Echo - Thomas Olde Heuvelt - E-Book
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Echo E-Book

Thomas Olde Heuvelt

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Beschreibung

Eigentlich sollte es eine ganz gewöhnliche Bergtour werden, als Nick mit seinem Kumpel Augustin zu einer Kletterpartie in den Schweizer Alpen aufbricht. Doch dann kommt es unterwegs zu einem tragischen Unfall: Augustin stürzt in eine Gletscherspalte, Nick wird schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert – er wird für immer entstellt sein. Sam, Nicks Lebensgefährte, ist zunächst nur froh, dass sein Freund überlebt hat, aber dann passieren immer mysteriösere Dinge in Nicks Umfeld. Auch Nick selbst verhält sich immer seltsamer, und schon bald wird Sam klar, dass Nick etwas aus den Bergen mitgebracht hat. Etwas Böses ...

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Seitenzahl: 836

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Das Buch

Nick Grevers hat alles, was man sich vom Leben wünschen kann: Er sieht gut aus, kommt viel in der Welt herum und hat keine Geldsorgen. Seit drei Jahren ist er mit seinem Freund Sam zusammen, gemeinsam leben sie in Amsterdam. Es könnte also alles wunderbar sein, wäre da nicht Nicks Leidenschaft für alpine Hochtouren. Sam teilt Nicks Passion für die Berge ganz und gar nicht, und so ist es wieder einmal Augustin Laber, mit dem Nick in den Schweizer Alpen unterwegs ist. Eines Tages entdecken die beiden einen Gipfel, den sie nicht kennen. Auch die Einheimischen scheinen nichts darüber zu wissen, außer, dass der Berg Le Maudit heißt. Nicks und Augustins Neugierde ist geweckt, spontan beschließen sie, den mysteriösen Gipfel zu erklimmen. Eine Tour de Force, die zu einem Trip durch die Hölle wird …

Als Sam Avery einen Anruf der Schweizer Polizei erhält, ist ihm sofort klar, dass das eingetreten ist, was er immer befürchtet hat: Nick ist in den Bergen verunglückt. Er liegt schwer verletzt im Krankenhaus, Augustin ist tot. Was ist auf dem Maudit geschehen? Warum verhält sich Nick in den darauffolgenden Wochen zusehends unheimlicher? Hat er gar etwas mit Augustins Tod zu tun? Noch während Sam versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden, wird Nick zur tödlichen Gefahr für jeden, der ihm begegnet.

Der Autor

THOMAS OLDE HEUVELT wurde 1983 in Nijmegen, Niederlande, geboren. Er studierte Englisch und Amerikanistik an der Radboud Universität Nijmegen und an der University of Ottawa in Kanada, wo er ein halbes Jahr lang lebte. Seine Kurzgeschichte »The Day the World turned upside down« wurde mit dem Hugo Award ausgezeichnet, andere Kurzgeschichten wurden für den Hugo Award und den World Fantasy Award nominiert. Mit Hex, einem Roman über die Heimsuchung einer idyllischen amerikanischen Kleinstadt, gelang ihm der internationale Durchbruch.

THOMAS OLDE HEUVELT

ECHO

Roman

Aus dem Niederländischen übersetzt von Gabriele Haefs

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:ECHODer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 10/2021

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright © 2019 by Thomas Olde Heuvelt

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-26043-9V003

www.heyne.de

Für Pieter,wegen der Berge.

Und für David,wegen der Liebe.

Jenseits von Gut und Böse

»Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.«

– Friedrich Nietzsche

PROLOG Das Böse kommt auf leisen Sohlen

»Aber drei Uhr – großer Gott! Die Ärzte sagen, dass der Körper dann den Tiefpunkt erreicht hat. Die Seele ist frei. Das Blut strömt nur langsam. Nie wieder ist man dem Tod näher, bis zur Stunde des Todes selbst. Schlaf ist ein Stück des Todes, aber drei Uhr morgens, offenen Auges erlebt, das ist der lebende Tod! Man träumt mit offenen Augen.«

– Ray Bradbury

Was mit Julia Avery geschah

1

Julia sieht die Menschen unten an der Stiege, als sie nachts pinkeln muss. Sie stehen reglos dort im Dunkeln und starren zu ihr hoch, als ob sie auf sie gewartet hätten. Julias linker Fuß befindet sich auf der obersten Stufe, und sie will gerade ihren rechten auf die nächsttiefere setzen, als sie zögert und sich ihre Finger krampfhaft an das Geländer klammern. Natürlich zögert sie, denn plötzlich dringt es zu ihrem halb wachen Gehirn durch: Da unten stehen Menschen, und sie starren zu mir hoch.

Kurz zuvor ist sie aus dem Schlaf geschreckt. Ihre Nachttischlampe vertreibt die Schatten aus dem Chalet, aber draußen heult der Wind um das Dach, sodass die Luken klappern und die Balken krachen. Das Geräusch ruft bei Julia instinktiv ein Gefühl von Unheil hervor. Dieses Gefühl versetzt sie zurück ins vertraute Huckleberry Wall, das bei genau so einem Sturm abbrannte. Das war vor fünfzehn Jahren in den Catskills, und die liegen Tausende von Kilometern von diesem Haus in den Schweizer Alpen entfernt, aber wenn nachts der Schnee an den Fenstern klebt und der Wind immer stärker und stärker tost, dann sind alle abgelegenen Berghütten gleich. Creepy as fuck.

Julia greift nach dem iPhone unter ihrem Kissen. Ein Uhr fünfzehn, und keine Nachricht von Sam. Dammit. Ihr tut alles weh.

Sie schlägt die Decke zurück, und ihre Körperwärme, festgehalten von den Daunen, wird vom Luftzug weggetragen. Die Kälte der Nacht füllt den Dachboden aus. Es ist der wie ein Echo des Sturms durch das Chalet wirbelnde Luftzug, der Julia am Abend zuvor davon abgehalten hat, ein Feuer zu machen. Sie bildet sich ein, dass, während sie schläft, die Nacht Leben in die Kohlenreste hauchen, glühende Ascheteilchen auf die Tapete werfen und die Vorhänge in Brand stecken wird. Vor fünfzehn Jahren hat ihr großer Bruder sie geweckt, ehe sie im Rauch ersticken konnte – sie war sechs, er neun –, aber heute Nacht hat er zum letzten Mal um kurz vor halb elf angerufen, als er auf der Schnellstraße bei Bern feststeckte. Der Winterdienst tut sein Bestes, sagt Sam durch die schlechte Verbindung, aber schneller als im Schritttempo kommt er nicht voran, und der schlimmste Teil der Strecke, der durch die Berge, steht ihm noch bevor. Das heißt, falls der Weg durch das Tal noch offen ist. Vielleicht hat er aufgegeben und ist in ein Hotel gegangen. Das hofft Julia eigentlich, denn Sam steht unter zu großer Anspannung, und sie hat schreckliche Angst, dass er von der Straße abkommen und einen Unfall verursachen könnte. Sie hört mehr als nur Unruhe in seiner Stimme, wenn er sie anfleht, weiter Ausschau nach Nick zu halten … und sich vor Nick in Acht zu nehmen.

