Erst eins, dann zwei ... - Erika Kroell - E-Book

Erst eins, dann zwei ... E-Book

Erika Kroell

4,2

Beschreibung

Das neue Jahr ist erst wenige Stunden alt, als die beiden Ermittlerinnen Daniela Flegel und Maxine Kraut auch schon wieder vor einer neuen Aufgabe stehen: Im beschaulichen Ahrtal, das im Winterschlaf vor sich hindämmert, wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Dass dies erst der Auftakt zu einer bizarren Mordserie ist, ist den beiden Polizistinnen zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Doch schon bald geschehen weitere Morde, und sie stehen vor einer der größten Herausforderungen ihrer bisherigen Laufbahn. Die Opfer sind alle weiblich, doch das ist offenbar auch das einzige, was sie miteinander verbindet. Es gibt im Umfeld keine erkennbaren Feinde, keine möglichen Motive, die Frauen sind weder gequält noch verstümmelt worden, die Morde so kaltblütig und leidenschaftslos ausgeführt, dass sie auch kaum als Taten eines Triebverbrechers in Betracht kommen. Erst die ungewöhnliche Begegnung mit dem jungen Autisten Ralph bringt die Polizistinnen auf eine entscheidende Spur. Das verbindende Element ist: Die perfekte Zahl. Und schon bald finden sich die beiden in einem finsteren Verwirrspiel im Labyrinth der Zahlenmagie wieder.

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Erika KroellErst eins, dann zwei …

Erika Kroell lebt und arbeitet als Rundfunk-Journalistin und Schriftstellerin im Ahrtal. Sie hat mehrere Krimis und phantastische Romane verfasst und ist Autorin zahlreicher Kurzgeschichten in beiden Genres. Sie ist Mitglied im Deutschen Sherlock-Holmes-Club, bei MinD, bei den »Sisters in Crime« und im Verband deutscher Schriftsteller.

Nach »Dunkle Schwestern« und »Irre« ist »Erst eins, dann zwei …« ihr dritter Titel im Programm des KBV.

Erika Kroell

Erst eins, dann zwei …

Originalausgabe© 2008 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlagillustration: Ralf KrampRedaktion: Nicola Härms, RheinbachSatz: Volker Maria Neumann, KölnISBN 978-3-940077-30-1E-Book-ISBN 978-3-95441-076-7

Für Paul

1. Kapitel

Dienstag, 1. Januar

Soll ich dir nicht doch ein Taxi rufen, Liebes?« Linda öffnete die Haustür und sah zweifelnd in die eisige Nacht hinaus. »Es ist verdammt kalt.«

»Ach was, es sind doch nur ein paar Schritte.« Martina schlang ihren weichen Wollschal fester um den Hals und zog die Lederhandschuhe an. Dann legte sie die Arme um ihre Freundin und zog sie an sich. »Das war wirklich eine tolle Party. Ich bin froh, dass ich mich doch noch entschlossen hab zu kommen. Viel besser, als allein zu Hause herumzusitzen.«

Linda küsste sie auf die Wange. »Allerdings. Ich wäre dir auch ernsthaft böse gewesen, wenn du nicht gekommen wärst. Pass gut auf dich auf, und erfriere nicht unterwegs.«

Vorsichtig stieg Martina die wenigen Stufen zum Gehweg hinab. Mit ihren hohen Absätzen wollte sie keinen Ausrutscher auf der glatten Treppe riskieren. Der Gehweg war zum Glück trocken. Mit einem letzten Winken trat sie den Heimweg an. Sie begann bereits zu frieren, doch die paar Meter bis zu Hause würde sie schon aushalten.

Ihr Atem blieb als kleine, weiß dampfende Wölkchen hinter ihr zurück, als sie mit festen Schritten die Straße entlangstöckelte. Es war wirklich verdammt kalt. Allmählich bedauerte sie doch, kein Taxi genommen zu haben. Obwohl das Neue Jahr schon drei Stunden alt war, hörte sie noch hin und wieder die Explosionen von Feuerwerkskörpern, und über den schwarzen Himmel sprühten bunte Funkenregen. Ein Feuerwerk extra für mich, dachte sie fröhlich.

Das würde ein gutes Jahr werden. Ihre neue Position als Filialleiterin der Bank war eine Herausforderung, die sie mit Bravour meistern würde. Dann stand ihrem weiteren Aufstieg nichts mehr im Wege. Sie konnte es kaum erwarten, in das neue, größere Büro umzuziehen. Der einzige Wermutstropfen war Hans Waldecker, der ebenfalls mit der Beförderung gerechnet hatte. Nun war sie seine direkte Vorgesetzte. Das würde ihm nicht gefallen, aber sie hoffte, dass er sich bald damit abfinden konnte. Streitereien waren ihr verhasst. Klar, dass seine Niederlage noch schwerer für ihn wog, als wenn er gegen einen Mann verloren hätte. Es würde ihm nicht leicht fallen, sich ihr unterzuordnen. Notfalls muss ich ihn in eine andere Abteilung versetzen, dachte sie. Der Gedanke, dass sie das tun konnte, machte ihr Freude. Aber, verdammt, sie hatte sich diesen Erfolg wahrhaftig verdient. Die letzten Jahre hatte sie nur geschuftet, um weiterzukommen. Ihr Privatleben ging inzwischen schon so sehr am Stock, dass sie tatsächlich keine Lust gehabt hatte, zu Lindas Silvesterparty zu gehen. Jetzt war sie froh, dass sie sich doch noch aufgerafft hatte.

Ihr Gesicht war vor Kälte schon ganz taub. Sie zog den Schal enger um den Hals und hoch bis über die Ohren. Noch ein paar Minuten, dann würde sie sich in ihrer warmen Wohnung einen Absacker gönnen.

Auf der Party, inmitten gut gelaunter und festlich gekleideter Menschen, war ihr klar geworden, dass sie sich wieder etwas mehr um sich selbst und ihr Leben außerhalb der Bank kümmern musste. Das würde nicht zwangsläufig bedeuten, ihre Karriere zu vernachlässigen.

Linda hatte einige ihrer Kollegen von der Uni eingeladen, die Martina noch nicht kannte. Einige recht interessante Leute, intelligent und unterhaltsam. Und attraktiv, dachte Martina und schmunzelte in ihren Schal hinein.

Tief in Gedanken versunken, hörte sie die Schritte ihres Verfolgers nicht. Als sich eine kalte Hand auf ihr Gesicht presste, gab sie nur einen kurzen, erschrockenen Laut von sich. Noch bevor sie begriff, dass sie gerade überfallen wurde, drang etwas Spitzes durch ihren Mantel in ihr Herz und brachte es augenblicklich zum Stillstand.

