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Dunkle Visionen weisen dem FBI-Agenten Kyle und der schönen Madison den Weg: In ihren Furcht erregenden Träumen sieht Madison Frauen in Todesangst - wie damals ihre Mutter, die von einem Wahnsinnigen niedergestochen wurde. Jahre sind seitdem vergangen, doch es scheint, als ob der Täter wieder neue Opfer sucht. Und es sind Frauen aus Madisons unmittelbarer Nähe, die ermordet werden. Immer deutlicher werden ihre Visionen, immer enger wird das Netz, das der Mörder zieht - und immer größer Kyles Angst. Denn in Momenten höchster Gefahr hat er erkannt, dass er und Madison zusammengehören...
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Seitenzahl: 497
Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Heather Graham
Dunkle Visionen
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
If Looks Could Kill
Copyright © 1997 by Heather Graham Pozzessere
Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam
Herstellungsleitung: fredeboldpartner.network, Köln
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Köln
Titelabbildung: Corbis, Düsseldorf
Satz: Berger Grafikpartner, Köln
ISBN 978-3-95576-173-8
Genehmigte Sonderausgabe für
Verlagsgruppe Weltbild GmbH
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Deutsche Hardcover-Erstausgabe 2004
Bereits erschienen bei MIRA Taschenbuch als
Deutsche Taschenbuch-Erstausgabe Mai 2003
Cora Verlag GmbH & Co. KG,
Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg
www.mira-taschenbuch.de
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
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Madison konnte die Stimmen aus dem Schlafzimmer hören, und sie machten ihr Angst.
Sie war zwölf, fast dreizehn, deshalb war sie nicht mehr so leicht zu erschrecken, immerhin hatte sie schon einiges mitbekommen von der Welt. Ihre schöne, flatterhafte Mutter hatte den ebenso flatterhaften und temperamentvollen Maler Roger Montgomery geheiratet, und seitdem waren oft Stimmen und Geräusche aus dem Elternschlafzimmer gedrungen.
Aber heute Nacht …
Irgendetwas war anders als sonst. Es war nicht der übliche hitzige Streit, der da ablief. Sie bezichtigten sich nicht beide wie sonst so oft gegenseitig der Untreue. Da war eine andere Stimme in dem Raum, eine heisere Stimme …
Eine drohende Stimme, die Madison einen kalten Schauer den Rücken hinunterjagte. Die Stimme war böse. Madison wusste es. Sie versuchte sich einzureden, dass sie sich etwas einbildete, dass es vielleicht doch die Stimme ihrer Mutter sei, immerhin war Lianie Adair eine berühmte Schauspielerin, die bekannt war für ihre fast unheimlich anmutende Fähigkeit, alle möglichen Stimmen und Akzente nachahmen zu können.
Aber es war nicht ihre Mutter, die da sprach. Madison war sich sicher.
Sie wusste, dass ihre Mutter im Bett keine Spielchen spielte oder irgendwelche Sexphantasien ausagierte. Irgendjemand, irgendetwas … Böses … war in dem Raum.
Sie fragte sich, ob Roger ebenfalls da war. Sie wusste es nicht. Sie hörte, wie die Stimme ihrer Mutter eine Oktave höher kletterte und wieder abfiel, ein leiser Unterton von Hysterie, ein Flehen schwang darin mit. Dann vernahm sie wieder das tonlose Flüstern. Die andere Stimme.
Die böse Stimme.
Die Stimme, bei deren Klang sie eine Gänsehaut bekam.
Ohne nachzudenken war sie aus ihrem Zimmer geschlüpft, und jetzt stand sie im Flur, ein vor Angst bibberndes Gespenst in ihrem übergroßen Baumwoll-T-Shirt. Sie tappte barfuß den Flur hinunter, begierig darauf, so schnell wie möglich zu ihrer Mutter zu kommen, gleichzeitig jedoch fürchtete sie sich schrecklich davor. Sie konnte sich den grässlichsten Horrorfilm anschauen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, und sie scheute selbst vor der waghalsigsten Wette nicht zurück. Schon als kleines Mädchen hatte sie der sehr realen Möglichkeit von Monstern in ihrem Schrank oder unter ihrem Bett getrotzt, indem sie sich immer wieder vorgesagt hatte, dass sie schlicht keine Angst hatte. Normalerweise fürchtete sie sich nicht im Dunkeln, das ließ sie einfach nicht zu.
