zeit lassen mit dem Nachkommen.
Ich wusste, dass die Polizei keine Ahnung hatte, was sie jetzt mit mir anstellen sollte. Ich war groß genug, um schon als Mann durchzugehen, aber so jung, dass ich eigentlich noch die Schule besuchen müsste.
Das Lager, das wir errichtet hatten, sah wie ein Schlachtfeld aus. Locusts geniale Konstruktion, mit der wir Wasser gesammelt hatten, war entzweigebrochen. Das provisorische Zentrum unserer Gemeinschaft mit dem allabendlichen Lagerfeuer war nur noch ein qualmender Haufen Asche.
Die Zelte waren grausam aufgeschlitzt, denn sie woanders wieder aufzubauen, würde schwer sein, und sie so zu reparieren, dass sie wasserdicht wären, war fast unmöglich.
Wir hatten gewusst, dass dieser Moment eines Tages kommen würde. Mom und ich hatten nach anderen Aufenthaltsorten Ausschau gehalten, aber die Lage mit freiem Zugang zum Fluss und den Müllcontainern des Einkaufszentrums war so vorteilhaft gewesen, dass wir niemanden zum Weiterziehen bewegen konnten. Sogar wir selbst hatten schließlich immer noch unser Zelt dort gehabt.
Ich machte mir Sorgen um die Connor-Kinder – um alle sechs. Wir kümmerten uns alle um sie. Mir hatte man die Aufgabe übertragen, für die beiden Jüngsten Winterkleidung zu beschaffen. Das war mir auch ziemlich gut gelungen, doch ehe ich ihnen noch die Müllbeutel mit den nur leicht abgenutzten Jacken, Handschuhen und Stiefeln geben konnte, hatte man sie in einen großen Pick-up verfrachtet, der in der Nähe parkte.
Bellina war auch nirgends zu entdecken. Mom würde sichergehen wollen, dass sie in der kommenden Nacht ein Dach über dem Kopf hätte, selbst wenn es nur der Vorraum der Bank im Einkaufszentrum wäre. Bellinas hartnäckiger Husten hatte Mom Sorgen bereitet.
Schwankend entfernte ich mich weiter, denn ich konnte es nicht mehr mit ansehen. Schließlich war Mom noch im Zelt, und man würde sie irgendwann herausholen. Wenn sie ihren Leichnam so behandelten, wie sie gerade mit den Jacken und Stiefeln verfahren waren, würde ich tatsächlich noch im Gefängnis landen. Aber ich wollte, dass es sich lohnte, ins Gefängnis zu kommen. Etwas Spektakuläres, das der Erinnerung meiner Mutter würdig war, sollte der Grund sein.
Ein Messer fuhr durch meine Kehle und durchstieß mein bereits blutendes Herz. Das Wort Erinnerung hatte eine scharfe Klinge.
Mit zwei Taschen auf der Schulter und meinen löchrigen Turnschuhen an den Füßen machte ich mich auf den Weg. Ich wählte Nebenwege und hielt mich möglichst von Wohngegenden fern, um keinen Verdacht zu erregen.
Mit gesenktem Kopf marschierte ich weiter. Ich würde so lange gehen, bis ich vor Erschöpfung umkippte. Das war das Einzige, was mir geblieben war: Trauer und kein Plan.
»Ich bitte dich doch nur um ein einziges Nacktbild, Teddi.« Tasker rückte näher an mich heran. Wir warteten draußen vor dem Diner, während die Angestellten unsere Tische vorbereiteten. Ich hatte es allmählich satt, ständig Nein zu ihm zu sagen.
Ich nahm mein Handy und stellte eine Nachricht in einen Gruppen-Chat, zu dem Tasker nicht dazugehörte.
Teddi: Spielt bitte einfach mit.
Ich sah, wie alle um mich herum auf ihre Handys sahen, als meine Nachricht bei ihnen einging. Dann taten sie so, als wäre es nichts Wichtiges gewesen.
Ich legte den Kopf auf die Seite und lächelte Tasker an. »Warst du denn gestern Abend nicht bei unserem Zoom-Treffen dabei? Wir haben alle blank gezogen, und dann gab’s eine Bewertung, wer den schönsten Vorbau hat.«
Ein gehetzter Ausdruck trat in seine Augen, als er sie weit aufriss. Er holte sein Handy hervor. »Ey, nein. Wo war das? Wo ist es? Hat jemand mich hinzugefügt?« Er ging in unserer Gruppe umher, als hätte man ihm einen Böller in den Hintern gesteckt. »Wer hat die Bilder? Wo sind sie? Wo sind die Titten?«
Ich beobachtete, wie ein paar von den Football-Jungs ihr Lächeln verbargen.
Holden war der beste Schauspieler von allen. »Oh ja. Das Tittenturnier. Natürlich hatte ich dir eine Einladung geschickt. Wir schließen doch keinen aus. Hast du bei deinen E-Mails nachgesehen?«
Tasker tippte die ganze Zeit wütend auf seinem Display herum. »Nein, nein. Keine Einladung. Kein Garnichts. Scheiße. Scheiße. Waren Teddis auch zu sehen? Zeig mir doch einen Screenshot. Bitte.«
Holden verzog mitfühlend das Gesicht. »Sorry, Bro, wir konnten keine Screenshots machen. Ist doch illegal. Aber es war ein göttlicher Anblick.«
Tasker sah aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. »Okay, dann beschreib sie zumindest. War eine größer als die andere?«
Er rannte von einem Football-Kumpel zum nächsten, bis wir schließlich ins Diner gerufen wurden. Ich hatte das Glück, dass Tasker mir gegenüber am Tisch landete.
Ich bekam eine Nachricht von Holden.
Holden: Spiel einfach mit.
Ich schaute nach rechts und dann nach links. Als ich Holdens Blick auffing, zwinkerte ich ihm zu.
Während wir in die Speisekarten schauten und bestellten, nervte Tasker alle um ihn herum mit der flehentlichen Bitte, ihm meine Titten zu beschreiben. Ich beobachtete, wie Holden sein Handy unter Brutus’ Shirt schob, und ahnte bereits, was die beiden vorhatten.
Holden: Behalt ihn im Auge.
Taskers Handy, das er vor seinen Teller gelegt hatte, vibrierte. Ich erhaschte einen Blick auf eine haarige Brust mit zwei Brustwarzen. Ich musste nach unten schauen, um nicht laut loszulachen. Auf Holdens Bitte hatte Brutus seine Brust zusammengedrückt, sodass sie wie ein weiblicher Busen aussah.