Aber seitdem sind drei Stunden vergangen, und Sam hat nichts mehr von sich hören lassen. Auch von Nick kein Lebenszeichen. Julia ist inzwischen mehr als nur beunruhigt. Sie ist verängstigt.

Barfuß läuft sie über den unter ihrem Gewicht knackenden Dielenboden zur Holztreppe, die ins Erdgeschoss führt.

Diese Stufen.

Die führen ins Dunkle.

Es gibt einen Lichtschalter, aber ehe sie danach suchen kann, steht sie auf dem obersten Absatz und sieht die Menschen von unten die steile Treppe heraufstarren.

Sie sind kaum mehr als Silhouetten, Schwarz gegen Schwarz, aber Julia spürt ihre Blicke, fühlt das Zielgerichtete in der Anwesenheit dieser Menschen. Sechs, sieben Gestalten, zusammengedrängt unten an der Stiege, reglos.

Sie begreift, dass es keine Einbrecher sind, dazu ist das Chalet zu abgelegen, die Nacht zu erbarmungslos. Sie begreift auch, aufgrund eines primitiven Überlebensinstinkts, dass sie das Licht nicht einschalten darf. Im Licht würde sie die Menschen dort unten nicht mehr erkennen – und sie nicht zu sehen, in dem Wissen, dass sie da sind, wäre schlimmer, als sie zu sehen.

Viel schlimmer.

Die Kälte, die Julia umfängt, als sie zum Bett zurückläuft, ist nicht nur physisch. Es ist eine Kälte in ihrer Seele, so elementar, dass sie sich energisch gegen die Kraft wehren muss, mit der diese Kälte von ihr Besitz ergreift. Eine Diele kracht wie ein Gewehrschuss, als sie darauf tritt, und Julia krümmt sich zusammen, springt ins Bett und zieht sich die Decke bis zum Kinn. Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie das Bild der Schatten auf ihrer Netzhaut an, zu gelähmt, um zu überlegen, was sie jetzt tun soll.

Von hier aus kann sie die Stiege nicht mehr sehen.

In der Sicherheit ihres Bettes dringt langsam die naheliegende Erklärung zu Julia durch: Sie hat geträumt. Natürlich. Sie umarmt diese Möglichkeit mit gieriger Überzeugung, die Logik ist unwiderlegbar. Sie ist zwar aus dem Bett aufgestanden, aber im Halbschlaf hat ihre Fantasie sie Dinge sehen lassen, die nicht vorhanden sind. Schatten, verformt zu menschlichen Gestalten, eine schlaftrunkene Projektion ihrer Angst.

Du warst wach genug, um dich ganz vernünftig zu fragen, wo Sam steckt. Wach genug, um dich ernsthaft zu fürchten.

Sie verdrängt diesen Gedanken. Dort unten stehen keine Menschen. Sie ist alleine im Chalet. Sie weiß ganz genau, dass sie die Tür verriegelt hat, ehe sie nach oben gegangen ist. Denn sie hat getan, worum Sam sie gebeten hatte, und nach Nick Ausschau gehalten. Zwar nicht am Kaminfeuer, aber vor dem elektrischen Ofen und mit einer Decke um die Schultern, während sie versucht hat, sich mit den Geräuschen des fremden Hauses vertraut zu machen. Es scheint zu leben. Die Kuckucksuhr tickt im Rhythmus ihres Herzschlags. Das schräge Dach stöhnt unter dem Gewicht des Schnees, und ab und zu rutscht eine ganze Ladung nach unten.

Das Schlimmste ist das Heulen des Sturms. Davon geht eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Immer wieder muss Julia ihr warmes Fleckchen auf dem Sofa verlassen, um an der kalten Haustür durch das kleine Fenster zu lugen. Draußen sind die Fichten im Schneegestöber kaum zu erkennen, ganz zu schweigen von den Bergrücken oder dem Pfad, der am Bach entlang ins Dorf führt. Das Chalet liegt einsam am Ende eines abgeschlossenen Tals. Über ihr gibt es nur den Stausee und dahinter den tückischen Gletscher. Ihre Hand liegt auf der Türklinke, als ob sie mit dem Gedanken spielte, in die Nacht hinauszugehen. Um Viertel vor elf beschließt sie, dass Nick unmöglich dort im Freien umherirren kann, nicht bei diesem Wetter. Sie überprüft die Türschlösser, lauscht auf das Knacken der Heizkörper und löscht das Licht. Sam wird sie sicher mit einem Anruf wecken, hoffentlich kommt er doch noch nach Hause. Julia hätte überhaupt nichts dagegen.

Es kann also niemand im Haus sein. Sie ist alleine mit dem Wind. Das untere Stockwerk ist leer.

Nur … das Haus fühlt sich nicht leer an.

Das ist natürlich Unsinn.

Sie muss nur kurz nachsehen und sich davon überzeugen.

Natürlich braucht sie sich von gar nichts zu überzeugen, und sie braucht sich auch niemandem gegenüber zu beweisen. Aber sie muss immer noch pinkeln.

Mit dem iPhone bewaffnet, steht Julia aus dem Bett auf und geht lautlos auf die Stützmauer der Mansarde zu.

Da ist die Stiege. Wie ein Brunnenschacht im Holzboden.

Sie muss bis an den Rand treten, um hinunterschauen zu können, aber das will sie nicht. Sie will nicht, dass der einzige Weg ins Badezimmer durch dieses dunkle Loch führt. Also bleibt sie stehen. Lauscht auf das Ticken der Kuckucksuhr im Erdgeschoss.

Sie reckt den Hals, aber ihr Blick reicht nicht weiter als bis zur obersten Stufe.

Mach dich nicht lächerlich.

Julia holt tief Luft und macht einen schnellen Schritt nach vorn – das ist die einzige Möglichkeit. Sie sieht es erst, als sie genau an der Kante steht. Als ihr Blick an dem hängen bleibt, was dort unten zu sehen ist, wird die kalte Luft mit Gewalt in ihren Körper gezogen, und die Welt gefriert in einem Schockzustand. Julias Lunge schwillt an wie ein Ballon, durch den Schrei, der in ihr heranwächst, aber die Luft kann nicht mehr entweichen, denn als sie die Hände vor den Mund schlägt, ist nur noch ein unterdrücktes Wimmern zu hören.

Die Menschen stehen noch immer an der Stiege.

Sie sind dichter herangekommen.

Sie haben ihre Köpfe gehoben und starren Julia an. Das Schreckliche ist, dass sie direkt in Julia hineinzustarren scheinen. Die Erste, eine große, magere Frau in schwarzer Kleidung mit fast durchscheinend bleicher Haut, verharrt reglos auf der dritten Stufe. In ihrer Miene spiegelt sich die gefrorene Stille des Wahnsinns. Gleich hinter ihr steht ein dicker Mann in einem schmutzigen weißen Hemd. Die übrigen hinter den beiden sind Schatten.

Wie gelähmt starrt Julia zurück. Es dauert lange, bis sie mit Sicherheit sagen kann, dass die Menschen da unten mehr sind als ein bewegungsloses Dia oder ein lebloses Nachbild, aber dann sieht sie den Zeigefinger an der rechten Hand der Frau zittern und die dunkle, schwarzlila Haut unter ihren großen Augen zucken. Ihr Blick ist scharf und voller Hass. Sie hat das Gesicht einer Psychopathin, die jeden Moment losschreien kann. Wenn das passiert, wird ihr Gesicht zerbrechen und in Scherben zu Boden fallen.

