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Jo Nesbø

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Beschreibung

Ein Serienkiller findet seine Opfer über die Dating-App Tinder. Die Osloer Polizei hat keine Spur. Der einzige Spezialist für Serientäter, Harry Hole, unterrichtet an der Polizeihochschule, weil er mehr Zeit für seine Frau Rakel und ihren Sohn Oleg haben möchte. Doch Holes alter Chef Mikael Bellmann kennt Olegs Vergangenheit und setzt Hole unter Druck. Der Kommissar gibt schließlich nach und arbeitet hochkonzentriert mit seinen Leuten an dem Fall. In einer Atmosphäre der Angst zögern viele Frauen, sich weiter über die App zu verabreden. Die schlimmsten Befürchtungen werden wahr, als tatsächlich eine weitere junge Frau verschwindet, ausgerechnet eine Kellnerin aus Holes Stammlokal. Und der Kommissar kann nicht länger die Augen davor verschließen, dass der Mörder für ihn kein Unbekannter ist. "Der unumstrittene König des skandinavischen Kriminalromans." The Times Das Warten hat ein Ende: Der neue Harry Hole ist da! Entdecken Sie auch MESSER, den neuen großen Kriminalroman um Kommissar Harry Hole!

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Das Buch

Harry stand vor dem orange-weißen Absperrband, als vor ihm ein Fenster im Hochparterre des Hauses aufging.

Katrine Bratt streckte den Kopf heraus.

»Lassen Sie ihn rein«, rief sie dem jungen Beamten zu, der ihm den Weg versperrte.

»Er kann sich nicht ausweisen«, protestierte der Polizist.

»Das ist Harry Hole«, rief Katrine.

»Wirklich?« Der Mann musterte Harry von Kopf bis Fuß, bevor er das Absperrband anhob. »Ich dachte, Sie wären bloß eine Legende«, sagte er.

Kommissar Harry Hole unterrichtet an der Polizeihochschule Oslo, seine Vorlesungen und Seminare sind überfüllt, denn seine Ermittlungserfolge waren spektakulär. Der Spezialist für Serienmorde hat die größten Kriminalfälle Norwegens gelöst und eine Verschwörung innerhalb der norwegischen Polizei aufgedeckt. Obwohl er inzwischen ein ganz anderes Leben führt, kann er sich dem Sog des Vampiristen-Falls nicht entziehen, der in Oslo die Schlagzeilen bestimmt. Harry Hole ist wieder im Spiel.

Der Autor

Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Die Hollywood-Verfilmung seines Romans Schneemann wird von Martin Scorsese produziert.

Jo Nesbø lebt in Oslo.

www.nesbo.de

www.jonesbo.com

Übersetzt von Günther Frauenlob, Jahrgang 1965. Er arbeitet seit über 20 Jahren als literarischer Übersetzer für Norwegisch und Dänisch. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen u. a. Lars Mytting und Gard Sveen. Er lebt in Waldkirch in der Nähe von Freiburg.

JO NESBØ

DURST

KRIMINALROMAN

Aus dem Norwegischenvon Günther Frauenlob

Ullstein

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Die Originalausgabe erschien 2017

unter dem Titel Tørst

bei Aschehoug, Oslo.

ISBN 978-3-8437-1482-2

© 2017 by Jo Nesbø

© der deutschsprachigen Ausgabe

2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Published by agreement with Salomonsson Agency

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: © Michael Trevillion / Trevillion Images, FinePic®, München

Autorenfoto: © Niklas R. Lello

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Prolog

Er starrte in das weiße Nichts.

Wie er es seit bald drei Jahren tat.

Er sah niemanden, und niemand sah ihn. Abgesehen von den kurzen Augenblicken, in denen die Tür aufging und so viel Dampf entwich, dass er hin und wieder einen nackten Mann erkennen konnte, bevor die Tür sich wieder schloss und alles erneut in Nebel versank.

Das Bad würde bald schließen. Er war allein.

Er schlug das weiße Handtuch enger um die Brust, stand von der Holzbank auf, verließ den Raum, zog den Bademantel über und ging an dem leeren Becken vorbei in die Umkleide.

Keine plätschernde Dusche, keine türkischen Floskeln, keine nackten Füße auf den Fliesen. Er betrachtete sich im Spiegel. Berührte mit dem Finger die Narbe der letzten Operation. Er hatte eine Weile gebraucht, sich an das neue Gesicht zu gewöhnen. Seine Finger fuhren am Hals entlang und über die Brust, verharrten dort, wo das Tattoo anfing.

Er öffnete das Schloss am Umkleideschrank, zog sich die Hose an und schlüpfte in seinen Mantel, ohne vorher den noch feuchten Bademantel auszuziehen. Band sich die Schuhe. Er versi­cherte sich noch einmal, dass er allein war, und trat an den Umkleideschrank mit dem blauen Punkt auf dem Vorhängeschloss. Stellte die Nummer 0999 ein, nahm das Schloss ab und öffnete den Schrank. Einen Moment lang betrachtete er den großen, schönen Revolver, der darin lag. Dann legte er die Finger um den rotbraunen Schaft und steckte die Waffe in die Jackentasche. Er nahm den Umschlag und öffnete ihn. Ein Schlüssel, eine Adresse und ein paar weitere Informationen.

Und noch etwas lag im Schrank.

Etwas Schwarzes, aus Eisen.

Er hielt es ins Licht und bewunderte fasziniert die schmiedeeiserne Arbeit.

Er würde es gründlich reinigen müssen, bürsten, und spürte die Erregung, es endlich benutzen zu dürfen.

Drei Jahre. Drei Jahre in diesem weißen Nichts, dieser Leere einförmiger Tage.

Es war höchste Zeit, wieder vom Leben zu kosten.

An der Zeit, zurückzukehren.

Harry schrak aus dem Schlaf. Er starrte ins Halbdunkel des Zimmers. Da war er wieder, dieser Mann, er war zurück, er war hier.

»Wieder ein Alptraum, Liebster?« Die flüsternde Stimme neben ihm war ruhig und warm.

Er drehte sich zu ihr. Ihre braunen Augen musterten ihn. Und die Erscheinung verblasste und verschwand.

»Ich bin hier«, sagte Rakel.

»Und ich bin hier«, sagte er.

»Wer war es dieses Mal?«

»Niemand«, log er und legte seine Hand auf ihre. »Schlaf wieder ein.«

Harry schloss die Lider. Wartete, bis er sich sicher war, dass auch sie die Augen wieder geschlossen hatte, bevor er seine aufschlug und ihr Gesicht betrachtete. Dieses Mal hatte er ihn in einem Wald gesehen. Ein Moor mit weißen Nebelfetzen. Er hatte die Hand gehoben und etwas auf Harry gerichtet. Der tätowierte Dämon auf seiner nackten Brust war deutlich zu erkennen ge­wesen, bis der Nebel dichter geworden war und ihn verschluckt hatte. Wieder einmal.

»Ich bin hier«, flüsterte Harry Hole.

Teil I

Kapitel 1

Mittwochabend

Die Jealousy Bar war beinahe leer, und doch war die Luft drinnen zum Schneiden.

Mehmet Kalak beobachtete den Mann und die Frau, die am Tresen saßen, während er ihnen Wein einschenkte. Vier Gäste insgesamt. Der dritte saß allein an einem Tisch und trank winzige Schlucke von seinem Bier, und vom vierten sah er nur die Spitzen der Cowboystiefel, die aus einer der seitlichen Nischen des Lokals ragten. In dem schwachen Lichtschein über dem Tisch leuchtete hin und wieder ein Handydisplay auf. Vier Gäste, und das im September, abends um halb zwölf in der besten Kneipengegend Grünerløkkas. So durfte das nicht weitergehen. Manchmal fragte er sich ernsthaft, was ihn geritten hatte, seinen Job als Barchef in einem der angesagtesten Hotels der Stadt aufzugeben, um dieses heruntergekommene Lokal mit seiner versoffenen Klientel zu übernehmen. Hatte er wirklich geglaubt, er müsse nur die Preise anheben, um die alten Gäste durch bessere Kundschaft ersetzen zu können? Mittdreißiger aus dem Viertel mit viel Geld und wenig Problemen. Oder hatte er nach der Trennung einfach einen Ort gesucht, an dem er sich zu Tode arbeiten konnte? Vielleicht war der ausschlaggebende Punkt am Ende einfach das verlockende Angebot des Kredithais Danial Banks gewesen, nachdem bereits alle Banken abgewunken hatten. Oder die Tatsache, dass er in der Jealousy Bar ganz allein über die Musik bestimmen konnte und nicht irgendein bescheuerter Hotelchef, für den nur das Klingeln der Kasse Musik war. Zumindest war es ihm gelungen, die alten Stammgäste loszuwerden, sie hatten Zuflucht in einer billigen Kneipe drei Straßen weiter gefunden. Vielleicht musste er, um an neue Gäste zu kommen, sein Konzept noch einmal überdenken. Möglicherweise reichte ein Fernseher mit dem türkischen Fußballkanal nicht, um sich Sportsbar nennen zu können. Und was die Musik anging, musste er vielleicht mehr auf Mainstream setzen, U2 und Springsteen für die Männer und Coldplay für die Frauen.

