Du siehst mich nicht - Erika Kroell - E-Book

Du siehst mich nicht E-Book

Erika Kroell

4,6

Beschreibung

Nach einem schrecklichen Verbrechen lebt die 35jährige Malerin Viola ein traumatisiertes Leben voller Ängste und Zwänge. Die Gewalt, die ihr damals angetan wurde, hat sie nie verarbeiten können. Sie baut Schutzwälle auf und hält kaum noch Kontakt mit der Außenwelt. Die beschauliche Idylle des Ahrtals läuft wie ein Film vor ihren Fenstern ab. Allein die Sicherheit, zu wissen, dass der brutale Täter für immer im Gefängnis bleiben wird, lässt sie weiterleben. Doch eines Tages geschieht das Schreckliche: Viola glaubt, ihren Peiniger vor ihrem Haus gesehen zu haben. Niemand schenkt ihr Glauben, aber ihre alten Ängste brechen mit neuer Kraft auf. Viola beschließt, sich diesmal zu wehren. Sie wird ihm nicht noch einmal hilflos ausgeliefert sein. Ihre 15jährige Tochter, die schon seit langem sehr unter den isolierten Lebensumständen ihrer Familie leidet, wendet sich hilfesuchend an die Polizistinnen Daniela Flegel und Maxine Kraut. Während das Ermittlerduo sich auf die Spurensuche in den Trümmern von Violas Leben macht, steuert alles auf eine entsetzliche Katastrophe zu ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 310

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,6 (18 Bewertungen)
13
2
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Erika KroellDu siehst mich nicht

Bisher von der Autorin bei KBV erschienen:

Dunkle Schwestern

Irre

Erst eins, dann zwei

Erika Kroell lebt und arbeitet als Rundfunk-Journalistin und Schriftstellerin im Ahrtal. Sie hat mehrere Krimis und phantastische Romane verfasst und ist Autorin zahlreicher Kurzgeschichten in beiden Genres. Sie ist Mitglied im Deutschen Sherlock-Holmes-Club, bei MinD, bei den »Sisters in Crime« und im Verband deutscher Schriftsteller.

Erika Kroell

Dusiehst mich nicht

Originalausgabe© 2009 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Redaktion: Nicola Härms, RheinbachSatz: Volker Maria Neumann, KölnDruck: Aalexx Buchproduktion GmbH, GroßburgwedelPrinted in GermanyPrint-ISBN 978-3-940077-72-1E-Book-ISBN 978-3-95441-077-4

Für meine Mutter

1. Kapitel

Heute

Viola parkte den Wagen am Straßenrand direkt vor ihrem Haus und sah sich nach allen Seiten um. Die Straße war menschenleer, wie üblich am späten Vormittag. Da es sich um eine Sackgasse handelte, gab es keinen Durchgangsverkehr. Hier traf man nur Anwohner und Lieferanten, aber auch davon war jetzt nichts zu sehen.

Okay, alles klar.

Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete dreimal tief durch. Dann entriegelte sie die Autotüren, sprang hinaus und öffnete den Kofferraum. Sie griff nach einer vollen Plastiktüte, wuchtete ein Sechserpack Mineralwasser heraus und schleppte beides so schnell wie möglich über den mit grauen Steinplatten belegten Weg bis zur Haustür. Dort stellte sie Tüte und Flaschen ab und rannte die wenigen Meter zum Auto zurück. Aus dem Nachbarhaus trat ein älterer Mann mit einem großen zottigen Hund an der Leine und winkte Viola zu, bevor er die entgegengesetzte Richtung einschlug und auf ein brachliegendes Feld hinter der Siedlung zusteuerte. Viola erwiderte kurz den Gruß, nahm zwei weitere prall gefüllte Tüten aus dem Kofferraum und war schon wieder auf dem Weg zur Haustür, als sie vom gegenüberliegenden Parkplatz eine Autotür zuschlagen hörte. Rasch sah sie sich um und erschrak.

»Mutter!« Überrascht ließ sie die beiden Taschen auf den Gehsteig sinken. »Ist etwas passiert?« Schon jetzt war Viola schweißgebadet, und der Anblick ihrer Mutter trug nicht eben zu ihrer Beruhigung bei.

Margret überquerte rasch die Straße, wie immer tadellos gekleidet und frisiert, und umarmte Viola. Ihr silbernes Haar verströmte einen zarten Lavendelduft, der Viola immer an ihre Großmutter erinnerte. Sie hatte das gleiche Parfüm benutzt.

»Hallo, mein Schatz. Nein, es ist nichts passiert. Ich war zufällig in der Gegend und dachte, ich schaue mal auf einen Kaffee vorbei.«

Sie ließ Viola los und blickte in den Kofferraum ihres Wagens. »Meine Güte, Großeinkauf, was?« Kurz entschlossen ergriff sie zwei Tüten und wuchtete sie heraus. »Da komme ich ja gerade recht, um dir zu helfen.« Sie schien nicht zu bemerken, dass Viola überhaupt nicht reagierte, und schleppte die Tüten an ihr vorbei zur Haustür.

Von wegen ‚zufällig in der Gegend’, dachte Viola. In dieser Ecke der Stadt gab es rein gar nichts, das Margret zufällig hätte hierherführen können.

Seufzend wischte sie sich den Schweiß von der Stirn, griff nach den Tüten auf dem Gehweg und trug sie zur Haustür.

Margret steuerte schon wieder den Kofferraum an.

»Mutter, lass doch. Das ist zu schwer für dich.«

Aber Margret winkte nur ab und ließ sich nicht aufhalten.

Schließlich standen alle Tüten und Flaschen vor der Haustür, und Viola schloss schnell den Wagen ab.

»Sag mal, du hast ja wirklich eine Riesenmenge eingekauft. Hast du was Bestimmtes vor? Eine Party oder so was?« Mit in die Taille gestemmten Händen bestaunte Margret den Berg aus Lebensmitteln und Getränken.