Seine Hände zitterten, nicht vor Kälte, sondern vor Aufregung. Die blutige Waffe in der Hand, stand er über der zusammengesunkenen Frau und starrte auf sie hinab. Sein Herz trommelte in der Brust, und er fühlte sich ein wenig schwindlig. Er hatte nicht erwartet, dass seine Tat ihn so erregen würde. Er hob die Waffe und ließ das Licht einer weit entfernten Straßenlaterne in der nassen Spitze widerspiegeln. Ein seltsam befriedigender Anblick.

In der Ferne erklangen Stimmen. Rasch steckte er die Waffe in die Jackentasche, bückte sich und fasste die Frau unter den Armen. Sie war schwerer, als er vermutet hatte, und es kostete ihn einige Mühe, den toten Körper vom Bürgersteig durch die Hecke zu zerren. Keuchend ging er neben der Leiche in die Hocke und lauschte den näher kommenden Stimmen. Er identifizierte eine Frauen- und zwei Männerstimmen. Als sie auf seiner Höhe waren, hielt er den Atem an, damit ihn sein Keuchen nicht verriet. Wenige Sekunden später waren sie vorüber, und ihre Stimmen verklangen in der eisigen Nacht.

Er atmete aus und ließ seinen Blick über den toten Körper gleiten. Seltsam, wie schnell ein Leben zu Ende gehen konnte. Sie hatte noch viele Pläne gehabt, die sich nun einfach in Nichts auflösten. Ein weiterer Beweis dafür, wie sinnlos es war, Pläne für die Zukunft zu schmieden. Er hätte allerdings keinen weiteren Beweis gebraucht. Seine eigene Zukunft zu planen, hatte er schon lange aufgegeben. Wozu etwas planen, das es nicht geben würde?

2. Kapitel

Samstag, 2. Februar

Irgendwo in der Stadt spielte ein Tambourcorps. Annette hörte die schrillen Querflöten, die, einem ungeschriebenen Gesetz folgend, wie immer kurz neben den richtigen Tönen lagen und ihr Gehör enorm strapazierten. Dennoch steigerte das musikalische Desaster ihre Vorfreude auf den Nachmittag. Vor dem großen Spiegel im Schlafzimmerschrank überprüfte sie ihr Kostüm. Der lange schwarze Rock, dazu die violette Bluse, violette Handschuhe und der riesige Hut: die perfekte Obermöhn, dachte sie und winkte sich selbst hoheitsvoll zu.

»Wann kommst du wieder, Mama?« Überrascht wandte Annette sich um. Sie hatte Jennis Eintreten gar nicht bemerkt. Jenni lehnte am Türrahmen und sah mit großen Augen zu ihr auf.

»Ich weiß es noch nicht, Schatz. Vielleicht um acht, vielleicht aber auch erst später. Papa kümmert sich um euch, okay?«

Jenni nickte stumm.

Annette griff nach ihrer Handtasche, die auf dem Bett stand, und drehte sich noch einmal schwungvoll vor dem Spiegel. Dann gab sie Jenni einen Abschiedskuss. Fabian hockte im Wohnzimmer vor dem Fernseher und sah sich eine Kinderserie an. Ihren Kuss nahm er kommentarlos entgegen und wandte nicht den Blick vom Bildschirm.

In der Küche bearbeitete Friedhelm einige bedauernswerte Kartoffeln mit dem Schälmesser. Heute war er für das Abendessen zuständig. Annette verkniff sich ein Grinsen. Wenn das mal ohne größere Verletzungen abging …

Sie streichelte ihm über die Wange. »Ich bin jetzt weg. Bis heute Abend.«

»Viel Spaß«, sagte er ohne aufzublicken. Annette seufzte und ging hinaus.

Ein scharfer Wind fegte durch die Straße, trieb trockenes Laub und zerfetzte Luftschlangen vor sich her und griff unter ihren breitrandigen Hut. Sie senkte rasch den Kopf und hielt die gefiederte Pracht mit einer Hand fest.

Endlich mal wieder ein Nachmittag ohne Arbeit und ohne Kinder. Sie war fest entschlossen, jede einzelne Minute zu genießen. Sie wollte Kaffee und Kuchen, Wein und Sekt, Pommes und Würstchen, und sie würde jeden Karnevalsschlager aus voller Brust mitsingen. Und keine Minute früher als unbedingt notwendig nach Hause gehen.

Gegen den Wind geduckt marschierte sie an der Ahr entlang in Richtung Ahrweiler. Hatte sie genug Geld dabei? Ohne stehen zu bleiben öffnete sie ihre Handtasche, griff nach dem Portemonnaie und zählte zum dritten Mal das Geld. In den letzten Wochen hatte sie so oft wie möglich etwas von ihrem Lohn abgezweigt, um sich diesen Nachmittag leisten zu können. Das hatte sie Friedhelm nicht erzählt, aber vermutlich ahnte er es. Er würde kaum annehmen, dass sie ohne Geld in der Tasche zum Möhnenkaffee ginge. Sie wusste, dass er ihr trotz des mürrischen Abschieds eben diese wenige freie Zeit gönnte. Jedes Jahr zu Karneval war er bereit, sich den ganzen Nachmittag allein um die Kinder zu kümmern. Er war ein guter Mann, aber sie wusste auch, dass aus ihrem Leben nichts Besseres werden würde. Es würde eher schlimmer werden. Das Geld wurde immer knapper, die Ausgaben immer höher. Sie würde zeitlebens Putzfrau bleiben und er Fabrikarbeiter.

Mit einem Kopfschütteln versuchte sie, sich von diesen deprimierenden Gedanken zu befreien. Morgen konnte sie wieder verzweifelt sein. Heute wollte sie sich amüsieren.

Sie hob den Blick, um zu sehen, wie weit sie noch laufen musste. In der Ferne konnte sie bereits die Mauern des Friedhofs erkennen. Bald hatte sie es geschafft.

Ein dicker Clown kam ihr entgegen. Seine runde, rote Nase leuchtete aus seinem weiß geschminkten Gesicht hervor, und der rot-weiß bemalte Mund grinste von einem Ohr zum anderen. Annette lächelte ihm zu. Unter all der Schminke konnte sie nicht erkennen, ob er oder nur seine Maske zurücklächelte. Der Clown ging zügig an ihr vorbei. Sekunden später spürte sie eine Hand auf der Schulter, und ein stechender Schmerz durchzuckte ihre Brust. Den kalten Boden, auf dem sie zusammenbrach, spürte sie schon nicht mehr.

Diesmal war es anders. Nicht mehr so aufregend wie beim ersten Mal. Außerdem hatte er keine Zeit, bei der Leiche zu verweilen. Es war heller Tag. Jeden Moment konnte ein Spaziergänger auftauchen und ihn entdecken. Er lief so rasch wie möglich den Ahrweg entlang, bis er zwischen den ersten Häusern verschwinden konnte. Schade. Er wäre gern ein wenig länger geblieben.