»Ich hatte ja noch nicht so viele Tinder-Dates«, sagte Geir und stellte das Weinglas wieder auf den Tresen. »Trotzdem habe ich schon gemerkt, dass da eine Menge merkwürdiger Leute unterwegs ist.«

»Ach ja?«, sagte die Frau und unterdrückte ein Gähnen. Sie hatte blonde, kurze Haare. Mitte dreißig, dachte Mehmet. Schnelle, etwas hektische Bewegungen. Müde Augen. Vermutlich arbei­tete sie zu viel und versuchte das dann mit ebenso viel Sport zu kompensieren, um zu entspannen und wieder zu Kräften zu kommen. Wohl ohne Erfolg, dachte Mehmet und beobachtete, wie Geir das Glas mit drei Fingern am Stiel hielt, genau wie die Frau. Bei all seinen Tinder-Dates hatte er konsequent dasselbe bestellt wie die Frau, mit der er gekommen war. Von Whisky bis zu grünem Tee. Bestimmt wollte er damit signalisieren, wie gut sie auch in diesem Punkt zueinanderpassten.

Geir räusperte sich. Es waren sechs Minuten vergangen, seit die Frau die Kneipe betreten hatte, und Mehmet wusste, dass Geir jetzt zur Sache kommen würde.

»Du bist viel schöner als auf deinem Profilbild, Elise«, sagte er.

»Sagtest du bereits, aber trotzdem danke.«

Mehmet spülte ein Glas und tat so, als hörte er nicht zu.

»Sag mal, Elise, was erwartest du vom Leben?«

Sie lächelte etwas herablassend. »Einen Mann, der nicht nur auf das Äußere fixiert ist.«

»Wie recht du hast, ich bin ganz deiner Meinung, Elise, die inneren Werte zählen.«

»Das war ein Scherz. Ich bin auf meinem Profilbild viel attraktiver als in Wirklichkeit, und ich würde mal sagen, dass das auch auf dich zutrifft, Geir.«

»Hmm«, sagte Geir, lachte überrumpelt und starrte in sein Weinglas. »Ist doch ganz normal, dass man ein Foto nimmt, auf dem man gut getroffen ist. Du suchst also einen Mann. Was für einen Mann?«

»Einen, der gerne auch mal mit drei Kindern zu Hause bleibt.« Sie sah auf die Uhr.

»Haha.« Geir begann zu schwitzen. Sein glattrasierter Schädel glänzte bereits. Bald würden sich die ersten Schweißflecken auf seinem schwarzen Hemd abzeichnen, Schnitt Slimfit. Seltsam eigentlich, da er weder slim noch fit war. Er drehte das Glas in der Hand. »Elise, du hast genau meinen Sinn für Humor, auch wenn mir mein Hund im Moment als Familie reicht. Magst du Tiere?«

Tanrim, dachte Mehmet, er redet sich um Kopf und Kragen.

»Ob eine Frau die Richtige ist, spüre ich. Hier … und hier …« Er lächelte, senkte die Stimme und zeigte auf seinen Schritt. »Aber was das angeht, muss man ja erst einmal überprüfen, ob es auch stimmt. Oder was meinst du, Elise?«

Mehmet schüttelte sich innerlich. Geir setzte alles auf eine Karte und fuhr die Sache wieder einmal mit Vollgas gegen die Wand.

Die Frau schob das Weinglas zur Seite und beugte sich etwas zu Geir hinüber, so dass Mehmet sich anstrengen musste, ihre Worte zu verstehen.

»Kannst du mir eins versprechen, Geir?«

»Natürlich.« Sein Blick und seine Stimme hatten etwas Erwartungsvolles, als wäre er ein bettelnder Hund.

»Dass du, wenn ich jetzt gehe, nie wieder versuchst, Kontakt zu mir aufzunehmen?«

Mehmet konnte Geir nur dafür bewundern, dass er sich noch ein Lächeln abrang.

»Natürlich.«

Die Frau lehnte sich wieder zurück. »Nicht weil du wie ein Stalker wirkst, Geir, aber ich habe schon mal schlechte Erfahrungen gemacht, weißt du. Ein Typ hat mich hinterher verfolgt und sogar den Mann bedroht, mit dem ich später zusammen war. Ich hoffe, du verstehst, dass ich ein bisschen vorsichtig geworden bin.«

»Na klar.« Geir führte sein Glas an den Mund und leerte es. »Wie gesagt, da sind einige verdammt merkwürdige Leute unterwegs. Aber du musst keine Angst haben, dir passiert nichts. Statistisch gesehen ist das Risiko, ermordet zu werden, für einen Mann viermal höher als für eine Frau.«

»Danke für den Wein, Geir.«

»Sollte einer von uns dreien«, Mehmet gab sich Mühe, rasch wegzusehen, als Geir auf ihn zeigte, »heute Abend ermordet werden, stehen die Chancen, dass du das bist, eins zu acht. Oder Moment, da hab ich noch nicht einberechnet, dass …«

Sie stand auf. »Ich hoffe, du kommst noch drauf, Geir. Leb wohl.«

Noch eine ganze Weile, nachdem sie gegangen war, starrte Geir in sein Weinglas und nickte im Takt zur Musik, als wollte er Mehmet und allen möglichen weiteren Zeugen signalisieren, dass er längst über die Sache hinweg und diese Frau nicht mehr als ein dreiminütiger Popsong war, der ebenso schnell auch wieder in Vergessenheit geriet. Dann stand er auf, ohne sein Glas noch einmal zu berühren, und ging. Mehmet sah sich um. Die Cowboystiefel und der Typ, der quälend langsam sein Bier getrunken hatte, waren verschwunden. Er war allein. Plötzlich bekam er auch wieder Luft. Mit dem Handy wechselte er die Playlist und stellte endlich seine Musik an. Bad Company. Mit Musikern von Free, Mott the Hoople und King Crimson, einfach nur gut. Und mit Paul Rodgers als Leadsänger sowieso. Mehmet drehte die Lautstärke so hoch, dass die Gläser hinter dem Tresen zu klirren begannen.

Elise ging die Thorvald Meyers gate hinunter. Rechts und links erhoben sich dreistöckige Häuser. Früher war das mal eine billige Arbeitergegend in einem der ärmsten Viertel einer armen Stadt gewesen. Heute kostete hier der Quadratmeter dasselbe wie in London oder Stockholm. September in Oslo. Die Dunkelheit war endlich zurück und die langen, irritierend hellen Sommernächte mit dem hysterisch-munteren Treiben bis zum nächsten Sommer Geschichte. Im September zeigte Oslo wieder seinen wahren Charakter: melancholisch, zurückhaltend, effizient. Eine solide Fassade, aber nicht ohne dunkle Ecken und Geheimnisse. Wie sie selbst. Sie beschleunigte ihre Schritte. Regen hing in der Luft, Nebel. Als würde Gott niesen, wie eine ihrer Männerbekanntschaften gesagt hatte. Wohl in dem Versuch, poetisch zu sein. Sie sollte diese Tinder-Scheiße wirklich lassen. Morgen. Es reichte. Sie hatte genug von Kneipen und geilen Kerlen, unter deren Blicken sie sich immer wie eine Nutte fühlte. Genug von verrückten Psychopathen und Stalkern, die sich festsaugten wie Zecken, ihr Zeit und Energie raubten, sie verun­sicherten. Genug von all den erbärmlichen Verlierern, in deren Nähe sie sich fühlte wie eine von ihnen.

Es hieß, Onlinedating sei das Nonplusultra, um jemanden kennenzulernen, und dass man sich dafür längst nicht mehr schämen müsse, da das ja alle täten. Aber das stimmte nicht. Menschen trafen einander auf der Arbeit, im Lesesaal der Uni, bei Freunden, beim Training, in Cafés, im Flugzeug, Bus, Zug. Sie begegneten sich, wie es sich gehörte, entspannt, ohne Druck, mit einer romantischen Illusion von Unschuld, Reinheit, in einer Laune des Schicksals. Sie wollte diese Illusion, wollte ihr Tinder-Konto löschen. Das hatte sie sich schon oft vorgenommen, aber dieses Mal würde sie es wirklich tun. Noch an diesem Abend.

Sie überquerte die Sofienberggata, nahm den Schlüssel heraus und schloss die Haustür gleich neben dem Gemüseladen auf. Sie öffnete sie, trat in den dunklen Flur und blieb wie angewurzelt stehen.

Da standen zwei.

Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sich ihre Augen so weit an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dass sie erkennen konnte, was die beiden machten. Ihre Hosenställe waren offen, und sie hielten ihre Schwänze in der Hand.

Sie wich nach hinten zurück, ohne sich umzudrehen, hoffte im Stillen, dass niemand hinter ihr stand.

»Verfluchtscheißeohsorry!« Der seltsame Ausruf, Fluch und Entschuldigung in einem, kam von einer jungen Stimme, achtzehn, vielleicht zwanzig, tippte Elise. Und ganz sicher nicht nüchtern.

»Ey!«, rief der andere. »Du pisst auf meine Schuhe.«

»Ich hab mich erschreckt.«

Elise schlug den Mantel enger um sich und lief eilig an den jungen Männern vorbei, die sich wieder zur Wand gedreht hatten. »Das ist kein Pissoir hier!«, schimpfte sie.

»Sorry, war dringend. Wird nicht wieder vorkommen.«

Geir hastete in Gedanken über die Schleppegrells gate. Es stimmte nicht, dass bei zwei Männern und einer Frau das Risiko für die Frau, ermordet zu werden, bei eins zu acht lag, so einfach war die Rechnung nicht. Warum musste alles immer so kompliziert sein?