Endlich kann Julia Atem schöpfen. Luft presst sich als eine Reihe kurzer, keuchender Schreie aus ihrer Lunge. Tränen treten ihr in die Augen. Sie spürt die Hitze hinter ihren Wangenknochen und einen knisternden Stich im Gehirn, wie Elektrizität. Mir brennen die Sicherungen durch, denkt sie ganz rational.

Auf Beinen, die sich nicht mehr anfühlen wie Beine, rennt sie zurück zu ihrem Bett. Die Federn ächzen, als sie hineinspringt. Dann sitzt sie da, kerzengerade, die Decke mit verkrampfter Hand zu ihrer Taille hochgezogen, mit der anderen kratzt sie sich im Gesicht, bis es schmerzt. Der Schmerz tut gut, macht ihren Kopf klarer. Als sie ihre Hand wegzieht, bleiben auf ihrer rechten Wange und dem Nasenflügel blutige Halbmonde zurück.

Eine Stufe knackt.

Julias Blick haftet an einem Stück der Diele, das sie hinter der Stützmauer erkennen kann. Es ist leer, aber die Stiege sieht sie nicht. Sie schaut sich blitzschnell über die Schulter um, als ob sie damit rechnet, hinter sich jemanden zu ertappen. Da ist niemand.

Die Frau.

Das Gesicht.

Warum hat diese Frau sie so hasserfüllt angesehen?

Julia entsperrt ihr iPhone und sucht mit zitternden Fingern zwischen den neuesten Anrufen nach dem obersten, von Sam. Wenn sie seine Stimme hört, muss sie keine Angst mehr haben. Dann wird ihr Albtraum zerplatzen. Wenn sie seine Stimme im Ohr hat, stehen keine Menschen mehr unten an der Treppe.

Es dauert eine Ewigkeit, bis ein Signal kommt und die Verbindung hergestellt wird. Die ist allerdings gestört. Es stürmt nicht nur um das Dach, sondern auch in der Leitung.

Jetzt melde dich endlich. Komm schon, komm schon, komm schon …

Voicemail. Julia wimmert verzweifelt und unternimmt einen weiteren Versuch.

Als abermals eine Treppenstufe knackt, schreit sie lautlos auf.

Beim dritten Mal wird abgenommen.

»Julia!«, sagt Sam.

»Warum gehst du nicht ans Telefon?«

»Sorry, das ist so eine trübe Suppe hier auf der Straße. Musste mich erst mit dem Headset verbinden. Gibt’s was Neues?«

»Ich … nein.« Nicht das Neue, worauf er wartet. Sie kommt sich dumm vor, was soll sie schon sagen? Dass sie eingeschlafen ist, während sie gewartet hat? Dass sie Angst vor dem Alleinsein hat? Dass sie Angst hat, dass sie hier gar nicht alleine ist? Sie will, dass er redet, dass seine Stimme alles besser macht. »Wo bist du?«

»Unterwegs, sis. Ist alles in Ordnung? Du klingst so komisch.«

Sie lauscht auf Geräusche von der Stiege her, aber es herrscht Stille.

»Ja«, sagt sie endlich. »Mich macht nur dieser Sturm wahnsinnig. Wie lange brauchst du noch?«

»Wenn ich das wüsste. Das glaubst du nicht: Ich fahre hinter einem Schneepflug her. Nur so kann ich heute Nacht noch nach oben kommen. Hinter Bern haben sich alle Staus aufgelöst, aber das lag auch daran, dass niemand auf die Idee kommt, sich noch auf den Weg zu machen. Für die ganze Westschweiz gilt Sturmwarnung, und in den Bergen ist die Lawinengefahr auf vier hochgestuft worden, im Laufe der Nacht wird es vermutlich noch fünf. Unglaublich, ab und an siehst du wirklich die Hand vor Augen nicht. Kurz vor Montreux bin ich auf Blitzeis geraten. Ich hatte echt Schwein, dass neben mir kein Laster war, denn ich bin über die Straße auf den Seitenstreifen gerutscht, ehe ich den Wagen wieder unter Kontrolle hatte. Dann wurde es etwas besser, weil sie streuen, aber hier half selbst das nichts. Wirklich, es ist beeindruckend, was die Schweizer alles einsetzen, um …«

Das Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt, steht Julia auf. Sie verspürt plötzlich den Drang, nachzusehen. Mit Sams beruhigender Stimme im Ohr, die immer weiterredet, kann sie sich davon überzeugen, dass wirklich niemand da ist, dass sie unbesorgt auf die Toilette gehen kann. Vielleicht benimmt sie sich wie ein kleines Kind, aber mit der Stimme ihres großen Bruders im Ohr ist sie …

Oh, Jesus, fuck-fucking-fuckery-fuck! Das Telefon rutscht von ihrer Schulter und fällt klappernd zu Boden.

Die bleiche Frau in Schwarz ragt bis zur Taille aus dem Treppenschacht. Sie steht immer noch reglos da, hat aber Schultern und Kopf so gedreht, dass sie Julia anstarren kann.

Ohne Atem zu holen, stolpert Julia vorwärts, um ihr Telefon aufzuheben. Dazu muss sie dichter an die Stiege herankriechen, und während sie versucht, die Frau nicht aus den Augen zu lassen, sieht sie Finger, die sich an die Kante klammern.

Dicke Finger von Männerhänden.

»Hallo? Hallo? Bist du noch da?« Sams Stimme klingt blechern, als sie sich das iPhone ans Ohr hält. »Julia?«

»Ja, ich bin da.« Sie schafft es, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. Hohl, tot, aber ruhig. Sam soll ihr nichts anmerken.

Sie schaut auf und erleidet den bisher größten Schock dieser Nacht.

Die Frau mit den hervorquellenden, starrenden Augen ist jetzt ganz oben. Der dicke Mann in dem schmutzigen Hemd steht auf einer der obersten Stufen und schaut Julia an, und hinter ihm ist ein drittes, mageres Gesicht aufgetaucht. In der einen Sekunde, in dem ihr Blick über das Display ihres Telefons geglitten ist, sind diese Menschen vorgerückt, und sie hat es nicht einmal gemerkt.

In ihrem Ohr piept es zweimal, und Julia muss sich auf die Zunge beißen, um nicht zu schreien. Sie kriecht rückwärts durch die Mansarde, während sie die Menschen mit ihrem Blick bannt.

»Julia? Julie?«

»Sorry, ich … mir ist was runtergefallen. Red nur weiter, ich bin da.«

Ja, sie ist da, aber sie begreift, dass sie einen Fehler gemacht hat. Sie ist wieder im Bett und kann die Menschen auf der Stiege nicht mehr sehen. Das bedeutet, dass sie weiter vorrücken werden. Dass sie näher kommen werden. Aber nichts auf der Welt kann Julia dazu bewegen, zurückzugehen. In diesem Moment des totalen Entsetzens braucht sie die Wärme und Geborgenheit ihres Bettes, weil das der einzige Ort ist, an dem alle bösen Träume ein Ende haben.