»Ja, ganz sicher gebe ich eine Party.« Viola lächelte schief. »Ich kaufe so viel, damit ich nicht zu oft in die Stadt muss.«

Margret nickte verständnisvoll. »Ich könnte jetzt wirklich einen Kaffee vertragen.« Forschend beobachtete sie Violas Reaktion, die die Arme vor der Brust verschränkte und verlegen zu Boden blickte.

»Bitte, Mutter, nicht heute, okay? Ich habe viel zu tun.«

»Aber ich könnte dir helfen bei … was auch immer du tun musst.«

»Nein. Nein, dabei kannst du mir nicht helfen. Es ist … kompliziert.«

Margret legte beide Hände auf Violas Oberarme und streichelte darüber. »Liebling, du sperrst mich immer mehr aus deinem Leben aus. Das ist falsch.«

»Oh, Gott.« Viola seufzte und lehnte sich gegen die kalte Haustür. Wie lange war sie jetzt schon draußen? Sie musste ins Haus, verdammt!

»Bitte, nicht schon wieder. Ich weiß ja, dass du recht hast. Aber … ich kann nicht. Versteh das doch.«

Margret war noch nicht bereit aufzugeben. Energisch verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Nein, ich verstehe das nicht. Seit Monaten lässt du mich nicht mehr in deine Wohnung. Ich will jetzt endlich wissen, was los ist. Schließlich geht es nicht nur um dich, sondern auch um Anna.«

Stöhnend schlug Viola die Hände vors Gesicht. »Anna geht es gut, okay?«

»Das ist nicht wahr, und das weißt du«, sagte Margret eindringlich. »Sie wird immer trauriger und stiller.«

Kopfschüttelnd griff Viola nach einer Tüte. »Ich kann jetzt wirklich nicht mehr länger hier herumstehen, Mutter. Ich bitte dich, geh jetzt. Wir kommen wie immer am Sonntag zum Kaffee.«

Sie wandte sich ab und schob den Schlüssel ins Türschloss. Doch Margret ließ sich nicht abwimmeln. Entschlossen griff sie nach zwei Taschen und folgte Viola ins Treppenhaus.

»Tut mir leid. Ich bestehe darauf, mit hineinzukommen. Finde dich damit ab.«

»Aber warum denn?« Viola war den Tränen nahe. »Du willst das nicht wirklich sehen, glaub mir.«

Margret krümmte sich innerlich vor Mitleid und Schmerz. Das Letzte, was sie wollte, war, ihre Tochter zum Weinen zu bringen. Aber sie wusste: Es ging nicht anders. Sie musste sehen, was Viola seit Monaten vor ihr verbarg. Und zwar jetzt.

»Schatz, es tut mir sehr leid, aber es muss sein.« Sie spürte ebenfalls Tränen aufsteigen und wischte sich schnell über die Augen. »Bringen wir es hinter uns.«

Viola begann zu weinen, sträubte sich aber nicht länger und trug die Tüten in den ersten Stock. Vor ihrer Wohnungstür setzte sie sie ab, trat an Margret, die ihr gefolgt war, vorbei und ging wieder hinunter. Als der gesamte Einkauf den Flur vor der Wohnung blockierte, schob Viola den Schlüssel ins Schloss.

»Bitte«, flüsterte sie und ließ Margret an sich vorbei treten.

Voller Angst vor dem, was sie erwartete, drehte Margret den Schlüssel und schob die Tür auf.

Weit kam sie nicht, denn schon nach zwei Schritten blockierten mehrere übereinander gestapelte Kartons ihren Weg. Sie schob sie mit dem Fuß beiseite und wagte zwei weitere Schritte. Ihr Blick fiel geradeaus in den Flur, nach links in die kleine Küche, nach rechts ins Wohnzimmer.

»Mein Gott«, hauchte sie und schlug eine Hand vor den Mund.

Wohin sie auch sah, stapelten sich Lebensmittel zu hohen Türmen und Mauern auf. Tüten, Pakete, Flaschen, Konservendosen zu Tausenden. An den Wänden, auf Tischen, Stühlen und Schränken, sogar vor den Fenstern. Dazwischen gab es nur schmale Pfade, nicht mehr als zwei Fuß breit.

Diese Wohnung war eine Festung aus Lebensmitteln.

Viola sah das Entsetzen ihrer Mutter und schluchzte laut auf.

»Es tut mir leid, Mutter«, weinte sie. »Es tut mir so leid.«

Mühsam fasste Margret sich wieder, wandte sich um und nahm ihre Tochter fest in den Arm. »Nein, mein Schatz. Das muss es nicht. Das muss es nicht.«

Gemeinsam zogen sie sie letzten Plastiktüten in die Wohnung. Viola schloss schnell die Tür hinter sich, drehte den Schlüssel zweimal um und lehnte sich erschöpft gegen das Türblatt. Wieder zu Hause. Gott sei Dank.

Margret blickte sich in der Küche nach einer Sitzgelegenheit um, aber da es keine gab, blieb sie in dem schmalen Fußweg mitten in der Küche stehen und beobachtete ihre Tochter.

Viola schob den linken Ärmel ihres T-Shirts hoch und löste eine Messerscheide, die mit Klettband um ihren Arm befestigt war.

Margret schüttelte fragend den Kopf und trat näher. »Du trägst ein Messer bei dir?«

Viola wischte die letzten Tränen von den Wangen. »Es gibt mir ein wenig Sicherheit«, erklärte sie verlegen und zog das Messer aus der Scheide, um es ihrer Mutter zu zeigen. Es war schmal und insgesamt nur zwanzig Zentimeter lang, aber die Klinge war nadelspitz und beidseitig scharf geschliffen. Viele Stunden hatte Viola darauf verwendet, das kleine Messer zu schleifen, bis es ihren Vorstellungen von einer effektiven, leicht handhabbaren Waffe entsprach. Seither schnallte sie es jedes Mal um, wenn sie einkaufen ging. Sie gestand sich ein, dass sie nicht wusste, ob sie das Messer im Ernstfall tatsächlich benutzen würde, aber es gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Es half ihr, die Wohnung zu verlassen, und das war mehr, als man gemeinhin von einem toten Gegenstand erwarten konnte.