Er war an der Romsdalsgata vorbeigelaufen, als ihn irgendetwas bewog, sich umzudrehen. Etwa fünfzig Meter hinter ihm ging ein Mann. Er war sich nicht ganz sicher, aber war das nicht der Typ, der auf der anderen Straßenseite das Schaufenster betrachtet hatte, als er aus der Jealousy Bar herausgekommen war? Geir legte einen Zahn zu und lief nach Osten in Richtung Dælenenga und Schokoladenfabrik. Es war kein Mensch auf der Straße, aber an der Haltestelle stand ein Bus. Vermutlich war er etwas zu früh dran und musste warten. Geir sah sich um. Der Typ war noch immer hinter ihm, in gleichbleibendem Abstand. Geir hatte Angst vor dunkelhäutigen Menschen, das war von Anfang an so gewesen, dabei konnte er den Mann gar nicht richtig erkennen. Sie waren dabei, den weißen, gentrifizierten Bereich des Viertels zu verlassen und näherten sich den Sozialwohnungen mit den Massen von Ausländern. Geir sah bereits das Haus, in dem er wohnte. Hundert Meter noch. Als er sich wieder umdrehte, bemerkte er, dass der Mann hinter ihm schneller lief. Aus Angst, einen traumatisierten, aus Mogadischu geflohenen Somalier hinter sich zu haben, begann auch Geir zu rennen. Er war seit Jahren nicht mehr so schnell gelaufen, und bei jedem Schritt hämmerte es in seinem Kopf. Er erreichte sein Ziel, fand auf Anhieb das Schlüsselloch, schlüpfte ins Haus und warf die schwere Tür hinter sich zu. Keuchend lehnte er sich gegen das feuchte Holz, seine Beinmuskulatur brannte. Er drehte sich um und warf einen Blick durch das kleine Glasfenster in der Haustür, das sich auf Augenhöhe befand. Er sah niemanden. Vielleicht war das ja gar kein Somalier gewesen. Geir musste lachen. Verdammt, wie schreckhaft man werden konnte, wenn man über Mord redete. Oder hatte es damit zu tun, was Elise über diesen Stalker gesagt hatte?

Geir war noch immer außer Atem, als er seine Wohnungstür aufschloss. Er nahm ein Bier aus dem Kühlschrank, sah, dass das Küchenfenster offen war, und schloss es. Dann ging er in sein Arbeitszimmer und schaltete die Lampe ein.

Er drückte eine Taste auf der Tastatur des PCs, und der große 20-Zoll-Bildschirm erwachte.

Er setzte sich davor, tippte »Pornhub« und »French« ins Suchfeld, suchte die Fotos durch, bis er eines mit einer Frau fand, die Elises Haarfarbe und Frisur hatte. Die Wohnung hatte dünne Wände, so dass er sich die kleinen PC-Kopfhörer in die Ohren steckte, bevor er das Bild anklickte, die Hose aufmachte und über die Knie nach unten zog. Die Frau ähnelte Elise so wenig, dass Geir irgendwann die Augen schloss und sich auf das Stöhnen konzentrierte, während er gleichzeitig versuchte, an Elises schmalen, etwas strengen Mund, ihren höhnischen Blick und die korrekte, aber trotzdem sexy Bluse zu denken. Nur so konnte er sie haben. Sonst niemals.

Geir hielt inne. Öffnete die Augen. Ließ seinen Schwanz los und spürte, wie sich ihm die Nackenhaare in dem kalten Luftzug, der durch die Tür drang, aufstellten. Er war sich ganz sicher, die Tür geschlossen zu haben. Er hob die Hand, um die Ohrstöpsel rauszuziehen, wissend, dass es zu spät war. Viel zu spät.

Elise legte die Sicherheitskette vor, streifte im Flur die Schuhe ab und fuhr wie gewohnt mit dem Zeigefinger über das Foto von sich und ihrer Nichte Ingvild, das im Rahmen des Spiegels klemmte. Sie wusste nicht wirklich, warum sie das tat, es war ihr einfach ein tiefes Bedürfnis, genau wie sie sich immer wieder die Frage stellte, was eigentlich nach dem Tod mit den Menschen geschah. Sie ging ins Wohnzimmer ihrer kleinen, gemütlichen Zweizimmerwohnung und legte sich aufs Sofa. Warf einen Blick auf ihr Handy. Eine SMS von der Arbeit. Die Sitzung am nächsten Morgen war abgesagt. Sie hatte dem Typ, den sie gerade getroffen hatte, nicht gesagt, dass sie als Anwältin für Vergewal­tigungsopfer arbeitete. Und dass die Statistik, dass Männer häufiger ermordet wurden, nicht stimmte. Bei sexuell motivierten Morden waren Frauen viermal häufiger die Opfer. Genau deshalb hatte sie gleich nach ihrem Einzug das Schloss ausgewechselt und die Sicherheitskette montieren lassen, mit deren Mechanismus sie noch immer zu kämpfen hatte, wenn sie die Kette vorlegen oder lösen wollte.

Sie öffnete Tinder. Drei der Männer, die sie am frühen Abend markiert hatte, hatten reagiert. Genau das war das Faszinierende an diesem Spiel. Es ging nicht darum, sie zu treffen, sondern zu wissen, dass es sie irgendwo dort draußen gab und dass diese Männer sie wollten. Sollte sie sich einen letzten kleinen Flirt gönnen? Einen letzten virtuellen Dreier mit ihren noch verbliebenen Kandidaten, ehe sie ihr Konto und die App endgültig löschte?

Nein. Jetzt löschen.

Sie öffnete das Menü, tippte die entsprechenden Befehle ein und wurde zu guter Letzt gefragt, ob sie ihr Konto wirklich endgültig löschen wollte.

Elise starrte auf ihren Zeigefinger. Er zitterte. Mein Gott, war sie inzwischen abhängig? Abhängig von dem Kick, dass da draußen jemand war, der sie wollte, ohne zu wissen, wer oder wie sie war? Sie kannten alle nur ihr Profilbild. War sie tatsächlich abhängig oder nur angetriggert? Das würde sie herausfinden, wenn sie ihr Konto jetzt löschte und sich fest vornahm, einen Monat ohne Tinder auszukommen. Einen Monat. Wenn sie das nicht schaffte, lief wirklich etwas grundverkehrt mit ihr. Der zitternde Finger näherte sich der Delete-Taste.

Und wenn sie abhängig war? Wäre das so schlimm? Wir wollen doch alle begehrt werden und jemanden haben. Sie hatte gelesen, dass ein Säugling sogar sterben konnte, wenn er nicht ein Minimum an Hautkontakt bekam. Sie bezweifelte zwar, dass das stimmte, fragte sich andererseits aber auch, was der Sinn des Lebens war, wenn es nur aus Arbeit bestand, die ­einen auffraß, und ein paar sogenannten Freunden, die sie nur aus Pflichtgefühl traf oder weil die Angst vor der Einsamkeit sie mehr quälte als das ewige Gejammer dieser Menschen über Kinder, Männer oder die Abwesenheit von mindestens einem davon. Und vielleicht war ihr Traummann ja gerade jetzt bei Tinder? Also, okay, eine letzte Runde. Das erste Bild, das aufpoppte, wischte sie nach links in den Mülleimer, in das Feld »Dich will ich nicht«. Ebenso das zweite. Und das dritte.

Ihre Gedanken kreisten in immer weiteren Bahnen. Sie war bei dem Vortrag eines Psychologen gewesen, der engen Kontakt zu einigen der schlimmsten Sexualverbrecher des Landes hatte. Er hatte berichtet, dass Männer für Sex, Geld und Macht töteten, Frauen hingegen aus Eifersucht und Angst.

Sie hielt inne. Das schmale Gesicht auf dem Bildschirm kam ihr irgendwie bekannt vor, auch wenn es unterbelichtet und ­etwas unscharf war. Es wäre nicht das erste Mal, Tinder brachte auch Leute zusammen, die sich räumlich ganz nah waren. Und laut Tinder war dieser Mann weniger als einen Kilometer entfernt. Vielleicht wohnte er sogar im gleichen Viertel. Das unscharfe Bild bedeutete, dass der Betreffende die Tips für die beste Tinder-Taktik ignoriert hatte, was an sich ein Pluspunkt war. Der Text bestand aus einem einfachen »Hallo«. Kein Versuch, besonders aufzufallen. Nicht gerade phantasievoll, aber selbstbewusst. Ja, es würde ihr definitiv gefallen, wenn ein Mann auf einer Party zu ihr käme, sie mit festem Blick ansehen, einfach nur »Hallo« sagen und damit die unausgesprochene Frage stellen würde: »Bist du bereit, weiterzugehen?«

Sie schob das Bild nach rechts. In die Rubrik »Auf dich bin ich neugierig«.

Und hörte das fröhliche Klingeln, das ihr ein weiteres Match verkündete.

Geir atmete heftig durch die Nase.

Er zog die Hose hoch und drehte sich langsam mit seinem Stuhl herum.

Der PC-Bildschirm war das einzige Licht im Zimmer, es fiel auf den Oberkörper der Person, die hinter ihm stand. Das Gesicht konnte er nicht erkennen, nur die weißen Hände, die ihm etwas entgegenstreckten. Es war ein Lederriemen mit einer Schlaufe am Ende.

Die Person trat einen Schritt näher, und Geir wich automatisch zurück.

»Weißt du, was mich noch mehr ankotzt als du?«, flüsterte die Stimme im Dunkeln, während die Hände den Lederriemen strafften.

Geir schluckte.

»Dein Köter«, sagte die Stimme. »Dein Scheißköter, für den du alles tun wolltest. Und der auf den Küchenboden kackt, weil du nicht mit ihm rausgehst.«

Geir räusperte sich. »Aber, Kari …«

»Los, raus! Und rühr mich nicht an, wenn du dann ins Bett kommst!«

Geir nahm das Lederband, und die Tür wurde zugeworfen.

Er blieb im Dunkeln sitzen und kniff die Augen zusammen.

Neun, dachte er. Zwei Männer und eine Frau, ein Mord. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Frau ermordet wird, beträgt eins zu neun, nicht eins zu acht.