»Anyway, als ich den Anfang des Tales endlich erreicht hatte, war das passiert, wovor ich am meisten Angst gehabt hatte: Die Straße nach Grimentz war dicht. Schon von der Schnellstraße an. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, es doch zu versuchen, aber du hast ja selbst gesehen, wie schmal diese kleine Straße ist und wie tief der Abgrund, und es wäre blanker Selbstmord …«

Julia merkt, wie dringend sie pinkeln muss. Sie zieht die Decke hoch und presst die Oberschenkel aneinander. Sie weiß nicht, was sie tun soll, kann keine Klarheit in ihre Gedanken bringen.

Warum sagt sie Sam nicht, was hier passiert? Sie kennt die Antwort. Wenn sie es ausspricht, macht sie es damit real. Dann kann sie nicht mehr leugnen, dass wirklich Menschen auf der Treppe stehen, und dieser Tatsache ist sie nicht gewachsen.

Sam redet immer weiter, aber seine Worte kommen kaum bei ihr an. »… bis also der Schneepflug auftauchte. Ich musste schreien, um den Sturm zu übertönen, aber ich konnte ihnen zu verstehen geben, dass ich nach Grimentz musste. Der Fahrer hielt mich für verrückt, sagte, ich solle mir da unten eine Unterkunft suchen, und dann musste ich mir was ausdenken, also habe ich erzählt, dass meine Freundin jeden Moment niederkommen könnte. Dass die Wehen schon eingesetzt hätten und so. Der Fahrer sah mich an, und dann sagte er, da sei es ja ein Glück, dass jemand das Streusalz einfahren müsste. Aber er sagte auch, dass ich langsam fahren sollte, ganz langsam, sonst würde das Kleine noch vor der Geburt zum Waisenkind.« Er kichert kurz. »Ich glaube, er hat mich vor allem hinter sich herfahren lassen, weil ich Französisch gesprochen habe. Sonst …«

Wieder zwei Pieptöne, und plötzlich begreift sie: Ihr Akku ist fast leer. Sie schaut auf das Display. Das Batteriesymbol ist rot. Weniger als 10 % aufgeladen.

Und das schon seit einer ganzen Weile.

Julia beugt sich über ihren Nachttisch zur Steckdose hin, und dann bricht ihr der kalte Schweiß aus. Jetzt weiß sie es wieder. Sie hat das iPhone am Abend beim Sofa ans Ladekabel gehängt, aber als Sam um halb elf anrief, hat sie es herausgezogen. Und vergessen, es wieder einzustecken.

Der Akku ist fast leer, und das Ladekabel liegt unten.

Als sie sich aufrichtet, sieht sie für einen Moment etwas, das all ihre Muskeln erschlaffen lässt.

In den Schatten der Diele. Eine schwarze Silhouette, dunkler als die anderen, gleich hinter der Stützmauer. Eine Hand. Ein Auge. Ein spähendes Auge.

Das Auge starrt sie an.

Zu ihrem eigenen Abscheu spürt Julia, wie ihr Urin die Oberschenkel hinabläuft.

»… also im Schneckentempo weiter nach oben. Echt, es ist die Hölle. Ich glaube, dass die Straße hinter uns schon wieder zugeschneit ist. Zwischendurch kann ich durch die Windschutzscheibe nicht mal die Rücklichter des Schneepflugs sehen, und ich bin keine zehn Meter hinter ihm. Ich habe Glück gehabt, der wollte heute Nacht eigentlich nur bis Vissoie, aber …«

Sie, unbeweglich auf einem warmen, nassen Fleck auf ihrer Matratze.

Die Frau, unbeweglich halb verborgen hinter der Stützmauer.

Ein staring-contest. Nicht wegschauen, sonst bist du raus. Aber Julia befürchtet viel Schlimmeres als »raus«.

Langsam geht ihr etwas auf. »Bist du schon im Tal?«, fragt sie Sam. In ihrer Stimme liegt eine gewisse Schärfe. Man könnte sie mit Überraschung verwechseln, ein guter Zuhörer jedoch erkennt sie als Hysterie.

»Ja. Das versuche ich, dir die ganze Zeit zu sagen.«

»Dann komm bitte schnell«, flüstert sie und fängt an zu weinen. Sie zittert am ganzen Leib, aber es ist ein lautloses Schluchzen, und Sam bemerkt es nicht.

»Ich gebe mein Bestes, sis, aber ich kann nicht schneller fahren als der Schneepflug. Ich schätze, noch vierzehn Kilometer. Eine halbe Stunde, vierzig Minuten maximal.«

Oh Gott. Sie wischt sich die Tränen aus den Augen. Die Tränen trüben ihre Sicht, und beim Wegwischen muss sie die Augen schließen. Als sie sie wieder öffnet, sieht sie, dass die Menschen noch einmal ein Stück näher gekommen sind.

Die Frau in Schwarz steht vorn, hat die Stützmauer jetzt ganz und gar hinter sich gelassen. Dicht hinter ihr der Mann im schmutzigen Hemd. Seine Hände hängen schlaff an seinem fetten Körper herab. Dahinter stehen drei Männer in ebenso schmutziger Kleidung.

Eine halbe Stunde. Sam wird es nicht rechtzeitig schaffen.

Wie zur Bestätigung piepst ihr iPhone erneut.

»Ich habe versucht, Nick anzurufen«, sagt Sam. Seine Stimme ist leiser geworden, und im Hintergrund hört sie das konstante Schrappen der Scheibenwischer. »Sein Telefon ist noch immer ausgeschaltet.« Stille. »Ich habe Angst, Julie.«

Nicht weinen.

Nicht wegschauen.

Ohne ihren Blick auch nur eine Millisekunde von den Menschen abzuwenden, zieht sie die Beine an und schiebt mit einer Grimasse ihre nasse Unterhose nach unten. Sie rutscht zur anderen Betthälfte hinüber, dreht die Decke um und zieht sie mit sich. Nun ja, immerhin muss sie nicht mehr aufs Klo, eine Sorge weniger. Sie sucht am Fußende nach Sams viel zu großer Jogginghose, die sie beim Schlafengehen ausgezogen hat, und streift sie über.

Es sind weitere Menschen hinzugekommen.

Viele.

Sie haben sich im ganzen Raum verteilt.

Julia bekommt keine Luft mehr. Sie beginnt zu hyperventilieren. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, ihr Blick ist getrübt. Elf, zwölf dunkle, schattenhafte Monolithen stehen starr wie Salzsäulen am Fußende des Bettes. Als Julia wieder klar sehen kann und die Schatten feste Gestalt annehmen, sind sie abermals näher herangerückt. Mit einem leisen, unterdrückten Schrei kriecht sie rückwärts, auf das Kopfende aus Eichenholz zu. Sie hat das Gefühl, als ob an ihr gezogen würde, ihre Augen quellen geradezu hervor.

Die Schatten starren sie an.

Wie viel näher willst du sie noch kommen lassen?, schreit eine Stimme in ihrem Kopf. Wie viel näher, ehe du dir überlegst, was du tun sollst?

