DSA 151: Der Ring des Namenlosen - Henning Mützlitz - E-Book

DSA 151: Der Ring des Namenlosen E-Book

Henning Mützlitz

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Beschreibung

Der Dreizehnte Gott aber trägt keinen Namen, und grausam sind seine Diener und schändlich sein Wirken, welches die Schöpfung verspottet. Auf der Zyklopeninsel Hylailos erschüttert ein Mord das Haus eines königlichen Beamten. Gion ya Ardigon soll im Auftrag seiner Majestät den Täter ermitteln, doch er gerät in einen Strudel aus Gewalt und Verrat, der immer neue Opfer fordert. Zur gleichen Zeit jagen Adlerritter Darian und die Draconiterin Sela in Kuslik einen Reichsverräter, der den Pfad der Götter schon lange verlassen hat. Als ihnen dämmert, dass die Diener des Namenlosen Gottes im Verborgenen ihre Ränke schmieden, ist es schon fast zu spät, denn auch ein Schrecken aus lange vergessener Zeit sinnt auf Rache.

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Biografie

Henning Mützlitz, geboren 1980, studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Neuere Geschichte in Marburg und absolvierte anschließend ein Volontariat in einer Zeitschriftenredaktion. Seit der Kindheit wandert er mit Begeisterung durch phantastische Welten jedweder Art – was ihn schließlich dazu führte, seine eigenen zu erschaffen.

Ende 2008 veröffentlichte er in der Das Schwarze Auge-Romanreihe gemeinsam mit Christian Kopp sein Debüt Das Zepter des Horas. Mit dem Band Hundswache im Rahmen der Novellenreihe Hundstage folgte der zweite Titel für Deutschlands bekanntestes Rollenspiel. Daneben ist er u.a. für das Genre-Magazin Geek! tätig und hat mehrere Sachbücher veröffentlicht.

Henning Mützlitz lebt mit seiner Familie in Heidelberg.

Titel

Henning Mützlitz

Der Ring des Namenlosen

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses SpieleBand 11088EPUB

Titelbild: Anna SteinbauerAventurienkarte: Ralph HlawatschLektorat: Michael FehrenschildBuchgestaltung: Ralf BerszuckE-Book-Gestaltung: Michael MingersCopyright © 2013 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR. Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 978-3-86889-299-4E-Book-ISBN 978-3-86889-859-0

Widmung

Für Amélie

Prolog

Vinsalt, Sotterranea, im Rahja 1031 nach Bosparans Fall

Den Toten Bosparans war keine Ruhe vergönnt. Entgegen der landläufigen Meinung war die alte Kaiserstadt mitnichten vollständig untergegangen. Tief unter der horasischen Capitale Vinsalt existierte das einstmalige Zentrum eines den Kontinent umspannenden Imperiums weiter. Kammern und Gänge, Keller und Katakomben, Kanäle und Tunnel erstreckten sich unter nahezu der gesamten Altstadt. Mehr als eintausend Jahre nach der Zerstörung Bosparans bildeten sie gemeinsam mit den Zisternen und Leitungen Vinsalts die Sotterranea, die Stadt unter der Stadt. Tod und Verfall waren die Herrscher dieses unterirdischen Reiches. Die Trümmer von Villen und Tempeln, aber auch die weitläufigen Gebeinhallen und Nekropolen boten allerlei Gesindel Unterschlupf, bargen aber auch so manches Geheimnis für besonders mutige Zeitgenossen. Normalerweise wagten sich nur diejenigen hierher hinab, die das Licht des Tages zu fürchten hatten. Diebe, Hehler, Verschwörer oder gar Anhänger von Kulten, die sich allem Möglichen verschrieben hatten, aber keinesfalls der Ordnung der Zwölfgötter, trieben sich bevorzugt dort unten herum. Traf man lediglich Schergen der Königin der Unterwelt, Niam von Bosparan, konnte man von Glück reden. Bei anderen Begegnungen tat man gut daran, um sein Leben oder gar sein Seelenheil zu flehen.

Doch daran verschwendete der Mann keinen Gedanken, als er die Gewölbe der antiken Patriziergruft durch einen Rundbogen betrat. Er war mit einem Kapuzenmantel aus schwerem Stoff bekleidet, dessen Farbe in der, vom Licht einer Öllampe kaum durchbrochenen, Finsternis nicht auszumachen war.

Spuren im Staub verrieten ihm, dass die anderen bereits eingetroffen waren. Er beschleunigte seine Schritte und hatte schon bald das Herz der Gruft erreicht. Die aus bosparanischen Herrschaftszeiten stammende Gewölbekammer war längst ihrer Kostbarkeiten beraubt worden und diente nun einer Gruppe als Versammlungsort, der die versteckten Orte der Sotterranea gelegen kamen wie kaum jemand anderem. Niemand außer ihnen wusste von der Existenz dieses lange vergessenen Gewölbes.

Drei Gestalten standen in seiner Mitte um einen Steinsockel, der einem Altar glich. Er war mit einem Tuch abgedeckt, und ein goldener Kandelaber in Form einer Krone mit dreizehn schwarzen Kerzen bildete seinen Mittelpunkt. Von den Wänden wurde zudem das unruhig flackernde Licht von Fackeln zurückgeworfen, welches das Purpur ihrer Roben offenbarte. Goldene Masken verdeckten ihre Antlitze, und auch die Augen waren hinter den Schlitzen nicht zu erkennen.

Der Neuankömmling, dessen Gesicht ebenfalls mit einer Maske bedeckt war, trat zu ihnen.

»Archon Arkaniston«, sagte er und verneigte sich ehrerbietig vor dem Mittleren der drei. Sein Blick schweifte kurz über die beiden anderen Personen in der Kammer. »Archon, Archonta.«

»Tritt vor uns und sprich, Archon«, forderte ihn die Gestalt in der Mitte auf, offenbar der Anführer.

Der Mann kniete kurz nieder und streckte die rechte Hand vor. Der Zeigefinger fehlte, an seinem Ringfinger trug er einen breiten Silberring, auf dessen Oberfläche eine Reihe Tridekarii, dreizehnzackige Sterne, rotgolden schimmerten. In der Mitte umfasste ein Hörnerkranz einen Stein, der einem Achat ähnelte, jedoch halb durchsichtig und mit bräunlichen Schlieren im Inneren.

»Der Ring. SEINE Weisheit hat dir also den Weg zu ihm gewiesen«, stellte der Mann in der Mitte fest.

»Ja, ich ließ mich leiten und folgte unbeirrt SEINEN Wegen. Es ist bereitet. Die Dinge haben sich zusammengefügt, wie es beabsichtigt war.«

»Die Zweifler?«

»Ahnen von nichts.«

»Exzellent. Ganz so, wie wir es vorhergesehen haben. Was sind deine nächsten Schritte, Archon?«

»Es gilt, die Ernte dessen einzufahren, was uns erwachsen ist. Fünf Unschuldige aus den Tagen im Namen des Güldenen, fünf pulsierende Herzen zur Entfachung seiner Kraft. Alles ist bereitet. Sind sie zusammengetragen, wird mich nichts daran hindern, in ihrem Blute die Macht des Rings zu entfesseln.«

»Der Träger falscher Kaiserwürde wird erzittern vor seiner Macht«, sagte die Person zur Linken, bei der es sich um eine Frau handelte. »Er ist schwach. Naivität lenkt ihn und jene, die ihn schützen. Sein Verderben ist nahe.«

»Er wird erzittern und vergehen«, bestätigte der Anführer. »Dann geh, Archon, verrichte dein Werk. Jenem zu Diensten, der in Ketten liegt.«

»IHM zum Dienst, Archon Arkaniston.«

Der einst angesehene und hoch geachtete Mann verließ die Sotterranea. Sein altes Leben ließ er endgültig hinter sich.

Auf ihn wartete Größeres.

***

Vinsalt, 3. Tag des Efferdmondes, 1032 nach Bosparans Fall

Schatten haben sich erhoben. Schatten aus der Vergangenheit, von denen ich annahm, Sie würden ewig ruhen. Doch diese Ewigkeit hielt kaum länger als einen Götterlauf. Nicht mal ein Wimpernschlag im Angesicht der Äonen.