Mehmet fuhr mit dem alten BMW langsam aus dem Zentrum in Richtung Kjelsås. Villen, Fjordblick, frischere Luft. Er bog in seine stille, schlafende Straße ein. Sah einen schwarzen Audi R8 neben der Garage vor seinem Haus stehen. Mehmet bremste langsam ab, überlegte einen Augenblick, Gas zu geben und weiterzufahren, wusste aber ganz genau, dass er die Sache damit nur aufschob. Andererseits war Aufschub genau das, was er brauchte. Aber Banks würde ihn überall finden, und vielleicht war der Zeitpunkt jetzt ja ganz passend. Es war dunkel und still. Keine Zeugen. Mehmet parkte am Straßenrand. Öffnete das Handschuhfach. Starrte auf das, was er seit Tagen dort liegen hatte, weil er wusste, dass dieser Moment irgendwann kommen würde. Er nahm es heraus, steckte es in die Jackentasche und ­atmete tief durch. Dann stieg er aus dem Auto und ging auf das Haus zu.

Die Tür des Audis öffnete sich, und Danial Banks stieg aus. Als Mehmet ihn im Pearl of India getroffen hatte, wusste er, dass der pakistanische Vor- und der englische Nachname vermutlich ebenso falsch waren wie die Unterschrift auf dem sogenannten Dokument, das sie unterzeichnet hatten. Aber das Geld, das er ihm über den Tisch geschoben hatte, war echt gewesen.

Der Kies vor dem Haus knirschte unter Mehmets Schuhen.

»Schönes Haus«, sagte Danial Banks, der jetzt mit verschränkten Armen an seinem Auto lehnte. »Und das hat deine Bank als Sicherheit nicht akzeptiert?«

»Ich wohne hier nur zur Miete«, sagte Mehmet. »In der Kellerwohnung.«

»Dumm für mich«, sagte Banks. Er war viel kleiner als Mehmet, trotzdem wirkte er größer, so wie er dastand und seinen Bizeps unter der Anzugjacke massierte. »Dann nützt es uns nichts, die Bude einfach abzufackeln, damit die Versicherung deine Schulden zahlt, oder?«

»Nein, das tut es wohl nicht.«

»Das ist dann wiederum dumm für dich, denn dann muss ich zu den Mitteln greifen, die weh tun. Willst du Details?«

»Willst du nicht erst wissen, ob ich bezahlen kann?«

Banks schüttelte den Kopf und zog einen Gegenstand aus der Tasche. »Deine Rate ist seit drei Tagen fällig, und ich habe dir gesagt, dass Pünktlichkeit das A und O ist. Damit ihr endlich kapiert, dass so etwas nicht toleriert wird, muss ich reagieren, keine Ausnahmen, weder bei dir noch bei anderen Schuldnern.« Er hielt den Gegenstand ins Licht der Garagenlampe. Mehmet schnappte nach Luft.

»Ich weiß, dass das nicht sonderlich originell ist«, sagte Banks, legte den Kopf schief und musterte den Seitenschneider. »Aber effektiv.«

»Aber …«

»Du darfst dir den Finger aussuchen. Die meisten entscheiden sich für den kleinen Finger der linken Hand.«

Mehmet spürte sie in sich aufsteigen. Die Wut. Seine Brust hob sich, als er seine Lungen mit Luft füllte. »Ich habe eine bessere Lösung, Banks.«

»Ach ja?«

»Ich weiß, dass sie nicht sonderlich originell ist«, sagte Mehmet und steckte die Hand in die Tasche. Holte es heraus. Richtete es auf Banks. Legte auch die zweite Hand darum. »Aber effektiv.«

Banks starrte ihn überrascht an. Nickte langsam.

»Da hast du recht«, sagte Banks, nahm das Geldbündel, das Mehmet ihm hinstreckte, und zog die Banderole ab.

»Das deckt die fällige Rate samt Zinsen«, sagte Mehmet. »Du darfst gerne nachzählen.«

Pling.

Ein Tinder-Match.

Der triumphale Handyton, wenn jemand, den du bereits nach rechts verschoben hast, dein Bild ebenfalls nach rechts schiebt.

Elise schwirrte der Kopf, ihr Herz galoppierte.

Sie kannte den Tinder-Effekt und wusste, dass der Aufregung eine erhöhte Herzfrequenz folgte. Und dass eine ganze Reihe von Glückshormonen freigesetzt wurde, von denen man, wie sie jetzt wusste, abhängig werden konnte. Aber nicht deshalb galoppierte ihr Herz so wild.

Denn das Pling war nicht von ihrem Telefon gekommen. Es war nur exakt in dem Moment zu hören gewesen, als sie das Bild nach rechts geschoben hatte. Das Foto der Person, die sich laut Tinder weniger als einen Kilometer entfernt befand.

Sie starrte auf die geschlossene Schlafzimmertür. Schluckte.

Das Geräusch musste aus der Nachbarwohnung gekommen sein. Im Haus wohnten viele Singles, viele potentielle Tinder-Nutzer. Und es war mittlerweile vollkommen still, sogar in der Wohnung unter ihr, in der die Mädels eine Party gefeiert hatten, als sie zu ihrem Date gegangen war. Sie wusste, dass es nur eine wirksame Methode gab, um eingebildete Monster loszuwerden. Man musste sich ihnen stellen.

Elise stand vom Sofa auf und ging die vier Schritte zur Schlafzimmertür. Zögerte. Ein paar Vergewaltigungsfälle, an denen sie gearbeitet hatte, gingen ihr durch den Kopf.

Sie riss sich zusammen und öffnete die Tür.

Blieb auf der Schwelle stehen und rang nach Luft. Weil keine da war, auf jeden Fall keine, die sie einatmen konnte.

Das Licht am Bett brannte, und das Erste, was sie sah, waren die Sohlen der Cowboystiefel, die aus dem Bett herausragten. Jeans und ein paar lange, übereinandergeschlagene Beine. Der Mann, der dort lag, war wie auf dem Foto halb im Dunkeln, unscharf. Er hatte sein Hemd aufgeknöpft und die Brust entblößt. Das Gesicht, das darauf tätowiert war, bannte sie. Der stumme Schrei. Als hinge es irgendwie fest und versuchte rauszukommen. Auch Elises Schrei blieb stumm.

»So sehen wir uns also wieder, Elise«, flüsterte er.

Aufgrund der Stimme wusste sie, warum ihr das Profilbild so bekannt vorgekommen war. Die Haarfarbe war verändert, das Gesicht schien operiert worden zu sein, sie sah noch die Narben.

Er hob die Hand und schob sich etwas in den Mund.

Elise starrte ihn entgeistert an und wich langsam zurück. Dann drehte sie sich um, bekam Luft in die Lungen und wusste, dass sie diese Luft zum Laufen verwenden sollte, nicht zum Schreien. Es waren fünf, höchstens sechs Schritte bis zur Wohnungstür. Sie hörte das Bett knarren, aber sein Weg war länger. Wenn sie es ins Treppenhaus schaffte, konnte sie schreien, dann würde man ihr helfen. Sie drückte die Klinke nach unten und versuchte, die Tür aufzureißen, aber sie ging nicht auf. Die Sicherheitskette. Sie schloss die Tür ein wenig und versuchte, die Kette zu lösen, aber das alles ging viel zu langsam. Wie in einem Alptraum. Viel zu langsam. Etwas legte sich ihr über den Mund, und sie wurde nach hinten gezogen. Verzweifelt schob sie den Arm über der Kette durch den Türspalt und bekam den Türrahmen zu fassen. Sie versuchte zu schreien, aber die große, nach Nikotin stinkende Hand lag zu fest auf ihrem Mund. Er riss sie nach hinten und drückte die Tür zu. Er flüsterte ihr ins Ohr: »Gefalle ich dir nicht? Du siehst auch nicht so gut aus wie auf deinem Profilbild, Baby. Wir sollten uns ein bisschen besser kennenlernen, damals hatten wir ja nicht genug Z-Zeit.«

Die Stimme. Und dieses abstoßende Stottern. Sie kannte beides. Sie trat wild um sich und versuchte, sich loszureißen, aber sie steckte wie in einem Schraubstock fest. Er zog sie vor den Spiegel. Legte seinen Kopf auf ihre Schulter.

»Es war nicht dein Fehler, dass ich verurteilt wurde, Elise, die Beweise waren überwältigend. Aber deshalb bin ich nicht hier. Würdest du mir glauben, wenn ich sage, dass das alles ein Riesenzufall ist?« Er grinste. Elise starrte in seinen offenen Mund. Sein Gebiss sah aus, als wäre es aus Eisen, schwarz und rostig mit spitzen Zacken in Ober- und Unterkiefer, wie eine Bärenfalle.

Es knirschte leise, als er den Mund aufmachte, es musste da ­irgendwo eine Feder geben.

Sie erinnerte sich an die Details des Falls. An die Fotos vom Tatort. Und wusste, dass sie bald sterben würde.

Dann biss er zu.

Elise Hermansen schrie in seine Hand, als sie das Blut aus ihrem eigenen Hals spritzen sah.

Er hob den Kopf wieder. Sah in den Spiegel. Ihr Blut tropfte ihm von den Augenbrauen, von den Haaren und lief ihm über das Kinn.

»Das nenne ich ein M-Match, Baby«, flüsterte er. Dann biss er noch einmal zu.

Vor ihren Augen begann sich alles zu drehen. Sein Griff lockerte sich, aber er brauchte sie auch nicht mehr festzuhalten. Eine lähmende, finstere Kälte nistete sich in ihr ein. Sie befreite eine Hand und streckte sie in Richtung des Fotos am Spiegel aus. Versuchte, es zu berühren, doch die Fingerspitzen erreichten es nicht ganz.