Die bleiche Frau in Schwarz steht neben dem Bett, auf der Höhe des Fußendes. Sie ist groß und trägt unförmige Kleidung, einen altmodischen dunklen Rock und eine noch altmodischere Wollweste, die ihr die Ausstrahlung einer Lehrerin vom Anfang des vorigen Jahrhunderts verleihen. Aber nicht das jagt Julia Angst ein. Sondern das, was sie im Gesicht der Frau sieht. Julia blickt in ein Gesicht, das sich vollständig von den Erkennungspunkten des Daseins gelöst hat. Darin liegen keine Erinnerung, keine Besinnung. Nur Verzweiflung. Wut. Wahnsinn.

Sam sagt etwas.

Mit ruckhaften, röchelnden Zügen kann sie endlich Luft einsaugen. »W-w-was?«

»Julia, was ist los? Weinst du?«

»Nein, ich …«

»Du weinst wohl! Sis, was ist los?« Plötzlich klingt seine Stimme scharf. »Ist etwas passiert?«

»Bitte, komm, oh Gott!«, haucht sie. Ihr Flüstern wird zu einem zittrigen Schluchzen, während sie versucht, die Eindringlinge mit ihrem Blick zu bannen. Sie darf nicht blinzeln. Blinzeln könnte ihr Todesurteil bedeuten.

»Ich komme! Ich bin unterwegs, das weißt du, aber es geht nicht schneller. Was ist passiert?«

Endlich bringt sie es über die Lippen. »Hier sind Menschen.«

»Was?«

»Hier sind Menschen.«

Stille. Das Schrappen der Scheibenwischer. Zwei Pieptöne.

Die Frau in Schwarz ballt ihre Hand zur Faust. Die tote Haut unter ihren Augen zittert.

»Wie meinst du das, Menschen?«

»In meinem Schlafzimmer.«

»Was soll das heißen, dass Menschen in deinem Schlafzimmer sind? Sind die aus dem Dorf? Die Menschen, die heute Nachmittag aus dem Dorf gekommen sind?«

»Nein, nicht die. Hier sind Menschen …«, wiederholt sie, aber dann bricht es aus ihr heraus: »Das ganze Zimmer ist voll von ihnen, und sie starren mich an. Oh Gott, Sam, sie kommen näher! Oh Jesus. Sie kommen immer näher. Hilf mir. Bitte, komm jetzt sofort. Da ist eine Frau, und sie starrt mich an, sie steht neben meinem Bett und starrt mich die ganze Zeit an …«

»Julia! Oh Gott, haben sie Augen? Haben diese Menschen Augen?«

Haben sie Augen? Warum will er das wissen? Natürlich haben sie …

Julia blinzelt. Sie kann nicht dagegen an.

Sie schreit los, ihr Gesicht ist eine aus den Fugen geratene Maske der Todesangst. Die Frau sitzt kerzengerade auf ihrer Bettkante. Sie hat keine Augen. Stattdessen hat sie Löcher. Wo ihre Augen sein müssten, verschwinden zwei tiefe, blinde Schächte in ihrem Kopf. In diesen Schächten ballt sich pechschwarze Finsternis zusammen. Der dicke Mann hat ihren Platz eingenommen. Auch er hat blinde schwarze Schächte anstelle von Augen. Die anderen drängen sich hinter ihm zusammen. Blind. Starrend. Und allesamt kurz vor dem Losschreien.

Julia weiß weder ein noch aus. Der Albtraum ist vollkommen. Sie hat das Gefühl, erwürgt zu werden, dass die Adern in ihrem Leib bersten. Dass ihr Herz undicht ist und bald zum Stillstand kommen wird, da es so viel Angst nicht ertragen kann.

»Julia, mach, dass du da wegkommst!«, brüllt Sam in der Ferne.

Aber wie? Sie ist vollkommen erstarrt. Sie ist eine Gefangene in ihrem eigenen Körper, eine Geisel in einer Zelle. Und die Menschen, natürlich haben die Augen. Wie hat sie sich etwas anderes einbilden können? Intensive Augen, starrende Augen, deren Blick sich in Julias bohrt. Oder …

Sie haben keine Augen. Dann eben nicht. Es dämmert, sie hat das Gefühl, beides zu sehen.

Sie schlägt sich mit den Händen ins Gesicht, um sich von dem Wahnsinn abzuwenden, der sie belagert. Sie schreit nach ihrem Bruder, der zu weit weg ist, um etwas ausrichten zu können – aber sie schreit lautlos. Es kommt kein Ton mehr aus ihrer zusammengeschnürten Kehle.

»Geh da weg, jetzt sofort! Julia! Julia!«

Die Frau beugt sich vor. Dicht zu ihr hin. Der dicke Mann stemmt die Hände auf die Bettkante.

Mit einem Ruck zieht sich Julia die Decke über den Kopf und rollt sich in ihrem Kokon zusammen. Weg, weg, sie will nur weg von hier. Früher war sie unter den Decken in Sicherheit. Sie erinnert sich an ihre Kindheit. Das bange Gefühl, wenn du in Huckleberry Wall aufgewacht bist und festgestellt hast, dass der längste Teil der Nacht noch vor dir lag. Wenn der Sturm gegen das Dach schlug und der Schnee sich vor den Mauern auftürmte und du zu alt warst, um Oma und Opa mit deinen Rufen zu wecken, aber jung genug, um das Undenkbare zu denken. Sie sind nicht mehr da. Sie sind im Schlaf gestorben. Opa und Oma sind tot, und wenn du sie rufst, kommen sie nicht, und du bist allein mit dem Sturm … Wenn du dich dann in deinem Kokon zusammengerollt hast, warst du in Sicherheit, und dir konnte nichts Böses passieren. Dann wusstest du: Sam ist in der Nähe, in dem anderen Bett, und er passt auf dich auf.

»Sam«, flüstert sie in ihr iPhone. »Sam, ich hab dich lieb. Ich brauche dich. Bitte, komm schnell. Ich will nicht allein sein. Ich will nicht …«

Die Stille ist erdrückend. Das dringt zu Julia durch. Sie schaut auf das Display, es ist schwarz. Die Verbindung ist unterbrochen. Als sie auf den Knopf an der Seite des Telefons drückt, erscheint das Symbol für Akku leer.

Wieder fängt Julia zu weinen an, still, hemmungslos, voller Todesangst, aber jetzt ist es eine Kapitulation. Sie spürt, dass das Ende näher kommt, und gibt sich bewusst der Loslösung von der Welt hin, um nicht mehr dabei sein zu müssen.

Hier, unter den Decken, ist sie allein.

Allein in ihrem Kokon. Allein im Chalet. Draußen ist der Sturm, ist die Welt.

Ihre bebende Brust kommt zur Ruhe. Ihr Fuß zittert, aber hört rasch wieder damit auf. Es ist still.

Ein Gewicht drückt auf die Matratze.

Etwas zieht ihre Decke glatt.

Jemand liegt neben ihr. In ihrem Kokon. Jemand, der sie umarmt wie ein Liebhaber. Wie ein Bruder.

Sie spürt eine eiskalte Hand auf ihrer Schulter. Julia schließt die Augen und bildet sich ein, es sei Sam, der sie festhält.

2

Aus der Volkskrant, 9. November 2018

Frau springt vom AMC, mögliche Verbindung zur Todesnacht im August

Von Robert Feenstra

Amsterdam – Eine 44-jährige Frau aus Amstelveen hat sich gestern Abend durch einen Sprung vom Dach des Academisch Medisch Centrum das Leben genommen.