Margret drehte das Messer hin und her und betrachtete es staunend, bevor sie es Viola zurückgab, die es wieder in die Scheide schob und auf einem Regal neben der Wohnungstür deponierte.

»Liebling, was hat das zu bedeuten?«, fragte Margret und deutete mit einer weitgreifenden Handbewegung auf die Lebensmitteltürme, die die Wohnung ausfüllten.

Viola schlug eine Hand vor den Mund in der unbewussten Geste, nicht darüber sprechen zu wollen. Aber ihr war völlig klar, dass Margret, wo sie nun schon einmal so weit gekommen war, es sicher nicht auf sich beruhen lassen würde.

Sie seufzte. »Ich kann es dir nicht wirklich erklären. Ich fühle mich sicherer, seit …«, sie brach ab und dachte nach, was sie da eigentlich sagte und ob das irgendeinen Sinn machte. »… seit ich damit angefangen habe. Ich habe zu Hause keine Angst mehr.«

Sie griff nach einer Plastiktüte.

»Ich verstehe es nicht, und du musst es auch nicht verstehen, okay?« Ihr Tonfall war resigniert. »Ich räume das schnell weg.«

Viola leerte den Inhalt der Tasche auf den Boden und begann, die Lebensmittel auf ihrem Arm aufzustapeln. Margret hatte ihr Angebot, dabei zu helfen, innerlich bereits zurückgezogen. In dieser Wohnung konnten sich nicht zwei Menschen gleichzeitig bewegen. Also blieb sie einfach im Türrahmen zur Küche stehen und beobachtete ihre Tochter.

»Einen Moment, Mutter«, sagte Viola, schob sich in dem schmalen Gang an Margret vorbei in die Küche und legte die Nudeltüten auf die bereits vorhandenen Stapel vor dem Fenster. Zufrieden nickend betrachtete sie das Ergebnis und blickte sich um. Die Küche war im Grunde genommen fertig und gut geschützt. Hier und da könnte sie vielleicht noch ein wenig aufbauen, aber viel Platz war hier nicht mehr. Auf dem Herd neben der Tür stapelten sich Nudelpackungen bis knapp unter den Hängeschrank, nach vorne abgesichert durch eine Reihe Konservendosen. Kochen konnte sie hier leider nicht mehr, aber Viola hatte die Prioritäten ihres Lebens längst festgesetzt. Kochen gehörte nicht dazu.

Milchtüten, Keksschachteln und ein Stapel Prospekte setzten den Wall nach rechts fort bis zur Kaffeemaschine, die relativ ungeschützt stand, aber nur so zu bedienen war. Ein Zugeständnis, das Viola hatte machen müssen, denn ansonsten gäbe es keinen Kaffee mehr. Undenkbar.

Hinter der Kaffeemaschine folgten Bier- und Limokästen bis zur Spüle. Das Fenster war halbhoch mit Konserven gesichert. Die Lücke zwischen einem deckenhohen Regal und einem Sideboard füllten Stapel mit Prospekten und Zeitungen aus und schlossen den Ring bis zur Tür. Der freigehaltene Gang in den Flur war breit genug, dass Viola hindurchgehen konnte, ohne den Wall zu berühren und damit zu gefährden.

»Mach dir doch einen Kaffee«, sagte sie beim Vorbeizwängen zu Margret und schien nicht zu bemerken, dass ihre Mutter mit offenem Mund dastand und ihr Entsetzen nicht verbergen konnte.

Mit zwei schweren Tüten schlängelte sie sich ins gegenüberliegende Wohnzimmer. Hier gab es noch einiges zu tun. Die Fenster waren zwar durch Jalousien geschützt, doch das reichte Viola nicht mehr. Sie nahm die Konservendosen aus den Tüten und baute sie auf der Fensterbank zu sicheren Mauern auf. Jede Reihe versetzt über der anderen. Erbsen und Möhren. Sie achtete darauf, dass die Etiketten gleichmäßig nach vorn ausgerichtet waren und ein ansprechendes rotgrünes Muster bildeten, das einer Bordüre glich. Ihr Einkauf reichte nicht aus, die Mauer zu vervollständigen, denn das Regal im Supermarkt hatte leider nicht mehr hergegeben. Nächste Woche würde sie die restlichen Dosen besorgen.

Ein prüfender Blick durch den Raum offenbarte weitere Lücken im Wall an der Tür. Möglicherweise hatte Anna ein paar Dosen weggenommen, als sie Hunger hatte. Rasch zog Viola eine weitere Einkaufstüte durch den schmalen Gang und füllte mit Obstkonserven auf. Jetzt war der Flur an der Reihe.

Margret folgte ihr und beobachtete sie still. Es war viel schlimmer, als sie beim Anblick der Wohnung befürchtet hatte. Viola hatte jede Verlegenheit verloren und deponierte ihre Einkäufe, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, eine Wohnung mithilfe von Lebensmitteln in eine Festung zu verwandeln.

Jetzt hielt sie einen Moment inne und blickte sich prüfend um. Eine besondere Schwachstelle bildete der Eingang zu Annas Zimmer. Anna weigerte sich, in ihrem Zimmer Wälle aufzubauen, und so musste der Eingangsbereich besonders gut geschützt werden. Die Basis rund um die Tür hatte Viola aus Getränkekisten geschaffen, ein solider und standfester Schutz. Darauf türmten sich Bücher und Zeitschriften bis über den oberen Rahmen hinaus. Viola war nicht völlig zufrieden mit dieser Lösung, aber sie musste selbstverständlich auf Anna Rücksicht nehmen.

In ihrem eigenen Schlafzimmer war der Schutz perfekt. Rund um das breite Bett erhob sich ein Wäscheberg neben dem anderen. Am linken Kopfende begann der Wall mit frischer, sauber zusammengelegter Wäsche. Zuerst ein Stapel T-Shirts, dann Pullover, Hosen, Unterwäsche und Bettwäsche bis zur Mitte des Fußendes. Dort begann die schmutzige Wäsche, die in unordentlichen Haufen bis fast an den Nachttisch am rechten Kopfende heranreichte. Die Lücke zwischen Wäsche und Nachtschrank reichte, um ins Bett zu steigen.