Aber heute Nacht …
Oh Gott, hatte sie Angst. Es lag an der Stimme. Diese zischende, drohende Stimme, in der unüberhörbar das Böse mitschwang. Der Flur schien überhaupt kein Ende nehmen zu wollen, obwohl es sicher nur wenige Meter von ihrer Türschwelle bis zu der ihrer Mutter waren. Je mehr sie sich zwang, sich zu bewegen, desto mehr schien sie mit dem Fußboden zu verwachsen. Angst schnürte ihr die Kehle zu, deshalb konnte sie nicht schreien, obwohl sie es wollte, gleichzeitig wusste sie jedoch, dass sie nicht schreien sollte, um die Stimme nicht wissen zu lassen, dass sie unterwegs zum Elternschlafzimmer war.
Sie musste sich bewegen, um die Person zu sehen, die zu der Stimme gehörte.
Sie wollte rennen, aber sie konnte es nicht, weil irgendetwas Schreckliches geschehen könnte, wenn sie es täte.
Es sei denn, dieses Schreckliche geschah bereits, dann musste sie sehr tapfer sein. Sie musste das Böse aufhalten.
Das Böse lag in der Luft und drückte sie nieder. Es machte ihr das Atmen schwer, sodass jeder Schritt eine Qual war. Die Tür ihrer Mutter wirkte irgendwie seltsam verzerrt, als hätte das Böse dahinter sie anschwellen lassen, während durch die Türritzen merkwürdig blutrotes Licht zu fallen schien.
Sie musste einen klaren Kopf bewahren.
Bestimmt stritt sich ihre Mutter mit Roger.
Sie musste ruhig und vernünftig bleiben. Und ihre Mutter in sachlichem Ton daran erinnern, dass sie ein Recht auf ein paar Stunden ungestörten Schlaf hatte. Doch falls Lainie sich mit Roger zankte, war es natürlich durchaus auch möglich, dass sich die beiden bereits wieder versöhnt hatten, wenn sie beim Schlafzimmer angelangt war, und wenn sie dann reinstürmte, nun …
Sie wünschte sich, Lainie und Roger bei irgendeiner lasterhaften Sexakrobatik zu stören, aber sie wusste, dass das nicht der Fall sein würde.
Sie wusste es. Gott möge ihr helfen, aber sie wusste es.
Sie konnte spüren, was ihre Mutter verspürte, und Lainie verspürte Angst. Sie wurde bedroht, und sie versuchte, die Bedrohung mit Worten abzuwenden. Sie redete verzweifelt und schnell, mit beschwörender Stimme. Sie versuchte …
Madison blieb abrupt stehen, sie zitterte am ganzen Körper, ihr T-Shirt war mit kaltem Angstschweiß durchtränkt. Weil sie nicht einfach nur fühlte, was Lainie fühlte.
Sie sah es! Sie sah, was Lainie sah. Madison sah durch Lainies Augen.
Und Lainie sah ein Messer.
Ein langes, silbern aufblitzendes Messer, scheußlich scharf. Ein Fleischermesser. Madison hatte es schon früher gesehen, in der Küche. Es gehörte dorthin, in den Holzblock auf dem Tresen, in dem alle großen Küchenmesser steckten. Es hing wie ein Damoklesschwert in dem gedämpften Licht des Schlafzimmers in der Luft, direkt über Lainie.
Lainie schaute es an … und Madison sah durch ihre Augen.
In diesem Moment sauste das Messer nach unten.
Lainie schrie, aber Madison hörte den gellenden Schrei ihrer Mutter nicht, weil sie selbst schrie, während sie auf dem Absatz kehrtmachte und den Weg, den sie gekommen war, zurückrannte. Wobei sie fühlte. Das fühlte, was ihre Mutter fühlte.
Das Messer.
Wie es in sie eindrang. Wie es sie direkt unterhalb der Rippen durchbohrte.
Madison taumelte und wäre fast gefallen. Sie lehnte sich gegen die Wand, spürte den schrecklichen Schmerz, die Kälte, die Todesangst. Sie spürte den Tod kommen. Sie fasste sich an die Taille, und als sie nach unten schaute, sah sie Blut an ihren Händen …
Ihr war kalt, eisig kalt. Dunkelheit umfing sie. Sie tastete an der Wand nach Halt. Sie versuchte erneut zu schreien, doch noch ehe sie tief Luft geholt hatte, schluckte die Dunkelheit sie, und sie fiel in ein gähnendes schwarzes Loch.
