Ebersdorfer Geschichten - Dieter Findeisen - E-Book

Ebersdorfer Geschichten E-Book

Dieter Findeisen

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Beschreibung

Der kleine Ort Ebersdorf in Ost-Thüringen, in der Nähe der Bleilochtalsperre gelegen und jetzt Teil der Stadt Saalburg-Ebersdorf, kann mit seinen 1000 Einwohnern auf eine über 600- jährige interessante Geschichte zurück blicken. Erlebnisse und Berichte früherer Generationen, Sagen und Legenden wurden in den "Ebersdorfer Geschichten" miteinander verwoben. Häufig spielen darin der einst hier betriebene Bergbau und die zahlreichen im Saaletal angesiedelten Mühlen und Schmiedehämmer eine Rolle. Eine besondere Prägung erhielt Ebersdorf durch die Grafen Reuß j.L., die 1694 das Schloss bauten und den Ort zu einer ihrer Residenzen machten. Wenige Jahrzehnte später gründete sich im Ort eine Siedlung der Herrnhuter Brüdergemeine, die bis heute existiert. Dr. med. Dieter Findeisen, 1931 im thüringischen Greußen geboren und als Umsiedler 1944 aus dem Posener Land nach Ebersdorf gekommen, ist nach seinem Berufsleben als Arzt in Hildburghausen wieder Ebersdorfer geworden. Seitdem befasst er sich intensiv mit der Heimatgeschichte und engagiert sich für ihre Weitergabe an die Jüngeren und den Erhalt von Sachzeugnissen. Seine "Ebersdorfer Geschichten" stellte er über Jahre hinweg im Ebersdorfer Brüderhaus vor. Dabei ging es ihm besonders darum, Erinnerungen an ehemalige Gebäude und alte Flurnamen, an Personen und ihre Schicksale wach und lebendig zu erhalten. Dieter Findeisen bettet dazu seine Erzählungen häufig in reale historische Ereignisse in und um Ebersdorf ein und lässt sie phantasievoll lebendig werden. Einige der Geschichten aus jüngerer Zeit basieren auf eigenen Beobachtungen und Erlebnissen des Verfassers. "Die beschriebenen Begebenheiten haben sich so zugetragen oder könnten sich zumindest so zugetragen haben. Diese Ebersdorfer Geschichten sind wahre, teilweise auch märchenhafte Erzählungen, die uns mit der Vergangenheit unserer Heimat verbinden."

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Diese Ebersdorfer Geschichten sind wahre, teilweise auch märchenhafte Erzählungen, die uns mit der Vergangenheit unserer Heimat verbinden.

Die in diesem Heft zusammengestellten Ebersdorfer Geschichten von Dr.med. Dieter Findeisen wurden in den Jahren 2008 bis 2017 vom Autor in Veranstaltungen des Comenius-Zentrums Ebersdorf vorgestellt.

Sie wurden von Dr. Frank Bernhard bearbeitet und zum Druck vorbereitet.

Fotos und Zeichnungen: Dieter Findeisen (sofern nicht anders angegeben.)

Inhaltsverzeichnis

„Atollsrock?“

Die Donnerbrücke

Eine Freundschaft über den Tod hinaus

Die Apothekerfichten

Das Loch in der Ruine des „Löwen“

Ein letzter Besuch

Der Fritz, der macht das gut.