Vielleicht bin ich mir zu sicher gewesen, dass der Kampf vorläufig zu unseren Gunsten entschieden wurde. Der Krieg um den Thron, die offenbarten Geheimnisse der vorherigen Dekaden, die Vernichtung des Zepters von Kaiser Silem-Horas – haben wir in den letzten Götterläufen nicht schon genug Schlachten gegen die Lakaien des Gesichtslosen geschlagen? Soll uns keine Ruhe vergönnt sein, in der wir Wunden lecken, tote Freunde betrauern und neue Kraft schöpfen können?

Offenbar nicht, denn im Gewisper der Capitale erheben sich Stimmen, die davon künden, dass die Gefahr durch die Diener des Dreizehnten im Horasreich keineswegs gebannt ist. Nicht nur in den schmutzigen Winkeln, in denen das Rattenkind seine Dienerschaft versammelt, werden wieder Ränke geschmiedet, sondern auch auf der großen Bühne treten neue, gleichsam unerwartete Protagonisten auf den Plan. Wie viele Schergen des Gefallenen lauern hinter den Masken des gesellschaftlichen Einerleis, um uns den Dolch in den Rücken zu stoßen, wenn wir uns in Sicherheit wiegen?

Stimmengewirr hat mir Namen zugetragen, von denen ich geglaubt hätte, sie niemals in den Reihen des Feindes vorfinden zu müssen. Niemals … ich sollte mehr Vorsicht mit derlei absolutem Vertrauen walten lassen!

Aber die Fragen bleiben: Hätte man es kommen sehen müssen? Hätte ich etwas spüren, wenigstens etwas ahnen können? Wie viele Opfer werden Lüge und Verrat noch fordern?

Sich dem Zweifel, gar der Verzweiflung hinzugeben, wird die Ränke des Feindes nicht aufhalten! Es gilt umso mehr, den Kampf aufzunehmen und Antworten zu finden. Der Reigen beginnt von neuem, und wieder werde auch ich nicht umhin kommen, meine Rolle darin zu spielen. Ebenso wie andere, an deren Seite ich schon einmal gestanden habe.

Arela Weißblatt setzte den Stift ab. Sie hob den Kopf und blickte durchs Fenster hinaus auf die König-Khadan-Parade, eine der Prachtstraßen der Kaiserstadt Vinsalt. An den Säulen und Friesen des in einiger Entfernung auszumachenden Triumphbogens verlor sich ihr Blick. Die Gedanken an die Ereignisse um das Horaszepter hatten sie aus der Konzentration gerissen. Während die Elfe versuchte, sich die Geschehnisse der Namenlosen Tage des Jahres 1030 ins Gedächtnis zu rufen, erschien das Antlitz eines Mannes vor ihrem inneren Auge. Seine braunen Augen blitzten ihr herausfordernd entgegen, schulterlanges Haar umrahmte sein Gesicht. Ein Krieger, ein Aristokrat – und doch so viel mehr. Die Erinnerung an ihn überdeckte die anderen, und Arela bemerkte, wie sich so etwas wie Traurigkeit in ihre Gedanken stahl.

Doch statt dieser irritierenden und unerwarteten Gefühlsregung nachgehen zu können, riss sie ein Klopfen an der Tür ins Diesseits zurück.

Auf ein fast geflüstertes »Ja, bitte«, hin trat Galas, seit vielen Jahren treuer Diener Arelas, in das Arbeitszimmer.

»Signorina, ich erlaubte mir, Euch eine Kanne Tee aufzugießen.«

»Vielen Dank, Galas. Ich habe gar nicht bemerkt, wie viel Zeit schon wieder vergangen ist.«

Der ältere Mann schlurfte in gebückter Haltung zum Schreibtisch und setzte ein Silbertablett mit Teegeschirr aus Drôler Porzellan und einen Teller mit Biskuitkuchen neben ihr ab.

»Was würde ich nur ohne Euch machen?«, sagte Arela lächelnd und berührte dabei seinen Arm. Ein Kribbeln durchfuhr sie. Erschrocken sprang sie auf, während Galas zwei Schritte zurück trat und die Hände abwehrend erhob.

»Ihr … Ihr seid nicht Galas!«, entfuhr es der Elfe. Die Worte der Formel Gardianum Zauberschild formten sich in ihrem Geist, und binnen weniger Augenblicke befand sie sich innerhalb einer schützenden, gleichwohl unsichtbaren arkanen Kuppel, die sie vor einem feindlichen Zauber schützte.

»Wer seid Ihr?«, rief sie, bereit, den Fremden in der Gestalt ihres Dieners augenblicklich mit einem Fulminictus Donnerkeil niederzustrecken.

»Haltet ein, Signorina! Ich will Euch nichts Böses!«, erwiderte der Mann.

»Dann offenbart Euch!«

Der Fremde legte das Gesicht in die Hände und verharrte einen Augenblick lang in dieser Pose. Sein Körper schien zu wachsen, die Statur wurde kräftiger, und statt des lichten Kranzes fielen innerhalb weniger Sekunden kastanienbraune Haare an den Schläfen herab. Der Mann richtete sich auf, das Gesicht noch immer durch die Hände verdeckt.

Arela ließ ihn nicht aus den Augen. Als Meisterin der Täuschung war sie darauf gefasst, sich hinter der vermeintlich entwaffnenden Geste plötzlich einem Angriff gegenüberzusehen.

Eine falsche Bewegung, und magische Schmerzen werden dich verzehren!

Als der Mann die Arme senkte, traf sie ein spöttischer Blick aus smaragdgrünen Augen. Die Konzentration fiel von ihr ab.

»Ihr?«, rief die Elfe überrascht aus.

Ihr Gegenüber lachte. »Bei Phex, wer hätte geglaubt, Euch jemals derart verblüfft zu erleben, Signorina.« Eine Maske verschwand in der Tasche seines Mantels.

Arela benötigte nicht lange, um die Überraschung abzuschütteln und die Kontrolle über ihren Verstand zurückzugewinnen.»Ich hätte Euch töten können, Euer …«

»Keine Titel bitte, Signorina«, unterbrach er sie.

»Ich vermute, in den Schatten, in denen Ihr Euch herumtreibt, gelten Titel wenig«, erwiderte sie, nun ebenfalls lächelnd.

»Nicht wirklich, Signorina«, sagte der Mann und ließ sich in einen Sessel fallen. Er blickte sinnierend an die Decke. »Der Fürst aus den Schatten … ich glaube, das gefällt mir trotzdem ganz gut.«

»Und was führt Euch zu mir?«, fragte Arela.

Das Lächeln ihres Gegenübers erstarb. »Dinge sind in Bewegung geraten. Dinge, die unser Handeln erfordern.«

»Unser Handeln?«

»Es dürfte kaum in Eurem Interesse sein, wenn sich das Spiel anders entwickelt, als wir geplant hatten.«

»Wer sagt denn, dass ich dieses Spiel immer noch spiele?«

Der Mann lachte spöttisch auf. »Ich bitte Euch, Signorina. Ich kenne Euch lange genug, um zu wissen, dass Ihr die Figuren immer noch genau im Blick habt.«

Die Elfe wandte sich ab und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Wieder kam ihr das Antlitz des Aristokraten in den Sinn, und erneut war sie irritiert darüber. »Vielleicht ist das so. Sagt mir, was Ihr beabsichtigt, und unter Umständen helfe ich Euch dabei – wenn es tatsächlich in meinem Interesse ist, so wie Ihr sagt.«

Der Mann stand auf und stellte sich neben sie, den Blick ebenfalls in die Ferne gerichtet. »Ihr müsst nichts weiter tun, als die Figuren in Stellung zu bringen, Signorina.«

***

Der Herbstregen tauchte Vinsalt in einen Schleier aus Feuchtigkeit. Seit Tagen weigerte sich Efferd, seine Schleusen zu schließen, und in den Gassen der Stadt war so mancher Fluch zu vernehmen. Von oben und unten, von vorne und hinten schlug jedem das Wasser entgegen, der sich mehr als drei Schritte aus einem Gebäude wagte. Wer es sich leisten konnte, wurde von Lakaien mit Schirmen vor dem Regen bewahrt und ließ sich ausschließlich per Kutsche durch die Stadt chauffieren. Doch diejenigen, die es sich nicht aussuchen konnten – und das waren die weitaus meisten Einwohner der Stadt – hatten mit völlig durchweichter Kleidung zu kämpfen.