Ich schaute wieder auf. Tasker war ganz blass, und er wirkte entsetzt. Sein Blick schoss in meine Richtung, und ich kratzte mich demonstrativ an der Brust.
Brutus war nicht in der Lage sich zu beherrschen, weshalb er mit bebenden Schultern halb unter dem Tisch verschwand. Noch schöner war es jedoch zu beobachten, wie Tasker Ryder und Van, die links und rechts von ihm saßen, das Bild zeigte. Mit völlig ausdruckslosen Gesichtern bestätigten sie, dass es sich wirklich um meine Brüste handelte. Daraufhin stand Tasker tatsächlich auf und ging nach draußen. Wir hörten, wie er sich den Frust von der Seele schrie. Holden erzählte derweil den anderen am Tisch, was er und Brutus getan hatten. Taskers Brüllen brachte uns alle zum Lachen. Man hatte den Eindruck, als würde er dabei zusehen, wie ein Haufen Geld in Flammen aufging. Taylor und ich schossen ein weiteres Foto, nachdem wir große violette Punkte auf meine Knie gemalt hatten, die wie Brustwarzen aussahen. Sie schickte das Foto an Holden, der dann allen sagte, sie sollten es sich anschauen.
»Ich drücke auf Senden … jetzt.«
Alle sahen im gleichen Moment das Bild von Taylors angeblichen Brüsten und den absurden Brustwarzen. Tasker drehte sich zum Fenster um, schaute auf das Bild und fuhr sich voller Qual mit beiden Händen übers Gesicht.
Als er sich schließlich wieder auf seinen Platz auf der Bank fallen ließ, lachten wir ihn alle aus. Und endlich weihte Van ihn in den Scherz ein. Er täuschte Erleichterung vor, um dann zu beten und Gott laut für seinen Beistand in diesen Zeiten der Not zu danken.
Das waren meine verrückten Freunde, und ich liebte sie. Ich liebte sie auch für das, was sie für mich taten. Ob es nun darum ging, Tasker eine Lektion in Bezug auf Brüste zu erteilen, oder ob ich Hilfe brauchte, um einem kleinen Mädchen mit Krebs einen schönen Tag zu schenken.
Ich holte meinen Pfeil hervor. Ich besaß ihn jetzt schon seit Jahren. Früher hatte er Mom gehört, doch sie hatte mich gelehrt, wie man ihn benutzte, und ihn mir dann geschenkt. Für die meisten war es einfach nur ein Schlüsselanhänger. Und für mich? Er war mit ein paar besonderen Funktionen ausgestattet, denn im Grunde handelte es sich um einen zuverlässigen Dietrich.
Ich wusste, dass das Haus am Ende der Sackgasse bald verkauft werden sollte. Es eignete sich also nicht für einen langen Aufenthalt, aber ein paar Stunden würde ich dort sicher sein. Ich fächerte die Dietriche auf und nahm mir dann das Schloss an der Hintertür vor. Ich schaffte es, sie ohne Beschädigungen zu öffnen. Nirgends waren Sicherheitsvorkehrungen zu sehen, deshalb ging ich davon aus, dass ich zumindest bisher noch von keiner Kamera erfasst worden war. Ich machte die Tür hinter mir zu und schloss wieder ab. Der Geruch eines frisch geschliffenen Holzfußbodens hing in der Luft. Ich setzte mich in der zukünftigen Küche auf den Boden und schüttelte meine Sachen aus dem großen Rucksack.
Diesen ganzen Kram hatte Mom immer als unser gemeinsames Vermögen bezeichnet. Eigentlich war das lächerlich, denn es war auch ein Teddybär dabei, der kein Fell mehr hatte. Mancherorts würde man ihn noch nicht einmal haben wollen, geschweige denn ihn zum »Vermögen« zählen. Außerdem waren da unsere Büchereiausweise, ein Umschlag voller Coupons, ein Handyladekabel, aber kein Handy und ein Heftchen mit Briefmarken. Es handelte sich um Briefmarken, auf die kein Wert aufgedruckt war, mit denen man aber jeden Standardbrief frankieren konnte. Sie wurden auch Ewige Briefmarken genannt, und Mom hatte sie für eine großartige Investition gehalten.
Dann kam ich zu der eingebeulten Blechdose, in der früher mal Kekse gewesen waren. Ich wusste genau, was sich darin befand, weil ich während meiner ganzen Kindheit immer wieder alles angeschaut hatte. Aber jetzt, mit von Trauer geschärftem Blick, nahm ich sie genauer unter die Lupe. Am Boden befand sich ein Stück Pappe, das perfekt in die runde Dose eingepasst war. Ich löste es mit dem Daumen und fand – durch meine Mutter – den Weg, den ich einschlagen würde.
Es war ein unscharfes, verblichenes Foto. Auf der Rückseite befand sich eine Notiz, die Mom auf ihre typische Art auf die leere Rückseite eines Werbezettels geschrieben und dann sorgfältig an das Foto geklebt hatte.
Ruffians Vater:
Bruce Jones
Letzter bekannter Kontakt, Vater der Ehefrau: Melfield Hapscord, Poughkeepsie, New York
Ich hatte einen Vater. Natürlich hatte ich einen Vater. Aber das war eher eine abstrakte Vorstellung gewesen, als dass ich dabei an einen echten Menschen gedacht hätte. Mir war klar, warum kein Kontakt bestand, denn so viel hatte sie mir erzählt. Der Mann, der mich gezeugt hatte, besaß eine Ehefrau, eine Familie. Er wusste gar nicht, dass es mich gab. Hätte ich ihn aus medizinischen Gründen gebraucht, hätte Mom mir wahrscheinlich alles gesagt, und vielleicht hätte sie mir auch mehr erzählt, sobald ich achtzehn war. Mom war manchmal ziemlich geheimnisvoll.
Aber jetzt hatte ich jemanden, nach dem ich suchen konnte. Es war an der Zeit, Pläne zu schmieden. Ich musste eine Bank ausrauben oder ein großes Ding drehen, ehe ich achtzehn war. Damit könnte ich dem Leben meiner Mutter eine wirkliche Bedeutung geben. Ich würde mich um jeden Einzelnen in unserer Gemeinschaft kümmern. Die Connor-Kinder? Ich würde ihnen ein Haus kaufen und neue Jacken. Locust würde einen Zugang zu Wasser bekommen, das immer sprudelte, wenn man den Hahn aufdrehte, und nicht nur dann, wenn es regnete. Bellina würde ärztliche Versorgung erhalten. Um all das würde ich mich kümmern. Ich war mir nicht sicher, wie viel Geld bei einem Bankraub zusammenkäme. Vielleicht würde ich auch zwei überfallen müssen.