Der Katzentanzplatz

Das ungelöste Rätsel vom „Schönen Haus“ in Ebersdorf

Adalbert baut ein Haus

Der Schwarze

Eine Geschichte über das „Comtessenhaus“

Der Einsiedler vom Heinrichstein

Das Moosfräulein

Die Geschichte mit der Feldhauserin

Der letzte Tag des Ruhmüllers

Über das Brauen und den Verlust der Lobensteiner Brau-Gerechtsame

Der Haidberger bleibt zurück

Die alte Barbara

Das Geheimnis im „nassen Birkicht“

Das Antoniusfeuer

Die Verlobungsbank

Der letzte Hauer im Luxloch

Der Kobold in der alten Ruhmühle

Die Geschichte vom Mühlenkater

Französische Soldaten plündern den „Grauen Affen“

Paul Beyer

Die Ida hatte nichts gesehen

Das Geheimnis der Zeche „Stahlhäuslein“

Karte mit alten Flur-, Orts- und Gebäudebezeichnungen

Sachwort-, Flur- und Namensverzeichnis

„Atollsrock?“

Eine Erzählung um den Heinrichstein

Diese Legende entstand in einer Zeit, in der die Menschen mit ihrer Geschichte auch ihre Geschichten vergessen hatten. Wie zu Dornröschens Zeiten waren sie träge geworden und sogar die Fliegen an der Wand waren kurz vor dem Einschlafen.

Selbst die älteste Frau im Dorfe, die Ulla, die die Geschichte von „Attolsrock" vor 80 Jahren vom Oberlehrer Friedrich in der Schule gelehrt bekam, hatte sie wieder vergessen. Die Ebersdorfer hatten auch den Namen des kühnen Reiters vergessen. Einer glaubte, dass ein .Adols Roc" von den Franzosen verfolgt worden sei; ein anderer meinte, der schwedische Trompeter "Attolsrock" habe den großen Sprung gewagt, und ein weiterer entsann sich an den Namen "Heinrichs Ross".

Also mussten die Ebersdorfer sich für einen der Namen entscheiden und eine neue Geschichte mit viel Wahrheiten erfinden:

Im Jahre 1613 trug es sich zu, dass ein katastrophales Hochwasser durch die plötzliche Schneeschmelze alle Menschen und Tiere in große Not brachte. Die Flut nahm Menschen, Häuser, Vieh und Ackerboden mit sich fort und wurde später die "Thüringer Sintflut" genannt. - Die weisen Frauen sagten böse Zeiten voraus.

So kam der 30-jährige Krieg (1618-1648), in dem die Kaiserlichen unter Wallenstein auf der einen Seite mit Feuer und Schwert den katholischen Glauben wieder einführen wollten und auf der anderen Seite die Schweden unter ihrem König Gustav Adolf den Reformern 'zu Hilfe eilten. - Beide Heere lebten vom Land, brandschatzten die Dörfer und verwüsteten die Felder.

Zunächst lag Ebersdorf noch fernab vom Kriegsgeschehen. So konnten die Nachbarn 1622 die Christophoruskapelle abreißen, die schon seit 1539 marode war und an ihrer Stelle den „Kirchteich" anlegen. Sie hatten bergan am "Remptendorfer Weg" im gleichen Jahr eine Kirche fertig gebaut und am 27. Oktober geweiht. - Nun mussten sie ihre Toten nicht mehr nach Friesau fahren, sondern konnten sie auf dem Kirchhof neben der neu gepflanzten Eiche begraben.

Im Juni 1631 aber musste die Herrschaft Lobenstein 3000 Landsknechte in Quartier und Verpflegung nehmen. So war die Kriegsfurie auch nach Ebersdorf gekommen.

Das schwedische Heer war nach seiner Landung im Juli 1630 auf der Peenemünder Schanze im Frühjahr 1632 bis hinunter nach München gezogen und hatte im Spätsommer des gleichen Jahres den Rückweg angetreten, bei dem sie sich den kaiserlichen Truppen annäherten, die ebenfalls in Richtung Norden auf dem Marsch waren - zur Schlacht bei Lützen!

Lobenstein war in jenen Jahren eine der Residenzen des Landesherren von Reuß-Gera, Heinrich Posthumus (1572-1635), weithin kenntlich an einem hohen Turm, dem "Kartoffelsack".

Im Herbst des Jahres 1632 kam ein schwedischer Oberst mit einer Kavalkade kühner Reiter und reichlich Fußvolk von Süden her. Der Turmwächter hatte schon seit Stunden die Staubwolke gesehen, die das Heer ankündigte.