Auch die Kronbeamten auf dem Palasthügel blieben davon nicht verschont, wenn sie allmorgendlich ihre Schreibstuben im Firdayon-Palast aufsuchten. Seit der Orden vom Goldenen Adler seinen Hauptsitz auf der Festung Naumstein genommen hatte, waren die wenigen in Vinsalt verbliebenen Adlerritter im ehemaligen Kaiserpalast untergebracht worden, in welchem seit dem Ende des horasischen Thronfolgekriegs Fürst Ralman von Firdayon-Bethana residierte. Schreib- und Amtsstuben des Adlerordens befanden sich in den Obergeschossen des Nordflügels. Verhörzimmer, Kammern für Vorräte, Ausrüstung und Waffen nebst einer Handvoll Zellen für Delinquenten dagegen in den Kellergeschossen der Residenz.

Mit der Leitung dieser Dependance des Ordens war seit wenigen Monden Großkomtur Pelleas Gavan betraut. Vormals als Sonder-Director mit Verbindungen zum Directorium für Besondere Angelegenheiten und der Connetablia Criminalis Capitale tätig, war er nunmehr für die Zusammenarbeit zwischen Ordensmarschall Amaldo Ravendoza, zugleich Comto-Geheimsiegelbewahrer seiner Horaskaiserlichen Majestät, und Comto-Protector Fürst Ralman zuständig. Dass er daneben die Verbindung zu den städtischen Behörden sowie die Koordination von Ordensrittern und Agenten, den so genannten »Horchern«, von Vinsalt aus steuern musste, machte seine Aufgabe nicht leichter.

Über Arbeit konnte man sich in den Amtsstuben des Adlerordens also nicht beklagen – eine Tradition, die sich trotz aller Veränderungen der vergangenen Götterläufe erhalten hatte.

So war es auch an diesem regnerischen Tag.

Gavan starrte auf die Unterlagen. Er konnte sich nicht konzentrieren, dabei gab es so viel Unerledigtes, das auf ihn wartete. Eigentlich sollte das nach der Rückbildung des Ordens aus einem Heer von Beamten zu einem der Kaiserfamilie verpflichteten Schwurbund der Vergangenheit angehören. Die Realität sah – zumindest hier in Vinsalt – aber anders aus. Es war noch nicht besonders lange her, dass sich der Großkomtur über die Bürokraten und Advokaten in den vom Volksmund spöttisch als »Tintenburgen« bezeichneten Verwaltungsbauten lustig gemacht hatte. Keinen Götterlauf und eine Beförderung später war er selbst zu einem dieser »Paragraphen-Paladine« geworden, als die er sie früher bezeichnet hatte.

Doch das Lesen und Verfassen von Schriftstücken aller Art gehörte nun einmal zu dem, was Marschall Ravendoza als »Verantwortung für die Krone« beschrieben hatte. Die Verantwortung Entscheidungen zu treffen, von denen man glaubte, dass sie das Beste für das Wohlergehen und die Sicherheit des jungen Horaskaisers seien, waren unentbehrlicher Bestandteil der Arbeit eines Großkomturs. Und nicht alle konnten von den ohnehin schon an Überbeschäftigung leidenden Amtsschreibern des Adlerordens bewältigt werden.

»Sei’s drum«, murmelte Gavan und setzte seine Unterschrift unter eine Erklärung des Ordens, die an Bürgermeister Drakenoor gerichtet war.

Kurz darauf klopfte es an der Tür, und Ryano di Jakaris, Gavans rechte Hand und Berater in allen juristischen Angelegenheiten, stürmte in das Amtszimmer. Er verbeugte sich und übergab dem, aufgrund der ungewohnten Hast, verblüfften Großkomtur ein versiegeltes Schriftstück. »Summus pensus! Diese Botschaft traf soeben ein, Exzellenz.« Der Advokat verbeugte sich erneut und entfernte sich, kehrte aber postwendend zurück. »Aus Naumstein, Exzellenz!«

Der Großkomtur erkannte sofort das Siegel des Ordensmarschalls. Eine Nachricht der obersten Priorität, nur für seine Augen bestimmt. Neugierig brach er das Siegel und entrollte das Papier. Er überflog die Zeilen und verharrte dann lange mit halboffenem Mund, als habe ihn eine Starre befallen. Seine Miene verriet nichts über den Aufruhr in seinem Inneren, bis er ruckartig an einer Schnur zog, die mit einer Glocke im Vorraum verbunden war und Jakaris hereinrief.

Augenblicke später erschien dieser in der Tür und blickte ihn fragend an.

»Schafft mir Tarperian her!«, zischte Gavan. »Sofort!«

Wenig später schlenderte ein kleiner Mann in das Amtszimmer des Großkomturs. Obwohl er einen Mantel horasischer Machart trug, erkannte man an den mandelförmigen, leicht schräg gestellten Augen, dass er von der Insel Maraskan weit im Osten Aventuriens stammte. Mit einer Handbewegung grüßte er den Vorgesetzten und ließ sich ohne jede Respektsbekundung in den Stuhl ihm gegenüber fallen.

»Was gibt’s denn so Wichtiges?«, fragte er in einem Ton, als sei ihm völlig gleichgültig, warum man ihn gerufen hatte.

»Lies das. Dann will ich deine Meinung dazu hören.« Gavan reichte Tarperian die Botschaft. Der Maraskaner überflog den Text und zog eine Augenbraue hoch. Sonst ließ er sich nichts anmerken.

»Und?«, fragte Gavan.

Tarperian seufzte und blickte dem Großkomtur in die Augen. »Wenn du mich fragst, hat uns der Dreckskerl verraten.«

»So sieht’s wohl aus.«

»Hätt’ ja nicht gedacht, dass mich nochmal was überraschen kann, nach allem, was wir in den letzten Jahren durchgemacht haben. Manche schaffen es aber trotzdem, alle um sich herum in die Irre zu führen. Und das bei dem Misstrauen, das man walten lässt!« Tarperian schien ernsthaft beleidigt zu sein, wirkte aber gleichzeitig etwas ratlos. »Was willst du deswegen unternehmen?«

»Ihn natürlich finden, was denn sonst? Wir waren ganz schön naiv, dass er uns derart hintergehen konnte.« Gavan seufzte. »Aber wenn’s nur das wäre, könnte man es fast vernachlässigen. Früher stellte er nur eine Gefahr für sich selbst dar, jetzt ist er zu einem Risiko für uns alle geworden. Der Marschall hat mehrfach betont, dass es nicht noch einmal zugelassen werden kann, dass in den Schatten über Jahre hinweg unbemerkt Fäden zum Schaden des Reiches gesponnen werden. Wahrscheinlich war die Einigkeit diesbezüglich noch nie so groß, denn sowohl der Horas, als auch seine Mutter und sein Onkel sind sich ebenso wie der Comto-Protector bewusst darüber, in welchen Abgrund uns solch eine Gefahr zu reißen vermag! Das kann also nur eins heißen: Wir müssen ihn zur Strecke bringen, koste es, was es wolle!«

»Soll ich …«

»Nein, mein Freund! Mit einem Bolzen ist die Sache kaum aus der Welt zu schaffen, so sehr ich es wünschte. Profane Mittel reichen hier nicht aus, das sollte dir klar sein. Du kennst ihn besser als ich, schließlich warst du mit ihm unterwegs.«

»So gut kannte ich ihn auch wieder nicht. Letztlich sind wir nur ein paar Tage miteinander gereist – auch wenn es dabei zu ein paar Komplikationen gekommen ist.« Tarperian setzte ein Grinsen auf. »Es gab Huren, mit denen ich mehr Zeit verbracht habe als mit ihm.«

Gavan nahm mit grimmigem Gesicht ein Blatt Papier zur Hand und begann, einen Text zu verfassen. Nach einer Weile faltete er es zusammen, schob es in einen Umschlag und versiegelte ihn mit Wachs. Mit einer Wucht, als wolle er einen Stein zertrümmern, hämmerte er das Siegel in die weiche Masse und schob den Brief Tarperian zu.