Kapitel 2

Donnerstagvormittag

Das gleißende Vormittagslicht fiel durch die Fenster ins Wohnzimmer und den Flur.

Die leitende Kriminalkommissarin Katrine Bratt stand schweigend vor dem Spiegel und betrachtete das Foto, das in dem Rahmen klemmte. Es zeigte eine Frau und ein kleines Mädchen. Beide saßen Arm in Arm auf einem glattgespülten Felsen am Meer. Mit nassen Haaren und in Handtücher gewickelt. Als wollten sie sich nach einem etwas zu kalten Bad im norwegischen Meer gegenseitig wärmen. Doch jetzt trennte sie etwas. Blut war über den Spiegel und das Foto gelaufen und wie eine Trennlinie genau zwischen den lächelnden Gesichtern angetrocknet. Katrine Bratt hatte keine Kinder. Möglicherweise hatte sie sich irgendwann einmal welche gewünscht, doch in diesem Moment ganz sicher nicht. Sie war gerade wieder Single geworden und auf gutem Wege, die Karriereleiter noch weiter nach oben zu klettern. Oder etwa nicht?

Sie hörte ein leises Räuspern und hob den Blick. Er begegnete einem vernarbten Gesicht mit vorspringender Stirn und seltsam hohem Haaransatz. Truls Berntsen.

»Was gibt’s, Herr Kommissar?«, fragte sie in gedehntem Ton und sah, wie seine Miene erstarrte. Sie spielte darauf an, dass er trotz fünfzehn Jahren Polizeidienst aus einem oder mehreren Gründen nie Kriminalkommissar im Dezernat für Gewaltverbrechen geworden wäre, hätte ihn sein Jugendfreund und jetziger Polizeipräsident Mikael Bellman dort nicht platziert.

Berntsen zuckte mit den Schultern. »Nichts, Sie leiten ja die Ermittlungen.« Er sah sie mit kaltem, zugleich unterwürfigem und boshaftem Hundeblick an.

»Befragen Sie die Nachbarn«, sagte Bratt. »Fangen Sie mit der Etage drunter an. Uns interessiert besonders, was die Leute gestern und heute Nacht gesehen und gehört haben. Und da Elise Hermansen allein wohnte, ist auch von Interesse, mit welchen Männern sie Umgang hatte.«

»Sie gehen also davon aus, dass das ein Mann war und dass sie sich von früher kannten?« Erst jetzt bemerkte Katrine Bratt den jungen Mann, fast noch ein Junge, der neben Berntsen stand. Offenes Gesicht, blond, hübsch.

»Anders Wyller, hab heute erst angefangen.« Helle Stimme, lächelnde Augen. Katrine dachte, dass er sich seiner Wirkung durchaus bewusst war. Das Zeugnis von seinem Chef in der Polizeistation Tromsø war die reinste Liebeserklärung gewesen. Aber okay, er hatte auch einen Lebenslauf, der zu ihm passte. Bestnoten an der Polizeihochschule, die er vor zwei Jahren abgeschlossen hatte, samt guter Resultate als Kommissaranwärter in Tromsø.

»Gehen Sie schon mal vor, Berntsen«, sagte Katrine.

Seine schlurfenden Schritte waren ein stiller Protest dagegen, von einer jüngeren Frau herumkommandiert zu werden.

»Willkommen«, sagte sie und streckte dem jungen Mann die Hand entgegen. »Tut mir leid, dass wir Sie an Ihrem ersten Tag nicht richtig willkommen heißen können.«

»Die Toten haben Priorität vor den Lebenden«, sagte Wyller, und Katrine erkannte das Harry-Hole-Zitat. Erst als sie sah, wie Wyller ihre Hand betrachtete, wurde ihr bewusst, dass sie noch die Latexhandschuhe trug.

»Die haben nichts Ekliges angefasst«, sagte sie.

Er lächelte. Weiße Zähne. Zehn Pluspunkte.

»Ich hab eine Latexallergie«, sagte er.

Zwanzig Minuspunkte.

»Okay, Wyller«, sagte Katrine Bratt noch immer mit ausgestreckter Hand. »Diese Handschuhe sind puderfrei und haben nur sehr wenig Allergene und Endotoxine, und wenn Sie wirklich im Dezernat für Gewaltverbrechen arbeiten wollen, müssen Sie die ziemlich oft anziehen. Aber wir können Sie natürlich ans Dezernat für Wirtschaftskriminalität abtreten, wenn Sie wollen …«

»Nee, danke«, sagte er lachend und ergriff ihre Hand. Sie spürte die Wärme seiner Haut durch das Latex.

»Ich bin Katrine Bratt, leitende Ermittlerin in diesem Fall. Und du darfst mich gerne duzen.«

»Danke. Du warst doch auch in dieser Harry-Hole-Gruppe, oder?«

»Harry-Hole-Gruppe?«

»Im Heizungsraum.«

Katrine nickte. Sie hatte die kleine, dreiköpfige Ermittlergruppe, die parallel und unabhängig von den offiziellen Er­mittlungen im Einsatz gewesen war, nie Harry-Hole-Gruppe ­genannt … obwohl es das eigentlich ziemlich genau traf.

Inzwischen war Harry an der Polizeihochschule, Bjørn in Bryn bei der Kriminaltechnik, und sie selbst war ins Dezernat gewechselt, wo sie vor kurzer Zeit zur Chefermittlerin aufgestiegen war.

Wyllers Augen glänzten, noch immer lächelnd. »Schade, dass Harry Hole nicht …«

»Schade, dass wir jetzt nicht die Zeit haben, uns zu unterhalten, Wyller, wir müssen einen Mord aufklären. Begleite Berntsen, und halte Augen und Ohren offen.«

Anders Wyller verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Du meinst also, dass ich von Kommissar Berntsen etwas lernen kann?«

Bratt zog die Augenbrauen hoch. Jung, selbstsicher, furchtlos. So weit, so gut, sie hoffte nur inständig, dass er nicht einer dieser Harry-Hole-Wannabes war.

Truls Berntsen drückte mit dem Daumen auf den Klingelknopf, hörte es drinnen läuten und dachte, dass er aufhören sollte, Nägel zu kauen. Er ließ den Knopf los.

Als er Mikael gebeten hatte, ins Dezernat für Gewaltverbrechen versetzt zu werden, hatte dieser ihn nach den Gründen für diese Bitte gefragt. Und Truls hatte freiheraus zugegeben, dass er auf der Karriereleiter gerne ein Stück weiter nach oben wollte, ohne sich dafür den Arsch aufzureißen. Jeder andere Polizei­präsident hätte Truls rausgeworfen, aber dieser konnte das nicht. Dafür hatten die beiden zu viel gegeneinander in der Hand. In jungen Jahren waren sie durch eine Art Freundschaft verbunden gewesen, später handelte es sich um eine Symbiose wie bei Putzerfisch und Hai. Inzwischen verbanden die gemeinsamen Sünden und Schweigegelübde sie untrennbar miteinander. Und bewirkten, dass Truls Berntsen sich nicht einmal verstellen musste, als er seine Bitte formulierte.

Dass diese Aktion wirklich klug gewesen war, bezweifelte Truls mittlerweile. Im Dezernat für Gewaltverbrechen gab es die Ermittler und die Analytiker. Als Dezernatsleiter Gunnar Hagen gesagt hatte, dass Truls selbst wählen könne, was er sein wollte, war Truls bewusst geworden, dass er ihm definitiv keine Ver­antwortung übertragen würde. Was ihm eigentlich nur recht war. Trotzdem hatte es ihm einen schmerzhaften Stich versetzt, als die Chefermittlerin Katrine Bratt ihn im Dezernat herumgeführt, ihn konstant Herr Kommissar genannt und sich dann extraviel Zeit genommen hatte, um ihm die Bedienung der Kaffeemaschine zu erklären.

Die Tür ging auf. Drei junge Frauen starrten ihn mit entsetzten Gesichtern an, ganz offensichtlich hatten sie bereits mitbekommen, was passiert war.

»Polizei«, sagte Truls und hielt seine Marke hoch. »Ich habe ein paar Fragen. Hat jemand von Ihnen etwas gehört, also zwischen …«

»… ein paar Fragen, für deren Beantwortung wir auf Ihre Mithilfe hoffen«, sagte eine Stimme hinter ihm. Der Neue. Wyller. Truls sah das Entsetzen aus den Gesichtern der Frauen weichen, ihre Mienen entspannten sich sichtlich.

»Natürlich«, sagte diejenige, die die Tür geöffnet hatte. »Wissen Sie schon, wer … also wer das da … war?«

»Dazu können wir natürlich nichts sagen«, erwiderte Truls.

»Aber was wir sagen können«, übernahm Wyller, »ist, dass Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie studieren und sich die Wohnung als WG teilen?«

»Ja«, sagten sie im Chor, als wollte jede die Erste sein.

»Dürfen wir kurz reinkommen?« Wyllers Lächeln war so strahlend wie das von Bellman, stellte Truls fest.

Die jungen Frauen gingen ins Wohnzimmer voraus. Zwei von ihnen räumten schnell ein paar Bierflaschen und Gläser vom Tisch und verließen damit den Raum.

»Wir hatten gestern eine Party«, sagte die dritte entschuldigend. »Das ist so schrecklich.«

Truls war sich nicht sicher, ob sie den Mord an der Nachbarin meinte oder dass er passiert war, während sie gefeiert hatten.