Die Schweden verschanzten sich auf der Bergfeste Lobenstein in Erwartung der von der Saalburg heranrückenden kaiserlichen Söldner.

Das Krähen der Hähne, das aus der noch im Dunkeln liegenden Stadt herauf schallte, kündigte den Morgen des 8. Oktober 1632 an. Dann fiel die Morgensonne auf die Zinne des Turms und glitt an ihm hinunter.

Der junge Trompeter, einer der besten Reiter der Truppe, hat sich mit dem Rücken an den alten Turm gelehnt und lässt sich nach der kühlen Nacht von der Sonne durchwärmen.

Mit geschlossenen Augen denkt er an seine alte Mutter in der fernen, rauen Heimat, die er vor 2 Jahren hat verlassen müssen. - Das Brot hatte nicht mehr für alle gereicht - Sicher hat sie auch in diesem Jahr die kärgliche Ernte von den steilen Feldstreifen wieder alleine einholen müssen. Ihre Gestalt wird sich weiter gebeugt haben; aber den warmen Blick aus den gütigen Augen und die heilenden Hände wird sie behalten haben.

Aus dieser traumhaften Verklärung reißt ihn der Befehl des Obersten, die Annäherung der Kaiserlichen zu erkunden.

Er springt auf, sattelt sein Pferd und bald klingt der einsame Hufschlag durch die Gassen der verschlafenen Stadt. In ihnen liegt der Rauch der frühen Herdfeuer und es verspricht, ein Herbsttag zu werden, der auch das Herz erwärmt. - Mit einem wortlosen Gruß passiert er die Schildwache am unteren Tor. - Hinter der Furt durch die Lemnitz steigt die alte Heerstraße zum "Galgenberg" an. Im Hohlweg führt sie an den "Gerichtslinden" vorbei. Am Dreiholz hängt des „Seilers Tochter“ ruhig in der morgenblauen Luft. Ein Rabe krächzt und verneigt sich dabei mit gesträubtem Halsgefieder vor dem frühen Reiter. - Nachdem dieser den "Grünen Esel" überquert hat, führt ihn die Straße in „Bohlichs Tal" hinunter. - Kurz vor der Friesau angekommen, erblickt er einen flüchtenden Wolf, der den vom „nassen Birkicht" kommenden Hohlweg herunter auf ihn zukommt. - Vor wem flüchtet der Graue? - - Eisen klingt auf Eisen; aber im herrschaftlichen Kalksteinbruch ruht die Arbeit! - Hufgetrappel?! - Das Pferd verharrt in der Furt, wendet die Ohren zum Hohlweg und schnaubt unwillig. - Stimmen? - Beide stehen wie versteinert in der Furt.

Da taucht aus dem in der Morgensonne gleißendem Nebel im Hohlweg plötzlich ein ganzes Fähnlein von kaiserlichen Reisigen auf. - Nach kurzem Halt hebt der Anführer den rechten Arm: Folgen! - Und der Vortrab setzt sich mit lautem Hufschlag und Waffenklang in Richtung auf die Furt in Bewegung.

Der Schwede erkennt die Gefahr, die seinen Kameraden auf der Bergfeste droht; es bleibt nur, eine falsche Fährte zu legen. - Unser Reiter gibt seinem Pferd die Sporen, reißt es gleichzeitig am Zügel nach rechts und reitet im gestreckten Galopp vorbei am Kalkofen, dann den Karrenweg hinauf, über das "Ärgernis" und auf dem Kamm entlang. - Weißer Schaum fliegt vom Maul des Pferdes davon.

Die johlende Meute einer zehnfachen Übermacht folgt ihm durch den Herbstwald auf dem Fuße.

Der kleine Heinrichstein 2014

Der junge Schwede weiß, dass es für ihn um Leben und Tod geht und, dass seine Kameraden ohne sein warnendes Signal in großer Gefahr sind.