Mit einigen Konservendosen und Paketen mit Kartoffelpüree und Knödelpulver vervollständigte Viola den äußeren Wall um die Schlafzimmertür. Die restlichen Lebensmittel verteilte sie im Flur und vor dem Bad. Das Bad selbst war zu klein, um es ausreichend zu schützen. Wann immer Viola es dennoch versuchte, räumte Anna die Wälle sogleich wieder ab und bestand darauf, das Bad freizuhalten. Immerhin hatte Viola mehr oder weniger unauffällig einen kleinen Wall aus Shampoo- und Duschgelflaschen vor dem Fenster aufgebaut. Anna hatte ihn bisher nicht beanstandet, möglicherweise, weil diese Dinge im Bad sinnvoll erschienen, wenn auch nicht in dieser Menge.

Endlich waren alle Vorräte verstaut. Violas Arme und Hände schmerzten von der Anstrengung. Erschöpft ließ sie sich im Wohnzimmer auf die rote Samtcouch fallen. Hier hatte sie nur einen Platz frei gelassen, rechts und links erhoben sich Türme aus Wolldecken und Kissen. Sie würde gern für Anna einen weiteren Platz frei räumen, aber es war lange her, dass Mutter und Tochter gemeinsam hier gesessen, einen Film angesehen oder zu Abend gegessen hatten.

Plötzlich fiel ihr Margret wieder ein, und sie sah sich rasch um. Ihre Mutter lehnte in der Wohnzimmertür, ganz grau im Gesicht.

»Wie wär’s jetzt mit einem Kaffee, Mutter?«

2. Kapitel

Zwölf Jahre früher

Seine Hände waren ganz rot vom Schrubben mit der harten Bürste und der groben Handwaschpaste, aber seine Fingernägel wiesen immer noch schwarze Ränder auf. Berufskrankheit. Nicht zu ändern, dachte er, zog seine Jeans und ein halbwegs sauberes T-Shirt an und warf seinen schmutzigen Overall in den Spind. Dann stieg er wieder in seine Arbeitsschuhe. Seine Sneakers hatten heute Morgen auf dem Weg zur Werkstatt ihren Geist aufgegeben. Die rechte Sohle schlappte lose herum und hatte ihn fast zu Fall gebracht. Sie waren gleich in der Mülltonne gelandet.

Seit Marion vor ein paar Wochen ausgezogen war, hatte er sich ziemlich gehen lassen. Heute Morgen hatte er nicht ein einziges sauberes Hemd gefunden. Jetzt musste er wohl auch noch anfangen, Wäsche zu waschen. Blöde Kuh.

Er hatte seinen Augen nicht trauen wollen, als Marion eines Abends mit einem fremden Kerl in der Tür stand und verkündete, es sei aus. Sie packte ihre Sachen, und der Kerl ließ ihn keinen Moment aus den Augen. Vermutlich hatte sie ihm gesteckt, dass er gerne mal zuschlug. Bei Kerlen von dieser Größe sparte er sich das allerdings lieber. Also konnte er nichts tun, als ihr wütend beim Packen zuzusehen. Nach einer halben Stunde war sie mit Sack und Pack verschwunden. Seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen. War auch besser für sie.

Im Spiegel des Waschraums überprüfte er sein Aussehen, strich noch einmal über die struppigen Haare und nickte sich selbstgefällig zu. In diesem Moment betrat der Meister den Waschraum und erhaschte noch einen Blick auf sein eitles Grinsen. Er schmunzelte.

»Na, Achim, noch was vor heute?«

»Das kann man wohl sagen, Meister«, grinste er. »Eine blonde Schnuckelmaus wartet auf mich im Spezi.«

Der Meister nickte. »Na, dann streng dich mal an. Und mach keine Dummheiten.«

Der Meister war der einzige von den Kollegen, der wusste, dass Achim schon öfter wegen seines Jähzorns mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Jedenfalls hoffte Achim, dass er der einzige war. Jedes Mal hatte er ihm eine Standpauke gehalten, das letzte Mal sogar mit Kündigung gedroht. Seitdem hatte Achim versucht, sich zusammenzureißen.

Jetzt nickte er dem Meister zu und verließ den Waschraum.

Schon seit zwei Wochen baggerte er Kathrin an, die erst seit Kurzem zum Mitarbeiterstab der Werkstatt gehörte. Genau seine Kragenweite. Schlank, blond und nicht zu eingebildet, um mit einem einfachen Kfz-Mechaniker auszugehen.

Im Hinausgehen winkte er den Kollegen zu, die noch ein paar Überstunden vor sich hatten, um fest zugesagte Termine einzuhalten.

Das Spezi gehörte zu der Art von Kneipen, in denen sich seit fünfzig Jahren nichts verändert hatte. Einfaches Nachkriegs-Mobiliar, abgetretene Holzdielen und eine Theke, die ein früherer Besitzer vermutlich selbst gezimmert hatte, getönte Scheiben und die typischen hässlichen Kneipenblumen vor den Fenstern. Aber es lag auf halbem Weg zwischen der Werkstatt und seiner Wohnung, weshalb er fast jeden Tag auf dem Heimweg einen kleinen Zwischenstopp einlegte.

Um diese Zeit war es im Spezi noch relativ ruhig. Ein paar Arbeiter aus der Papierfabrik tranken ihr Feierabendbier, zwei Jungen und ein Mädchen spielten Flipper und veranstalteten einen Höllenlärm bei jeder Kugel, die durchflutschte, auf dem Hocker vor dem Glücksspielautomaten hockte ein unrasierter Penner und warf sein mühsam erbetteltes Kleingeld aus dem Fenster.

Er entdeckte Kathrin im hinteren Teil des Gastraums, vor sich eine Tasse Kaffee, den Blick unverwandt auf die Tür gerichtet. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem hübschen Gesicht aus, als Achim eintrat und sein suchender Blick sie traf.