»Du brauchst Hilfe. Du weißt, an wen du dich zu wenden hast. Hier drin steht alles, was sie wissen müssen.«

Der Maraskaner nahm den Umschlag an sich. »Du hörst von uns, wenn es erledigt ist.«

»Bei den Zwölfen, das hoffe ich!« Der Großkomtur nickte und wandte sich wieder den Papieren zu. Als der Maraskaner schon auf der Türschwelle war, schickte Gavan ihm noch eine letzte Anweisung hinterher. »Lasst ihn bluten! Ich will, dass ihr ihm zeigt, was es heißt, uns zu hintergehen!«

Tarperian grinste und verließ den Palast.

Kapitel 1

»Kommt herüber und schaut es Euch an, Kyrios«, sagte der Gardist und winkte.

Gion durchquerte seufzend den Raum, um das Unvermeidliche in Augenschein zu nehmen. Dort befand sich der Anlass seines Aufenthalts. »Schlagt das Tuch zur Seite!«, wies er den Mann an.

Dieser tat wie ihm geheißen, und die Leiche einer jungen Frau kam zum Vorschein. Sie war nur spärlich bekleidet, von Gesicht und Oberkörper war nicht mehr viel zu erkennen. Zerfurchtes Fleisch, zertrennte Muskeln und herausgerissene Hautfetzen kündeten davon, dass hier jemand mit der groben Klinge am Werk gewesen war.

Gion betrachtete den Leichnam mit einer Mischung aus Überraschung und Entsetzen und musste sich schließlich abwenden. Gewaltsam unterdrückte er die aufwallende Übelkeit. Er hatte zwar schon viele Tote gesehen, aber bereits in diesem Augenblick ahnte er, dass ihn die leeren Augenhöhlen des Mädchens in den kommenden Wochen im Traum aufsuchen und anstarren würden.

Während der Esquirio mit der Beherrschung rang, beugte sich sein Begleiter hinunter und entfernte das Leichentuch komplett von dem Körper. »Sagt an, hat man sie so hier aufgefunden?«, fragte er, ohne den Gardisten anzublicken.

»Ja … ja, Doctor. Keine drei Tage ist es her. Wir sollten alles genauso liegen lassen, bis Ihr und der Inspector eintrefft.«

»Gut, gut.« Der Mann fuhr sich nachdenklich durch den Vollbart. »Es sieht mir nach einem Ritualmord aus. Sagt mir, hat man Samen gefunden?«

»Wie meinen?«

»Samen. Den Erguss eines Mannes. Wir nennen es auch Ejakulat.«

»Ich fürchte nicht, Doctor Dromondo. Aber wo hätten wir … so was finden sollen?«

»Ist Er derart einfältig, oder tut Er nur so? Auf der Leiche, auf dem Boden, an der Kleidung. Oder muss man erläutern, wonach man zu schauen hat? Tsas Segen entfaltet sich schließlich nicht ohne die Huldigung ihrer göttlichen Schwester. Muss man etwa erst die Geschichte von den Bienchen und den Blümchen zum Besten geben?«

»Ich… ich weiß nicht, ob man danach gesucht hat«, stammelte der Gardist und wurde rot.

»Stümper, alles Stümper hier!«, murmelte der Doctor und schüttelte den Kopf. »Man hat gut daran getan, uns zu rufen. Es ist verwunderlich, dass man die Leiche nicht gleich eingeäschert hat, unter der Annahme, ihre Verletzungen seien lediglich ein tragischer Unfall.« Er blickte sich um. »Hat man Tür und Fenster untersucht? Was ist mit Fußspuren? Wie steht es mit der persönlichen Habe des Opfers? Gibt es Zeugen?«

»Kyrios, wie gesagt, nichts Derartiges wurde in die Wege geleitet. Nachdem seine Exzellenz nach Euch hat senden lassen, wurde hier nichts unternommen. Auf Anordnung des Capitans hat keiner den Raum mehr betreten.«

Dromondo blickte Gion fassungslos an. »Ist es zu fassen? Wer ist dieser Capitan? Ein rechter Esel, möchte man meinen!« Er seufzte. »Also gut, dann müssen wir wohl alles alleine machen. Immerhin wurde am Tatort nichts verändert.«

»Nein, ich denke nicht. Wie ich bereits sagte, Kyrios.«

»Das Denken überlässt Er lieber uns, Er scheint mir damit wahrlich überfordert zu sein! Und nun, lass Er uns allein! Er ist uns ohnehin keine Hilfe!«

Der junge Mann warf Gion einen fragenden Blick zu und verließ den Raum, als dieser ihm wortlos bedeutete, sich zu entfernen.

Dromondo murmelte etwas Unverständliches in den Bart, als der Gardist die Tür zuzog.

»Fahrt fort, Dromondo, damit wir es hinter uns haben! Ich untersuche derweil den Raum, vielleicht gibt es ja tatsächlich Spuren, die weiteren Aufschluss über den Tathergang zulassen«, sagte Gion. Er hatte sich wieder gefangen, wollte allerdings nicht mehr allzu viel Zeit mit dem Anblick des entstellten Körpers zubringen. Er öffnete die Tür und ging in die Hocke. »Buntbartschloss, einfache Machart, keine Beschädigung zu erkennen. Keinerlei Kratzer an Holz oder Metall, auch der Rahmen ist unbeschädigt.« Der Adlerritter öffnete und schloss die Tür ein paar Mal. »Der Riegel funktioniert einwandfrei«, stellte er abschließend fest und ging zum Fenster.

Dromondo gab ein bestätigendes Grunzen von sich, während er ein Köfferchen öffnete, in welchem eine Vielzahl von Skalpellen, Zangen, Sägen und anderen Metallgerätschaften zum Vorschein kam. Er nahm eines der obskuren Werkzeuge heraus und begann, sich an dem Leichnam zu schaffen zu machen.

Gion wandte sich angeekelt ab. Der Anblick der Ermordeten war schon schlimm genug. Er musste nicht noch dabei zusehen, wie der Anatom den Körper untersuchte. Stattdessen nahm er das Fenster in Augenschein. Abgeplatzte weiße Farbe, verursacht durch die stetige Wechselwirkung von feuchter Innenluft und Sonnenschein von außen, waren die einzigen Beschädigungen, die am Holzrahmen festzustellen waren. Fensterglas und Schloss waren unbeschädigt. »Das Fenster weist ebenfalls keine Spuren auf«, teilte er Dromondo mit, während er hinaus in die Bucht blickte. Die Galeeren, die vor Rethis, der Hauptstadt der Zyklopeninseln, ankerten, wirkten im Schatten des gigantischen Bronzekolosses, der mit seinen Leuchtfeuern den Weg in den Hafen wies, fast wie Spielzeugschiffe aus zusammengesteckten Hölzchen. Gion wünschte, er wäre bereits wieder auf einem dieser Schiffe oder einer Schivonelle der Handelshäuser, die regelmäßig zum Festland aufbrachen. Warum ausgerechnet er nach Hylailos geschickt worden war, um Licht in diesen mysteriösen Mordfall zu bringen, war ihm bisher nicht klar geworden.

In Methumis und Neetha hatte es in den letzten Wochen zwei ganz ähnliche Todesfälle gegeben: Junge Frauen, das Herz herausgeschnitten und grausam entstellt. Offensichtlich war hier ein und derselbe Täter am Werk. Allerdings waren nie auffällige Spuren gefunden worden. Lediglich weil eines der Opfer ein Horcher, also ein Agent des Adlerordens, gewesen war, hatte Naumstein die Ermittlungen an sich gezogen, anstatt den örtlichen Connetabeln die Arbeit zu überlassen, wie es üblich gewesen wäre. Auch die Kirchen der Zwölfgötter hatte man bislang von den Ermittlungen ferngehalten, denn Gions Vorgesetzte vermuteten hinter den Gewalttaten ein politisches Motiv, das gegen den Orden gerichtet war. Der Adlerritter hielt dies zwar für Paranoia, schließlich hatte keines der Opfer besonders wichtige Aufgaben erfüllt, andererseits konnte er die Sorge von Marschall Ravendoza nachvollziehen. Die Reihen des Ordens vom Goldenen Adler waren im horasischen Thronfolgekrieg derart ausgedünnt worden, dass die Verbliebenen noch enger zusammengerückt waren und überall Gefahren witterten.