Wie im Traum bemerkt er den bunten Herbstwald an sich vorbei stürmen, fühlt den warmen schweißbedeckten Pferdekörper unter sich, mit dem er jetzt eins geworden ist. Er sieht, wie die höher steigende Sonne in klarer Luft den über der Saale liegenden Nebel so verdichtet hat, wie sie es nur hier in diesem Gebirgstal kann.

Den jungen Reiter beseelt Freude, Hoffnung und Mut, als ihm die Mutter erscheint. Aufmunternd lächeln ihm die gütigen Augen zu. Die Mutter streckt die geöffneten Arme entgegen, bereit, ihrem Sohn in jeder Notlage beizustehen.

Ross und Reiter, zu einem Wesen verbunden, wagen ohne Zögern einen gewaltigen Sprung von der mittleren der drei Basteien über der "Stuhleite" in das Wolkenbett der Saale.

Die Verfolger sehen beide im Nebel versinken. - Ihre Pferde scheuen vor dem gähnenden Abgrund zurück, sie sind kaum zu parieren und zittern am ganzen Leib.

Aus der Tiefe hört man nur das Rauschen der Saale.

Das treue Pferd muss seinen Reiter über das "Friesental" und entlang des "Goldbaches" zum "Galgenberg" getragen haben. Kam doch von dort das Trompetensignal herüber zum Burgberg, rechtzeitig genug, die Kaiserlichen gebührend mit Spieß und Schwert zu empfangen.

Im Westen versank die Sonne; ihr letzter Strahl lag milde auf der Zinne des Bergfrieds, ehe sich die Nacht über diesen Tag senkte.

Die Gefangenen berichteten, wie der kühne Reiter und sein Pferd vom dichten Nebel aufgefangen worden waren und sie selbst schaudernd am Rande des Abgrundes standen.

Ein letztes Mal hatte die Mutter ihren Sohn in ihren bewahrenden Armen aufgefangen.

Es wird 200 Jahre her sein, dass der Name des Reiters auf der heute "kleiner Heinrichstein" genannten Bastei in einen schweren Steinquader eingemeißelt wurde. Der Stein verschwand in den 1970er Jahren; wahrscheinlich wurde er in die Tiefe gestoßen. Seit 2009 übernimmt nun ein eisernes Medaillon1 die Erinnerung an einen kühnen Menschen, der das Unmögliche wagte.

Wie nun der mutige Mann wirklich hieß, wird sich vielleicht erst klären, wenn in Jahrhunderten die Saale ihre Geheimnisse wieder preis gibt und der alte Stein wieder gefunden wird.

1 Das Medaillon wurde gestohlen.

Die Donnerbrücke

Eine wahre Geschichte

Das Schleizer Erbprinzliche Paar Heinrich XXVII. und Elise von Hohenlohe-Langenberg bekamen 1890 ihr erstes Kind.

Hebamme und Arzt warfen sich bei der Geburt einen verstehenden und sorgenvollen Blick zu. Waren sie doch die ersten, die den neuen Erdenbürger zu Gesicht bekamen. Die Hebamme begnügte sich deshalb auch mit dem kurzen Hinweis für die Mutter: „Es ist ein Prinzesschen!“

Der Hofarzt hatte den schwereren Teil der Aufklärung zu übernehmen, in dem er zunächst den Erbprinzen davon informierte, dass sein Töchterchen die Krankheit habe, die in Kreisen der Aristokratie häufiger vorkommt als bei den Nicht-Blaublütigen: Mongolismus, wie man damals zum Down-Syndrom bzw. der Trisomie 21 sagte.

Viel komplizierter und tränenreicher war dann die Unterrichtung der Erbprinzessin verlaufen, die sich nur schwer mit diesem Schicksalsschlag abfinden konnte. So schwer wie dieser auch war, unter einem liebevollen Umgang wuchs die Kleine, die auf den Namen Louise Adelheid getauft worden war, als ein sehr anhängliches und freundliches Kinde heran. Schon von Anfang an wurde es nicht anders als „Sissi“ genannt, nicht nur im Schloss, auch im Dorf und sogar in der „großen Stadt“ Gera war „Sissi“ in aller Munde.