Was die Frau zu ihrer Tat bewog, ist bisher unklar, aber ein Polizeisprecher bestätigte, dass sie eine Mitarbeiterin der Uniklinik war. Das AMC will sich erst nach Abschluss der Ermittlungen äußern.

Berichten zufolge handelt es sich bei der Frau um die Neurochirurgin Emily Wan. Wan hatte in der sogenannten »Todesnacht« am 18. August d.J. Dienst, als zweiunddreißig Patienten des AMC aus bisher unbekannten Gründen ihr Leben verloren. Vergangene Woche kündigte der zuständige Untersuchungsausschuss an, noch diesen Monat den ersten Bericht über die Vorfälle zu veröffentlichen. Im Oktober erklärte Justizminister Ferdinand Grapperhaus, dass keine Hinweise auf ein Verbrechen vorlägen, nachdem ein Terroranschlag bereits ausgeschlossen worden war. Dass Wan in dieser Angelegenheit vernommen wurde, konnte die Polizei nicht bestätigen. Die Neurochirurgin ist die dritte Mitarbeiterin des AMC, die seit August Selbstmord begangen hat.

Der Unsichtbare

»›Sie wissen nicht‹, sagte er, ›wer ich bin und was ich bin. Ich werde es Ihnen zeigen! Beim Himmel, ich werde es Ihnen zeigen!‹«

– H. G. Wells

Die Aufzeichnungen von Sam Avery

1

Während der Airbus zum Landeanflug auf Genf ansetzte, wurde Nick oder, besser gesagt, das, was von ihm übrig war, im künstlichen Koma gehalten. Im Gebirge wütete das Unwetter. Hier oben: ein einziger großer Turbulenzalbtraum in instabiler Luft. Der Airbus kreiste blind in den Wolkenmassen und tauchte plötzlich durch ein Loch, wodurch ich sah, dass wir uns bereits seit einiger Zeit unterhalb der uns umgebenden Bergrücken befanden. Der Horror vacui aufgrund der vollständigen Orientierungslosigkeit wich augenblicklich einer unverhohlenen Klaustrophobie. Außerhalb der Wolkenkratzer von Manhattan war das hier das erste Mal seit sechzehn Jahren, dass ich mit Bergen konfrontiert wurde. Das ließ keinen Platz für Illusionen. Ich hasste die Berge. Ich habe sie schon immer gehasst, und ich werde sie immer hassen.

Ich hasste es, wie sie uns umschlossen. Wie sie sich über das Flugzeug zu beugen schienen. Wie sie sich mitten im Unwetter erhoben. Scharf wie die unberechenbaren Zähne eines Raubtiers.

Diese Berge hatten Nick das Gesicht abgebissen.

Die ganze Zeit hatte ich mich gefragt, was der Mann am Telefon gemeint hatte, als er immer wieder von Nicks Gesicht gesprochen hatte. Der Mann von der PoliceCantonale. Dass mit Nicks Gesicht etwas nicht in Ordnung sei, hatte er gesagt. Dieses Gesicht, ich kannte es in- und auswendig. Männliche Züge, aber sanfter Ausdruck, eine Ursymmetrie, die ihn wirken ließ wie ein unmittelbar der Natur entsprungenes Wesen. Was mich am meisten daran anzog, war das vollständige Fehlen von Scham. Ich hatte die gelassene Selbstsicherheit noch immer nicht verstanden, mit der Nick der Welt ins Auge schaute, entweder, weil er fremde Blicke nicht bemerkte oder weil er so daran gewöhnt war, dass sie ihn kalt ließen.

Und ich hatte noch gedacht, er sei es, als das Telefon klingelte. Sein Gesicht hatte mich auf dem Display angegrinst. Das Foto, das ich zehn Tage zuvor gemacht hatte. Ich hatte dieses Foto sehen wollen, immer, wenn er anrief. #bebacksoon, hatte ich ihn auf Instagram gecaptioned. In den folgenden Tagen hatte Nick selbst Fotos gepostet, mit Gletscherbrille und Eisbeil und Abgründen, die jedem vernünftigen Menschen eine Gänsehaut bescherten. #livingthelife hatte er gecaptioned.

Doch ich sah dieses Foto, weil die PoliceCantonale von Nicks Handy aus anrief.

Die Fahrt zum CHUV in Lausanne ging langsam voran, weil es regnete und weder Harald noch Louise Grevers gern im Ausland fuhren. Ich dachte derweil: Bleibst du bei mir, wenn ich gelähmt bin? Bleibst du bei mir, wenn mein Gesicht grauenhaft verbrannt ist? Ich dachte: Bleibst du bei mir, wenn ich keine Beine mehr habe? Wenn ich Flüssignahrung durch einen Schlauch zu mir nehmen muss? Bleibst du bei mir, wenn mein Verstand beschädigt ist und ich dich nicht mehr lieben kann, wie ich dich jetzt liebe? Ich dachte: Bleibst du bei mir, wenn ich alt und unsichtbar bin?

Ich dachte: Manchmal geht es schnell, und manchmal geht es langsam, Unglück oder Schwerkraft, aber am Ende sind wir allesamt verstümmelt. Nun war es die Schwerkraft. Nicht die Sorte, die langsam den Körper einholt und dich Stück für Stück unsichtbar macht, sondern die Sorte, die dich mit einem Hieb zermalmt.

Ich dachte: Bleibst du bei mir, wenn ich kein Gesicht mehr habe?

Ich saß auf der Rückbank des Wagens, den Nicks Eltern bei Hertz gemietet hatten, und die Berge nahmen mich gefangen. Der Genfer See war das Tor zu den Alpen. Diese Gegend war mir feindlich gesinnt, das merkte ich an allem. Über dem Wasser hing eine greifbare Bosheit, wie eine elektrische Ladung. Als ob sich hier eine Tür öffnete, hinter der sich etwas Undefinierbares, aber überaus Bedrohliches befand, das sehr lange Zeit bei mir bleiben würde.

Tatsache war: Ich war vierundzwanzig, er siebenundzwanzig. Tatsache war: Wir wollten noch nicht unsichtbar sein. Kompensieren. Froh sein, dass er noch lebte. Dazu waren wir zu jung. War ich ein schlechter Mensch, weil ich solche Gedanken hegte, während Nick im Koma lag? War ich oberflächlich? Es war die Welt, die ich kannte. Dann eben her mit der Oberflächlichkeit. Wir hatten uns übrigens im Fitnessstudio kennengelernt. Bizeps: check. Pecs: check. Abs: check. Das Fitnessstudio ist die Crème de la Crème des menschlichen Äußeren, das Gegenstück zu den Abgründen des Internets, wo sich Kreditkartenpervos und Fetischisten aller Art tummeln und sich an Verstümmelungen und Amputationen aufgeilen.

Ich dachte: Bleibe ich bei dir, wenn ich damit nicht fertigwerde?

Die Berge ragten zu allen Seiten auf, höher und höher. Ein banges Gefühl ballte sich in meinem Magen zusammen. Ich sah ihn wieder vor mir wie beim ersten Mal, als er auf der Hantelbank gelegen hatte, vor Schweiß glänzend und Gewichte stemmend, sein Oberteil triefnass. Aber jetzt hatte er kein Gesicht mehr. Wo sein Gesicht hätte sein müssen, saß ein tiefes, schwarzes Loch, eine Orgie von Schwerkraft und bösen Träumen.