3. Kapitel

Montag, 3. März

Das Telefon klingelte. Andrea sah auf ihre Armbanduhr. Schon nach sieben. Nein, sie würde nicht mehr drangehen. Genug für heute. Der erste Arbeitstag nach dem Urlaub war anstrengend gewesen. Sie brauchte nach einer längeren Freizeit immer etwas Anlauf, um sich wieder im Arbeitsleben zurechtzufinden. Diese Zeit war ihr heute nicht vergönnt gewesen. Zu viele Termine, zu viele Menschen, die sich in ihrem Büro stritten und aufeinander herumhackten. Und viel zu selten hatte sie das Gefühl, dass ihre Gespräche mit den Ehepaaren und Familien tatsächlich zu einer Verbesserung der Situation führten. Manchmal konnte sie die Beteiligten beruhigen und zu einer vernünftigen Aussprache führen, aber wie lange dieser momentane Erfolg anhielt, war kaum abzuschätzen. Vermutlich stritten sie sich schon, kaum dass sie wieder zu Hause waren. Es war frustrierend.

Sie schaltete die Schreibtischlampe aus und stand auf. Müde schlüpfte sie in ihren Mantel. Der erste Arbeitstag, und sie war schon wieder urlaubsreif. Sie schaffte es kaum noch, in sich die angenehmen Erinnerungen an den warmen Sand, das kühle Meer, die erfrischenden Drinks an der Bar wachzurufen. Das alles schien schon in weite Ferne gerückt. Am liebsten wäre sie gleich wieder zu einem weiteren Urlaub aufgebrochen. Aber diesen Gedanken musste sie wohl einige Monate verschieben.

In der dunklen Tiefgarage parkten nur noch wenige Autos. Ihre Schritte hallten auf dem harten Beton. Die Luft war stickig und stank nach Abgasen und Benzin. Neben ihrem roten Nissan stand ein großer, schwarzer Geländewagen von der Sorte, die sie protzig und überflüssig fand. Wozu brauchte man in der Stadt schon einen Vierradantrieb. Alles Quatsch und nur was für Angeber.

Sie schloss ihren Wagen auf, als sie schnelle Schritte hinter sich hörte. Rasch drehte sie sich um und sah einen Schatten auf sich zukommen. Dann wurde sie gegen das Auto gedrückt und mit einem einzigen Stich ins Herz getötet.

Mist. Er war spät dran. Die dumme Kuh hatte Überstunden geschoben, und das gleich an ihrem ersten Arbeitstag. Damit hatte er nicht gerechnet, und jetzt lief ihm die Zeit davon. Im Schein einer Straßenlaterne warf er einen Blick auf die Uhr. Wenn er rannte, könnte er es vielleicht noch schaffen.

4. Kapitel

Montag, 10. März

Dani knallte die Bürotür zu, ließ sich in ihren Schreibtischstuhl fallen, sprang mit einem Stöhnen sofort wieder auf und zog ihre Walther P 5 aus dem rückwärtigen Bund ihres Rocks. Das Tragen eines Pistolenholsters hatte sie sich schon längst abgewöhnt. Die merkwürdige Ausbeulung im Jackett eines schicken Kostüms fand sie völlig inakzeptabel. Sie legte die Waffe auf den Schreibtisch, griff nach ihren Zigaretten und zündete sich eine an. Kraut warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Dann stand sie auf und öffnete das Fenster. Obwohl Dani in den vergangenen Jahren ihren Zigarettenkonsum enorm reduziert hatte, wollte Kraut diese selbstzerstörerische Angewohnheit nicht kommentarlos hinnehmen. Da war ein schiefer Blick das Mindeste.

»Kraut, wir haben ein Problem.« Dani stand schon wieder auf und ging zur Kaffeemaschine neben der Tür. Sie goss die tintenschwarze Brühe in ihre Tasse, nahm einen Schluck und verzog angeekelt das Gesicht.

»Ich weiß«, sagte Kraut. Sie wandte sich zu Dani um und grinste. »Ich hab’s schon gesehen.«

Dani sah sie fragend an. »Was hast du gesehen?«

»Die ersten Fältchen um deine Augen«, grinste Kraut. »Mensch, Flegel, was machen wir da bloß?«

Dani schüttelte ungeduldig den Kopf. Dass Kraut sie stets nur mit ihrem Nachnamen Flegel anredete, daran hatte sie sich in den vergangenen Jahren gewöhnt. Kraut selbst bestand darauf, ausschließlich mit ihrem Nachnamen angesprochen zu werden. Aber mit Krauts blöden Witzen tat sie sich nach wie vor schwer. Diese Frau hatte einen seltsamen Humor. Sie füllte frisches Wasser in die Kaffeemaschine und überging Krauts Bemerkung kommentarlos.

»Wir haben drei Mordopfer und nicht die geringste Ahnung, wer sie auf dem Gewissen hat. Die Presse berichtet nicht gerade wohlwollend über unsere Arbeit, was ich, ehrlich gesagt, sogar irgendwie verstehen kann. Und ich fürchte, dass allmählich Panik in der Bevölkerung entsteht. Bald wird sich keine Frau mehr im Dunkeln aus dem Haus trauen.« Die Kaffeemaschine begann zu brodeln. Dani setzte sich wieder Kraut gegenüber, die sie jetzt ernst ansah.

»Na ja«, sagte sie, »die Tage werden ja jetzt auch wieder länger.«

Dani seufzte. »Könntest du bitte aufhören, blöde Witze zu reißen? Drei Tote in acht Wochen sind nicht witzig.«

Sie öffnete einen Aktenordner, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Erst vor einer Woche war er aus zwei anderen Akten zusammengefügt worden. Da hatte man das dritte Mordopfer gefunden, und sie wussten: Sie hatten eine Serie am Hals.

»Lass uns noch mal ganz von vorne anfangen. Wir müssen irgendwas übersehen haben. Irgendeine Gemeinsamkeit, ein Motiv, ein Indiz oder vielleicht sogar eine Spur. Es kann doch nicht sein, dass er überhaupt keine Spuren hinterlässt.«

»Ganz so ist es ja auch nicht«, wandte Kraut ein. »Wir haben ein paar Haare gefunden, die nicht zu den Opfern gehörten. Und die Waffe scheint auch außergewöhnlich zu sein. Lang und spitz, kein Messer. Wahrscheinlich so was wie ein Eispickel. Aber das alles nützt uns natürlich erst etwas, wenn wir einen Verdächtigen und eine mögliche Tatwaffe haben.« Sie blickte Dani an, aber die starrte in die Akte.

»Also gut. Alles zurück auf Anfang. Zuerst sollten wir mal das kleine Wörtchen ‚er’ aus unserem Wortschatz streichen oder es zumindest nicht geschlechtsspezifisch benutzen. Der Mörder könnte auch eine Frau sein.«

Dani nickte. »Stimmt. Nichts deutet darauf hin, dass der Täter männlich ist. Außer, dass die Statistik dafür spricht. Serientäter sind fast immer männlich. Mörder sind ebenfalls meist männlich.«

Sie nahm drei Fotos aus der Akte und heftete sie an eine große Korkpinnwand neben dem Fenster.