»Zwei Bier, zwei Korn!«, rief er im Vorbeigehen zur Theke hinüber. Der Wirt nickte nur.

»Na, so spät noch Kaffee? Ob das gesund ist!«, sagte er zur Begrüßung und setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. Kathrin lächelte verlegen.

Achim wusste schon nicht mehr, was er sagen sollte. Konversation war eindeutig nicht seine Stärke, und er war froh, als der Wirt kam und die Getränke vor sie hinstellte.

»Trink mal was Vernünftiges«, schlug er vor und schob den Schnaps zu ihr hinüber. Sie rümpfte die Nase. Bisschen zickig, dachte Achim.

»Ich trinke selten Alkohol. Was ist das denn?«

»Bier und Korn. Prost!«

Er schüttete den Schnaps in einem Zug hinunter und trank gleich anschließend einige großzügige Schlucke Bier. Kathrin beobachtete ihn und versuchte, es ihm gleichzutun, bekam aber nach dem ersten Schluck Schnaps einen Hustenanfall und verschluckte sich.

»Wie gefällt’s dir denn in deinem neuen Job?«, fragte er, nachdem sie sich erholt und vorsichtig das Bier probiert hatte.

Das schien ein gutes Thema zu sein, denn sie begann sofort, von den Kolleginnen und ihren verschiedenen Aufgaben zu erzählen. Sie kümmerte sich um die Rechnungen und kontrollierte die Zahlungseingänge in den Fällen, in denen nicht bar bezahlt wurde. Natürlich befand sie sich noch in der Anlern-Phase, aber mit jedem Tag kam sie besser zurecht, und die Kolleginnen lobten sie.

Blablabla, dachte Achim, wusste aber, dass sein geheucheltes Interesse der Preis dafür war, dass sie später in seinem Bett landen würde. Also hörte er scheinbar zu, nickte hin und wieder und orderte zwischendurch neue Getränke.

Zwei Stunden später begleitete sie ihn nach Hause in seine Eineinhalb-Zimmer-Wohnung im Souterrain eines heruntergekommenen Mehrfamilienhauses. Entgegen seinen Befürchtungen zierte sie sich nicht lange, sondern hüpfte gleich mit ihm ins Bett. Noch nicht einmal die schmuddelige Bettwäsche und die Unordnung im Zimmer schienen sie zu stören. Die drei Schnäpse, die er ihr aufgenötigt hatte, zahlten sich offenbar aus. Allerdings hatte der Alkohol nicht nur bei ihr seine Wirkung getan.

Er mühte sich redlich ab, doch nach zwanzig Minuten stieß sie ihn beiseite und sagte kühl: »Lassen wir’s.«

»Scheiße, verdammt!«, fluchte er und rollte sich auf den Rücken. Das war jetzt schon das dritte Mal, dass er keinen hochkriegte. Das musste an den blöden Schlampen liegen. Bei Marion hatte er es am Schluss auch nicht mehr gebracht.

Kathrin drehte sich seitlich zu ihm und stützte den Kopf in eine Hand. »Mach dir nichts draus. Das kann doch jedem mal passieren!«

Ihre Stimme klang aufrichtig, doch als er sie ansah, entdeckte er das typische gönnerhafte Lächeln, das, wie er wusste, besagte: Du siehst mich hier nie wieder, du Versager.

»Das ist mir noch nie passiert«, log er barsch, und ihr Lächeln wurde zu einem Grinsen. Dann tätschelte sie ihm die Wange. Das war zu viel. Er holte aus und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie schrie auf und sprang aus dem Bett.

»Du verdammter Mistkerl! Was fällt dir ein?« Ihre Stimme gellte so laut, dass es im ganzen Haus zu hören sein musste.

»Halt’s Maul, verdammt!« Mit einem Satz war er bei ihr und rammte ihr die Faust in den Magen. Aus ihrem Mund kam nur noch ein Gurgeln, und sie sackte vornüber auf dem schmutzigen Teppich zusammen.

Wütend stampfte er in die Kochecke und riss eine Flasche Wodka aus dem Kühlschrank.

Diese Schlampen machten ihn verrückt. Erst geilten sie ihn auf und dann schafften sie es nicht, dass er einen hochkriegte. Zum Kotzen. Blöde Weiber.

Er warf sich aufs Bett und trank den Wodka direkt aus der Flasche. Kathrin zog sich mühsam an der Bettkante hoch und versuchte aufzustehen. Ihre Hände hielt sie auf den Magen gepresst. Aus ihrer Nase lief Blut über das Kinn.

»Du Schwein«, keuchte sie und fischte ihre Jeans vom Boden auf. »Das wirst du bereuen.«

Ohne lange nachzudenken, holte er aus und trat sie mit einem Fuß ins Gesicht. Sie stürzte wie ein gefällter Baum hintenüber und rührte sich nicht mehr.

Anna schrak auf, als Viola den Kofferraumdeckel zuschlug. In der Mittagshitze war sie trotz des ungemütlichen Gittersitzes im Einkaufswagen eingeschlafen. Sofort verzog sich ihr müdes kleines Gesicht, und Viola ahnte, dass sie jeden Moment anfangen würde zu weinen. Rasch hob sie die Kleine aus dem Wagen und schaukelte sie auf dem Arm.

»Schon gut, Liebling, du kannst gleich im Auto weiterschlafen. Hast du Durst?«

Anna nickte erschöpft und legte ihr verschwitztes Köpfchen auf Violas Schulter.

Mühsam dirigierte Viola den Einkaufskarren mit einer Hand zum Depot zurück. Die Hitze schlug auch ihr aufs Gemüt. Bei diesen Temperaturen spürte sie die ersten Auswirkungen ihrer Schwangerschaft. Alles schien plötzlich ein bisschen mühsamer zu sein als üblich.

Kein Wetter zum Einkaufen, dachte sie. Zu Hause würde sie das Planschbecken mit eiskaltem Wasser füllen und ihre Füße kühlen, während Anna herumplanschte. Schon der Gedanke daran belebte sie etwas.