»Haben Sie gestern Abend zwischen zehn Uhr und Mitternacht irgendetwas gehört?«, fragte Truls.

Die junge Frau schüttelte den Kopf.

»Hatte Else …?«

»Elise«, korrigierte Wyller sie, der mittlerweile Block und Stift gezückt hatte. Truls dachte, dass er das vielleicht auch tun sollte.

Er räusperte sich. »Hatte Ihre Nachbarin einen Freund, der öfter mal hier war?«

»Weiß ich nicht«, antwortete die junge Frau.

»Danke, das war schon alles«, sagte Truls und drehte sich um, um zur Tür zu gehen, als die beiden anderen zurückkamen.

»Vielleicht sollten wir auch noch hören, was die anderen zu sagen haben«, meinte Wyller. »Ihre Freundin hat angegeben, dass sie gestern Abend nichts gehört hat und nicht weiß, ob es Personen gibt, mit denen Elise Hermansen in der letzten Zeit ­regelmäßig Kontakt hatte. Haben Sie da noch etwas hinzuzufügen?«

Die zwei sahen sich an, ehe sie sich wieder Wyller zuwandten und synchron ihre blonden Köpfe schüttelten. Truls entging nicht, dass sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den jungen Ermittler richteten, aber das machte ihm nichts aus, er hatte weitreichend Erfahrung damit, übersehen zu werden. War den kleinen Stich in der Brust gewohnt, seit Ulla ihn damals in der weiterführenden Schule endlich einmal angesprochen hatte, nur um zu fragen, ob er wisse, wo Mikael sei. Und ob er ihm etwas ausrichten könne – schließlich gab es damals noch keine Handys. Einmal hatte Truls gesagt, dass das nicht einfach werden würde, da Mikael mit einer Freundin beim Zelten sei. Dabei war das mit dem Zelten gelogen, aber er wollte wenigstens einmal denselben Schmerz, seinen Schmerz, in ihrem Blick sehen.

»Wann haben Sie Elise zuletzt gesehen?«, fragte Wyller.

Die drei jungen Frauen sahen sich noch einmal an. »Wir haben sie nicht gesehen, aber …«

Die eine kicherte und hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund, als ihr klarwurde, wie unpassend ihr Verhalten war. Die junge Frau, die ihnen die Tür geöffnet hatte, räusperte sich. »Enrique hat heute Morgen angerufen und erzählt, dass er und Alfa auf dem Weg nach Hause ins Treppenhaus gepinkelt haben.«

»Die sind echt asozial«, sagte die Größte von den dreien.

»Sie waren halt betrunken«, sagte die Dritte und kicherte wieder.

Die junge Frau, die die Tür geöffnet hatte, warf den beiden anderen einen tadelnden Blick zu. »Auf jeden Fall ist eine Frau ins Haus gekommen, als sie da standen, und sie haben angerufen, um sich für ihr Verhalten zu entschuldigen, falls wir wegen ihnen Ärger kriegen.«

»Wie rücksichtsvoll von den beiden«, sagte Wyller. »Und sie glauben, diese Frau war …«

»Sie sind sicher. Die beiden haben im Internet gelesen, dass eine Dreißigjährige ermordet wurde, das Haus war auf Fotos zu sehen. Sie haben weiter gegoogelt und in einer Netzzeitung ein Bild von ihr gefunden.«

Truls grunzte. Er hasste Journalisten. Das waren alles verfluchte Aasgeier. Er trat ans Fenster und sah nach draußen auf die Straße. Und da standen sie, nur zurückgehalten vom Absperrband der Polizei, mit ihren langen Teleobjektiven wie Schnäbel vor den Gesichtern, um, sobald sich die kleinste Chance bot, ein Foto zu schießen, sich ein Stückchen der Toten zu sichern, wenn sie aus dem Haus getragen wurde. Neben dem wartenden Krankenwagen stand ein Typ mit grün-gelb-rot gestreifter Rastamütze und sprach mit den weißgekleideten Kollegen von der Spurensicherung. Bjørn Holm von der Kriminaltechnik. Holm nickte den Kollegen zu und verschwand wieder im Haus. Er ging gekrümmt, zusammengesunken, als hätte er Magenschmerzen, und Truls fragte sich, ob das etwas damit zu tun hatte, dass der Tölpel mit dem runden Gesicht und den Dorschaugen gerade von Katrine Bratt abserviert worden war. Gut. Dann wussten wenigstens auch noch andere, wie es war, gedemütigt zu werden. Wyllers helle Stimme plätscherte im Hintergrund. »Die heißen also Enrique und …?«

»Nein, nein!« Die jungen Frauen lachten. »Henrik. Und Alf.«

Truls schaute Wyller an und nickte in Richtung Tür.

»Danke, meine Damen, das war schon alles«, sagte Wyller. »Das heißt, ach ja, kann ich noch ihre Telefonnummern bekommen?«

Die Frauen starrten ihn mit so etwas wie freudigem Entsetzen an.

»Die von Henrik und Alf«, fügte er grinsend hinzu.

Katrine stand hinter der Rechtsmedizinerin, die neben dem Bett im Schlafzimmer in die Hocke gegangen war. Elise Hermansen lag auf dem Rücken, die Decke unter sich. So, wie das Blut auf ­ihrer weißen Bluse verteilt war, musste sie gestanden haben, als ihr die Verletzungen zugefügt worden waren. Vermutlich vor dem Spiegel. Der Teppich davor war derart mit Blut getränkt, dass er am Parkett festklebte. Die Blutspuren zwischen Flur und Schlafzimmer und die geringe Menge Blut im Bett zeigten zudem, dass das Herz von Elise Hermansen wohl schon im Flur zu schlagen aufgehört hatte. Ausgehend von der Körpertemperatur und dem rigor mortis, nahm die Rechtsmedizinerin an, dass der Tod irgendwann zwischen dreiundzwanzig Uhr und ein Uhr nachts eingetreten war. Die Todesursache war vermutlich der Blutverlust, nachdem die Halsschlagader durch einen oder mehrere Stiche seitlich am Hals und über der linken Schulter punktiert worden war.

Die Hose und der Slip waren ihr heruntergezogen worden.

»Ich habe ihre Nägel gesäubert und geschnitten, kann mit bloßem Auge aber keine Hautreste sehen«, sagte die Rechtsmedizinerin.

»Seit wann machen Sie die Arbeit der Kriminaltechnik?«, fragte Katrine.

»Seit Bjørn uns darum gebeten hat«, antwortete sie. »Er kann so nett fragen.«

»Ach ja? Gibt es noch andere Wunden?«

»Sie hat eine Hautabschürfung am linken Unterarm und einen Splitter im Mittelfinger der linken Hand.«

»Ist sie vergewaltigt worden?«

»Es gibt keine sichtbaren Spuren für Gewalt im Genitalbereich, aber das hier …« Sie hielt eine Lupe über den Bauch des Opfers. Katrine sah hindurch und erkannte einen dünnen weißen Streifen. »… könnte Speichel von ihr oder jemand anderem sein, sieht aber eher nach Präejakulat oder Sperma aus.«

»Wollen wir das mal hoffen«, sagte Katrine.

»Hoffen, dass sie vergewaltigt wurde?« Bjørn Holm war ins Zimmer getreten und hatte sich hinter sie gestellt.

»Wenn es eine Vergewaltigung war, deutet alles darauf hin, dass sie post mortem stattgefunden hat«, sagte Katrine, ohne sich umzudrehen. »Dann hat sie das eh nicht mehr mitbekommen. Und ich würde schon gerne etwas Sperma haben.«

»Hab nur Spaß gemacht«, sagte Bjørn leise in seinem charakteristischen Dialekt.

Katrine schloss die Augen. Natürlich wusste er, dass Sperma bei einem Fall wie diesem das ultimative »Sesam, öffne dich!« war. Und natürlich versuchte er, die düstere Stimmung aufzuhellen, die seit ihrem Auszug vor drei Monaten zwischen ihnen herrschte. Auch sie versuchte das immer wieder, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen.

Die Rechtsmedizinerin sah zu ihnen hoch. »Ich bin dann hier fertig«, sagte sie und rückte ihren Hidschab zurecht.

»Der Krankenwagen ist da. Meine Leute bringen den Leichnam dann runter«, sagte Bjørn. »Danke für deine Hilfe, Zahra.«

Die Rechtsmedizinerin nickte und beeilte sich, aus dem Zimmer zu kommen. Bestimmt spürte auch sie die angespannte Stimmung.

»Und?«, fragte Katrine und zwang sich, Bjørn anzusehen und seinen finsteren Blick, in dem mehr Trauer als Vorwurf lag, zu ignorieren.

»Da gibt es nicht viel zu sagen«, meinte er und kratzte sich den dichten roten Wangenbart unter der Rastamütze.

Katrine wartete, sie hoffte, dass sie noch immer über den Mord redeten.

»Sie war nicht gerade die Reinlichste, wir haben Haare von ­einer ganzen Reihe von Personen gefunden – hauptsächlich Männer. Und die werden vermutlich nicht alle gestern Abend hier gewesen sein.«

»Sie war Anwältin«, sagte Katrine. »Einer alleinstehenden Frau mit einem anspruchsvollen Job ist Sauberkeit vielleicht nicht so wichtig wie dir.«

Er lächelte kurz, ohne ihr zu widersprechen. Und Katrine spürte den Anflug eines schlechten Gewissens, das er ihr immer irgendwie machte. Sie hatten sich nie übers Putzen gestritten, Bjørn hatte immer klaglos gespült, die Treppe gewischt, Wäsche gewaschen oder gestaubsaugt. Wie auch alles andere. Nicht ein verfluchter Streit in dem ganzen Jahr, das sie zusammengewohnt hatten, dem wich er grundsätzlich aus. Und wenn sie mal nicht mehr gekonnt hatte, war er da gewesen, aufmerksam, fürsorglich, unermüdlich wie eine beschissene Maschine, so dass sie sich wie eine verwunschene Prinzessin gefühlt hatte. Je mehr er tat, desto schlimmer.