»Martina Senckel, Annette Schmidt, Andrea Mannheim. Mit dem dritten Fall können wir davon ausgehen, dass es sich tatsächlich um einen Serientäter handelt.«

Kraut nickte zustimmend. »Das bedeutet, dass die Opfer irgendetwas gemeinsam haben müssen. Reicht es aus, dass sie weiblich sind?«

»Könnte sein«, sagte Dani, »aber an den Morden an sich ist nichts, was auf die Bedeutung der Weiblichkeit hinweist. Sie wurden nicht vergewaltigt und nicht verstümmelt. Kein sexueller Aspekt erkennbar. Und keine besondere Grausamkeit.«

Die Kaffeemaschine verkündete mit einem lauten Zischen das erfolgreiche Ende ihrer Arbeit. Dani goss zwei Tassen ein und stellte eine vor Kraut auf den Tisch.

In der nächsten Stunde füllte sich die Korkwand mit Informationen und Fotos. Die drei Fotos von Frauen unterschiedlichen Alters bildeten schließlich die Spitze von drei Listen. Martina Senckel war neunundvierzig und trug ihr blondes Haar in einem halblangen Pagenkopf. Annette Schmidt und Andrea Mannheim waren beide dunkelhaarig, die eine einundvierzig Jahre alt, die andere zweiunddreißig.

»Sie werden jünger«, stellte Dani fest.

»Was ist mit ihren Berufen?«

Dani tippte mit dem rot lackierten Zeigefingernagel auf die jeweilige Stelle auf der Korkwand. »Filialleiterin einer Bank, Putzfrau und Familientherapeutin. Nichts Gemeinsames. Nr. 1 war geschieden, Nr. 2 verheiratet und Mutter von zwei Kindern, Nr. 3 ledig.«

Sie setzte sich wieder an den Schreibtisch.

»Er tötet im Abstand von etwa vier Wochen. Hat vielleicht etwas mit den Mondphasen zu tun.«

Nr. 1 war am Neujahrsmorgen gefunden worden. Zwei Pärchen auf dem Heimweg von einer Silvesterparty hatten die Frau hinter einer Hecke am Straßenrand entdeckt, nur wenige hundert Meter von ihrer Wohnung auf dem Neuenahrer Johannisberg entfernt.

Nr. 2 hatte es Anfang Februar erwischt. Sie war auf dem Weg zu einer Möhnensitzung in Ahrweiler, kam aber nie dort an.

Nr. 3 wurde Anfang März nach der Arbeit in der Tiefgarage unter einem Bürohaus in Bad Neuenahr ermordet.

Kraut schüttelte den Kopf. »Mondphasen, nein, glaub ich nicht. Wenn’s ein Werwolf wäre, sähen die Opfer nicht so gut aus.« Sie deutete auf die Fundortfotos. »Kaum Blut. Ein schneller, gezielter Stich ins Herz, und tot.«

»Lass uns mal einen Blick auf die möglichen Motive werfen«, sagte Dani. »Nr. 1 war gerade befördert worden und hatte einen oder vielleicht auch mehrere Neider unter ihren Kollegen. Außerdem hat sie sicherlich einige Kreditanträge abgelehnt. Mit ihrem geschiedenen Mann verstand sie sich angeblich gut, aber da könnte auch was drinstecken.«

Kraut klopfte mit einem Kugelschreiber auf den Schreibtisch. »Du erinnerst dich, dass wir sämtliche Verdächtigen überprüft haben? Da war nichts. Genauso wenig wie bei Nr. 2. Da gab es noch nicht mal einen wirklich Verdächtigen, abgesehen vom Ehemann. Und der hatte ein Alibi.«

Das Umfeld des dritten Mordopfers war noch nicht vollständig überprüft worden. Als Familientherapeutin hatte sie sich möglicherweise den Hass eines Klienten eingehandelt. Bei den ersten Ermittlungen waren die beiden Polizistinnen jedoch auf nichts Herausragendes gestoßen.

Ratlos saßen sie am Schreibtisch und starrten die Korkwand an. »Wenn er tatsächlich alle vier Wochen mordet, haben wir noch etwa drei Wochen, um den nächsten Mord zu verhindern«, stellte Kraut fest. »Das sieht nicht gut aus. Lass uns mal genau die Tage nachzählen. Möglicherweise könnten wir die Bevölkerung wenigstens warnen, wenn wir ihn bis dahin nicht kriegen.« Sie nahm einen Notizblock aus der Schublade und schrieb. »Also, vom 1. Januar bis zum 2. Februar sind es … dreißig plus zwei … zweiunddreißig Tage. Vom 2. Februar bis zum 3. März sind es – hatte der Februar achtundzwanzig oder neunundzwanzig Tage?« Sie blickte auf. Dani klopfte nachdenklich mit einem Fingernagel gegen ihre Schneidezähne. »Neunundzwanzig dieses Jahr«, antwortete sie abwesend.

Kraut wandte sich wieder ihren Notizen zu. »Also zwei bis neunundzwanzig sind siebenundzwanzig und dann noch mal drei dazu, also dreißig. Hm. Das erste Mal zweiunddreißig Tage, das zweite Mal dreißig Tage. Kürzere Abstände. Nicht ungewöhnlich. Das könnte bedeuten, dass er beim dritten Mal nur achtundzwanzig Tage verstreichen lässt. Das wäre dann …« Sie murmelte vor sich hin und verkündete schließlich: »Der 31. März.«

Sie blickte Dani an, doch die schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht. Schau dir noch mal die Todesdaten an.« Kraut sah zur Pinnwand hoch.

1.1., 2.2., 3.3.

»Es ist der 4. April«, sagte sie, und Dani nickte stumm.

»Was ist der 4. April für ein Wochentag?« Dani blätterte in ihrem Kalender. »Ein Freitag. Die anderen Todestage waren«, sie blätterte zurück, »Dienstag, Samstag und Montag. Keine Struktur erkennbar.« Sie beschriftete drei Zettel mit den Namen der Wochentage und heftete sie unter das jeweilige Todesdatum.

Beide betrachteten die Pinnwand.

»Schreib die Haarfarben dazu«, sagte Kraut. »Und die Figur.«

Dani tat es. Die Frauen wiesen zwar einige Gemeinsamkeiten auf – zwei waren dunkelhaarig, zwei schlank, zwei mittelgroß –, doch es gab kein Muster, das auf alle drei zutraf.