Dennoch glaubte er, dass er der falsche Mann für diese Mission war. Er war weder ein Kriminalist mit besonders ausgeprägtem Spürsinn, noch ein geschickter Kombinierer, der nur anhand von Indizien einen Verdächtigen dingfest machen konnte. Er konnte zwar eins und eins zusammenzählen und war ein erfahrener und hartgesottener Offizier, aber das hier ging deutlich über seinen Horizont hinaus. Immerhin hatten sie ihm Giacomo Dromondo an die Hand gegeben, einen erfahrenen Anatom und Rechtsmediziner aus Vinsalt, der seit Jahren verlässlich seinen Dienst für den Orden verrichtete.

»Merkwürdig, sie scheint unbefleckt zu sein«, murmelte Dromondo und riss Gion aus seinen Gedanken.

»Vielen Dank für die Information, Doctor. Bringt uns das irgendwie weiter, oder habt Ihr nur eine perverse Freude daran, im Schoß einer toten Frau herumzuwühlen?«, fuhr er ihn heftiger als beabsichtigt an.

»Bei allem Respekt, Signor, aber das Wissen darum könnte für die Bestimmung des Täters äußerst wichtig sein. Genau kann ich es zwar erst nach einer kompletten Sectio sagen, klar scheint aber, dass wir es eher nicht mit einem Triebtäter zu tun haben, der sich an ihrem Leib vergangen hat. Auch das Werk eines Paktierers lässt sich wohl ausschließen, denn man sagt, dass diese sich nach der Tötung meist noch an der Leiche vergehen. Nein, nein, ich nehme an, dass hier eine gänzlich andere Motivation vorliegt!«

»Und die wäre?«, fragte Gion und richtete den Blick wieder auf die weißgetünchten Häuser der Hafengegend.

»Das gilt es noch herauszufinden, Esquirio. Anhand der Spuren kann ich nicht viel mehr sagen, als ohnehin schon bekannt ist: Jemand hat sich offenbar ohne Gewalteinwirkung Zutritt zu ihrem Gemach verschafft und sie mit einem Schnitt durch die Kehle getötet. Dann hat eben jener das Herz extrahiert – eine frappierende Kontinuität zu dem methumischen Delikt! Hernach wurden Caput und Thorax mit einer Vielzahl von Schnitten entstellt, die scheinbar keinem logischen Muster folgen und lediglich der Ablenkung dienen sollen.« Dromondo seufzte. »Sonst hinterließ er – oder sie – keine Spuren am Tatort. Ich fürchte fast, dass wir hier nicht weiterkommen. Erst eine genauere Observation könnte Aufschluss geben. Ich werde die Leiche in einen anderen Raum schaffen lassen, wo sich ungestört arbeiten lässt, sofern das in diesem Haus möglich ist.«

»Dann sollten wir uns bemühen, wenigstens von den Zeugen etwas Hilfreiches zu erfahren. Offenbar hat das Mädchen den Täter eingelassen, weil sie ihn kannte, oder er besaß einen Schlüssel für diesen Raum«, vermutete Gion.

»Vielleicht konnte sie die Tür gar nicht absperren«, unterbrach ihn Dromondo und deutete auf den Eingang. »Oder habt Ihr einen Schlüssel entdeckt?«

Das hatte Gion aus dem Konzept gebracht. Verwirrt blickte er sich um. Tatsächlich steckte kein Schlüssel im Türschloss. »Eine Schlafkammer muss sich doch abschließen lassen, meint Ihr nicht? Aber auch das gilt es herauszufinden«, ergänzte er nach einem Augenblick. »Ich fürchte, wir müssen alle Bewohner des Palazzos zu der Tat befragen, es könnte jeder in Frage kommen.«

»Ich bin mir sicher, dass diese Nachricht den Ephoren ganz besonders erfreuen wird«, sagte Dromondo schmunzelnd.

»Es hilft ja nichts. Man wird es in Naumstein nicht gerne sehen, wenn wir mit leeren Händen zurückkehren, besonders nicht, wenn ich mal wieder derjenige bin, der die Erwartungen nicht erfüllt hat. Wir müssen Ergebnisse präsentieren, ganz gleich, welche Unannehmlichkeiten das für uns bedeutet. Die Zwölfe mit uns, dass uns das bald gelingt! Ich möchte Hylailos so schnell wie möglich wieder verlassen, denn in Methumis wartet viel Arbeit auf mich.« Gion nahm sich diese Ausrede fast selber ab. Es gab viele Gründe nach Methumis zurückzukehren, aber seine Arbeit gehörte nicht unbedingt dazu.

Dromondo packte seine Sachen zusammen und warf sich einen dunklen Umhang über. »Ich persönlich bin da guten Mutes, Signor. Gemeinsam werden wir den Täter schon bald dingfest machen«, lächelte er und verließ den Raum.

»Euer Wort in Praios’ Ohr«, murmelte Gion und folgte ihm.

Nachdenklich schlenderte der Adlerritter ein paar Stunden später im Salon auf und ab, der ihnen zur Verfügung gestellt worden war, um die Bewohner des Ephorenpalazzos zu der Tat zu befragen. Viel hatten sie über die Ermordete bislang nicht herausfinden können. Sie stammte von der Insel Phrygaios und war ein einfaches Dienstmädchen im Haus des Fernkaufmanns Tranquilio Gattusis gewesen, bevor sie in die Dienste des seeköniglichen Ephoren Simitis dyll Amaranthis getreten war. Der Hausherr hatte sie vor rund zwei Götterläufen eingestellt und nie etwas zu beklagen gehabt. Sie habe ihre Arbeit immer verlässlich erledigt, sich tadellos verhalten und sei freundlich, aber etwas schüchtern gewesen. Nie empfing sie Männerbesuch oder schlug anderweitig über die Stränge. Es sei schwer, noch einmal so eine verlässliche Kraft zu finden, hatte Amaranthis nicht ohne Bedauern festgestellt. Gion hatte dem Ephoren die Bestürzung über den Tod der Angestellten abgenommen, wenngleich dieser unmissverständlich deutlich gemacht hatte, dass jedwede weitere persönliche Befragung oder gar Verdächtigung seiner Person als Affront aufgefasst werden würde. Nichtsdestotrotz war auch ihm daran gelegen, die Sache schnellstmöglich aufzuklären, denn die Geschichte sollte keinesfalls die Runde machen. Gion würde sich zwar wundern, wenn dies in einer so überschaubaren Stadt wie Rethis nicht schon längst geschehen war, aber er respektierte den Wunsch des Ephoren, dem es zuvörderst um den guten Ruf seines Hauses ging.

Zudem stand am gleichen Abend eine lange geplante und offenbar wichtige Festivität im Hause an, zu der Gion ebenfalls geladen war. Allerdings nur mit dem Hinweis, inkognito zu erscheinen, um keine Nachfragen bezüglich des Aufenthalts eines Adlerritters im Palazzo aufkommen zu lassen. Mehr oder weniger freiwillig hatte Gion zugestimmt, dem gesellschaftlichen Ereignis beizuwohnen.

Darüber hinaus hatte Amaranthis allerdings kaum etwas zur Sache beigetragen. Aus diesem Grund warteten Gion und Dromondo nun auf ein anderes Zimmermädchen der Ephorenfamilie, in der Hoffnung, von ihr mehr zu erfahren.