Ich musste mich in die Gesellschaft einfügen und ihre sozialen Spielchen mitspielen, um Zugang zu allem zu bekommen, was ich brauchte.
Ich klopfte an die Wohnungstür. Gleich würde ich meinen Bruder zum ersten Mal sehen.
»Hi.« Der Typ, der die Tür öffnete, war aufgrund seiner Ähnlichkeit eindeutig mit mir verwandt. Dies musste Gaze sein.
»Hi«, erwiderte ich, um dann hinzuzufügen: »Ich habe gehört, dass du und ich verwandt sind … und ich kann nirgends hin.«
Mein Blick wanderte zu dem Mädchen, das sich ebenfalls im Raum aufhielt, und ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus.
Sie stand auf und stellte sich neben Gaze, ehe sie fragte: »Bist du dir sicher, dass du die richtige Adresse hast?«
»Ich hab sie von deinem Großvater bekommen«, erwiderte ich. »Der aus Poughkeepsie.« Ich streckte die Hand aus. »Ich heiße Ruffian und bin dein jüngerer Halbbruder.«
Gaze ergriff meine Hand – wahrscheinlich war es ein Reflex. »Und was jetzt?«
Mein älterer Bruder war also unter Umständen ein Blödmann. Seine Freundin jedoch war hübsch. Sie erfasste die Situation deutlich schneller als er. Wir sahen uns ähnlich, aber das hatte ich aufgrund der Informationen, die der alte Knacker mir gegeben hatte, bereits angenommen.
Gaze Patrick Jones. Mein Halbbruder, hatte der alte Knacker Melfield Hapscord gesagt. Gaze’ Vater war ein Säufer, und Gaze hatte jetzt eine neue Familie namens Burathon. Hapscord hatte gemeint, dass die mir vielleicht helfen würden, weil sie mit »Leuten wie mir« gut konnten. Ich nahm an, dass Leute wie ich wohl nicht mit reichen Leuten verwandt waren.
Ich ließ meine schwere Reisetasche zu Boden plumpsen. Ich ließ meine Schulter kreisen, um das Gefühl loszuwerden, dass sich eine Kerbe in mein Fleisch gegraben hatte. Bis hierher war es ein langer Weg zu Fuß und per Anhalter gewesen. Und meine Zeit war begrenzt. Ich brauchte einen sicheren Unterschlupf, denn ich stand zu kurz vor der Volljährigkeit, um mich draußen herumzutreiben. Vielleicht suchte man auch bereits nach mir, da Mom jetzt tot war. Wenn ich ein Riesending drehen wollte, brauchte ich eine gute Hintergrundgeschichte. Und was war da besser geeignet als meine tatsächliche Geschichte? Nichts. Na ja, vielleicht noch der Klang von Wellen, die leise am Strand brachen, aber ansonsten waren eine fingierte Geschichte und ein bärenstarker, zwei Meter großer Bruder nicht schlecht.
»Ruffian ist kein Name.« Der Handschlag meines Bruders fühlte sich zögerlich an, also beugte ich mich vor und drückte fester zu.
Schließlich erwiderte er den Händedruck doch, und ich war erfreut über die Kraft, mit der er mir fast die Finger zerquetschte. »Spielst du immer noch Basketball? Dein Großvater, das Klappergestell, sagte, das sei dein Ding.«
Wir lösten im gleichen Moment die Hände voneinander.
»Ich bin Pixie Rae.« Sie reichte mir die Hand, und ich drückte sie nur leicht. »Zu mir sagen die Leute auch ständig, dass das doch kein richtiger Name sei.« Sie zwinkerte mir zu.
Normalerweise würde ich bei so einem süßen Mädchen Interesse zeigen, aber nun lächelte ich nur. Sie stand so dicht neben Gaze, dass ich förmlich sehen konnte, wie eng verbunden sie miteinander waren. Sie gehörten zu den Pärchen, deren Namen man immer zusammen aussprach. Gaze und Pixie. Sie kamen zusammen, und alle sprachen ihre Namen in einem Atemzug aus, bis sie alt wurden und einer von ihnen starb. Und wenn man dann nur noch einen Namen nannte, würde es sich anfühlen wie das Traurigste von der Welt.
»Bei mir sagt man hin und wieder, dass er passt. Ist aber nie als Kompliment gemeint.« Ich schob die Finger ineinander und legte sie in den Nacken, während ich wartete. Ich konnte mich nicht selbst einladen, hoffte aber darauf, dass die beiden einfach zu nett waren, um mich draußen stehen zu lassen. Ich widerstand dem Drang, einen Blick über die Schulter zu werfen, obwohl er stark war.
Gaze wandte sich an Pixie. »Gibst du mir ein paar Minuten? Wäre das okay für dich?«
Pixie schaute zu ihm auf, und ich beobachtete, wie sie eine ganze Unterhaltung führten und einen kleinen Kampf miteinander ausfochten, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Doch dann nickte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und bekam einen Kuss von ihm. Gaze beobachtete mich währenddessen die ganze Zeit aus dem Augenwinkel … selbst als sie sich küssten.
Er trat vor die Tür und schloss sie hinter sich.
»Hör mal zu, du kleiner Scheißer …«
Oh, verdammt.
Ich wich zurück, und der Schulterriemen meiner Reisetasche ließ mich beinahe stolpern. Gaze packte meine Schultern, und ich zuckte zusammen, als sein Gesicht ganz dicht vor meinem war. Dann herrschte für einen Moment eisiges Schweigen. Ich spürte, wie er langsam seine Finger von mir löste. Vorsichtig öffnete ich ein Auge, nachdem ich beide zusammengekniffen und auf den Schlag gewartet hatte.
Da strich er mein Shirt an den Schultern glatt, als wollte er ungeschehen machen, was er getan hatte. »Tut mir leid.«
Ich hatte mein Gleichgewicht wiedergefunden und trat einen Schritt zurück. »Schon in Ordnung. Du wirst nicht der Letzte sein, der etwas Verstand in mich hineinprügeln will.« Ich schob die Hände in die Taschen meiner Jeans.