Martina Senckel* 11.3.1958, 49 J.+ 1.1.2008DienstaggeschiedenBankerinBlond, halblangMittelgroß, schlank

Annette Schmidt* 17.8.1966, 41 J.+ 2.2.2008SamstagVerheiratet, zwei KinderPutzfrauDunkel, kurzKlein, schlank

Andrea Mannheim* 21.5.1975, 32 J.+ 3.3.2008MontagLedigFam.-TherapeutinDunkel, halblangMittelgroß, füllig

»Meine Güte, Flegel. Füllig? Was ist denn das für ein altmodisches Wort.« Kraut runzelte missbilligend die Stirn. »Schreib fett.«

Dani sah sie mit hochgezogener Augenbraue an. »Und was schreibe ich bei dir? Muskelbepackt? Oder doch lieber klein und stämmig?«

Sie ließ »füllig« hängen. Kraut grunzte nur.

Dann betrachteten sie wieder ihre Pinnwand. »Der Altersunterschied wird um ein Jahr größer«, sagte Kraut. »Erst acht Jahre, dann neun Jahre. Ob das was bedeutet?«

Dani stützte ihre Stirn in die Hand. »Keine Ahnung. Zu viele Zahlen für mich. Ich brauch noch `nen Kaffee.«

Sie füllte auch Krauts Tasse wieder auf.

»Angenommen, unsere Theorie mit dem 4.4. stimmt«, sagte Kraut, »weißt du, was das bedeutet?«

Dani nickte. »Dass wir Weihnachten unsere Ruhe haben. Es sei denn, er fängt im nächsten Jahr von vorne an. Aber das wäre irgendwie langweilig.«

»Nicht unbedingt«, antwortete Kraut. »Vielleicht macht er im nächsten Jahr mit 2.1., 3.2. und 4.3. weiter. Das könnte in alle Ewigkeit so weitergehen.«

»Nicht in alle Ewigkeit. Höchstens so … na … zwanzig Jahre vielleicht.«

»Danke für dieses trostreiche Wort. Macht dann zweihundertvierzig Mordopfer. Wir werden in die Kriminalgeschichte eingehen.«

Dani nippte an ihrem Kaffee, der schon abkühlte. »Diese drei Frauen haben nichts gemeinsam. Keine gemeinsamen Bekannten, jedenfalls soweit wir wissen. Keine gemeinsamen Interessen. Nichts. Diese Tage, diese Daten müssen etwas bedeuten. Nur ein Feiertag, nämlich Neujahr, und ein Karnevalssamstag. Nicht von Bedeutung, denke ich. Vielleicht irgendwelche Jahrestage, Todestage, Geburtstage, so etwas in der Art.«

Kraut legte die Füße mit den Cowboystiefeln auf den Tisch. »Keine Geburtstage der Opfer jedenfalls. Wenn die Daten für den Täter von Bedeutung sind: Wie viele Tage von Bedeutung kann ein Mensch haben, und dann auch noch in einer so ansprechenden Reihenfolge?« Sie schüttelte den Kopf. »Nee, kann ich mir nicht vorstellen.«

»Dann haben die Daten vielleicht für die Opfer eine Bedeutung. Müssen wir überprüfen.«

»Möglicherweise macht er das auch nur aus ästhetischen Gründen. 1.1., 2.2., 3.3. Hat doch was. So ordentlich. Ein psychopathischer Pedant. Oder ein pedantischer Psychopath. Für alle Fälle sollten wir die Theorie mit dem 31. März im Hinterkopf behalten.«

Abends um sieben schaltete Kraut ihren Computer aus und streckte sich. »Ich muss nach Hause. Luki wartet.«

Sie schlüpfte in ihre abgewetzte Lederjacke.

»Kommst du mit? Wir könnten uns unterwegs was zu essen mitnehmen.«

Dani überlegte nur kurz und stimmte zu.

Kraut griff zum Telefon und wählte ihre eigene Nummer.

»Hallo, Luki, ich bin’s. Hast du schon was zu essen gemacht? Gut, ich bringe uns was mit. Dani kommt auch mit.«

Sie legte auf und stapfte aus dem Büro. Dass sie Dani ausschließlich im Gespräch mit ihrem Bruder nicht »Flegel« nannte, schien ihr selbst gar nicht aufzufallen. Dani lächelte.

Lukas stand in der offenen Haustür, als Kraut und Dani ihre Wagen neben dem Haus parkten. Dani war sicher, dass er sofort nach Krauts Anruf dort Position bezogen hatte.

Kraut und ihr Bruder lebten in einem kleinen, hundertfünfzig Jahre alten Fachwerkhaus in Rech. Seit ihre Eltern vor zehn Jahren bei einem Autounfall gestorben waren, kümmerte sich Kraut rührend um ihren vier Jahre jüngeren Bruder.

Lukas umarmte seine um fast zwei Köpfe kleinere Schwester heftig und zerstrubbelte ihren blonden Bürstenkopf. Dann nahm er Dani ganz zart in seine starken Arme.

»Du bist wunderschön«, sagte er leise, und Dani fiel auf, dass seine obligatorische Begrüßung jedes Mal ein wenig wehmütiger klang. Das, fürchtete sie, würde irgendwann ein unschönes Ende nehmen. Hoffentlich nicht zu bald.

Sie setzten sich um den Küchentisch und aßen die Grillhähnchen, die Kraut in Ahrweiler gekauft hatte. Sie waren noch warm und schmeckten köstlich.

Lukas erzählte, dass er morgens den Hof der Behindertenwerkstatt gekehrt hatte. Nachmittags war er mit einer ganzen Truppe in einen Wohnblock aufgebrochen, wo sie Hecken schnitten und Sträucher pflanzten. Diese Arbeit machte ihm besonders viel Spaß.

»Manchmal wünsche ich mir auch, ich könnte Bäume und Sträucher pflanzen«, sagte Dani. »Ich wäre gern Gärtner geworden.«

Lukas streichelte ihren Unterarm. »Dann mach das doch einfach«, sagte er und strahlte sie an. »Maxi sagt, man kann alles machen, was man will.«

Dani betrachtete das glückliche, runde Kindergesicht dieses erwachsenen Mannes. War er der lebende Beweis für Krauts Theorie, oder war das nur eine Illusion, gespeist aus schwesterlicher Liebe und den Besonderheiten des Down-Syndroms?

»Ja, vielleicht mache ich das irgendwann einmal. Wenn Maxi und ich alle bösen Männer gefangen haben.«

Kraut verzog das Gesicht, als hätte sie Zahnschmerzen. Die Abkürzung ihres Vornamens Maxine aus dem Mund ihrer Kollegin zu hören – niemand außer Lukas benutzte ihn –, bereitete ihr auch nach Jahren noch körperliche Pein.