Nach einiger Zeit klopfte es zaghaft an der Tür. Eine zierliche Frau betrat den Salon, knickste vor ihnen und blickte sie dann fragend an. »Ihr habt mich rufen lassen, Kyrioi?«

Gion verharrte einen Moment in Sprachlosigkeit, denn die überaus ansehnliche Erscheinung ließ ihn für mehr als nur den Bruchteil eines Augenblicks vergessen, warum er sie eigentlich hatte rufen lassen.

»In der Tat! Setze Sie sich doch bitte!«, kam Dromondo ihm zur Hilfe, sprang auf und bot ihr einen Sessel an.

»Ich bleibe gerne stehen«, flüsterte die Frau.

»Nun gut, wie Sie möchte. Mein Name ist Doctor Dromondo, bei meinem schweigsamen Begleiter handelt es sich um Esquirio Gion ya Ardigon, Ritter im Orden des Goldenen Adlers. Wir untersuchen den Mord an dem Zimmermädchen Varina und hätten dazu gerne einige Fragen gestellt. Darf man Ihr etwas zu trinken anbieten?«, fragte der Anatom und trippelte zu einem Schrank mit Kristallgläsern. Seine zuvor so spröde Art im Umgang mit den Angestellten hatte sich in anbiedernde Freundlichkeit verwandelt. Offenbar war auch ihm nicht entgangen, dass die junge Frau über ein äußerst ansprechendes Äußeres verfügte. »Wasser, Wein – ein Likör?«, fragte er und wedelte mit einer Karaffe, in der eine bräunliche Flüssigkeit enthalten war.

Gion wurde es jetzt zu bunt. Er schüttelte die Verwirrung ab. Sie wollten hier einen Mordfall aufklären und nicht mit Zimmermädchen schäkern. »Lasst gut sein, Dromondo!«, fuhr er dazwischen und wandte sich der Frau zu. »Sie weiß, dass nichts von dem Gesprochenen diesen Raum verlassen darf? Kann Sie uns ihren Namen verraten? Ihr Hausherr sagte uns, dass Sie die Ermordete gut gekannt hat?«

»Ja, natürlich, Kyrios. Ich heiße Apogea. Varina und ich arbeiteten zusammen und teilten sogar eine Kammer.« Hastig wischte sie sich eine Träne aus dem Gesicht.

»Hat Sie etwas von dem Mord mitbekommen?«

»Nein, Kyrios. Ich erfuhr erst davon, als alles schon vorbei war. Varina war allein in der Kammer.« Ein Weinkrampf schüttelte sie. Der Tod ihrer Freundin schien ihr sehr nahe zu gehen.

»Warum war Sie allein in der Kammer?«, fragte Dromondo.

»Ich … ich«, stotterte das Zimmermädchen, brachte aber keinen weiteren Ton heraus.

»Sie muss uns die Wahrheit sagen, will Sie nicht ebenfalls in den Kreis der Verdächtigen geraten«, ermahnte Gion sie, wohl wissend, dass diese Worte ein wenig hart gewählt waren.

»Nein, Kyrios! Ich habe damit nichts zu tun! Das schwöre ich bei allen Zwölfen und den Heiligen!«

»Dann beantworte Sie die Frage!«

»Ich … habe die Nacht bei Rahjoros verbracht.«

»Wer ist dieser Rahjoros? Ist es Ihr Gatte?«, fragte Gion.

»Nein, Kyrios, wir sind nicht verheiratet. Aber wir lieben uns!« Wieder flossen Tränen. »Er ist Majordomus im Palazzo dylli Garèn. Eigentlich war ich dort, um bei einer Festivität auszuhelfen. Ich blieb die ganze Nacht über da, unter dem Vorwand, es hätte so viel zu tun gegeben. Aber sagt es bitte nicht der Herrschaft! Beziehungen unter Angestellten sind streng verboten.«

»Sie weiß Ihr Geheimnis sicher bei uns«, beruhigte sie Dromondo lächelnd, wurde dann aber wieder ernst. »Der Hausherr sagte uns, außer der Familie und den Bediensteten sei niemand im Haus gewesen. Weiß Sie, ob jemand von den Angestellten in der Nacht Besuch empfängt?«

Allmählich beruhigte sich Apogea wieder und antwortete dann schluchzend. »Nein, Kyrios. Das kommt so gut wie nie vor. So etwas ist ja schließlich gar nicht gestattet und müsste dem Dominus gemeldet werden.«

»Auch Varina hatte keinen Besuch?«, hakte Gion nach.

»Nein, natürlich nicht, Kyrios.«

»Vielleicht pflegte sie ja ähnliche … Beziehungen zu den Majordomi der Nachbarschaft.«

»Nein, Kyrios. Seid nicht ungerecht … bitte! Sie hat niemals in der Nacht Besuch empfangen, das müsst Ihr mir glauben. Ich würde es Euch sonst sagen.«

»Sie hat recht, wir haben es ja bereits selbst herausgefunden. So kommen wir nicht weiter«, warf Dromondo mit einem Seitenblick auf Gion ein. »Was kann Sie uns denn sonst über Varina erzählen? Wo kam sie her? Wie alt war sie? Kennt Sie ihre Familie?«

»Sie kam von Phrygaios, das ist eine Insel weiter im Westen. Wie sie mir erzählte, stammte sie aus einer ziemlich armen Familie von Fischern. Sie war das einzige Kind ihrer Eltern. Ihre Mutter muss zuvor wohl eine Reihe Fehlgeburten gehabt haben, deswegen war sie etwas ganz Besonderes für sie. Hin und wieder schickte Varina ihnen etwas Geld, das sie mühsam ansparte.«

»Wie kam sie mit der Familie dyll Amaranthis aus?«

»Alle mochten sie sehr. Der Herr lobte sie immer für ihre Verlässlichkeit und Aufmerksamkeit. Zum Beispiel, wenn er vergaß, dass sich Besuch angesagt hatte, hatte sie schon alles vorbereitet, den Tisch gedeckt und die Betten hergerichtet, bevor er auch nur in Unruhe verfallen konnte. Auch die Kinder liebten sie. Oft durfte sie auf sie aufpassen, wenn die Dame und der Herr außer Haus waren.« Das Mädchen begann über den Erinnerungen wieder zu schluchzen.

Dromondo zog die Stirn in Falten. »Ein einfaches Mädchen von den Inseln. Lieb, nett – unschuldig – und von allen geachtet.« Er blickte Gion ratlos an. »Was für ein dunkles Spiel wird hier gespielt? Weshalb sucht sich jemand ausgerechnet dieses arme Ding aus, wenn er es nicht auf ihren Leib abgesehen hat? Und warum hat er ihr das Herz entfernt?«

Der Esquirio zuckte mit den Schultern. Genau das war die Frage: Warum hatte es ausgerechnet die brave Varina getroffen? Aus dem Gehörten ließ sich bislang keinerlei Motiv entwickeln. Vielleicht war es doch besser, wenn man einen Geweihten der Zwölfgötter zu Rate zog. Es deutete einfach zu vieles darauf hin, es hier mit einem Ritualmord zu tun zu haben, auch wenn Dromondo das anhand der Indizien ausgeschlossen hatte.

Gion betrachtete die junge Frau, die leise in sich hinein weinte.

»Sag Sie mir, fällt Ihr sonst rein gar nichts ein? Bei den Zwölfen, irgendetwas muss es doch geben? Ein Zimmermädchen wird nicht einfach grundlos abgeschlachtet! Sie muss doch mehr über sie wissen, als man gegenüber seinem Herrn zugibt! Irgendetwas Besonderes, das Varina an sich hatte, oder das sie mal getan hat? Hat sie verbotenen Götzen gehuldigt? Hat sie gespielt oder getrunken? Hat sie Tafelsilber gestohlen oder ins Essen gespuckt?«

»Nein, Kyrios, nein, nein! Nie hat sie etwas dergleichen getan! Sie war meine beste Freundin! Sie hat so etwas nicht verdient! Sie konnte nichts dafür!«, schrie sie Gion an, der etwas überrascht einen Schritt zurücktrat.

Dromondo horchte auf. »Konnte nichts wofür?«

»Es war nicht ihre Schuld!«

»Was war nicht ihre Schuld?«, fragte jetzt auch Gion.