„Madison. Madison!“
Sie erwachte beim drängenden Klang ihres Namens und öffnete die Augen. Sie lag auf der Couch im Wohnzimmer, und Kyle war da, Rogers Sohn. Er war achtzehn, fünf Jahre und ein paar Monate älter als sie, aber er spielte sich in der Regel so auf, als wären es mindestens zwölf. Schwarze Haare, grüne Augen, Quarterback seines Footballteams. Die Hälfte der Zeit hasste sie ihn, besonders wenn er sie „Pimpf“ und „Dödel“ oder „Klein Doofi“ nannte. Doch wenn seine Freunde nicht da waren und er nicht alle Hände voll damit zu tun hatte, bei den Cheerleaders Eindruck zu schinden, konnte er manchmal sogar ganz nett sein. Und wenn sie wieder einmal felsenfest davon überzeugt war, das Produkt der kaputtesten Familie aller Zeiten zu sein, sagte er ihr, dass sie aufhören solle herumzujammern, und dass es eine Menge Leute gab, die Stief- und Halbbrüder und -schwestern hatten. Wenn er nicht ihr Stiefbruder gewesen wäre, hätte sie vielleicht sogar für ihn geschwärmt. Doch da er es nun einmal war, gestattete sie sich nicht, auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden.
Okay, dann hatte sie eben ein paar mehr Stiefgeschwister als die meisten anderen. Und okay, Lainie war nicht nur eine ungewöhnlich coole Mom, sie war Spitzenklasse. Genau betrachtet, war es gar nicht mal so schlecht, Lainie zur Mutter zu haben oder Roger zum Stiefvater. Ihr richtiger Dad, Jordan Adair, war ein berühmter Schriftsteller. Und wen interessierte es schon, wie viele Stiefmütter sie hatte?
Manchmal hasste Madison Kyle regelrecht, aber es gab auch andere Zeiten, und wenn ihr wieder mal stinklangweilig war, konnte er sie immerhin ziemlich gut zum Lachen bringen. Und manchmal, manchmal wurde ihr ganz warm, wenn sie ihn anschaute. Dann war er ihr plötzlich irgendwie ganz nah.
Doch jetzt glitzerten in seinen grünen Augen Tränen. „Madison?“
„Madison … bist du okay, Madison?“
Sie wandte leicht den Kopf. Roger war auch da. Roger, der seinen Tränen freien Lauf ließ.
„Roger, geh mal einen Schritt zur Seite, bitte.“
Es war ihr Vater, der sprach. Der Jordan Adair, ein überaus attraktiver Endvierziger mit langem silbergrauen Haar, einem silbergrauen Bart und dunklen, durchdringenden Augen. Er und ihre Mutter waren geschieden. Lainie war bereits bei ihrem dritten Ehemann angelangt; zuerst war sie mit einem Rockstar verheiratet gewesen, dann mit einem Schriftsteller und schließlich mit einem Maler. Jordan bevorzugte ebenfalls Künstlerinnen, allerdings schien er nicht ganz so wählerisch zu sein. Neben einer Opernsängerin, einer Balletttänzerin und Lainie war er auch mit einer Stripteasetänzerin verheiratet gewesen, und dann hatte er das Muster durchbrochen und eine Sextherapeutin geehelicht. Obwohl er Lainie immer geliebt hatte. Immer. Und Madison wusste, dass er sie ebenfalls liebte.
Wie Roger und Kyle hatte auch Jordan Tränen in den Augen.
Dann hörte sie die Sirenen. Und sah, wie sich das Foyer wenig später mit Polizisten füllte. Roger ging weg. Sie sah noch mehr Leute aus ihrer Familie, ihre Schwester und ihre Stief- und Halbgeschwister, die betreten im Wohnzimmer herumstanden.
Die Mädchen, Jassy und Kaila. Jassy, die Tochter ihres Vaters aus erster Ehe, war hübsch und zierlich, eine dunkeläugige Blondine. Kaila war Madisons einzige richtige Schwester. Sie und Kaila hatten genau wie Lainie rote Haare und blaue Augen.