Wenn ihre Eltern oder die Großeltern ihre Sommerresidenz Ebersdorf bezogen hatten, aber auch, wenn sie nur von ihrer Pflegerin hierher begleitet wurde, wollte man ihr in ihrer Abgeschiedenheit gelegentlich eine ganz besondere Freude bereiten.

Das Frühstück ist gerade im Speisezimmer neben dem Gartensaal oder bei ganz gutem Wetter auch auf der Terrasse zwischen den Kübeln mit subtropischen Pflanzen eingenommen, als der Kies auf dem von der Straße herführenden Weg knirscht und bald das vom Marstall kommende Ponygespann durch das Gartentor einbiegt. Die Pferdchen trappeln heran; sie ziehen eine offene viersitzige Kutsche. Der Kutscher in seiner Livree auf dem Bock knallt mit der Peitsche.

Auf dieses Signal hat Sissi gespannt gewartet und nun stößt sie einen Jubelschrei aus. Auf geht’s zu einer Spazierfahrt durch den Schlosspark.

Sissi kann sich über jede Kleinigkeit herzlich freuen, über die Eichhörnchen, die in der „alten Allee“ vor der Kutsche die Stämme hinauf fliehen, über die langsam ruckelnde Auffahrt zum „Theehaus“ und die Bergabfahrt zur „Eremitage“, bei der die Bremsen quietschen. Am „Pfotenteich“ kommen die Schwäne angeschwommen, die auf eine Handvoll Futter warten, die Sissi ihnen zuwirft. Dann geht es über die Friesau hinauf zum „Altan“. Hier hält der Kutscher an, denn gelegentlich stehen im „Buttelsgrund“ einige Rehe bei einem zweiten Frühstück.

Die Donnerbrücke

Dann aber, Sissi kann es kaum erwarten und sie fiebert in kindlicher Freude dem Höhepunkt der Kutschfahrt entgegen.

Die Fahrt geht nun wieder bergab und in Erwartung des schon sichtbaren Anstiegs feuert der Kutscher die Pferdchen noch einmal an. Das Getrappel der kleinen Hufe und das Rollen der Räder verstärken sich auf den Bohlen des Brückchens zu einem Donnergrollen und Sissi ist kaum auf dem Sitz zu halten, als sie ruft: „Die Donnerbrücke“. Dieses Brückchen ist eigentlich nur ein Steg, aber seitdem Sissi sich immer wieder so herzlich über das Donnergrollen freuen konnte, hieß diese am Hofe und bald auch in ganz Ebersdorf eben die „Donnerbrücke“.

Die erste Lehrerin und Pflegerin für Sissi war Fräulein Wilhelmine Kindler, die unermüdlich versuchte, ihren verschütteten Geist wieder zu beleben. Und tatsächlich hatte Sissi auch für Manches eine besondere Begabung. So konnte sie sich die Geburtstage aller möglichen Besucher über viele Jahre ebenso merken wie Rätsel und harmlose Witze, mit denen sie immer wieder überraschte.

Wilhelmine, wie Sissi ihre Pflegerin nannte, beschäftigte sich in den Abendstunden, wenn ihr großes Kind schon schlief, mit Volapük, einer Kunstsprache und übersetzte mit ihrer Blindenschrift-Schreibmaschine Geschichten in Braille-Schrift.

Als Wilhelmine alt geworden war, zog sie im hinteren Schlossflügel in die Bibliotheks-Etage, konnte dort nach Herzenslust in Büchern schwelgen und wurde von der Hofküche und der Beschließerin gut versorgt.