Das Mädchen schluchzte herzzerreißend und schwieg.

Dromondo sprang zu ihr und packte sie an den Armen, so dass sie ihn direkt anblicken musste. »Sie muss uns alles erzählen, gleich, wie schlimm es ist! Wenn Sie schweigt, wird Varina davon auch nicht wieder lebendig. Aber so können wir vielleicht den finden, der das getan hat und ihn dafür bestrafen!«

Sie blickte den Anatom aus tränenverschleierten Augen an und flüsterte: »Sie wurde in den Tagen des Namenlosen geboren.«

***

Darian Ardismôr von Farsid-Berlînghan stieß die Tür zum Salon auf und warf seinen Umhang über einen Sessel. Fast den ganzen Vormittag hatte er im Palazzo Pechstein über den Liebfelder »Zug der Edlen« doziert, der in der Dritten Dämonenschlacht im Jahr 1021 an der Seite vieler Verbündeter aus ganz Aventurien gegen den Dämonenmeister Borbarad gekämpft hatte. Als Veteran des Zuges hatte das Erinnerungen wachgerufen, die er lieber für immer verbannt hätte. Darum freute er sich, in den kommenden Tagen keinen Verpflichtungen als Dozent oder Lehrer in den Logen und Gesellschaften Kusliks nachkommen zu müssen und die Seele etwas baumeln zu lassen. Er nahm das Waffengehänge ab und legte seine Rapiere auf einen Beistelltisch. Anstatt sie an ihren Platz im Waffenschrank zu bringen, wollte er sich einfach nur hinlegen und nichts tun.

Als er den Salon betrat, erstarrte er: Ein Mann saß an dem Tisch, an dem Sela und er gewöhnlich zu speisen pflegten. Den Kopf gesenkt, verdeckte ein breitkrempiger Hut sein Gesicht. Er trug einen Mantel, die Füße lagen lässig auf der Tischplatte, und eine gespannte Balestra war auf Darian gerichtet.

»Ein letzter Gruß in die Runde, bevor der Rabe die Schwingen ausbreitet?«

Darian war in der Bewegung erstarrt und brachte nichts heraus.

»Na, keine schlauen Sprüche wie üblich?« Die Schusswaffe blieb noch einen Augenblick auf ihn gerichtet und senkte sich dann. »Bist unvorsichtig geworden, Bruderschwester! Hätt‘ ich dich töten wollen, würdest du schon in deinem Blut vor mir liegen.« Der ungebetene Gast legte den Kopf in den Nacken und gab sein Gesicht zu erkennen. »Eine durchaus belustigende Vorstellung! Aber zu deinem Glück bin ich ja nicht deswegen hier!«, offenbarte ein breit grinsender Tarperian.

Darian, der die ganze Zeit die Luft angehalten hatte, atmete laut aus und entspannte sich. Die Ahnung von Todesangst, die von seinen Gliedern Besitz ergreifen wollte, verschwand wieder. »Sehr witzig! Aus dir hätte ein passabler Possenreißer werden können. Wie bist du reingekommen?«

»Offenes Fenster auf der Rückseite, war kein Problem.« Der Maraskaner schüttelte tadelnd den Kopf. »Wie überaus töricht! Statt dich umzubringen, hätte ich dir auch das Haus leerräumen können! Wundert mich, dass sich das in Kuslik noch nicht rumgesprochen hat.«

»Das hat es sich bestimmt, aber es ist wohl auch bekannt, dass es hier nicht viel zu holen gibt«, sagte Darian und ging zu einem Wandschrank, um von dort eine Kristallkaraffe und Gläser zu holen. »Da müssten sie das Haus in Vinsalt ausräumen, da wandert fast mein gesamtes Einkommen hin.«

»Ich fang gleich an zu heulen, Euer Hochgeboren! Allein für den Krug da hätte es sich gelohnt. Kann ja sein, dass du außer deinen Klingen und deiner Eitelkeit nichts von standesgemäßem Wert besitzt, aber ich weiß nicht, ob Sela das auch so sieht.«

»Mag sein, aber mit quaderweise Folianten unter dem Arm wärst selbst du nicht weit gekommen.« Darian setzte sich zu Tarperian und musste lachen. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, aber du schaffst es immer noch, mich zu überraschen.«

»Deswegen sind auch schon so viele Leute tot, die glaubten, mich zu kennen«, erwiderte Tarperian. »Aber spar dir die Komplimente besser für Sela.«

Lächelnd goss sich Darian einen Weinbrand ein. Er bot die Flasche auch seinem Gast an, der aber abwinkte.

»Mach mir nix aus dem Zeug, weißt du doch.«

»Da hatte ich nicht mehr dran gedacht.«

»Ist ja auch schon ’ne Weile her.«

»Das ist richtig. Wie lange? Acht, vielleicht neun Monde?«

»Wohl eher zehn. War seitdem nicht mehr in Kuslik.«

»Dann bist du doch sicher nicht nur gekommen, um mich zu erschrecken, oder?«

Auch Tarperian musste nun lächeln. »Nein, das nicht. Obwohl es sich gelohnt hätte. Dein Gesichtsausdruck war es allemal wert. Es glotzen mich nicht alle so … dämlich an, bevor sie sterben!«

»Erzähl es niemandem weiter, verstanden?«, prostete Darian ihm augenzwinkernd zu.

»Ehrenwort!«

»Na großartig, das Ehrenwort eines Maraskaners«, seufzte Darian.

»Muss reichen!«

»Also, was führt dich hierher? Aber es ist eigentlich nicht so schwer zu erraten: Gavan schickt dich.«

Tarperian nickte. »Gewohnt scharfsinnig erkannt, Capitan.«

»Wohl eher Berechenbarkeit.« Darian stutzte. »Capitan war einmal, mein Freund! Ich trage den Wappenrock nicht mehr, und das sollte selbst im Innersten Zirkel allmählich bekannt sein. Du kannst also gleich wieder zurückreiten und dem Signor Großkomtur von meiner Ablehnung seiner Bitten berichten – mal wieder. Die Zeit können wir uns wirklich sparen.«

»Ist diesmal leider nicht ganz so einfach.« Tarperian zog Gavans Schriftstück aus dem Wams. »Lies das, dann reden wir weiter.«

Darian verzog skeptisch die Augenbrauen, nahm den Umschlag aber entgegen. Sofort sprang ihm Gavans geschwungene Handschrift entgegen, die schon oft von unangenehmen Neuigkeiten gekündet hatte. Meist schilderte sie Probleme, derer sich Darian in früheren Zeiten als ranghoher Adlerritter hatte annehmen müssen. Doch mittlerweile gehörte er nicht einmal mehr dem Äußeren Zirkel, also den Adlerrittern in Bereitschaft, an. Er hatte in seiner Zeit mehr als genug Blut für Reich und Horas vergossen, und sowohl Marschall Ravendoza als auch Großkomtur Gavan wussten das. Sie hatten mehr als einmal versucht, ihn wieder in den Orden einzubinden, aber er hatte jedes Mal abgelehnt. Ihre Hartnäckigkeit, die er aus der Vergangenheit kannte, hatte zumindest nicht nachgelassen, das musste er zugeben. Sogar Ralman von Firdayons »Bitte« zurückzukehren, hatte Darian ausgeschlagen und sich damit den Regenten des Reiches sicher nicht zum Freund gemacht. Vermutlich hatte nur Ravendozas Fürbitte verhindert, dass Ralman ihn für diesen offenen Affront in das dunkelste Loch in Yaquirien hatte werfen lassen.

Darian brach das Siegel und begann zu lesen. Erst gelangweilt, dann erstaunt und am Ende mit einem offensichtlichen Ausdruck des Entsetzens.

Tarperian beobachtete die sekündlichen Wandlungen amüsiert.

Als der Horasier geendet hatte, starrte er eine Weile auf den Boden und goss sich dann einen dreifachen Weinbrand ein, den er rasch herunter spülte.

»Sehr schön, das hat mir einen Horasdor eingebracht«, bemerkte Tarperian.

»Was denn?«, fragte Darian hustend zurück.