Ihre anderen Brüder waren ebenfalls anwesend. Trent, der Sohn ihres Vaters aus zweiter Ehe, hatte sandfarbenes Haar und Jordans durchdringende dunkle Augen. Rafe, Rogers Sohn aus erster Ehe, war zwanzig und vom Typ her völlig anders als Roger und Kyle; seine Augen waren silbergrau und sein Haar schimmerte in einem nordischen Blond. Wie alle anderen stand auch er blass und schweigend da, mit erschrockenem Gesichtsausdruck und Tränenspuren auf den Wangen.
Kaila, die nur ein Jahr jünger war als Madison und ihr wie ein Ei dem anderen glich, begann plötzlich laut aufzuschluchzen. Ihre Knie gaben nach, aber Rafe legte fürsorglich einen Arm um sie, bevor sie hinfallen konnte.
Plötzlich fiel Madison alles wieder ein.
Sie schrie und schrie und fing an zu zittern. Im Haus waren Sanitäter, und noch während sie schrie und herumstotterte und hysterische Erklärungen abzugeben versuchte, kam irgendjemand mit einer Spritze und stach ihr die Kanüle in die Armbeuge. Sie hörte, wie jemand sagte, dass sie jetzt auf keinen Fall von der Polizei vernommen werden könnte und selbst wenn, was hätte es noch für einen Sinn? Dann begann das Beruhigungsmittel zu wirken, und wieder senkte sich Dunkelheit auf sie herab.
Diesmal wachte sie im Haus ihres Vaters auf. Kyle saß auf ihrer Bettkante. Sie hörte ein leises Schluchzen aus dem Zimmer nebenan. Eine ihrer Schwestern.
„Meine Mutter ist tot“, flüsterte sie.
Überrascht hob Kyle den Blick. Er schaute sie mitfühlend an und nickte.
„Irgendjemand hat sie getötet, Madison. Es tut mir so Leid. Dein Dad ist drüben bei Kaila, aber ich kann ihn holen, wenn du …“
„Ich habe es gesehen, Kyle.“
Er verengte die Augen.
„Ich habe es gesehen.“
„Was meinst du damit, du hast es gesehen? Du warst im Flur. Ist der Mörder an dir vorbeigerannt? Hast du gesehen, wer es getan hat?“
Sie schüttelte den Kopf und suchte nach den richtigen Worten, um das zu beschreiben, was sich ereignet hatte. Die Tränen schossen ihr in die Augen. „Sie hatte Angst, schreckliche Angst. Sie sah das Messer. Ich sah es auch. Ich spürte es.“
„Madison, du warst etliche Meter von ihrem Zimmer entfernt, als wir dich fanden. Warst du denn bei ihr drin?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Dann kannst du auch nichts gesehen haben.“
„Doch. Ich habe das Messer gesehen.“
„Und wer hat sie getötet?“
„Das weiß ich nicht. Ich konnte das Gesicht nicht erkennen. Ich habe nur das Messer gesehen. Wie es runtersauste. Und ich habe es gespürt. Ich konnte spüren, wie es sie durchbohrte.“ Sie begann wieder zu zittern und in sich hineinzuschluchzen. Ihre Mutter war umgebracht worden, und es fühlte sich an, als ob sich eine Million winzig kleiner Messer in ihr Herz bohrten. Lainie war egoistisch gewesen und eigensinnig und rücksichtslos, aber sie war ihre Mutter gewesen, diejenige, die sie gehalten, die sie umsorgt, die mit ihr gelacht hatte, die den Kopf über sie geschüttelt und sich die Zeit genommen hatte, im letzten Februar mit ihrer Schulklasse aus Pfeifenreinigern rote Herzchen für den Valentinstag zu basteln. Ihre Mutter war tot, und sie glaubte nicht, dass sie das ertragen konnte.
Kyle sagte jetzt nichts mehr. Er saß auf ihrer Bettkante und nahm sie ungeschickt in den Arm, während sie weinte. Irgendwann kam ihr Vater und löste Kyle ab, und sie weinte immer noch. Sie versuchte, ihrem Vater zu sagen, dass sie das Messer gesehen, dass sie gespürt hatte, wie Lainie gestorben war.
Ihr Vater war sanft und zärtlich, und er tat so, als ob er ihr glaubte, aber sie wusste, dass er es nicht tat.