Sie schleppte das Kind zum Auto zurück und öffnete die Beifahrertür. Ein Schwall heißer Luft schlug ihr entgegen. Sie ließ die Hitze ausströmen, bevor sie den Sitz vorklappte und Anna in den Kindersitz auf der Rückbank sinken ließ. Noch während sie das Mädchen anschnallte, griff es nach seiner Teeflasche und begann gierig, die lauwarme Flüssigkeit zu saugen. Sein dünnes blondes Haar kringelte sich in feuchten Locken über der Stirn, und die runden Bäckchen leuchteten fiebrig rot.

Viola klappte den Sitz zurück, schloss die Beifahrertür, ging um das Auto herum und öffnete die Fahrertür. Erschöpft stützte sie sich auf den Türrahmen und wartete, dass sich die Luft im Innenraum etwas abkühlte. Der Parkplatz des Einkaufszentrums am Ende der Stadt war fast leer, wie meistens. Deshalb bevorzugte Viola diesen Supermarkt. Es war kaum Betrieb, und man war schnell wieder draußen. Die wenigen Autos, die hier parkten, gehörten vermutlich den Angestellten.

Über dem heißen Asphalt flirrte die Luft. Eine alte Frau mit kurzen grauen Haaren und einem geblümten Sommerkleid zog eine Einkaufstasche mit Rädern hinter sich her und sah aus, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Alle paar Schritte blieb sie stehen und wischte sich mit einem weißen Taschentuch über die Stirn. Unwillkürlich ahmte Viola ihre Bewegung nach und wischte sich den Schweiß ab.

Im Schatten des Vordachs am Eingang stand ein junger Mann und rauchte. Vielleicht wartet er auf seine Freundin, dachte Viola. Oder auf ein paar Kumpels.

Das grelle Sonnenlicht und die flirrende Hitze, gepaart mit der Leere des Parkplatzes, erinnerten sie an eine Filmkulisse. So etwas wie: Tankstelle an einer einsamen Wüstenstraße, junge Familie hat sich verfahren, im Kassenraum erwartet sie das Grauen. Schönen Gruß von Stephen King.

Sie merkte, wie die Hitze sie in einen Tagtraum drängte und stieg ins Auto, schob den Zündschlüssel ins Schloss und startete. Anders als in einem Horrorfilm sprang der Wagen sofort an.

Das war wohl der beschissenste Tag seines Lebens. Er hatte die ganze Nacht gesoffen, und jetzt war er müde und wütend. Immer noch.

Das Gefühl des Versagens schnürte ihm die Kehle zu, und immer wieder sah er das Gesicht der kleinen Schlampe vor sich, das höhnische Grinsen, die Verachtung.

Heute Morgen lag sie immer noch neben dem Bett und rührte sich nicht. Er stellte sich vor, wie sie im Laufe des Tages zu den Bullen marschieren und ihre gar traurige Geschichte erzählen würde. Diesmal käme er nicht mehr mit einer Verwarnung davon, das stand fest.

Und später in der Werkstatt würde sie unter Tränen berichten, was passiert war. Er hörte förmlich das Gelächter der Kollegen und ihre höhnischen Bemerkungen. Und der Meister würde diesmal wohl zu mehr als einer Standpauke greifen. Er war erledigt. Dort konnte er sich nie mehr blicken lassen.

Die ganze Nacht hatte er kein Auge zugetan und stattdessen ein Bier nach dem anderen getrunken. Seine Wut auf die Menschen im Allgemeinen und Schlampen im Besonderen war immer tiefer und beißender geworden. Obwohl er seinen Vater hasste, musste er dem Alten doch in einem Punkt recht geben. Lass dich mit einer blonden Schlampe ein, hatte er mehr als einmal zu Achim gesagt, und sie macht aus deinem beschissenen Leben ein noch beschisseneres.

Am Morgen war er wie von Sinnen. Kathrin hatte sich die ganze Nacht nicht bewegt. Er hockte sich neben sie und suchte an ihrem Hals nach einem Lebenszeichen. Ganz schwach fühlte er das Blut in der Schlagader pulsieren. Wie ferngesteuert legte er beide Hände um ihre Kehle und drückte zu. Langsam und stetig. Es dauerte überraschend lange, bis ihr Körper unter seinem Druck völlig erschlaffte. Noch einmal suchte er nach der Halsschlagader, aber diesmal fand er keinen Puls mehr. Zur Sicherheit legte er seinen Kopf auf ihre Brust und lauschte. Das Einzige, was er hörte, was das Rauschen des Blutes in seinen Ohren und das Hämmern hinter seiner Stirn.

Dann hatte er wahllos eine Handvoll Küchenmesser in seinen Rucksack gepackt und war einfach losgelaufen. Irgendwohin. Ihm war völlig klar, dass er aus dieser Nummer nicht mehr heil herauskommen würde. Aber irgendjemand würde für die ganze Scheiße bezahlen müssen. Irgendjemand war heute dran.

Ohne Ziel lief er durch die Stadt, ließ die letzten Häuser hinter sich, rannte einen Waldweg hoch, fand sich eine Stunde später schwitzend auf einer Weinbergsmauer wieder. Ein Arbeiter mit grauem Schlapphut und grüner Latzhose, der aus einem Tank auf seinem Rücken eine milchigweiße Flüssigkeit auf die Weinreben spritzte, beäugte ihn misstrauisch. Achim zeigte ihm den Finger und lief weiter, den Berg wieder hinab, zurück in die Stadt, an der Ahr entlang. Sein Rucksack schien immer schwerer zu werden, und die glühende Hitze machte ihm zu schaffen. In einem Supermarkt kaufte er sich ein Sechserpack eiskaltes Bier, stellte sich in den Schatten des Vordachs am Eingang und öffnete eine Flasche mit seinem Feuerzeug. Dann zündete er sich eine Zigarette an und überlegte, was er als Nächstes tun sollte.