Ihre Nachfolge trat Fräulein Nini Schnappauf an. Sie sorgte sich um das Wohlergehen von Sissi und um den nun schon alten, aber sehr gesprächigen Graupapagei.

1945 rückte die amerikanische Armee in Ebersdorf ein; Offiziere nahmen Kontakt mit den vielen im Schloss befindlichen Flüchtlingen auf; einige bezogen hier auch Quartier. Dadurch hatten sie und die Schloßbewohner wohl auch mitbekommen, dass die Amerikaner Thüringen demnächst der Sowjetarmee überlassen würden.

Im Dorf und vor dem Holzhof, wo jetzt die amerikanische Roteiche steht, wurden die Pferdewagen für einen Treck2 beladen.

Der Erbprinz Heinrich XLV., Chef des Hauses Reuß, war sehr um einen möglichst schonenden Transport seiner Schwester Sissi bemüht, hatte er doch seine Mutter vor Augen, die ihm kurz vor ihrem Tode das Versprechen abgenommen hatte, sich immer um die kranke Schwester zu kümmern.

Der schwerfällige Treck in Richtung Westen machte seinen ersten Halt am Forsthaus Rodacherbrunn, nahe der Grenze zwischen Thüringen und Bayern. Da Sissi die Fahrt nur schlecht überstanden hatte, bat der Bruder einen Arzt aus Nordhalben um seinen Rat. Der empfahl ihm in völliger Verkennung der Situation die Rückkehr nach Ebersdorf.

Die Befolgung dieses Rates sollte dann den baldigen Tod Heinrichs XLV. in Buchenwald bedeuten, denn nach dem Einzug der sowjetischen Truppen in Ebersdorf wurde er verhaftet und in das „Speziallager“ Buchenwald verschleppt.

Stark verwitterter Grabstein für Sissi

Die drei alten Frauen mussten das Schloss in kürzester Zeit verlassen. Während Wilhelmine Kindler von Hanna Renkewitz aufgenommen wurde, die ihr Weniges mit der gebrechlichen Wilhelmine teilte, und sie bis zum Tode pflegte, fanden Sissi und Fräulein Schnappauf sowie der Papagei ein Zimmerchen in der Postgasse 1.

Sie zogen dann zum Schuhmacher Füg in die mittlere Gasse. Dessen Frau, die bisher im Schloss gearbeitet hatte, half nun bei der Versorgung der inzwischen sehr unbeweglich gewordenen Sissi. Der Papagei starb und 1951 folgte ihm Sissi. Sie fand auf dem Gemeindefriedhof in einem ausgemauerten Grab ihre letzte Ruhe, da die Beisetzung bei ihren Eltern verboten wurde.

Nini Schnappauf mit Martin Gleichmann vor dem Haus in der Hauptstraße 19 (ca. 1985).

Fräulein Schnappauf verbrachte ihre letzten Lebensjahre im Parterre des Hauses Hauptstraße Nr. 19.

In den Jahren unter sowjetischer Militärverwaltung und denen der DDR ab 1949 wurde dafür gesorgt, dass auch die Erinnerung an die „Donnerbrücke“ scheinbar verloren ging.

2 Wagenkolonne mit Flüchtlingen

Eine Freundschaft über den Tod hinaus

Die Geschichte zweier Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können.

Es mag im Jahr 1952 gewesen sein, als ein hagerer, abgerissener Mann von 50 oder 60 Jahren, leicht gebückt und mit zögernden Schritten zwischen Ebersdorfer Häusern suchend hin und her geht. Er fällt den Ebersdorfern nicht weiter auf, ist er doch in diesen Jahren nicht er einzige Suchende.

Damit erschöpft sich auch schon fast das sichere Wissen über den Einen. Über den Anderen dagegen könnte man Bücher schreiben!

Als Erik 1895 in Gera zur Welt kam, hatte er eine glänzende Zukunft vor sich. Er hatte das Glück, in Geras begütertste Familie hinein geboren zu werden und sein Vater hatte, seinen Lebenswunsch vorausahnend, ein herrliches Jugendstil-Theater bauen lassen sowie für seine ausgezeichnete Bildung gesorgt.