»Woher weißt du eigentlich, dass die Haare von Männern stammen?«, fragte sie seufzend.

»Eine alleinstehende Frau mit einem anspruchsvollen Job …«, sagte Bjørn, ohne sie anzusehen.

Katrine verschränkte die Arme. »Was willst du damit sagen, Bjørn?«

»Was?« Sein blasses Gesicht bekam eine leicht rötliche Färbung, und seine Augen traten noch deutlicher hervor.

»Dass ich rumvögel? Wenn du Details wissen willst …«

»Nein!« Bjørn hob beschwichtigend die Hände. »Sorry, so meinte ich das nicht. War nur ein schlechter Scherz.«

Katrine wusste, dass sie Verständnis haben sollte. Und manchmal hatte sie das auch. Aber nicht so, dass man jemanden tröstend in den Arm nehmen wollte. Sie empfand eher Verachtung, das Bedürfnis, auf ihn einzuschlagen und ihn zu demütigen. Und um genau das nicht erleben zu müssen, um Bjørn Holm, diesen feinen Mann, niemals gedemütigt zu sehen, hatte sie ihn verlassen. Katrine Bratt holte tief Luft.

»Männer also?«

»Die meisten Haare waren kurz«, sagte Bjørn. »Mal sehen, ob die Analysen meine Annahme bestätigen. Auf jeden Fall haben wir genug DNA, um die Rechtsmedizin für eine ganze Weile zu beschäftigen.«

»Okay«, sagte Katrine und drehte sich wieder zu der Toten um. »Irgendeine Idee, womit er sie erstochen haben könnte? Es sieht so aus, als hätte er auf sie eingehackt. Die Stiche liegen dicht beieinander.«

Bjørn schien erleichtert zu sein, dass sich ihr Gespräch wieder auf den Fall richtete.

Mann, bin ich müde, dachte Katrine.

»Es ist nicht leicht zu erkennen, aber die Stiche bilden ein Muster«, sagte er. »Genauer gesagt, zwei Muster.«

»Ja?«

Bjørn trat dicht an die Leiche heran und zeigte unter den kurzen blonden Haaren auf ihren Hals. »Siehst du nicht, dass die Stiche wie zwei etwas abgerundete Vierecke angeordnet sind, die sich ein wenig überschneiden? Hier und hier?«

Katrine neigte den Kopf zur Seite. »Jetzt, wo du es sagst …«

»Wie zwei Bisse.«

»Verdammt«, rutschte es Katrine heraus. »Ein Tier?«

»Wer weiß. Stell dir mal vor, wie die Haut zusammengequetscht wird, wenn sich Ober- und Unterkiefer schließen. Das ergibt so einen Abdruck wie hier.« Bjørn Holm zog ein Stück transparentes Papier aus der Tasche, das Katrine als das Butterbrotpapier erkannte, in das er immer seine Brote einschlug, bevor er zur Arbeit ging. Die Abdrücke hatten die gleiche Form. Er hielt das Papier dicht über die Einstiche im Hals. »Ziemlich viel Ähnlichkeit mit dem Biss von einem Landei wie mir, wenn du mich fragst.«

»Aber Menschenzähne können doch so etwas nicht anrichten.«

»Stimmt, trotzdem sieht der Abdruck aus wie von einem Menschen.«

Katrine befeuchtete sich die Lippen. »Es gibt Menschen, die ihre Zähne spitz feilen lassen.«

»Wenn das Zähne waren, finden wir vielleicht Speichel in der Wunde. Wie auch immer, wenn er im Flur war, als er sie gebissen hat, muss er hinter ihr gestanden haben und größer als sie sein.«

»Die Rechtsmedizinerin hat unter den Nägeln der Toten nichts gefunden, ich nehme an, er hat sie festgehalten«, sagte Katrine. »Ein kräftiger, mittelgroßer bis großer Mann mit Raubtierzähnen.«

Schweigend betrachteten sie den Leichnam. Wie ein junges Paar in einer Kunstausstellung, das überlegt, mit welchen Gedanken der andere zu beeindrucken wäre, dachte Katrine. Nur mit dem Unterschied, dass Bjørn es nie darauf anlegte, andere zu beeindrucken. Das war eher ihr Ding.

Katrine hörte Schritte im Flur. »Ich will hier nicht noch mehr Leute haben!«, rief sie.

»Wollte nur sagen, dass im angegebenen Zeitraum nur in zwei Wohnungen jemand war und dass keiner von denen etwas gehört oder gesehen hat.« Wyllers helle Stimme. »Und ich habe gerade mit zwei jungen Männern gesprochen, die Elise Hermansen gesehen haben, als sie nach Hause gekommen ist. Sie sagen, sie wäre allein gewesen.«

»Und diese jungen Männer sind …«

»… nicht vorbestraft, haben eine Taxiquittung, aus der hervorgeht, dass sie hier gegen halb zwölf den Abflug gemacht haben. Sie sagen, dass Elise Hermansen sie überrascht habe, als sie unten in den Hausflur gepinkelt haben. Soll ich sie einbestellen?«

»Das sind sicher nicht die Täter, aber lad sie trotzdem vor.«

»Okay.«

Wyllers Schritte entfernten sich.

»Sie ist allein gekommen, und es gibt keine Anzeichen für einen Einbruch«, sagte Bjørn. »Glaubst du, sie hat ihn freiwillig reingelassen?«

»Nur, wenn sie ihn gut kannte.«

»Was?«

»Elise war Anwältin, sie wusste, was passieren konnte. Und die Kette an der Tür sieht noch ganz neu aus. Ich glaube, sie war ein vorsichtiges Mädchen.« Katrine hockte sich noch einmal neben die Tote und musterte den Splitter, der aus Elises Mittelfinger ragte. Und die Hautabschürfung auf ihrem Unterarm.

»Anwältin?«, fragte Bjørn. »Wo?«

»Hollumsen & Skiri. Sie haben die Polizei alarmiert, weil Hermansen einen Gerichtstermin nicht wahrgenommen hat und auch nicht ans Telefon gegangen ist. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Anwälte, die sich für Vergewaltigungsopfer einsetzen, von Sexualstraftätern bedroht werden.«

»Glaubst du, dass ein …?«

»Nein, ich glaube, wie gesagt, nicht, dass sie jemanden reingelassen hat. Aber …« Katrine zog die Stirn in Falten. »Was würdest du sagen, welche Farbe dieser Splitter da hat?«

Bjørn beugte sich über die Tote. »Weiß ist er jedenfalls nicht.«

»Rosa«, sagte Katrine und stand auf. »Komm!«

Katrine öffnete die Wohnungstür und zeigte auf den abgesplitterten Rahmen auf der Außenseite. »Rosa.«

»Wenn du das sagst«, brummte Bjørn.

»Siehst du das nicht?«, fragte sie ungläubig.

»Die Forschung hat längst nachgewiesen, dass Frauen generell mehr Farbnuancen sehen als Männer.«

»Aber das hier siehst du?«, fragte Katrine und hielt die Sicherheitskette hoch, die auf der Innenseite der Tür hing.

Bjørn beugte sich zu ihr vor. Sein Duft versetzte ihr einen Stich. Vielleicht störte sie auch einfach nur die plötzliche Intimität.

»Da ist Haut«, sagte er.

»Vom Unterarm. Verstehst du?«

Er nickte langsam. »Sie hat sich den Arm an der Kette aufgeschürft, also war die dran. Nicht er hat sich an ihr vorbeigedrängt, um reinzukommen, sondern sie hat versucht, aus der Wohnung zu fliehen.«

»In Norwegen werden normalerweise keine Sicherheitsketten benutzt. Wir schließen ab, und das war’s. Wenn sie ihn vorher reingelassen hätte, einen kräftigen Mann, den sie kannte …«

»… hätte sie die Kette nicht wieder vorgelegt. Dann hätte sie sich sicher gefühlt.«

»Ergo«, übernahm Katrine, »war er bereits in der Wohnung, als sie nach Hause kam.«

»Ohne dass sie es wusste.«

»Sie hat die Kette vorgelegt, weil sie glaubte, dass das Gefährliche draußen lauert.« Katrine lief ein Schauer über den Rücken. Eine grauenvolle Erkenntnis, aber genau der Moment, in dem sie als Mordermittlerin mit einem Mal alles sah und verstand.

»Harry wäre jetzt sehr zufrieden mit dir«, sagte Bjørn. Und lachte.

»Was ist?«, fragte sie.

»Du wirst rot.«

Mann, bin ich fertig, dachte Katrine.

Kapitel 3

Donnerstagnachmittag

Katrine hatte während der Pressekonferenz Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Neben ihr saß der Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen, Gunnar Hagen. Er informierte kurz über die Identität und das Alter des Opfers und ging in wenigen Worten darauf ein, wo und wann die Tat geschehen war. Bei der ­ersten Pressekonferenz kurz nach einem Mordfall kam es eigentlich nur darauf an, im Namen einer modernen, offenen Demokratie an die Öffentlichkeit zu treten, dabei aber so wenig wie möglich zu sagen.