2

Nick schwebte nicht mehr in Lebensgefahr, aber die Ärzte bemühten sich weiterhin sehr um ihn. Ehe wir zu ihm durften, wurden wir von zwei Beamten der PoliceCantonale in das kleine Büro des Kieferchirurgen begleitet. Der Arzt führte das Wort, und die Polizisten saßen gelangweilt daneben. Der Zweck ihrer Anwesenheit erschloss sich mir nicht, zum Gespräch trugen sie jedenfalls nichts bei. Nach einiger Zeit ging mir das Ganze so auf die Nerven, dass ich mich schon fragte, ob die Schweizer Polizei vielleicht Taubstumme in Diensten hätte, im Rahmen irgendeines sozialen Inklusionsprogramms.

Dieses Treffen war ein echter linguistischer Schmelztiegel. Nicks Eltern sprachen Niederländisch miteinander und Englisch mit dem Kieferchirurgen, der Kieferchirurg sprach Englisch mit Nicks Eltern und Französisch mit den Polizisten, und die Polizisten sprachen so gut wie gar nicht. Sprachen, die ich alle vier beherrsche. Ich weiß, dass Europäer sich bei der Szene aus Inglourious Basterds scheckig lachen, wenn Diane Kruger zu Brad Pitt sagt: »I know this is a silly question before I ask it, but can you Americans speak any other language besides English?« Zufällig ja. Ich spreche Spanisch, Französisch, einigermaßen Deutsch, besitze ein Examen in Kreolischen Sprachen, und ich lese (oder ich müsste wohl sagen, las früher) Latein. Ich mache meinen Research Master in Linguistics an der UvA, und mit Nicks Hilfe habe ich innerhalb von drei Jahren fließend Niederländisch gelernt (man hört es allerdings noch am »r«, der größte Stolperstein ist nicht Scheveningen, sondern ein schlichtes Wort wie groot).

Das ändert nichts daran, dass es in diesen Aufzeichnungen von Anglizismen und US-Slang nur so wimmelt. Get used to it. Besser, ihr hört den disclaimer jetzt und nicht in den Rezensionen, oder?

Der Kieferchirurg hieß Olivier Genet, und mit mir sprach er übrigens kein einziges Wort. Vielleicht, weil ich Amerikaner bin, vielleicht, weil er mit Jesus verheiratet war. Schüttere Haare waren von seinen Schädelseiten wie ein durchsichtiges Netz über seine kahle Kopfhaut gekämmt. Alopecia androgenetica, dachte ich. Als er sich zum soundsovielten Mal nur an Nicks Eltern wandte, revidierte ich meine Diagnose: geile Kahlheit. Auf seinem weißen Kittel stand PROPRIÉTÉDECENTREHOSPITALIERUNIVERSITAIREVAUDOIS, und ich fragte mich, ob sich das auf den Kittel oder auf den Mann selbst bezog.

Männer wie er sind eigentlich immer jemandes Eigentum.

Nick habe Glück gehabt, berichtete Genet. Er sei von einem herabstürzenden Felsbrocken getroffen worden, habe aber überlebt. Bis er uns selbst mehr erzählen könne, werde sich nicht mit Sicherheit feststellen lassen, was genau vorgefallen war, aber aus den Umständen, unter denen die Bergrettung ihn gefunden habe, lasse sich einiges ableiten. »Ihn«, denn von seinem Kletterpartner Augustin Laber sei nur der Eispickel gefunden worden. Augustin habe wohl trotz der schlechten Wetterverhältnisse Hilfe holen wollen und sei beim Abseilen vermutlich in eine Gletscherspalte gestürzt. Seine Leiche sei im Eis eingefroren, VERSTORBEN,ALSERSEINERLEIDENSCHAFTFOLGTE, werde auf seinem Grabstein stehen. Seine Familie sei bereits informiert.

»Wie entsetzlich«, sagte Louise immer wieder. »Entsetzlich für die Eltern. Gott sei Dank ist unser Nick noch am Leben.«

Ja, Gott sei Dank, denn Nick, so Genet, habe Glück gehabt. Ihm sei nur das halbe Gesicht zertrümmert worden. Der Felsbrocken habe seinen Kiefer gespalten, ihm zwei Backenzähne ausgeschlagen und den größten Teil seiner Wangen zerfetzt, #livingthelife.

Ich dachte: Die Berge haben meinem Freund das Gesicht weggebissen.

Ich dachte: Unglück oder Schwerkraft, irgendwann werden wir alle verstümmelt.

»Er kann von Glück reden«, wiederholte Genet zum dritten Mal, und er spreizte Daumen und Zeigefinger. »So ein Stückchen mehr, und der Felsbrocken hätte seine Augen erwischt. So ein Stückchen mehr hätte seinen Tod bedeuten können.«

Ich begriff nicht, warum er dauernd von »Glück« sprach. So ein Stückchen weniger, und Nick wäre unversehrt nach Hause gekommen. So ein Stückchen weniger, und wir hätten jetzt in einem sonnendurchfluteten Hotelzimmer hot & steamy Sex, um ihn sein schreckliches Erlebnis vergessen zu lassen. Ich überlegte schon, was die beste französische Übersetzung für hot & steamy wäre, aber dann rief ich mir ins Gedächtnis, dass Nick bei diesem Arzt noch in Behandlung war.

Harald fragte, ob das Unglück an einer gefährlichen Stelle passiert sei, und ich wollte fragen, was das für einen Unterschied machte. Ein Berg ist ein Berg ist ein Berg. Wenn man unten am Hang steht, ist man noch nicht tot, aber die Uhr tickt.

Genet sagte, die genaue Stelle sei ihm nicht bekannt. »Im Val d’Anniviers in den Walliser Alpen. Aber im Bericht der Air-Glaciers steht nur, dass es in abgelegenem, schwer zugänglichem Terrain war. Gefährliches Terrain, wo nur selten Bergsteiger unterwegs sind.« Er murmelte seinem taubstummen Gefolge (zu diesem Zeitpunkt hatte ich angefangen, sie Chief Bromdon und Sidekick Bernardo zu nennen) etwas Unverständliches zu und wandte sich dann wieder an uns: »Wir erkundigen uns für Sie, auf welchem Berg genau der Unfall geschehen ist.«

Ich fragte mich, welche Rolle das spielte, ein Berg war ein Berg. Ein Haufen festgefrorener Steine ohne Cafés, Club Sodas oder Mojito-Bars, von dem man sich so fern wie möglich halten sollte. Mir war egal, wie ein Stück Land hieß, das sich seit Jahrmillionen der Evolution entzogen hatte. Bohrt ein Loch hinein, stopft eine Atombombe hinterher und BUMM, schon wird es recycelt.

Die Polizei hatte Fotos gemacht, ehe man Nick zusammengeflickt hatte, aber die hielt Genet so zwischen uns, dass wir sie nicht sehen konnten. Er drehte sie stirnrunzelnd um und dann gleich wieder zurück. »Es wird schwer genug, wenn der Verband abgenommen wird.«

Louise schlug sich die Hände vor den Mund.