Etwas entfernt auf dem Parkplatz lehnte eine junge Frau an ihrem Auto und starrte Löcher in die Luft. Eine Sekunde lang glaubte er erschrocken, es sei die Kleine aus der Buchhaltung. Aber dann erkannte er seinen Irrtum. Sie sah ihr nur ein wenig ähnlich. Blondes Haar, schlanke Figur. Alles Schlampen, dachte er mit neu aufflammendem Zorn, warf die Zigarettenkippe auf den Asphalt und zermalmte sie mit dem Absatz seines schweren Arbeitsschuhs. Als die Frau in ihren Wagen stieg, rannte er los.

3. Kapitel

Heute

Schon an der Wohnungstür bemerkte Anna, dass ihre Mutter aufgefüllt hatte. Genervt kniff sie die Lippen zusammen.

»Hi, Mom«, rief sie in den Flur hinein. Viola antwortete aus dem Wohnzimmer. »Hallo, Schatz. Wie war’s in der Schule?«

»Wie immer.« Im Vorbeigehen zog Anna eine Dose Ravioli aus einem Wall im Flur, der dadurch gefährlich ins Wanken geriet, und schlug die Tür ihres Zimmers hinter sich zu. Wie an jedem Tag sandte sie erst einmal einen prüfenden Blick durch den ganzen Raum. Gott sei Dank. Viola hatte nicht wieder heimlich irgendwelche Schutzmauern aufgebaut.

Anna warf ihren Rucksack aufs Bett und ließ sich gleich daneben fallen. Sie hatte es so satt. Als Großmutter sich vor Wochen Einlass in die Wohnung erzwungen hatte, war wieder einmal Hoffnung in Anna aufgekeimt. Jetzt, wo Violas zwanghaftes Auftürmen von Lebensmitteln kein Geheimnis mehr war, könnten sie gemeinsam versuchen, ihre Probleme zu lösen. Doch ihre Hoffnungen hatten sich zerschlagen. Nach einigen zaghaften Versuchen, ihre Schutzwälle abzubauen, hatte Viola schnell wieder aufgegeben, und alles blieb, wie es war.

Sie stand auf und reckte sich. Jetzt erst einmal was essen, und dann Hausaufgaben.

Sie öffnete die Konservendose und schüttete die Ravioli in einen kleinen Topf. Neben dem Fenster, das einen romantischen Ausblick auf den Landskroner Berg gewährte, hatte sie eine winzige Küchenecke improvisiert: eine zweiflammige elektrische Kochplatte, die Großmutter ihr geschenkt hatte, nachdem der letzte Versuch vor einigen Wochen gescheitert war, zwei Töpfe, eine Pfanne, Teller, Tassen, Besteck. Margret hatte ihr angeboten, jeden Mittag bei den Großeltern zu essen, aber Anna hatte dankend abgelehnt. Sie konnte ihre Mutter nicht so vor den Kopf stoßen. Egal, wie verrückt sich Viola auch gebärden mochte, sie war doch ihre Mom, und Anna war alles, was sie hatte.

Immerhin hatte Anna es geschafft, Violas Trauma aus ihrem Zimmer auszusperren. Konsequent hatte sie jeden Versuch Violas unterbunden, irgendwelches Zeug in ihrem Zimmer aufzustapeln. Zuletzt war sie so wütend gewesen, dass sie die Milchtüten und Konservendosen, die Viola in ihrem Zimmer aufgebaut hatte, während sie in der Schule war, einfach hinaus in den Flur geworfen und eine Schutzmauer zum Einsturz gebracht hatte. Eine der Milchtüten war beim Aufprall aufgeplatzt, aber Anna hatte einfach die Tür ihres Zimmers zugeknallt und Viola zugehört, wie sie weinend den Flur putzte und ihre Mauer wieder aufbaute. Seitdem akzeptierte Viola Annas Zimmer als Tabuzone.

Zufrieden blickte Anna sich jetzt um. In diesem Raum konnte sie das Chaos der übrigen Wohnung ausblenden. Hier war die Welt in Ordnung. Sie liebte ihr breites, gemütliches Bett mit den vielen bunten Kissen und dem alten Teddy, den sie aus Kindertagen verwahrt hatte, die hohen, mit Büchern gefüllten Regale, ihren Schreibtisch, der die Form eines altmodischen Sekretärs hatte und mit seiner kleinen Schreibfläche zwar nicht sonderlich praktisch, aber sehr dekorativ war, und schließlich den riesigen, mit rotem Samt bezogenen Ohrensessel, der ursprünglich Teil der Sitzgruppe im Wohnzimmer gewesen war. Als er eines Nachmittags vor ein paar Monaten unter Zeitungen und Decken vollständig verschwunden war, hatte sie ihn kurzerhand in ihr Zimmer gerettet. Jeden Abend setzte sie sich in Schlafanzug und Bademantel hinein, schaltete die grüne Stehlampe neben dem Sessel an und las, entweder in einem Roman oder in einem Schulbuch, oder sie schaltete den kleinen Fernseher an, der auf einem Schränkchen dem Sessel gegenüber stand. Schon mehrfach hatte sie erwogen, auch den zweiten Samtsessel, der ebenfalls seit Monaten unsichtbar war, zu okkupieren und Viola zu einem gemeinsamen Fernsehabend in ihr Zimmer einzuladen. Hinter dieser Idee stand die vage Hoffnung, Viola möge erkennen, dass auch ein Zimmer ohne Nudel- und Dosenwände sicher war und eigentlich viel netter als ihre Trutzburg. Aber die Furcht, damit die Grenze, die Viola bislang akzeptierte, wieder freizugeben, hatte stets die Hoffnung überwogen.

Die Ravioli blubberten jetzt im Topf, und Anna schaltete die Kochplatte ab. Zum Essen setzte sie sich an ihren Schreibtisch, schaltete den Rechner ein und las ihre E-Mails, während sie die Ravioli direkt aus dem Topf löffelte.

Obwohl sie sich vor gerade mal zehn Minuten von Elena verabschiedet hatte, fand sie schon eine E-Mail mit ihrem Absender vor. Sie musste lächeln. Elena war derart mitteilungsbedürftig, dass sie keine fünf Minuten ohne Kontakt ertragen konnte. Wenn sie mit Anna zusammen war, in der Schule oder auf dem Heimweg, plapperte sie ununterbrochen, und sobald sie getrennt waren, telefonierte sie oder schrieb Mails. Obwohl das mitunter lästig werden konnte, war Anna doch dankbar dafür. Es verhinderte immerhin, dass sie in ihrem chaotischen Zuhause vereinsamte.