»Ich hab einfach noch nie von dir gehört, und ich bin wirklich vorsichtig, wen ich in Pixies Nähe lasse.« Sein Blick ging kurz zu der geschlossenen Tür. Die Geste versetzte mir einen Stich – als wäre mein Herz fest verschnürt und eins der Bänder hätte sich plötzlich gelöst. Solcherart romantische Zuneigung war mir völlig fremd.
»Ja, klar. Hab’s kapiert.« Es fiel mir nicht schwer, den Schmerz zu überspielen. »Also, die Geschichte ist folgende: Meine Mom und dein Dad hatten ein bisschen viel getrunken, dann kam es zu einem kleinen Techtelmechtel, und das Ergebnis war ich.« Ich hob resigniert beide Hände. »Meine Mutter ist nicht mehr da, und es sind nur noch ein paar Monate bis zu meinem achtzehnten Geburtstag. Deshalb wollte ich schauen, ob irgendwas von dem Scheiß, den sie mir erzählt hat, stimmt.«
Zum ersten Mal wagte ich es, ihm direkt in die Augen zu schauen. Gaze’ Blick war völlig ausdruckslos. Eigentlich besaß ich eine hervorragende Menschenkenntnis, aber bei ihm hatte ich keine Ahnung, was er dachte.
»Wo wohnst du?«
»Großartige Frage. Ganz super. Also, ich würde sagen – technisch gesehen – hier.« Ich breitete die Arme aus.
Gaze deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Hier?«
»Nein, ey.« Ich beugte mich nach unten, nahm den Schulterriemen meiner Reisetasche und zeigte darauf. »Hier.«
Gaze holte hörbar Luft, um dann den Kopf zu schütteln. »Okay, rühr dich nicht von der Stelle. Ich muss mit Pixie reden.«
Mit diesen Worten ging er wieder rein und schloss die Tür hinter sich. Ich ging zu der gemauerten Ziegelsteinfassade, hockte mich hin und lehnte den Rücken gegen die Wand. Das also zu meiner Vorstellung, dass mein älterer Bruder mich sofort akzeptieren würde. Ich war immer noch hier draußen und versteckte mich wie ein verwahrloster Hund. Vielleicht war ich auch übervorsichtig, aber wenn irgendjemand verriet, dass Mom ein Kind hatte, würde man vielleicht nach mir suchen.
Ich holte eine Zigarette aus der Tasche, und es gelang mir, sie mit dem winzigen Flämmchen aus meinem fast leeren Feuerzeug anzuzünden. Meine zitternden Hände ignorierte ich, als ich sie an die Lippen führte. Ich schloss die Augen, während ich inhalierte, und bemühte mich, auch vor meiner Angst die Augen zu verschließen.
Als Gaze die Tür wieder öffnete, stand Pixie an seiner Seite. Schnell drückte ich die Zigarette aus, warf sie aber nicht weg. Es war noch mehr als die Hälfte übrig. Ich würde sie abkühlen lassen und dann wieder in die Tasche stecken. Als ich aufstand, versteckte ich sie hinter meinem Rücken. Sie war noch zu heiß, um sie einzustecken.
»Ich habe unseren Großvater angerufen.« Gaze schob die Hände unter seinen Bizeps, während er die Arme vor der Brust verschränkte.
»Er ist ’ne richtige Spaßbremse, hm?« Ich wartete ab, ob Gaze verärgert reagierte. Vielleicht stand er seinem Opa aus Poughkeepsie ja nahe.
Aber er verdrehte die Augen, und das ermutigte mich. Gaze hatte also die gleiche Meinung über den alten Mann und seine »Beweg deinen Hintern hier raus«-Haltung.
Pixie schaute von mir zu Gaze und dann wieder zurück, ehe sie nach drinnen verschwand.
Gaze kratzte sich am Kinn. »Er mag’s nicht, wenn man einfach so bei ihm reinschneit. Das ist mal klar. Du willst also bei uns wohnen? Deshalb bist du hier?«
»Tja, irgendwie schon. Also, ich mach nicht viel Arbeit. Um mein Essen kümmere ich mich selbst. Ich brauche nur einen Platz, wo ich pennen kann. Und wenn’s nicht funktioniert, ist das auch kein Problem. Es gibt noch andere Orte, wo ich hingehen kann.« Ich nahm meine Tasche und legte den Riemen wieder in die Kerbe, die er auf meiner Schulter hinterlassen hatte.
Pixie kam heraus und hielt mir eine Dose hin. »Durst?«
»Ja, danke.« Ich nahm sie, machte sie auf und hatte sie bis zur Hälfte geleert, ehe ich überhaupt merkte, dass es Mineralwasser mit einem leichten Fruchtgeschmack war.
»Aha, du hast also noch andere Orte, wo du hinkannst? Deshalb bist du ausgerechnet zu Hapscord gegangen?« Gaze legte den Arm um Pixies Schultern, und sie schmiegte sich an ihn.
Ich fuhr mir mit meiner jetzt kalten Zunge über die Lippen. »Aber klar. Nur kein Druck. Ihr beiden habt offensichtlich andere Pläne. Ich bin schon wieder weg.«
Ich drehte mich halb um. Das Risiko, mich von Gaze zu entfernen, konnte ich jetzt getrost eingehen, denn Pixie hatte mir mit dem Getränk ihre Freundlichkeit gezeigt. Und Gaze würde für Pixie alles tun. Das spürte ich bereits. Aber dafür waren auch keine hellseherischen Fähigkeiten notwendig. Die beiden waren so fest verbunden wie Schwäne, Hummer oder Störche.
Ich hörte, wie sie miteinander tuschelten, und bewegte mich nur noch in Zeitlupe.
»Okay. Wir wollten nach Hause. Du kannst mitkommen«, bot Gaze an. Mehr brauchte ich nicht. Eine offene Tür. Ich drehte mich wieder um.
»Danke, Bruder.« Ich lächelte die beiden an. Sie mussten glauben, dass ich aufrichtig war, damit es klappte. Ich war ein hervorragender Schauspieler.
Ich saß mit angezogenen Beinen neben Austin, während wir uns zusammen eine Kochsendung anschauten. Er hatte den Arm um mich gelegt – immer der große Bruder, immer bereit zu kuscheln. Und ich brauchte es. Nachdem Milt, Pixie, Gaze und er ausgezogen waren, vermisste ich es, Zeit mit meinen Geschwistern zu verbringen.
»Hey, Bärchen. Woran denkst du gerade?«
Ich war sein Teddybär und würde es immer bleiben. Austin schaffte es, zu jedem eine ganz besondere Beziehung zu haben, aber ich wollte gern glauben, dass unsere am engsten war.