Die Blitzlichter spiegelten sich auf seinem blanken, von dunklen Haaren gesäumten Schädel, während er die kurzen Sätze, die sie gemeinsam vorbereitet hatten, vom Blatt ablas. Katrine war froh, dass Hagen das Wort führte. Nicht, dass sie das Rampenlicht scheute, aber ihre Zeit würde noch kommen. Vorläufig bevorzugte sie es als neue Chefermittlerin, Hagen dabei zu beobachten, wie es ihm dank seiner Erfahrung gelang, mehr durch Körpersprache und Ton als durch Fakten den Eindruck zu vermitteln, die Polizei habe alles unter Kontrolle.

Sie war sitzen geblieben und ließ den Blick über die Gesichter der rund dreißig Journalisten schweifen, die sich im Parolesaal im dritten Stock vor dem großen Gemälde versammelt hatten. Das Bild, das die gesamte Wand einnahm, lenkte sie ab. Es zeigte nackte, badende Menschen, die meisten kleine, schmächtige Jungs. Eine idyllische, unschuldige Szene aus einer Zeit, in der noch nicht alles gleich aufs Übelste gedeutet und interpretiert worden war. Dabei war sie keinesfalls besser, weil sie automatisch annahm, dass der Künstler pädophil war. Hagen wiederholte sein Mantra, egal, wie die Fragen der Journalisten lauteten: »Darauf können wir Ihnen leider keine Antwort geben«, leicht variiert, damit es nicht arrogant oder gar komisch wirkte. »Zum jetzigen Zeitpunkt können wir das nicht kommentieren.« Oder etwas wohlwollender: »Darauf werden wir noch zurückkommen.«

Die Presseleute schrieben mit und formulierten immer neue Fragen. »War der Leichnam übel zugerichtet?«, »Gab es Anzeichen für einen sexuellen Übergriff?«, »Hat die Polizei einen Verdächtigen, und falls ja, ist es jemand, der dem Opfer nahestand?«

Spekulative Fragen, die aufgrund der Antwort »Kein Kommentar« Raum ließen für Spannung und Nervenkitzel.

Am anderen Ende des Saals erschien eine bekannte Gestalt, mit schwarzer Klappe über dem einen Auge und in Polizeipräsidentenuniform, die, wie Katrine wusste, immer frisch gebügelt in seinem Büro hing. Mikael Bellman. Er betrat den Saal nicht, sondern blieb als stummer Zuhörer in der Tür stehen. Auch Hagen schien ihn bemerkt zu haben, denn er richtete sich unter den Augen des jüngeren Polizeipräsidenten etwas auf.

»Das wäre dann alles«, schloss der Pressesprecher.

Katrine sah Bellman die Hand heben. Er wollte sie sprechen.

»Wann wird die nächste Pressekonferenz stattfinden?«, rief Mona Daa, die Kriminalreporterin der Zeitung VG.

»Darauf werden wir zurückk…«

»Sobald wir etwas Neues haben«, unterbrach Hagen den Pressesprecher.

»Sobald« registrierte Katrine, nicht »wenn« oder »falls«. Diese kleinen Dinge, etwa die exakte Wortwahl, signalisierten, dass die Diener des Rechtsstaats unermüdlich arbeiteten, die Mühlen der Gerechtigkeit mahlten und es nur eine Frage der Zeit war, bis der Schuldige gefasst wurde.

»Etwas Neues?«, fragte Bellman, als sie durch die Eingangshalle des Präsidiums gingen. Früher hatte seine beinahe feminine Ausstrahlung – lange Wimpern, gepflegte, etwas zu lange Haare und brauner Teint mit den eigentümlichen Pigmentflecken – mitunter etwas Affektiertes, Schwächliches gehabt. Die Augenklappe ­allerdings, die bei anderen vielleicht inszeniert gewirkt hätte, vermittelte einen Eindruck von Stärke. Dieser Mann nahm rein äußerlich nicht einmal durch den Verlust eines Auges Schaden.

»Die Kriminaltechnik hat etwas in den Bisswunden gefunden«, sagte Katrine, während sie hinter Bellman durch die Kon­trolle im Eingangsbereich ging.

»Speichel?«

»Rost.«

»Rost?«

»Ja.«

»Wie in …?« Bellman drückte auf den Knopf des Fahrstuhls.

»Keine Ahnung«, sagte Katrine und trat neben ihn.

»Und ihr wisst noch immer nicht, wie der Täter in ihre Wohnung gekommen ist?«

»Nein. Das Schloss ist mit einem Dietrich nicht zu öffnen, und weder Türen noch Fenster wurden aufgebrochen. Und an die Möglichkeit, dass sie ihn reingelassen hat, glauben wir nicht.«

»Vielleicht hatte er einen Schlüssel.«

»Die Wohnungstüren und die Haustür unten sind mit dem gleichen Systemschlüssel zu öffnen. Laut Hausverwaltung gab es für Elise Hermansens Wohnung nur einen Schlüssel. Und den hatte sie selbst. Berntsen und Wyller haben mit zwei jungen Männern gesprochen, die im Hausflur waren, als sie kam, und die sind sich beide sicher, dass sie die Tür selbst aufgeschlossen hat und nicht von jemandem, der schon in ihrer Wohnung war, hereingelassen wurde.«

»Verstehe. Könnte ihr Mörder den Schlüssel irgendwie nachgemacht haben?«

»Dafür müsste er sich den Originalschlüssel beschafft und dann noch einen Schlüsseldienst gefunden haben, der Systemschlüssel ohne schriftliche Genehmigung der Hausverwaltung nachmacht. Das ist ziemlich unwahrscheinlich.«

»Okay, aber das war eigentlich gar nicht das, worüber ich mit dir reden wollte …« Die Fahrstuhltüren öffneten sich vor ihnen, und zwei Kommissare traten heraus. Sie hörten augenblicklich auf zu lachen, als sie den Polizeipräsidenten sahen.

»Es geht um Truls«, sagte Bellman, nachdem er ihr höflich den Vortritt gelassen hatte. »Also Berntsen.«

»Ja?«, erwiderte Katrine und nahm den schwachen Duft seines Rasierwassers wahr. Sie hatte eigentlich gedacht, dass die meisten Männer sich nach dem Rasieren nicht mehr mit alkoho­lischen Lösungen pflegten. Bjørn hatte sich elektrisch rasiert, ohne eine Pflege zu benutzen, und die, die sie danach gehabt hatte … nun, in einigen Fällen wäre Katrine da schweres Parfüm sicher lieber gewesen als der natürliche Geruch dieser Männer.

»Wie fügt er sich ein?«

»Berntsen? Gut.«

Sie standen nebeneinander, den Blick auf die Fahrstuhltür gerichtet, aber aus den Augenwinkeln nahm sie sein schiefes Lächeln wahr.

»Gut?«, wiederholte er nach kurzem Schweigen.

»Berntsen erledigt die Aufgaben, die wir ihm geben.«

»Und die sind nicht sonderlich anspruchsvoll, nehme ich mal an.«

Katrine zuckte mit den Schultern. »Er hat keine Erfahrung als Ermittler, arbeitet aber als Kommissar im größten Morddezernat des Landes, sieht man mal vom Kriminalamt ab. Klar, dass man da nicht immer in der ersten Reihe mitmischt, oder?«

Bellman nickte und rieb sich das Kinn. »Ich wollte eigentlich nur hören, dass er sich anständig benimmt. Dass er … sich an die Spielregeln hält.«

»Soweit ich weiß, ja.« Der Fahrstuhl hielt an. »Von welchen Spielregeln reden wir eigentlich?«

»Es wäre mir lieb, wenn du ihn im Auge behalten würdest, Bratt. Truls Berntsen hat es nicht leicht gehabt.«

»Denkst du an die Verletzungen, die er durch die Explosion davongetragen hat?«

»Ich denke an … sein Leben, Bratt. Er ist etwas … wie soll ich das sagen?«

»Mitgenommen?«

Bellman lachte kurz und nickte in Richtung der offenen Fahrstuhltür. »Deine Etage, Bratt.«

Bellman betrachtete Bratts durchtrainierten Po, als sie sich über den Flur entfernte, und ließ seiner Phantasie freien Lauf, bis die Fahrstuhltüren sich wieder schlossen. Dann konzentrierte er sich wieder auf das Problem. Das eigentlich weniger ein Problem war als eine neue Möglichkeit. Trotzdem stand er vor einem Dilemma. Er hatte unter Wahrung höchster Diskretion eine Anfrage aus dem Büro des Ministerpräsidenten erhalten. Es war zu erwarten, dass es in der Regierung einige Veränderungen geben würde, unter anderem wurde vermutlich der Posten des Justizministers vakant. Die Anfrage bezog sich nun darauf, was Bellman – natürlich rein hypothetisch – antworten würde, sollte ihm dieses Amt angeboten werden. Anfangs war er einfach nur verblüfft gewesen, doch bei näherer Betrachtung war ihm klargeworden, dass die auf ihn gefallene Wahl vollkommen logisch war. Er hatte als Polizeipräsident nicht nur substantiell dazu beigetragen, dass der international als Polizeischlächter bekannt gewordene Täter dingfest gemacht werden konnte, sondern in der Hitze des Kampfes auch noch ein Auge eingebüßt, wofür man ihm über die Landesgrenzen hinaus Anerkennung zollte. Ein Polizeipräsident mit Juraexamen, der sich gut ausdrücken konnte, erst knapp über vierzig war und die Hauptstadt erfolgreich gegen Mord, Drogen und Kriminalität verteidigte, war sicher auch für höhere Aufgaben geeignet. Und dass er gut aussah, war kein Handicap, man musste ja auch an die weiblichen Wähler denken. Also hatte er – rein hypothetisch – mit ja geantwortet.

Bellman trat in der obersten Etage aus dem Fahrstuhl und ging an der Reihe der Porträts der früheren Polizeipräsidenten vorbei.