Elena mit nach Hause zu nehmen, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Elena würde nicht nur ihre Mutter, sondern auch sie für völlig übergeschnappt halten, und damit wäre ihre Freundschaft wohl beendet. Ganz zu schweigen von den Gerüchten, die fortan in der Schule über sie kursieren würden. Der erste Platz auf der Freak-Hitliste wäre ihr sicher.

Der Topf war leer. Ohne es recht zu bemerken, hatte sie die ganze Dose Ravioli weggefuttert. Sie trug den Topf in die Küche, spülte ihn und nahm ihn wieder mit in ihr Zimmer.

In ihrer Mail schlug Elena vor, sich später zu einem Spaziergang zu treffen. Anna warf einen Blick auf die Uhr und verabredete sich für vier Uhr nachmittags mit ihr. Bis dahin hatte sie ausreichend Zeit, ihre Hausaufgaben zu machen.

Im Wohnzimmer hockte Viola mit hängenden Schultern auf der Couch und lauschte den Geräuschen, die Anna in dem Bemühen verursachte, ein halbwegs normales Leben zu führen. Viola konnte sich kaum erinnern, wann sie das letzte Mal gemeinsam eine warme Mahlzeit eingenommen hatten. Spätestens als sie den Herd in der Küche zugebaut hatte, war es damit vorbei gewesen. Auch der Tisch im Wohnzimmer war bedeckt mit Konserven, Tüten und Zeitungen und ließ für gemeinsame Abendessen keinen Platz mehr. Anna lebte in ihrem Zimmer fast wie in einer eigenen Wohnung.

Manchmal, wenn Anna in der Schule war, öffnete Viola ihre Zimmertür und betrachtete den schönen Raum. Anna hatte zweifellos Talent, was Inneneinrichtung betraf. Das hatte sie wohl von Viola geerbt, auch wenn das heute niemand mehr glauben würde. Viola stellte sich dann vor, wie ihre Tochter in diesem Zimmer lebte, in dem Sessel saß und las oder es sich im Bett gemütlich machte. Letztendlich war sie froh, dass Anna es geschafft hatte, ihr kleines Reich zu verteidigen.

Müde stand Viola auf und trat ans Wohnzimmerfenster. Durch die halb geöffneten Lamellen der Jalousie betrachtete sie die Welt außerhalb ihrer Trutzburg. Die große Wiese vor dem Haus war saftig-grün. Rundherum standen Mehrfamilienhäuser wie das, in dem sie wohnten, erbaut in den Sechzigerjahren und entsprechend einfach gestaltet. An den Hauswänden hatte ein offenbar völlig durchgeknallter Gärtner vor vielen Jahren hässliche Büsche gepflanzt, die jetzt etwa zwei Meter hoch waren, wie Geschwüre an den Wänden klebten und von einem Arbeitertrupp regelmäßig zu scheußlichen Halbkugeln zurechtgestutzt wurden. Mächtige Kastanienbäume und schlanke Birken, dicht belaubt im warmen Sommersonnenschein, luden förmlich ein, sich in ihren Schatten zu setzen und ein Buch zu lesen. Alles schien so friedlich.

Warum konnte sie nicht einfach an diesen Frieden glauben. Es wäre so schön, mit Anna dort draußen zu sitzen und zu plaudern. Sie könnten einen Tisch und Stühle auf die Wiese stellen, Kaffee trinken, vielleicht Karten spielen. Ihre Eltern würden sie sonntagnachmittags besuchen und von ihren Freunden und Nachbarn erzählen, ohne sich ständig besorgte Blicke zuzuwerfen.

Viola seufzte. Ich müsste es noch einmal versuchen, dachte sie und spürte sofort ein flaues Gefühl im Magen. Einfach mal versuchen. Die Angst ignorieren. Vielleicht verschwindet sie, wenn ich sie nicht zur Kenntnis nehme. Aber sie wusste aus Erfahrung, dass es so nicht funktionieren würde.

Seit ihre Mutter sich Einlass in Violas Wohnung verschafft hatte, war sie ständig bemüht, das Leben ihrer Tochter zu verbessern. Zweimal hatte sie Viola bereits zu einem Spaziergang überredet. Der erste Versuch war relativ schnell an einem Panikanfall Violas gescheitert. Beim zweiten Mal hielt sie es etwas länger aus und konnte tatsächlich ein paar Minuten in Freiheit genießen. Margret hatte den nächsten Versuch bereits angekündigt.

Nach ihrem ersten Besuch in der Wohnung hatte sie außerdem vorgeschlagen, Viola einmal in der Woche zum Einkaufen zu begleiten. So wollte sie ihr einerseits Sicherheit geben und andererseits verhindern, dass sie weiterhin Berge von Lebensmitteln nach Hause schleppte. Es war jedes Mal ein mühsames Unterfangen, wurde aber von Montag zu Montag spürbar besser. Viola kaufte nicht mehr so furchtbar viel ein, und die Angst, das Haus zu verlassen, war etwas geringer geworden.

Sie hörte Annas leichte Schritte im Flur und wandte sich um.

»Ich bin noch mal weg. Zu Elena. Bis später.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie.

Viola wandte sich wieder dem Fenster zu. Ich muss es versuchen, dachte sie wieder.

Als die Angst sich damals in ihrem Leben einzurichten begann, konnte sie das Haus zunächst überhaupt nicht mehr verlassen. Noch während sie versuchte, die Wohnungstür zu öffnen, wurde ihr schlecht. Ihre Knie und Hände zitterten, und Panik verschleierte ihren Blick. Jedes Mal war sie sofort wieder in ihr Zimmer zurückgekrochen. Doch auch in der Wohnung fühlte sie sich nicht mehr sicher. Es war alles so offen, so ungeschützt.