»Nur daran, dass alle weg sind. Es ist so viel ruhiger jetzt, weißt du?« Ich drehte einen der Ringe an seiner linken Hand. Er war mit einem Totenschädel verziert.
»Ich meine, mich deutlich daran zu erinnern, wie du mir sagtest, dass du es gar nicht erwarten könntest, uns alle endlich los zu sein und das ganze Haus für dich allein zu haben.«
Wir befanden uns im unteren Wohnzimmer, das vor Gaze’ und Austins alten Zimmern lag. Oder eher Gaze’ und Pixies Zimmer jetzt. Eigentlich war Austins Zimmer Pixies, aber keiner tat auch nur so, als ob das stimmte. Die beiden waren eine kleine Familie innerhalb unserer Familie. Heute würden sie von der Uni zurückkommen. Milt kam nicht nach Hause, weil er während der Ferien ein Praktikum bei einer Spielefirma im Norden des Landes machen würde. Es handelte sich um eine unabhängige Firma, die sich gerade neu gegründet hatte. Die Hälfte von Milts Freunden war mit dabei. Sie reisten eh immer als ganze Meute.
Aber Gaze und Pixie sollten eigentlich bald da sein. Austin war gestern schon nach Hause gekommen. Er redete davon, wieder zur Uni zu gehen, aber sein Instagram-Account lief so gut, dass er es ernsthaft in Erwägung zog, das Studium noch eine Weile ruhen zu lassen. Mom und Dad würde ich natürlich nichts davon erzählen. Aber ich wusste es. Ich folgte ihm in den sozialen Medien und sah, wie er dort Trends ins Leben rief. Magazine waren bereits an ihn herangetreten, damit er ihre Posts entwarf. Er ging diesen unkonventionellen Weg, um Geld zu verdienen, und war großartig darin.
»Das hab ich nicht so gemeint. Wirklich nicht. Außerdem muss ich nur noch ein Jahr lang zur Schule gehen, und dann werde ich eh bei dir einziehen.« Ich brauchte sein Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, dass er die Augenbrauen hochzog.
»Ach ja?«
»Ja. Du weißt, dass ich eine großartige Assistentin wäre. Außerdem würde ich dir auch niemals Honig um den Bart schmieren.«
»Darüber machst du dir Sorgen?«
»Ja. Ich glaube, die Leute würden dir alles erzählen, nur um in deiner Nähe zu sein. Du brauchst mich, damit ich dich vor diesen Aasgeiern beschütze.« Ich drehte mich zu ihm um und sah gerade noch, dass er ein Lächeln unterdrückte.
»Du bist eine Naturgewalt, Bärchen.«
Er nahm den Ring mit dem Totenkopf ab und gab ihn mir. Ich schob ihn mir auf den Daumen. So war Austin. Er ließ mich nicht fragen, ob ich mir etwas von ihm leihen dürfte. Er gab es mir einfach. Wir hörten Autotüren knallen und wussten sofort, dass gleich ein bisschen mehr Leben im Haus sein würde.
Gaze und Pixie waren da!
Austin stand auf, und aus Gewohnheit sprang ich auf seinen Rücken. Huckepack trug er mich bis zur Haustür. Klar war das jetzt ein bisschen schwerer, da ich kein Kind mehr war, aber wir schafften es trotzdem. Austin ließ mich runter, ehe er die Fliegentür für mich öffnete und dann einen leisen Pfiff ausstieß. Weil er plötzlich zögerte, stürmte ich auch nicht los. Gaze stieg auf der Fahrerseite und Pixie auf der Beifahrerseite ihres Trucks aus. Und auf der Rückbank hatte ein Typ gesessen. Deshalb hatte Austin gepfiffen. Jemand Neues. Jemand Unerwartetes.
Der Typ strich sich die Haare aus dem Gesicht. Es war zu lang und brauchte dringend einen Schnitt. Aber dieses Gesicht. Das kantige Kinn und die eisgrünen Augen ließen mich nach Luft schnappen. Oh, er bedeutete Ärger. Sein Blick ging erst zu Austin und dann zu mir. Nur der Anflug eines Lächelns umspielte seinen Mundwinkel … als wäre ich eine nette Überraschung. Ich war es gewohnt, dass man mich bemerkte. Als Cheerleaderin, bei Schulaufführungen und gelegentlichen Presseterminen wegen der Partys, die ich organisierte, stand ich immer mal wieder im Rampenlicht. Dennoch errötete ich, als er mich langsam von oben bis unten musterte.
Pixie trat an seine Seite und berührte ihn kurz am Unterarm. Ich sah von Gaze zu dem Neuen und wieder zurück. Sie ähnelten einander. Die gleichen Gesichtszüge, die gleiche Figur. Der Neue war etwas kleiner, aber bei Gaze’ Basketballerstatur ging das den meisten so.
»Hallo Bruder!« Austin legte seine Hände auf meine Schultern, ehe er um mich herumtrat. Er wusste, dass der Fremde mich umgehauen hatte. Er durchschaute mich immer, und er würde sich später über mich lustig machen, aber mit seinem Charme würde Austin auch bald die wichtigsten Informationen für mich herausfinden.
Gaze und Austin umarmten einander überschwänglich. Der Neue schüttelte den Kopf und brummte: »Bruder, hm?«
Pixie Rae hatte einen mitfühlenden Ausdruck auf dem Gesicht. Ich starb fast vor Neugier, was hier eigentlich los war.
»Sind Mom und Dad da? Ich muss mit ihnen sprechen.« Gaze deutete mit dem Kinn aufs Haus.
Austin reichte dem Neuen die Hand, während er Gaze antwortete: »Nein, sie sind zum Großhandel gefahren. Du weißt doch, dass sie es lieben, alles in großen Mengen zu kaufen. Kennen wir uns?«
Die Begrüßung hing einen Moment in der Luft, ehe der Neue Austins Hand ergriff. »Ruffian. Nett, dich kennenzulernen …«
»Austin Burathon. Herzlich willkommen.«
Pixie trat an den Jungs vorbei und umarmte mich. Ich vergrub mein Gesicht in ihrem haselnussbraunen Haar. »Was zum Teufel ist hier los?«
»So viel«, raunte sie mir ins Ohr.
»Danke, dass ich hier sein kann.« Ruffian schaute in meine Richtung.
Gaze trat neben mich und legte seinen Arm um meine Schultern, während Pixie ihren um meine Taille legte, als würden sie mich beide beschützen.