In den nachfolgenden Tagen und Wochen setzte die Polizei alles daran, den Mordfall aufzuklären. Man unterzog Lainies Ehemann sowie ihren Ex-Ehemann endlosen Verhören, weil es nach Meinung der Polizei durchaus wahrscheinlich war, dass einer von beiden der Täter war. Ein Verbrechen aus Leidenschaft erschien allen das Naheliegendste. Natürlich berichteten die Tageszeitungen und alle großen Illustrierten ausführlich über den Aufsehen erregenden Mordfall.
Auch Madison wurde von der Polizei vernommen. Sie sprach mit mehreren Polizeibeamten verschiedener Dienstgrade. Sie erzählte ihnen, dass sie das Messer gesehen, dass sie gespürt hatte, wie ihre Mutter gestorben war. Aber man glaubte ihr nicht. Bis auf einen Polizisten, der zumindest ein bisschen netter war als die anderen. Jimmy Gates. Er war noch relativ neu im Morddezernat, jung, mit warmen braunen Augen, sandfarbenem Haar und einer Sanftheit im Wesen, von der sie sich getröstet fühlte. Er wollte genau wissen, was sie gesehen hatte; er drängte sie dazu, sich zu erinnern. Als er sie ausfragte, sah sie die Hand wieder vor sich, die das Messer gehalten hatte. Und dann wusste sie auf einmal, dass der Mörder dünne fleischfarbene Handschuhe, die wie Arzthandschuhe aussahen, angehabt hatte.
Sie war überrascht über das, was sie sah. Und es verstörte sie.
Zuerst stand Roger ganz knapp davor, unter Mordverdacht festgenommen zu werden, dann ihr Vater. Aber in beiden Fällen reichte die Beweislage am Ende für eine Anklageerhebung nicht aus. Kyle, Kaila und Madison waren zum Zeitpunkt von Lainies Tod alle zu Hause gewesen; Roger war kurz danach heimgekommen. Kyle hatte sofort nach Entdeckung der Tat Jordan Adair angerufen. Bei dem Verhör hatte die Polizei die Vermutung geäußert, dass Roger, nachdem er Lainie getötet hatte, das Haus durch ein Fenster verlassen und die Tatwaffe irgendwo versteckt haben könnte, um anschließend zurückzukehren und angeblich seine Frau zu finden. Und Jordans Haus lag nur einen Katzensprung vom Tatort entfernt, sodass es ihm ein Leichtes gewesen wäre, sich nach dem Mord der Tatwaffe zu entledigen und innerhalb kürzester Zeit wieder zu Hause zu sein. Merkwürdigerweise hatten die beiden Männer zu keinem Zeitpunkt versucht, sich gegenseitig zu belasten. Und da sich keine weiteren Beweise fanden, war die Polizei schließlich gezwungen, die beiden in Ruhe zu lassen.
Time, Newsweek und People machten mit Schlagzeilen wie „Kann man sich mit Geld seine Unschuld erkaufen?“ auf.
Jimmy Gates hielt weiterhin Kontakt zu Madison. Er hörte mit großem Ernst zu, wenn sie wieder und wieder von dem erzählte, was sie gesehen und gespürt hatte. Er versuchte noch mehr aus ihr herauszubekommen, aber so sehr sie sich auch zu erinnern versuchte, blieb doch die behandschuhte Hand das Einzige, was sie sah. Ihr Vater ermahnte Gates, sie nicht noch länger zu quälen, aber sie sagte ihm, dass sie mit ihm sprechen wollte.
Zwei Monate nach dem Mord wurde ein Verdächtiger festgenommen.
Es handelte sich um einen geistig verwirrten Stadtstreicher namens Harry Nore. Madison kannte ihn schon fast ihr ganzes Leben lang vom Sehen. Er trieb sich meistens auf dem Coconut Grove herum oder saß bettelnd an der Kreuzung Bird und U.S. 1. Manchmal schrie er irgendetwas von der Wiederkunft des Herrn oder dass der Satan kommen und ein riesiges Flammenmeer sie alle verschlingen werde. Er war bei einem Einbruch im Nachbarhaus erwischt worden, als er sich gerade in der Küche eine Scheibe Brot abschnitt.
Mit einem Fleischermesser.
Hätte es sich nur um einen Mundraub gehandelt, wären die Nachbarn sogar bereit gewesen, ein Auge zuzudrücken, doch als sich herausstellte, dass er sich die Taschen mit dem Familienschmuck voll gestopft hatte, alarmierten sie die Polizei.