Und wenn die Welt nicht schon vor einem Jahrhundert auseinander gebrochen wäre, hätte man ihm eine Fürstenkrone aufs Haupt gesetzt.

So wie die kurze Geschichte des Einen für uns mit seiner Entlassung aus dem „Speziallager“ Buchenwald beginnt, endet die lange Geschichte des Erbprinzen Heinrich XLV., eben des Anderen, für uns mit seiner Verschleppung in eben dieses Lager im August 1945.

Er hatte sich wegen der Erkrankung seiner Schwester auf Anraten eines Arztes aus Nordhalben in Rodacherbrunn vom Treck nach dem Süden in die amerikanische Besatzungszone getrennt und war mit ihr nach Ebersdorf zurück gefahren.

Er war sich keiner Schuld bewusst; die sowjetische Militärverwaltung verschleppte ihn, jahrelang blieb unklar wohin. Dem sowjetischen Militärkommandanten mag die Erschießung der Zarenfamilie in Jekaterinburg ein revolutionäres Vorbild gewesen sein.

Das Schicksal kann es gefügt haben, dass im Lager dem Einen und dem Anderen ihre Strohsäcke, ihr einziger persönlicher Bereich, nebeneinander auf einer mehretagigen Holzpritsche zugeteilt wurden.

Gedenktafel im Schlosspark Ebersdorf3

Zwei Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können, fanden in der grausamen Wirklichkeit eines Straflagers zu einander. Aus gegenseitiger Hilfeleistung wurden eine innere Annäherung und Vertrauen. Der Eine wird seine Lebensgeschichte dem Anderen eröffnet haben.

Vielleicht kam jener zu Fuß aus den gebrandschatzten Weiten Russlands in seine Dresdener Heimat und fand an der Ruine des Elternhauses ein Schild, wie es damals häufig zu sehen war: „Wir leben noch und sind zu Tante Paula gezogen.“ Da hat der ausgemergelte Mann vielleicht seine Beherrschung verloren und sich einen Fluch auf Amerikaner, Engländer und Sowjets nicht verkneifen können. Vielleicht war es auch einer der vielen unterschiedlichen Gründe, derentwegen viele in falschen Verdacht gekommen waren. Den wahren Grund wird der Eine dem Anderen offenbart haben; uns bleibt er verborgen.

Und der Andere hatte sich soweit seinem Leidensgenossen geöffnet, dass er von seiner Mutter Elise und seiner behinderten Schwester Sissi erzählt hatte, die er hilflos in Ebersdorf hatte zurücklassen müssen, obwohl ihm die Mutter noch auf dem Sterbebett das Versprechen abgenommen hatte, immer gut für sie zu sorgen. Er machte sich Vorwürfe, etwas versäumt, etwas falsch gemacht zu haben.

In seiner eigenen Hilflosigkeit war es ihm ein Trost, dem Kameraden mit den vielleicht besseren Überlebenschancen diese Sorgen mitgeteilt zu haben – einschließlich der Bitte, Sissi oder ihr Grab in Ebersdorf zu besuchen. So war er ruhiger in seinen Himmel eingegangen4.

Der Eine erfüllt die Bitte des Anderen und wandert auf wunden Füßen nach Ebersdorf und fragt sich durch. Ebersdorf hat inzwischen viele Vertriebene aufgenommen; manche Befragte können ihm keine Antwort geben, sie sind hier selbst noch fremd.

Er klopft in der Postgasse 1 an, dann beim Schuster Füg in der Mittleren Gasse und schließlich in der Hauptstraße 19

Hier wohnt im Parterre Nini Schnappauf, Sissis ehemalige Pflegerin. Er erfährt von Sissis Tod und lässt sich ihr Grab beschreiben5.