Ich streckte die Hand aus. »Teddi. Und woher kennst du Gaze und Pixie?«
Ruffian zögerte gerade so lange, um sich einmal kurz auf die Unterlippe zu beißen. »Ich bin der lange verschollene Bruder.«
Er griff nach meiner Hand, während ich vor Schreck die Augen aufriss.
Ich hatte nicht damit gerechnet, heute dem schönsten Mädchen der Welt zu begegnen. Aber vielleicht waren sie im reichen Teil der Stadt alle so umwerfend. Ihr blondes Haar glänzte, und sie trug Markenkleidung. Um ihren Hals hing eine goldene Kette mit einem Anhänger, der die Unendlichkeit symbolisierte. Ich hätte wetten können, dass sie aus Gold war.
Es schockierte sie, dass ich Gaze’ Bruder war. Für diesen Austin kam es auch unerwartet, aber er überspielte es gut. Er trug einen Rock und hatte roten Nagellack aufgetragen, weshalb es wohl schon etwas mehr brauchte, um ihn wirklich zu schockieren.
Teddi. Ein Jungenname, aber ihre Rundungen waren ganz offensichtlich weiblich. Verdammt. Ich musste auf der Hut sein. Gaze, Pixie und Austin umringten sie, als wäre sie eine Prinzessin, und würden sich jeden vorknöpfen, der sie auch nur schief anschaute.
Ich schob den Riemen meiner Reisetasche etwas weiter nach oben. Diese Sache, die ich mir in den Kopf gesetzt hatte, war vielleicht völliger Schwachsinn, aber jetzt fühlte sie sich mit einem Mal ziemlich real an, da ich tatsächlich in der Auffahrt dieser Familie mit ihrem sauber gestutzten Rasen stand.
Der SUV, der hinter Gaze’ Wagen anhielt, war riesig. Offensichtlich war er dafür gedacht, dass die ganze Familie hineinpasste. Die Mutter und der Vater sahen aus, als wären sie dem Casting eines Werbespots entsprungen. Im Garten hinter dem Haus fing ein Cockerspaniel an zu bellen.
Während die Eltern Pixie und Gaze mit großem Hallo begrüßten, fand ich mich neben Teddi wieder. Wir drehten beide im gleichen Moment den Kopf und sahen einander in die Augen. Ihre blauen Augen waren offene Türen. Das Leben dieses Mädchens hatte gerade erst angefangen. In ihrem Blick lag grenzenlose Hoffnung.
Das ärgerte mich. Sie mochte umwerfend sein, aber ein Teil von mir wollte ihr zeigen, dass das Leben einem meistens übel mitspielte.
Wir sagten nichts, doch ihre Augen wurden immer größer, als könnte sie spüren, was ich dachte.
Ehe wir miteinander ins Gespräch kommen konnten, griff Pixie nach Teddis Hand und zog sie in Richtung des hinteren Gartens. Austin sprang bereits über das kleine Pförtchen, um den Hund zu beruhigen.
»Rocket! Du wirst nie Leckerlis bekommen, wenn du weiter so kläffst.«
Teddi drehte sich zweimal zu mir um, während Pixie sie in die entgegengesetzte Richtung zog.
Da war so eine knisternde Energie zwischen uns. Ich würde sie selbst im Dunkeln finden, wenn ich die Augen schließen und einfach dieser Aura folgen würde, die sie umgab.
Das machte alles komplizierter. Mit einer solch heißen und unschuldigen Versuchung hatte ich nicht gerechnet.
Ich musste mein Ziel im Auge behalten und handeln.
Gaze umarmte die Eltern. Der Mann stellte sich als Mike vor, und Ronna, die Frau, fragte, ob ich Hunger hätte.
Ich ging Gaze hinterher, als alle sich ins Haus begaben. In der Küche angekommen, bedeutete Gaze mir, Platz zu nehmen.
»Also, Pixie hat uns eine Textnachricht geschrieben, in der stand, dass ihr uns um einen Gefallen bitten wollt, und ihr wisst ja bereits, dass die Antwort Ja sein wird. Worum geht’s also?«
Mike setzte sich neben mich an den Tisch, als hätte er das schon tausendmal zuvor getan.
»Tja, es hat sich herausgestellt, dass mein Vater noch ein Leben hatte, von dem wir nichts wussten. Ruffian hat gerade herausgefunden, dass er mit mir verwandt ist. Er ist mein Bruder … mein Halbbruder.« Gaze rieb sich die Arme, und man merkte ihm deutlich an, dass es ihm nicht gefiel, für mich fragen zu müssen, ob ich bleiben dürfte.
Ronna legte eine Hand an den Mund und verbarg ihr Lächeln dahinter.
Mike reagierte schnell. »Nun, jedes Familienmitglied von dir gehört auch hier zur Familie.«
Überraschung Nummer eins. Dies waren gute Menschen. Ich versuchte immer, die Leute so schnell wie möglich zu beurteilen. Das war eins der Dinge gewesen, die meine Mutter mir beigebracht hatte. Aber trotz des teuren Hauses, und obwohl sie alles hatten – und sogar ihre Tochter mit Goldschmuck behängten –, waren sie von Herzen gastfreundlich. Ich spürte keinerlei Vorbehalte bei ihnen. Im Gegenteil … Ronna wirkte total begeistert. Sie eilte in der Küche herum und bot mir drei verschiedene Getränke an, ehe ich um ein Glas Wasser bat, nur damit sie zur Ruhe kam.
Gaze nickte mir zu und forderte mich mit einer Geste auf, mehr zu erzählen, damit sie erfuhren, dass es keine Stippvisite sein würde.
Ich nippte ein paarmal an meinem Glas, ehe ich mich räusperte. »Meine Mutter ist vor Kurzem gestorben.« Wohl an die hundertmal war ich die Worte im Geiste durchgegangen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass meine Stimme ganz belegt klingen würde. Der Kummer schnürte mir den Hals zu.
Ronna streckte den Arm aus und legte ihre Hand auf meine. »Ach, du Armer. Das tut mir so unsäglich leid.«
Ihr Mitgefühl war echt. Ich senkte den Blick auf die Tischplatte und versuchte, mir die Form des Krümels einzuprägen, der dort lag. Ich wollte aus mehreren Gründen nicht weinen, aber Teddi, die gerade mit dem Hund auf dem Arm durch die Hintertür hereinkam, stand jetzt ganz oben auf der Liste.