Sie hatte Flegel vor vier Jahren kennengelernt, als diese aus Kiel ins Ahrtal umgezogen war – einer Liebe wegen, die inzwischen über den Jordan gegangen war. Zuerst mochte sie sie nicht, diese gestylte schöne Frau, die eher in ein Modelstudio als ins Morddezernat gepasst hätte, doch während ihres ersten gemeinsamen Falles hatte Flegel es geschafft, sie derart zu beeindrucken, dass sie ihre Vorbehalte aufgab und sich ganz langsam eine Freundschaft entwickelte. Bei Flegels erstem Besuch in Krauts Zuhause hatte Lukas ihr Krauts Vornamen verraten, und sie hatte Flegel unter Todesdrohungen schwören lassen, ihn niemals zu benutzen. Flegel hielt sich daran, außer wenn Lukas dabei war.

Nach dem Essen setzten sie sich ins Wohnzimmer und tranken einen Scotch, während Lukas seine Lieblingsserie im Fernsehen verfolgte. Ihr halblautes Gespräch drehte sich um den aktuellen Serienfall, doch sie vermieden Worte wie Mörder, Opfer oder Leiche. Kraut fürchtete, Lukas mit ihrer Arbeit zu sehr zu beunruhigen, und beschränkte sich im Gespräch mit ihm stets darauf, »böse Männer« zu fangen. Das stellte Lukas völlig zufrieden.

5. Kapitel

Als Kraut am nächsten Morgen in das Büro stiefelte, saß Dani bereits am Schreibtisch, die erste Tasse Kaffee vor sich, und starrte grübelnd die Pinnwand an.

»Morgen, Sherlock. Neue Erkenntnisse?«

Dani schüttelte den Kopf.

»Nichts. Ich hab mir die Morddaten noch mal vorgenommen und versuchsweise auch weiter hochgerechnet, also 5.5., 6.6. und so weiter. Ich kann, abgesehen von der Steigerung und der Ästhetik, keine Zusammenhänge erkennen. Keine Feiertage. Vielleicht sind es Todestage berühmter Personen …«, sie rieb sich mit der Hand über die faltenlose Stirn, »… oder bekannter Krimineller.«

Kraut setzte sich.

»Mir scheint, das ist ein weites Feld«, sagte sie.

»Richtig, es könnten auch Literaturzitate sein.«

Kraut runzelte verständnislos die Stirn.

Dani stand auf und schlenderte zum Fenster. »Oder Bibelverse.« Abrupt wandte sie sich zu Kraut um. »1.1., 2.2., 3.3., werden so nicht die Psalmen beziffert?«

Wieder nur fragendes Stirnrunzeln.

»Die Bibel, Kraut, ich rede von der Bibel. Religiöse Motive sind nicht selten bei Serienmördern.«

»Psalmen, ja? Nicht, dass ich das Wort noch nie gehört hätte, aber was sind Psalmen denn genau?«

»Gottloses Weib«, schimpfte Dani und setzte sich an den Rechner. »Psalmen sind Verse, in denen Teile der Bibel verfasst sind. Einer der bekanntesten ist Psalm 23. Den kennst du sicher.« Sie warf Kraut einen fragenden Blick zu und erntete weiteres Unverständnis.

»Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir mangeln?«, zitierte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

Kraut nickte vage. »Jaaa, kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Na, Gott sei Dank. Ich fürchtete schon um deine unsterbliche Seele.«

Dani wandte sich dem Rechner zu. »Ich werde jetzt ein wenig in der Bibel lesen. Vielleicht suchst du in der Zeit nach Todes- oder Geburtsdaten berühmter Menschen.«

Wortlos schaltete Kraut ihren Rechner an. Flegel hatte manchmal so eine Art, dass sie ihr am liebsten ihre Pfennigabsätze in den gebildeten Schädel gerammt hätte.

Zwanzig Minuten später lehnte sie sich zurück.

»Allzu viel über Geburts- und Todestage gibt es nicht.« Dani unterbrach ihre Recherche und sah sie erwartungsvoll an.

Kraut überblickte ihre Notizen.

»Am 1.1. geboren sind Idi Amin, Lorenzo di Medici und Rocky Graciano. Den kenne ich.« Sie blickte auf und sah gerade noch, wie Dani mit den Augen rollte.

»Am 2.2. sind James Joyce geboren und Valéry Giscard d’Estaing. Die Dame ist mir unbekannt.«

»Ja, schon klar«, kommentierte Dani ausdruckslos.

»Und am 3. März ist keiner geboren, der mir bekannt war.«

Dani seufzte. »Was offenbar nicht viel bedeutet.«

»Du weißt auch nicht alles«, konterte Kraut, »zum Beispiel, wer Rocky Graciano ist.«

Dani blickte sie nur schweigend an, ohne eine Miene zu verziehen. Kraut grinste triumphierend.

»Bei den Todestagen war gar nichts zu holen«, beendete sie ihren Kurzvortrag. »Wie steht’s mit der Bibel?«

Dani wandte sich ihrem Monitor zu. »Da könnte was drinstecken. Ich bin auf die Genesis gestoßen. Da gibt es Verse mit den passenden Nummerierungen. Zum Beispiel gleich der erste: Moses 1.1 Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde. 2.2 lautet: Und Gott vollendete am siebten Tag sein Werk, das er gemacht hatte, und er ruhte am siebten Tag von all seinem Werk, das er gemacht hatte.«

»Nicht sehr poetisch«, kommentierte Kraut. »Und geruht hat unser Täter auch nicht gerade. Ich sehe da keinen Zusammenhang.«

»Ich auch nicht auf Anhieb«, gab Dani zu, »aber es könnte dennoch einer da sein. Ich hab mir die Verse der passenden Daten des ganzen Jahres zusammengesucht. Da sind schon einige interessante dabei, zum Beispiel 3.3: Aber von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Ihr sollt nicht davon essen und sollt sie nicht berühren, damit ihr nicht sterbt. Vielleicht hat Nr. 3 von verbotenen Früchten gekostet.«

»Klar«, Kraut verzog spöttisch die Mundwinkel. »Und Nr. 1 hat Himmel und Erde erschaffen. Und Nr. 2 war `ne faule Socke.«

Dani überging den Einwurf. »Wir sollten mit jemandem darüber sprechen, der was davon versteht. Ein Religionswissenschaftler oder so was. Du kennst wohl nicht zufällig einen, oder?« Sie grinste Kraut an. »Nein, wohl eher nicht. Die findet man nicht allzu oft im Boxring.«

Krauts Kinnlade klappte herunter.

Dani dachte einen Moment nach, dann suchte sie die Nummer der Universität Bonn im Internet und ließ sich mit dem Dekanat der katholisch-theologischen Fakultät verbinden.

Sie trafen Dekan Professor Dr. Walter Hundshammer am nächsten Nachmittag auf dem Flur vor seinem Büro. Die Fakultätssekretärin, eine junge Rothaarige mit einem unaussprechlichen Doppelnamen, führte sie durch die ehrwürdigen Hallen, die den Mief zigtausender Studenten in Hunderten von Jahren aufgesogen hatten. Dani hatte das dringende Bedürfnis, das nächstbeste Fenster zu öffnen.