Am Abend liegt ein kleiner Feldblumenstrauß, gepflückt am Rande eines mühevollen Wanderweges, auf Sissis Grab – ein letzter Gruß des geliebten Bruders.

3 Am 100. Geburtstag des Erbprinzen neben dem Grabstein seiner Familie enthüllt.

4 Den Tod von Heinrich XLV. in Buchenwald konnte Frau Lies Heinrich bestätigen, ehemals wohnhaft in Jena, Sophienstraße 53 pt.

5 Siehe Seite 14.

Die Apothekerfichten

Eine Ebersdorfer Geschichte

Bis etwa zum Jahre 1970 standen dem Witwenhaus gegenüber einige große Fichten am Rande des Zinzendorfplatzes, die die Linden und dichten Jasminbüsche, die den Platz umgrenzten, weit überragten. Wie alt diese Fichten waren, weiß ich nicht genau, schätze ihr Alter aber auf etwa 100 Jahre. Eines Tages waren sie abgesägt und damit ist auch beinahe eine Ebersdorfer Geschichte mit verloren gegangen.

Während heute eine Apotheke kaum anders als ein Supermarkt aussieht und der Apotheker fabrikmäßig hergestellte Medikamente verkauft, musste er früher viele Arzneien nach Anweisung des Arztes selbst herstellen. Diese Anweisung, das Rezept, was so viel wie Verpflichtung heißt, ist auch heute noch der Auftrag an den Apotheker, ein bestimmtes Medikament abzugeben.

Die Rezepte waren früher in Latein abgefasst, der damaligen Sprache der Wissenschaft, zusätzlich aber auch noch durch Fachausdrücke kompliziert und somit für den Laien praktisch unlesbar.

Eines Tages brachte ein Patient ein Rezept, das ihm Dr. Schulz verschrieben hatte, der an der anderen Ecke des Zinzendorfplatzes wohnte. Der Apotheker schob seine Brille auf die Stirn, nahm das Rezept entgegen, las es und ließ die Brille wieder auf die Nase hinunter fallen. Dann ging er zu einer der Flaschen auf dem obersten Regalboden mit dem Etikett „Extractum Filicis“6.

Schon beim Anheben der Flasche merkte er, das der darin enthaltene Rest für das Rezept wohl nicht mehr reichen würde. Also sagte er dem Johann, der mit der Mütze in der Hand auf seine Arznei wartete, dass die Herstellung noch zwei Tage dauern würde. Er, der Patient, habe seinen Bandwurm sicher schon länger, da würden zwei Tage wohl nicht ins Gewicht fallen. Johann wars zufrieden.

Der Apotheker rief nun seinen Lehrling. Dieser musste das Verreiben einer Salbe unterbrechen und sich für einen Gang zum Heinrichstein fertig machen. Er bekam den Auftrag, einen Korb voll Rhizomae Filicis, das sind die Wurzelstöcke des Wurmfarns, zu sammeln und bald wieder zurück zu sein.

Dieses uralte Wurmmittel war in Deutschland einmal in Vergessenheit geraten. Friedrich der Große hatte dann aber das Rezept aus der Schweiz gekauft, so dass die unwirksamen Mittel wie der Galitzenstein und das Kupferwasser aus der Mode gekommen waren.

Nun mag der Lehrling vielleicht nicht ganz helle gewesen sein, vielleicht kam er auch aus der Stadt oder hatte nur das Wort „Filicis“ im Ohr und geglaubt, es handele sich im Fichten.

Jedenfalls hatte er, als er abends nach Hause kam, zur Überraschung des Apothekers keinen Wurmfarn im Korb, sondern Fichtensämlinge.

Da der Apotheker mit diesen nichts anfangen konnte, sie aber auch nicht wegwerfen wollte, pflanzte er sie kurzerhand auf den Zinzendorfplatz, dessen oberer Teil zu damaliger Zeit dem Apotheker zur Anzucht von Arzneipflanzen zur Verfügung gestellt war.