»Sie hatte Krebs, also kam es nicht unerwartet.« Es war meine Stimme, aber sie klang wie die eines Roboters. Ich musste das jetzt durchziehen. Ich musste glaubhaft sein. Erkundigungen einziehen, beobachten und ein Team zusammenstellen, das mir bei dem Bankraub oder einem Raubüberfall half. Diese Familie würde die perfekte Tarnung sein. Sie waren makellos … besser ging es nicht.
»Trotzdem. Ich fühle mit dir. Wo wohnst du?«
Das war der Moment, in dem Gaze vortrat. »Er hat keine Unterkunft …«
Mike stand sofort auf. »Blödsinn. Wir haben unten ein Zimmer, auf dem schon sein Name steht. Ruffian, nicht wahr? Ich zeig’s dir mal.«
Einfach so wurde ich in Gaze’ und Pixies Leben aufgenommen. Einfach, weil ich mit ihm verwandt war, bekam ich ein Zimmer in einem wunderschönen Haus mit einer Tür, die ich abschließen konnte, und einem eigenen Badezimmer.
Ronna meinte, dass einige Formalitäten erledigt werden müssten, aber solange es mir bei ihnen gefiele, würden sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit ich bei ihnen bleiben durfte.
Pixie kam herein und nahm ein paar von ihren Sachen mit, während sie erklärte, dass sie sich ohnehin mit Gaze ein Zimmer teilte und dass dies jetzt ganz allein mein Zimmer sei.
»Das mit deiner Mutter tut mir sehr leid. Ich bin für dich da, wenn du jemanden zum Reden brauchst. Ich habe meine Mutter verloren, als ich noch jünger war als du.« Sie drückte kurz meine Schulter.
Ich konnte nicht schon wieder darüber sprechen. Mein Hals und meine Augen brannten immer noch. Ich nickte nur kurz, und Pixie ging. Vielleicht hatte sie bemerkt, wie angespannt ich war.
Ich packte ein paar Sachen aus und legte sie in die Kommode, die Pixie für mich leergeräumt hatte. Dann setzte ich mich aufs Bett und lehnte mich zurück, ohne die Schuhe auszuziehen, während ich mich umschaute. So viel Platz. So viel Komfort. Ich legte die Hände hinter den Kopf und versuchte, mir vorzustellen, wo meine Mutter – ihr Leichnam – jetzt war. Was machten sie mit einem, wenn niemand sich die Beerdigung leisten konnte? Ich hoffte, dass sie gut aufgehoben war und man sie mit Respekt behandelte. Ich schloss die Augen, und wieder kamen mir die Tränen. Sie traten aus den Augenwinkeln und rannen mir über die Wangen.
So sollte es nicht sein. Ich war der Einzige, der sie wirklich ehren konnte – der sich an sie erinnern würde. Ich würde ihr ein Denkmal errichten, für den Menschen, der sie gewesen war, mit dem, was ich tun würde. Doch selbst das würde nicht reichen. Sie war viel mehr als all das gewesen. Ich vermisste sie.
»Ruff? Hast du das gesehen?«
Ich war acht und hockte am Flussufer. Es war unsere Naturkundestunde. Mom war ganz aufgeregt, weil wir einen kleinen Klumpen noch nicht geschlüpfter Kaulquappen entdeckt hatten. Ich wusste alles über Frösche. Frösche gehörten zu meinen Lieblingstieren. Ich durfte sie sogar eine Weile bei mir behalten. Kröten auch. Manchmal erlaubte mir Mom sogar, kleine Gartenschlangen zu behalten. Die einzigen Regeln waren, dass sie nicht über Nacht bleiben durften und dass sie wieder dahin zurückgebracht wurden, wo wir sie gefunden hatten.
Das war okay für mich. Meistens. Wenn ich ihnen einen Namen gab, war es schwerer. Aber sie hatte recht. Tiere aus der freien Natur brauchten ihren angestammten Lebensraum, und für ein Hotelzimmer galt das nun einmal nicht.
Also würden wir jetzt miteinander reden … über die Entwicklung von Fröschen. So machte sie es immer. Sie fand heraus, was mich besonders interessierte, und brachte mir dann alles darüber bei. Nachdem wir die Kaulquappen noch eine Weile beobachtet hatten, gingen wir langsam zur Bibliothek. Am Froschtag gab es viele Bücher, und ich wusste, wo die meisten standen. Es gab sogar eine Froschpuppe, die man sich ausleihen konnte, solange man sorgsam damit umging. Ich nannte sie Bernie.
Heute stand die unfreundliche Bibliothekarin hinter dem Tresen. Sie mochte Mom nicht so sehr, wie Judy das tat. Judy hatte stets eine oder zwei Tüten mit Sachen für Mom. Ich half immer beim Tragen der Tüten. Manchmal enthielten sie Essen, manchmal Kleidung. Aber wenn Judy nicht da war, gab es auch nichts zu tragen. Doch das spielte keine Rolle. Mom und ich wussten, wie man sich leise und ruhig verhielt, damit wir bleiben und lernen konnten. Das war die Abmachung. Draußen konnte ich so laut sein, wie ich wollte, aber wenn wir uns irgendwo drinnen aufhielten, musste ich darauf achten, dass ich bleiben und lernen konnte.
Mein Lieblingsbuch über Frösche nahmen wir uns als Erstes vor. Es stand in der Biologieabteilung und enthielt mehrere übereinanderliegende durchsichtige Seiten, die die verschiedenen Schichten aus Haut, Muskeln und Knochen zeigten, wenn man sie umblätterte. Es war schon erstaunlich, wie kompliziert die kleinen Kerlchen im Innern aufgebaut waren. Ich legte meinen Finger auf die erste durchsichtige Seite, als würde ich den Kopf des Frosches streicheln.
»Können sie denken? Sind sie im Innern ein Wesen, so wie du und ich im Innern Wesen sind?«
Mom setzte sich neben mich auf den rauen Teppich, der den Boden der Bibliothek bedeckte.
»Das wissen wir nicht, mein kleiner Käfer.« Sie zog mich neben sich und »streichelte« den Frosch ebenfalls. »Was meinst du?« Ihr langes Haar fiel auf die Seite, und ich nahm eine Strähne und wickelte sie mir um den Finger.
»Also, ich denke schon. Schließlich können sie Angst haben oder ruhig sein. Manchmal pinkeln die Frösche mich an, aber manchmal auch nicht. Ich glaube, sie sind glücklich, wenn sie nachts Krach machen können.« Ich drehte den Kopf und schaute zu meiner Mutter auf. Sie lächelte mich an. Das tat sie häufig.