»Da vorn steht er«, sagte die Unaussprechliche und trat auf zwei Männer zu, die mitten im Flur in ein Gespräch vertieft waren. Der eine, groß und schwer, hörte ihre Schritte und wandte sich zu ihnen um. Dann sagte er ein paar Worte zu dem anderen Mann, der sich daraufhin verabschiedete und den Flur hinab auf zwei junge Männer zuging, die ihn offenbar erwarteten. Dani sah ihm hinterher. Was für ein gut aussehender Knabe, dachte sie. Eine Todsünde wert.

Dann fiel ihr wieder ein, warum sie eigentlich hier waren, und fast hätte sie sich für die Todsünde auf den Mund geschlagen.

»Professor Hundshammer«, sagte die Unaussprechliche und deutete nacheinander auf die beiden Frauen. »Das sind Oberkommissarin Flegel und Hauptkommissarin Kraut von der Kripo Ahrweiler.« Sie entfernte sich, während der Professor die beiden Frauen begrüßte und in sein Büro führte. Dani warf noch schnell einen Blick ans Ende des Flurs, doch der Mann und die beiden Jungen waren verschwunden. Hundshammer bemerkte ihren Blick.

»Ein gut aussehender Bursche, was?«, schmunzelte er und deutete auf zwei Besucherstühle vor seinem Schreibtisch. »Bitte, nehmen Sie Platz.«

Dani fühlte sich ertappt. »Ja, in der Tat«, sagte sie betont gleichgültig und setzte sich. Kraut nahm ebenfalls Platz und fläzte sich sogleich in einer lässigen Haltung in den Stuhl, die sie gerne Autoritätspersonen gegenüber einnahm.

»Einer unserer Mathematikprofessoren, Kurt Wehmann.« Hundshammer lächelte Dani an.

»Ah, ja.« Dani kramte verlegen in ihrer Handtasche und nahm die zwölf Bibelverse aus dem ersten Buch Mose heraus, die sie ausgedruckt hatte. Dann bedankte sie sich dafür, dass der Professor sich die Zeit für ihr Anliegen nahm, und erläuterte ihm ihren Mordfall.

»Drei Morde, drei Frauen, drei nummerisch aufeinanderfolgende Tatdaten. 1.1., 2.2., 3.3. Wir fürchten nun, dass der Serientäter seine Arbeit am 4. April fortsetzt, und wer weiß, auf welchen Zeitraum hin er seine Taten geplant hat. Mir fiel auf, dass die Psalmen nach einer ähnlichen Struktur nummeriert sind. Deshalb habe ich die in Frage kommenden Psalmen zusammengesucht. Hier sind sie.«

Sie reichte Hundshammer das Blatt über den Tisch. Er überflog es kurz.

»Genau genommen sind das keine Psalmen, sondern Verse«, sagte er. »Psalmen sind Gesänge und Gedichte. Die meisten sind im Buch der Psalmen untergebracht, das einen zentralen Teil der Bibel darstellt. Es gibt auch noch Psalmen in anderen Bibelstellen, aber nicht aller Bibeltext besteht aus Psalmen.«

Kraut verkniff sich mühsam ein Grinsen und stieß den Absatz ihres Cowboystiefels leicht gegen Danis Schienbein.

»Aber das müssen Sie als Laie nicht wissen«, tröstete Hundshammer, und Kraut hustete, um ein Lachen zu verbergen. Sie fühlte sich auf jeden Fall getröstet.

Dani versuchte, Würde zu bewahren.

»Können Sie sich vorstellen, dass diese Verse irgendetwas über die Motive des Mörders aussagen könnten? Dass er die Morddaten gewählt hat, um auf diese Zeilen hinzudeuten? Oder gibt es andere Zeilen in der Bibel, die mit diesen Zahlen verknüpft sein könnten?«

»Wie kommen Sie eigentlich auf die Bibel?«, fragte Hundshammer.

Dani erläuterte ihren Gedankengang. »Religiöse Motive bei Serientätern sind durchaus nicht selten«, schloss sie.

Hundshammer rieb nachdenklich seinen breiten Nasenrücken. »Eigentlich spielen Zahlen in der biblischen Geschichte keine allzu große Rolle, wenn man von den offensichtlichen mal absieht.«

»Den offensichtlichen?«, unterbrach Dani.

»Die zwölf Apostel, die Zehn Gebote, die sieben Todsünden, die Dreifaltigkeit, so was in der Art«, antwortete Hundshammer. »Aber diese Zahlen scheinen hier keine Rolle zu spielen. Nehmen wir mal an, Sie liegen richtig. Was könnte: Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde in diesem Zusammenhang bedeuten? Hat sich die Frau, die ermordet wurde, etwas angemaßt, was ihr nicht zusteht? Sich mit dem Schöpfer auf eine Stufe gestellt? Sich überhoben über andere Menschen?«

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah Dani abwartend an. Offenbar war ihm inzwischen klar, dass Kraut den Mund vermutlich nicht öffnen würde.

Dani nickte vage. »Möglicherweise, ja. Sie war kurz zuvor zur Filialleiterin einer Bank befördert worden, was offenbar für manche Kollegen eine unangenehme Überraschung war. Sie wurde damit zur Vorgesetzten, also überhoben, wenn man so will.«

Hundshammer nickte nur.

»Nehmen wir den zweiten Vers.« Er las ihn vor. »Wie passt das zu Ihrem Mord: Ruhte am siebten Tage?«

Dani dachte nach. »Nicht so richtig. Die Frau hat viel gearbeitet. Sie war Putzfrau. Eine eher arme Familie. Zwei Kinder. Seit Jahren war der Möhnenkaffee am Karnevalssamstag ihre einzige Freude, wenn man’s genau nimmt. Diesen Nachmittag hatte sie sich durch nichts und niemanden nehmen lassen. Das hat ihr Mann uns erzählt.«

Hundshammer wiegte das schüttere Haupt. »Also könnte man es schon so interpretieren, dass sie an diesem Tag geruht hat. Nur scheint dagegen nichts einzuwenden gewesen sein. Mmh.« Er faltete die Hände über seinen dicken Bauch.

»Sehen wir uns mal den dritten Vers an. Von den Früchten des Baumes sollt ihr nicht essen.«

»Das deutet auf verbotene Früchte hin«, sagte Dani. »Vielleicht ein verheirateter Liebhaber. Wir haben allerdings keine Anhaltspunkte in dieser Richtung gefunden.«

Hundshammer versank in nachdenkliches Schweigen. Dani wartete gespannt ab. Kraut langweilte sich und pulte in ihren Zähnen herum. Schließlich richtete sich der Professor auf.