Bei der Entdeckung, dass Harry Nore um den Hals ein goldenes St. Christopherus-Medaillon trug, das Roger Montgomery gehörte, wurde die Polizei zum ersten Mal hellhörig und begann sich zu fragen, ob der Mann womöglich mehr war als nur ein Dieb. Auf dem Fleischermesser, das Nore zum Brotschneiden benutzt hatte, fand man Blutspuren.
Lainies Blut.
Unter den Fingerabdrücken, die man in Lainies Schlafzimmer sichergestellt hatte, befanden sich auch die von Nore. Und er war alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Er hatte bereits einmal im Gefängnis gesessen, um für den Mord zu büßen, den er mit einem ähnlichen Messer an seiner Ehefrau verübt hatte.
Allerdings wurde Harry Nore für den Mord an Lainie Adair Montgomery niemals verurteilt; bei der Gerichtsverhandlung erklärte man ihn für unzurechnungsfähig. Wenn man ihn mit den Anschuldigungen konfrontierte, bekam er Tobsuchtsanfälle und fing an zu rasen. Gott höchstpersönlich hätte ihm das Messer in seinen Hut geworfen, behauptete er. Gott hätte ihm gesagt, wer gut war und wer schlecht. Er gestand, Lainie getötet zu haben, und sagte aus, dass sich der Teufel nur eine Seele geholt hätte, die ihm ohnehin schon gehörte. Lainie wäre schön und verderbt gewesen, so schön, dass sie die Männer mit ihrer Schönheit in den Wahnsinn und zu perversen Handlungen und zu Gewalt getrieben hätte. Sie sei eine Satansbrut gewesen und wäre jetzt wieder dort, wo sie hingehörte.
An Ende hatte man Harry Nore in eine Anstalt für geisteskranke Straftäter in Nordflorida gesteckt. Sein irres, nahezu zahnloses Grinsen war auf sämtlichen großen Illustrierten im ganzen Land zu sehen gewesen. Mittlerweile gab es keinen Zweifel mehr daran, dass er der Mörder war, und die Bezirksstaatsanwaltschaft war erleichtert, dass man einen Schuldigen gefunden hatte, und sagte Madison und ihrer Familie, dass sie jetzt zumindest nicht mit der Unsicherheit eines unaufgeklärten Mordfalls leben müssten. Nore war mit der Mordwaffe aufgegriffen worden, und er hatte die Tat gestanden. Im Grunde genommen war der Fall sonnenklar, und Madison verstand nicht, warum sie sich nicht so zufrieden gestellt fühlte, wie sie es eigentlich sollte, nachdem der formalen Gerechtigkeit Genüge getan war. Sie fragte sich, ob es nur daran lag, dass auch die Tatsache, dass Harry Nore sicher hinter Schloss und Riegel saß, ihr ihre Mutter nicht zurückbringen konnte. Oder waren es Harry Nores Fingerabdrücke im Schlafzimmer ihrer Mutter, die sie stutzig machten, wo sie doch genau wusste, dass der Mörder Handschuhe getragen hatte?
Die Polizei war zufrieden, und selbst Harry Nore war glücklich. Jetzt musste er wenigstens nie mehr an der U.S. 1 die Vorübergehenden anbetteln. Ihm war dreimal am Tag eine ordentliche Mahlzeit garantiert.
Das Leben ging weiter. Madison hätte es nie für möglich gehalten, und doch war es so. Aber sie hörte nie auf, um ihre Mutter zu trauern. Und wenn der Schmerz auch blieb, schwächte er sich doch ab, sodass er sich ertragen ließ. Selbst das Interesse der Medien ging schließlich zurück, und nur ab und zu brachte noch ein Privatsender eine Sendung über Lainie und ihr wildes Leben sowie ihr tragisches Ende.
Madison und Kaila zogen nach dem Tod ihrer Mutter zu ihrem Vater. Kyle, Jassy und Trent gingen auf verschiedene Universitäten. Rafe machte an der Florida International University sein Examen und ging anschließend nach New York an die Wall Street. Madisons Leben drehte sich um die Schule, Schulbälle und Partys, sie probierte Make-up aus, rasierte sich die Beine, ließ sich Löcher in die Ohrläppchen stechen und färbte sich an Halloween ihr Haar vorübergehend grellblau.