Ich merkte, dass ich auf meinem neuen Bett die Augen geschlossen hatte. Es war so weich. Heute Abend würde ich mir eine Decke nehmen und mich auf den Fußboden legen müssen, um wirklich gut schlafen zu können. Ich musste den Boden spüren. Wie lange würde es wohl dauern, bis ich mich an alles gewöhnt hatte? Ob ich mich wohl je daran gewöhnen würde? Ich war mir nicht sicher, ob ich das überhaupt wollte.
Ich hatte Pläne. Ich wollte eine Gedenkstätte errichten. Und ich hatte keine Zeit, an die hübsche Teddi zu denken. Nicht einmal ein bisschen.
Austin konnte mit seinen Augenbrauen mehr ausdrücken als so manch anderer mit seinem Mund. Er folgte mir in mein Zimmer, und mein Blick fiel auf diese perfekt gezupften vielsagenden Exemplare.
»Halt.« Ich wollte mich bereits rechtfertigen.
Ruffian tauchte aus dem Nichts auf und zog einfach so bei uns ein. Ich hatte endlich wieder jemanden in meinem Alter im Haus, nachdem all meine Geschwister ausgezogen waren. Austin kniff die Lippen zusammen und rollte mehrmals die Augen.
Als ich nichts weiter sagte, wagte Austin einen Vorstoß: »Ich konnte die Anziehungskraft spüren, Kleines. Ich konnte sie förmlich sehen. Und wir wissen beide, dass der Junge dein Typ ist, als hättest du ihn dir maßgeschneidert übers Internet bestellt.«
Ich warf mit einem Kissen in Herzform nach ihm. Er fing es auf und tat so, als würde er es küssen.
»Er gehört jetzt zur Familie, also hör auf.« Ich ließ mich rückwärts aufs Bett fallen und schaute zur Decke hoch.
»Ich glaube, du überspannst das Wort Familie ein bisschen. Natürlich bin ich gastfreundlich, aber plötzlich auftauchende Brüder geben mir schon ein bisschen zu denken …« Austin warf eines meiner Zierkissen in die Luft.
»Warte mal, du glaubst nicht, dass er wirklich sein Bruder ist?« Das war mir neu. Na ja, die ganze Sache war neu für mich. Aber angesichts der Dinge, die ich über Gaze’ schrecklichen Vater wusste, war alles möglich.
»Das habe ich nicht gesagt.« Austin warf das Kissen wieder zurück, und ich fing es, bevor es zu Boden fiel. »Ich will einfach ein bisschen mehr über ihn erfahren.«
»Das ist eine politisch sehr korrekte Antwort, junger Mann.« Ich musterte ihn aus schmalen Augen. »Bist du eifersüchtig? Weil du und Gaze so ein großartiges Brüder-Ding habt?«
»Ein bisschen.« Austin blies die Wangen auf.
Das war eins der vielen Dinge, die ich an meinem älteren Bruder liebte. Er würde eine Frage immer ehrlich beantworten. Manchmal war er auch zu ehrlich, aber man konnte sich bei ihm stets darauf verlassen.
»Mach dir keine Sorgen. Keiner kann dir das Wasser reichen.« Ich gab ihm das Kissen zurück, damit er es wieder werfen konnte. Das hier war eine Unterhaltung, auf die ich mit Pixie und vielleicht auch mit Mom und Dad zurückkommen wollte.
»Aber er ist tatsächlich heiß, wenn man auf diese markanten Gesichtszüge und eine gefährliche Aura steht.« Austin stopfte sich das Kissen hinter den Kopf.
»Und du stehst nicht auf diesen Typ?« Ich robbte zu Austin rüber und legte den Kopf auf seine Brust.
»Nein, Baby. Ich stehe zurzeit auf große, hagere Gothic-Typen. Außerdem ist der Neue in deiner Altersklasse und nicht in meiner.« Er schob eine Hand in sein dichtes Haar.
Wir versanken jeder in unseren Gedanken. Bei einem Namen wie Ruffian würde ich sicherlich im Internet etwas über ihn finden. Dass bei bloßem Augenkontakt bereits die Funken flogen, war eine Sache, aber dass jemand Fremdes Teil unserer Familie wurde, war eine ganz andere. Ich fasste immer ziemlich schnell Vertrauen. Aber wenn jemand meiner Familie wehtat, würde ich wie eine Löwin kämpfen … selbst wenn ich sein Bild vor Augen hatte, wenn ich sie schloss.
Ich hatte die Riemen meiner Tasche wie immer um meine Füße geschlungen. So hatten Mom und ich immer auf unsere Sachen achtgegeben. Sie hatte einen leichten Schlaf gehabt, und als ich alt genug gewesen war, um mich wirklich wehren zu können, hatte sie mir beigebracht, wie ich auf meinen Rucksack aufpasste. So sah unser Leben aus. Wir hatten nie viel besessen. Manchmal stand uns genug Geld zur Verfügung, um ein Zimmer zu mieten oder ein Hotelzimmer zu nehmen. Manchmal holten wir Bücher aus der Bibliothek, die ich sorgsam behandeln musste. Und dann gab es eben die Blechdose, die unsere wichtigen Unterlagen enthielt, aber mit denen könnte sonst keiner viel anfangen.
Ich hörte ein leises Klopfen an der Tür. Ein paar Sekunden lang starrte ich sie nur an, ehe wieder das Klopfen ertönte.
»Herein.«
Ich klang normal. Als wäre es nichts Besonderes, einen Raum zu haben, bei dem die Leute fragten, ob sie hereinkommen durften oder nicht. Die Tür ging auf, und an der groß gewachsenen Gestalt erkannte ich, dass es Gaze war. Ich nickte ihm zu, und er trat ein, ehe er die Tür hinter sich wieder schloss. Dann lehnte er sich mit dem Rücken dagegen, während er mich anschaute.
»Also, wie sieht’s aus? Was denkst du, worauf das hier hinausläuft?« An seinem linken Auge war das schwache Zucken eines Nervs zu erkennen. Anspannung? Misstrauen? Es konnte beides sein.
»Ehrlich gesagt weiß ich das nicht«, log ich.
Ich wusste, worauf es hinauslaufen würde. Es gab einen Plan, von dem ich besessen war, seitdem Mom ihre Augen das letzte Mal geschlossen hatte. Diese Familie und mein Bruder gaben die denkbar beste Tarnung ab.