»Ich glaube, Sie befinden sich auf einer falschen Fährte, ohne das als abschließendes Urteil zu werten. Aber die Bibel ist vieldeutig und vielschichtig. Man kann alles Mögliche in den Text hineininterpretieren.«

Dani runzelte die Stirn. »Aber die Zeilen, die ich gefunden habe, sind alle so aussagekräftig. Wenn das nur Zufall wäre, so müsste doch der eine oder andere Vers unwichtig sein.«

Hundshammer lehnte sich vor und drückte seinen Bauch gegen den Schreibtisch.

»Bei allem Respekt, junge Frau«, sagte er, »in der Bibel gibt es keine unwichtigen Stellen.«

Kraut grinste. Dani druckste. »So war das nicht gemeint.«

»Ich weiß«, sagte Hundshammer lächelnd. »Aber Sie müssen sich die Bibel als die längste Kurzgeschichte der Welt vorstellen. Alles, was nötig ist, steht drin. Und alles, was drin steht, ist nötig.«

Er sah, dass er Dani noch nicht völlig überzeugt hatte.

»Also gut«, sagte er und griff nach dem Blatt, »Nehmen wir einfach mal wahllos den nächsten oder übernächsten Vers. Der nächste lautet: Und Abel, auch er brachte von den Erstlingen seiner Herde und von dem Fett. Und der Herr sah auf Abel und auf seine Opfergabe.« Er legte das Blatt hin und sah hoch.

»Das würde zu jedem Ihrer Morde passen, oder nicht?«

Wieder nahm er das Blatt.

»Oder hier, Vers 6.6: Und es reute den Herrn, dass er den Menschen auf der Erde gemacht hatte, und es bekümmerte ihn ins Herz hinein. Passt auch, nicht wahr?«

Immer noch lächelnd, ließ er das Blatt wieder sinken. »Tut mir leid, aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen.«

Dani nickte und stand auf.

»Vielen Dank, dass Sie Ihre Zeit mit uns verschwendet haben. Aber Sie haben uns auf jeden Fall weitergeholfen.«

Sie reichte ihm die Hand.

»Sie haben meine Zeit nicht verschwendet. Ich habe nur wenig Gelegenheit, mit einer schönen Frau zu sprechen«, antwortete Hundshammer galant und fügte hinzu: »Wenn man von unreifen Gänsen absieht, die alle mehr oder weniger schön sind.«

Jetzt war es an Dani, sich getröstet zu fühlen, und Kraut rollte die Augen.

Sie fuhren über die B 9 zurück in Richtung Ahrweiler. Dani mochte diese Strecke lieber als die Autobahn. In weiten Teilen führte die Straße am Rhein entlang und bot gelegentlich schöne Aussichten auf das gegenüberliegende Siebengebirge. Kraut dagegen fuhr lieber Autobahn, weil sie da ordentlich aufs Gas treten konnte. Beschaulichkeit war nicht ihr Ding.

»Na, das war ja wohl ein Schuss in den Ofen«, sagte sie jetzt. »Mit der Bibel scheinen wir nicht weiterzukommen.«

»Da bin ich noch nicht sicher«, antwortete Dani nachdenklich. »Der Prof hat mich auf eine Idee gebracht. Was hältst du von den sieben Todsünden als Motiv?«

»Du sollst nicht töten und nicht ehebrechen und so weiter?«

»Nein, das sind die Zehn Gebote. Die Todsünden sind Völlerei, Wollust, Habsucht und so was. Ich kenne auf Anhieb nicht die richtige Reihenfolge, aber das werden wir im Büro überprüfen.«

»Das wurde schon mal in einem Film verarbeitet.« Kraut dachte nach. »Mir fällt der Titel gerade nicht ein, aber den könnten wir uns ja mal ansehen. Vielleicht bringt uns das weiter. Außerdem spielt Brad Pitt die Hauptrolle. Das lohnt sich auf jeden Fall.«

Dani warf ihr einen neugierigen Blick zu. »Brad Pitt? Ich hätte nicht gedacht, dass der dir gefällt. Ist der nicht ein bisschen zu harmlos für dich?«

»Harmlos? Hast du den in Troja gesehen? Sensationell! Ein Körper wie Adonis.« Kraut lächelte versonnen. »Ja, der würde mir gefallen. Ich ihm wohl eher nicht. Ich bin nicht jolie genug.« Dani lachte.

Eine Weile schwiegen sie in Gedanken versunken, dann sagte Kraut: »Du hast also ein Auge auf den Matheprofessor geworfen, was?«

»Na ja, warum nicht? Sah doch richtig gut aus, oder nicht?«

»Dann bist du also wieder bereit für einen neuen Kerl?«

Dani wiegte den Kopf. »Weiß nicht. Vielleicht. Außerdem werde ich den Prof wohl nie wieder sehen. Was soll’s also.«

Dani fuhr gerade in den Parkplatz der Polizeiinspektion ein, als Kraut sagte: »Sieben.«

»Was?«

»Sieben. Der Film heißt Sieben.«

Dani nickte. »Liegt nahe. Wir leihen ihn uns aus und machen einen gemütlichen Filmabend. Was hältst du davon?

»Nein, geht nicht«, bedauerte Kraut. »Der Film ist leider überhaupt nicht für Luki geeignet. Viel zu brutal. Wir könnten ihn uns am Samstagnachmittag anschauen. Da hat Luki in der Werkstatt zu tun.«

»Abgemacht. Dann kommst du zu mir, ich koche uns was Feines, und wir sehen uns den Film an.«

Im Büro setzte sich Dani sofort an den Rechner und suchte nach den sieben Todsünden. Sie stieß auf eine Seite, auf der ein Sieben-Todsünden-Test angeboten wurde. Dani musste einige Fragen zu ihrer Persönlichkeit beantworten und in einigen fiktiven Situationen entscheiden, was sie tun würde. Dann klickte sie »Test auswerten« an.

»Ich habe einen Hang zur Völlerei mit einer nicht zu vernachlässigenden Affinität zur Trägheit«, verkündete sie, als das Ergebnis auf dem Bildschirm erschien.

Kraut nickte. »War mir klar.«

Dani stand auf. »Komm, setz dich her und mach den Test auch.«

Kraut runzelte misstrauisch die Stirn, setzte sich dann aber und klickte »Antworten« an.

»Tja, wie’s scheint, habe ich einen Hang zur Wollust mit nicht zu vernachlässigender Affinität zu Hochmut.« Sie stand auf und setzte sich wieder auf ihren Platz. »Was für ein Quatsch.«

»So, Wollust also. Interessant«, stichelte Dani und grinste. Kraut ignorierte sie und blätterte in den Papieren auf ihrem Tisch.

Kurz vor Feierabend erstatteten sie ihrem Chef, Lothar Werner, Bericht. Verständlicherweise war er von ihren mangelnden Fortschritten nicht begeistert. Gemeinsam beschlossen sie, das Umfeld des letzten Opfers noch einmal gründlich zu durchforsten.