Die Jahreszeiten gingen ineinander über, sie verliebte sich und entliebte sich wieder. Ihr Vater heiratete zweimal in drei Jahren. Beide Frauen waren so schnell wieder in der Versenkung verschwunden, dass sie sich kaum an ihre Namen erinnern konnte.
Sie begann zu vergessen, dass sie das Messer, das ihre Mutter getötet hatte, wirklich gesehen hatte.
Sie begann zu vergessen …
Sie war jung, und das Leben ging weiter. Sie würde Lainie immer lieben, sie würde sich immer an sie erinnern. Aber mit jedem Tag, der ins Land ging, begannen die kleinen Dinge des Lebens eine größere Rolle zu spielen. Ihre Schwestern und Brüder. Jassy, die aufpasste, dass sie keine Dummheiten machte. Kaila, die sie brauchte. Rafe und Trent, mit denen sie sich gut verstand. Kyle, der für eine Weile freundlich war, um dann wieder wegen irgendetwas, das sie tat oder sagte, an die Decke zu gehen, der stark war oder sanft, wenn sie seine Hilfe am meisten brauchte. Das Leben musste gelebt werden.
Schmerz und Angst verblassten nach und nach immer mehr.
Aber sie war das Ebenbild ihrer Mutter.
Und der Schrecken war entschlossen, sich an ihre Fersen zu heften.
Zwölf Jahre später …
Madison spürte, dass sie sich in den Netzen eines Traums verheddert hatte und kämpfte instinktiv, selbst im Schlaf, dagegen an. Sie versuchte aufzuwachen. Aber umsonst – sie war bereits zu tief in ihrer Traumwelt verstrickt.
Sie hörte sich lachen, nur dass sie das nicht wirklich war. Sie war die andere Frau, die Frau im Traum. Schön, mit tiefrotem Haar, charmant. Sie wusste, dass sie irgendwo übernachten würden, sie und dieser charismatische Mann. Sie war so aufgeregt. Das Gefühl der gespannten Erwartung war so prickelnd. Sie würden Liebe machen. Sie wollte Liebe mit ihm machen. Sie wollte sich verführen lassen und hinweggeschwemmt werden von ihrer Lust, und am Montag würde sie ihren Freundinnen von ihm erzählen. Sie würde lachen und ihnen vorschwärmen, was für ein atemberaubender Liebhaber er war und wie unglaublich romantisch und was für ein traumhaftes Wochenende sie verlebt hätten, und sie würde so glücklich sein, wie es eine verliebte Frau mit einem attraktiven Liebhaber nur sein konnte, mit einem Mann, der sie so sehr liebte, dass …
Madison wusste, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie schrie im Traum, aber vergeblich. Sie war die schöne Frau, und sie wurde von ihrer Erregung hinweggeschwemmt, von ihrem Verlangen und der Sehnsucht, berührt und begehrt zu werden … Oh Gott, es hatte etwas so Erbärmliches an sich, derart bedürftig zu sein.
Die Landschaft flog vorbei. Madison erkannte sie wieder und erkannte sie doch nicht. Sie wollte aufwachen, sie wollte das aufhalten, was gleich passieren würde, aber sie konnte es nicht.
Das Paar lachte und schäkerte miteinander. Das Gesicht des Mannes konnte sie nicht erkennen, aber sie sah das wunderschöne dunkelrote Haar der Frau, das im Fahrtwind wehte.
Dunkelheit senkte sich herab. Zeit verstrich …
Sie waren in einem Schlafzimmer. Einem dämmrigen Hotelzimmer. Sie lachte wieder, so glücklich, so voller freudiger Erwartung. Sie küssten sich, flüsterten sich gegenseitig heisere Liebesworte ins Ohr. Er machte die Knöpfe ihrer Bluse auf … einen nach dem anderen … berührte sie, streichelte sie …
Madison wollte beschämt den Blick abwenden, plötzlich fühlte sie sich wie ein Voyeur. Die rothaarige Frau war zu allem bereit. Sie war bereit, ihrem Geliebten jeden Wunsch zu erfüllen. Nackt wälzten sie sich eng umschlungen auf dem Bett. Sie erlaubte, dass er sie umdrehte, auf den Bauch. Seine Finger krallten sich in ihr Haar, zogen ihren Kopf zurück. Sie drehte den Kopf nur leicht, um ihren Liebhaber anschauen zu können, und in diesem Augenblick sah sie …
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