»Hab mit Sentenza gewettet. Er meinte, du stellst mir erst eine Frage und greifst dann zur Flasche.«

»Na, dann herzlichen Glückwunsch«, keuchte Darian und wischte sich Tränen von der Wange. Er wedelte mit dem Brief. »Kennst du den Inhalt des Schreibens?«

Tarperian nickte.

»Ich kann kaum glauben, was ich da lesen muss! Wenn ich von jemandem gedacht hätte, dass er sein Herz auf der Zunge trägt, dann wäre es der Magister gewesen. Und jetzt zeigt sich, dass er nichts weiter als ein dreckiger Lügner gewesen ist!«

»Wir haben uns alle in ihm getäuscht.«

»Ja, wir alle«, bestätigte Darian nachdenklich. »Bei Rondra, vor allem Sela, die ihn besser kannte, als wir anderen zusammen. Sie wird es kaum ertragen, das zu erfahren. Phex sei es gedankt, dass sie nicht hier ist!«

»Hm, das ist schlecht. Wann ist sie zurück?«

»Sie ist erst vor wenigen Stunden aufgebrochen. Es wird mindestens vier Monde dauern, bis sie zurück ist. Allein die Reise nach Perricum dauert ja ewig.«

»Wir brauchen sie, um diese Sache zu klären.«

»Klären? Sollen wir nach Punin oder sonst wohin reisen und Crano suchen? Seit seiner Abreise im Rahjamond des vergangenen Jahres habe ich nichts mehr von ihm gehört.«

»In Punin wurde er nie gesehen, Capitan. Der Magister ist einfach verschwunden. Erst so wurden wir ja aufmerksam und begannen uns Sorgen zu machen. Nachdem er sich zuvor in Kuslik mit nichts anderem als den Bruchstücken des Horaszepters befasst hatte, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass jemand Wind davon bekommen hatte. Gavan befürchtete, dass Anhänger des Namenlosen dahinterstecken könnten, die wir beim Kampf um das Horaszepter vielleicht nicht erwischten. Er ging also davon aus, dass wir es erneut mit deren Machenschaften zu tun haben könnten und sich die Geschichte vom Jahr zuvor wiederholen könnte. Er ließ Romario und Sentenza nach ihm suchen. Du weißt, Leute finden – das können die richtig gut.«

»Ich weiß«, nickte Darian. Die beiden Männer arbeiteten für Gavan sowie den Schwarzen Adlerritter Refano ya Torcesti. Darian wusste darüber hinaus eigentlich nur, dass sie wie Tarperian ebenfalls bezahlte Kundschafter, Diebe und, wenn es sein musste, auch Mörder waren. Als Schwarze Falken dienten sie dem Orden nun schon mehrere Götterläufe und hatten ihre Fähigkeiten viele Male unter Beweis gestellt. Man könnte auch sagen, Leichen pflastern ihren Weg, dachte er.

»Jedenfalls«, riss Tarperian ihn aus den Gedanken, »haben sie dieses Mal vergeblich gesucht.«

»Tatsächlich?«

»Wie gesagt, Crano ist nie nach Punin gereist, also haben wir versucht, sein Umfeld in Kuslik und dem Horasreich zu überprüfen. Wie sich herausstellte, hat er die Hesindekirche die ganze Zeit über belogen, denn die versprochenen Erkenntnisse zum Zepter hat diese laut Präzeptorin Lucara da’ Malagreía nie von ihm erhalten. Stattdessen wurde er beobachtet, wie er Kontakt mit Personen suchte, die einschlägigen Verschwörerkreisen zugeordnet werden müssen.«

»Warum habt ihr ihn da nicht gleich erledigt? Und seine … Verschwörerfreunde gleich mit?«

»Das haben wir alles erst nach seinem Verschwinden erfahren. Du weißt, unsere Horcher sind nicht mehr so zahlreich wie früher. Bis Kunde davon an die Ohren des Marschalls drang, war der Magister endgültig abgetaucht. Seither hat sich seine Spur verloren – und genau da kommen wir ins Spiel!«

Darian schüttelte den Kopf. »Wenn Gavan glaubt, ich reise nochmal wochenlang durch die Gegend und suche Crano, hat er sich getäuscht«, stellte er klar. »Es gibt genug andere Leute für solche Aufgaben. Warum hat er dich nicht zu Refano oder Gion geschickt? Die verstehen ihr Handwerk und kennen die Hintergründe ebenfalls. Ihr könntet den Verräter genauso gut ohne mich zur Strecke bringen.«

»Refano ist am Hof des Horas unabkömmlich und Gion im Dienst des Ordens irgendwo auf den Zyklopeninseln unterwegs. Die sind also raus«, entgegnete Tarperian. »Ich bekomm’ ja nicht sonderlich viel aus Naumstein oder Vinsalt mit, aber sobald mir Ravendoza oder Gavan über den Weg laufen, klagen sie mir ihr Leid, wie wenig Leute ihnen noch zur Verfügung stehen, wie viele Verwaltungsaufgaben ihre Arbeit behindern, und dass ihre besten Männer und Frauen entweder tot oder im Ruhestand sind – was ich nebenbei bemerkt als persönliche Beleidigung auffasse! Dein Rückzug wurmt sie nach wie vor am meisten, wie du dir denken kannst.«

»Ich weiß«, erwiderte Darian seufzend. »Aber ich habe Gavan erklärt, warum ich mich zu diesem Schritt entschlossen habe, und er muss sich damit abfinden. Er kann mich nicht einfach bei der erstbesten Gelegenheit wieder zum Capitan mit besonderen Befugnissen ernennen und meinen, damit wäre wieder alles wie früher.«

»Hierbei geht’s ja nicht um die ›erstbeste Gelegenheit‹. Ich nehme mal an, er setzt dabei vor allem auf die Tatsache, dass du es nicht leiden kannst, hintergangen zu werden und nun auf Rache sinnst.«

»Wenn ich an allen Vergeltung üben wollte, die mich im Leben belogen haben, wäre ich dem Herrn der Rache schon vor Jahren verfallen«, wiegelte Darian Tarperians Einwand ab.

»Aber du musst doch zugeben, dass unser … alter Freund ein ganz besonders schäbiges Spiel mit uns getrieben hat! Wir jagen wochenlang auf der Suche nach ihm durchs Reich, und sehen uns dabei mehr als einmal dem fast sicheren Tod gegenüber. Schließlich befreien wir ihn aus den Händen dieser abtrünnigen Horasanhänger und bringen mit ihm gemeinsam den Namenlosendiener Camerano zur Strecke – und das alles nur, damit er uns danach betrügt? Ich würde ihm zu gerne eine Bleikugel zwischen die Augen jagen, und dabei zusehen, wie sein Blick jene Leere annimmt, die ihn erwartet, wenn er hinübergetreten ist.«

»Du trägst also doch Gefühle in dir – und wenn es nur die nach blutiger Vergeltung sind!«

Tarperian verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Neben meinem einnehmenden Humor meine bemerkenswerteste Eigenschaft.«

Beide mussten lachen. Darian goss sich noch einen Schluck Weinbrand ein und wurde dann wieder ernst.

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte er seufzend. »Müsste ich nicht alles kaputtschlagen, schreien, wüten, den Zorn Rondras heraufbeschwören, Mord und Totschlag ankündigen, so wie Sela es wahrscheinlich tun wird? Aber noch einmal: Das geht mich alles nichts mehr an. Die Sorgen des Ordens sind nicht mehr die meinen. Der Durst nach Rache treibt mich kaum wieder in seine Arme zurück.«

»Stattdessen hast du eher Durst auf das Zeug«, sagte Tarperian und wies auf die Karaffe. In seiner Stimme schwang kaum zu überhörender Ärger mit.

Darian schwieg. Ihm war klar, dass er sich diesmal nicht mit hohlen Phrasen aus der Sache herausreden konnte.

»Mal vom Saufen abgesehen: Was tust du hier eigentlich? Was hält dich davon ab, wieder den Mantel überzuwerfen und mit mir zu kommen?«, fragte Tarperian.

»Ich …« Darian musste tatsächlich kurz überlegen. Ja, was hält mich eigentlich davon ab?