»Ihr Sohn hatte Glück, dass er stundenlang bewusstlos im Eis lag, ehe er zu sich gekommen ist. Das hat die Blutung gestoppt, und die Schwellung ist zurückgegangen. Die Erfrierungen haben allerdings zum Verlust von Weichteilen geführt, die wir durch Transplantate ersetzen mussten.«

Transplantate?

»Von seinem Arm.« Er spreizte abermals Daumen und Zeigefinger, diesmal jedoch nicht ganz so weit.

Ich sah Nicks Gesicht vor mir, ein blutiges, klaffendes Loch.

Ich sah Nicks Gesicht vor mir, abgestorben und schwarz. Und ein Arm wuchs daraus hervor.

Harald stellte die million dollar question: »Wird er Schäden zurückbehalten?«

Genet schaute nachdenklich die Fotos des perfekten, entstellten Gesichts an und sagte: »Wir können später Eingriffe gegen die Narbenbildung vornehmen, und möglicherweise können wir seine Gesichtszüge mit Silikoneinlagen etwas geschmeidiger gestalten. Aber ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass wir seine Verletzungen vollständig unsichtbar machen können. Es wird nie laut gesagt, aber nach einem Facelifting haben die Patienten einen Haufen Narben. Wir setzen nur das Skalpell so geschickt an, dass man sie nicht sieht. Ein Schnitt über dem Augenlid. Ein Schnitt neben dem Nasenflügel. Ein Schnitt hinter dem Ohr. Der Unterschied ist, dass wir bei Ihrem Sohn keine Wahl haben. Die plastische Chirurgie nennt das ein ›ewiges Lächeln‹, und das nicht ohne Grund.«

Ja, dieses Wort benutzte er.

Nick bekam nicht einmal eine Zeitungsnotiz, kein MOUNTAIN BITES HAPPY HORROR GRIN IN DUTCHMAN’S FACE, denn am folgenden Tag wurden Fotos von der Nasenkorrektur der Schweizer Schauspielerin Heidi Lötschentaler veröffentlicht, und es war kein Platz mehr für Kurznachrichten.

»In etwa sechs Monaten, wenn der Kieferknochen verheilt ist, können wir Gebissimplantate einsetzen. Bis dahin bekommt er eine Prothese. Aber so weit sind wir noch nicht. Es bleibt allerdings die Frage, ob er seine Mimik vollständig zurückerhalten wird. Sie müssen sich darauf gefasst machen, dass funktionale Probleme auftreten können, zum Beispiel eine begrenzte Mundöffnung, eine bleibende Schädigung der Nerven, und infolgedessen ein herabhängender Mundwinkel oder eine partielle Gesichtslähmung …«

Mir wurde schwindlig. Irgendwo weit weg hörte ich Louise wimmern. Ich versuchte, mich auf die pochende Ader an der kahl werdenden Schläfe Genets zu konzentrieren. Ein Schweißtropfen glitt daran hinab.

»… Verlust des Kauvermögens, eingeschränkte Nasenatmung, verminderter Geruchs- und Geschmackssinn, Artikulationsprobleme …«

Die Ader, die Kahlheit, auch das sind Narben: Alter.

»… PTSS, teilweiser Gedächtnisverlust, Panikattacken … ist Ihr Sohn versichert?«

In meinem Kopf schrien meine Gedanken: Gebt mir Schwerkraft. Lasst mich zermalmt werden. Macht mich unsichtbar …

In diesem Moment sah ich noch nicht, dass etwas nicht stimmte. Dazu war mein Schock viel zu groß. Und ich wollte es noch immer nicht sehen, als ich, nachdem ich an dem Abend das Hotel verlassen hatte, nach einigen Irrwegen durch das Wirrwarr von engen, abschüssigen Gassen endlich wieder beim Krankenhaus angekommen war, wo mir Nachtschwester Cécile Métrailler nervös das mehrmals zusammengefaltete Briefchen zusteckte. Das in Nicks Handschrift verfasste Briefchen.

Glaub nicht, was sie sagen.

Es war kein Unfall.

Natürlich wollte ich ihm glauben. Wer glaubt seinem Partner denn nicht, wenn der einem so etwas erzählt? Aber Nick kämpfte mit den Folgen eines schweren Traumas, und Dr. Genet hatte gesagt, dass er sich nicht an den Unfall erinnern konnte. Ich dachte, dass er an Wahnvorstellungen litt.

Und ich dachte auch, dass das meine größte Sorge wäre. Dass ich mich irrte, zeigte sich erst, als etwas der armen Cécile am darauffolgenden Abend so einen Schrecken einjagte, dass sie mitten im Dienst aus dem Krankenhaus floh und sich nicht mehr zurücktraute.

Dieses Etwas war Nick.

3

Als wir schließlich zu ihm durften, war es Mittag. Er war bereits bei Bewusstsein, und sie hatten ihm Stift und Papier gegeben, damit er kommunizieren konnte. Er war allerdings noch nicht in der Lage, mehr als die allereinfachsten Mitteilungen zu notieren – nein, tut nicht weh und Wasser bitte und Schwerkraft. Die Beamten der PoliceCantonale würden also noch ein wenig Geduld aufbringen müssen. Sie hingen auf dem Gang herum wie zwei auf lautlosgestellte Fernseher.

Ich will ehrlich sagen, dass ich mir kurz bevor wir zu Nick reingingen, beinahe in die Hose machte. Louise bemerkte es und drückte meine Hand, ging dann aber zu ihm rein. Es kostete mich alle Mühe, nicht kehrtzumachen und wegzurennen. Ich hatte eine Angst vor dem, was hinter dieser Tür auf mich warten würde, aber ich war auch wütend, weil ich ihn so oft gebeten hatte, mit seinem idiotischen Hobby aufzuhören. Und ich tat mir selbst leid, denn dammit, unsere beste Chance, glücklich zu sein, bestand jetzt in dem, was gewesen war, nicht in dem, was hätte werden können. Vielleicht waren diese Gefühle nicht nobel, aber sie waren echt.

Ich hob also den Kopf, betrat das Zimmer und sah, was von dem attraktiven jungen Niederländer, in den ich mich drei Jahre zuvor verliebt hatte, übrig geblieben war. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es eine freudige Überraschung war. Aber wenn ich jetzt schon mit einer Lüge anfange, wird alles, was ich noch erzählen muss, wertlos sein.

Ich erkannte ihn, weil die hellblaue Bettdecke bis zu seiner Taille zurückgeschlagen war und er kein Oberteil anhatte. Bizeps: check. Pecs: check. Entstellter Mumienschädel: check. Sie hatten seinen Kopf dick eingewickelt, mit straffen Mullbinden, die die Kompressen festhalten sollten. Der Verband war sorgfältig festgeheftet, um zu verhindern, dass er aufging und uns der monströse Anblick dessen serviert wurde, was darunter schwammig und stinkend mit einer dicken Schicht antibiotischer Salbe bedeckt war. Nur seine Augen, sein linkes Ohr und seine Nasenlöcher waren freigelassen worden: eines, durch das er Atem holte, und eines, durch die ein dünner Plastikschlauch nach innen führte. Hätten sie ihm seine Gletscherbrille aufgesetzt, er wäre Der Unsichtbare auf Glukoselösung gewesen.

Seine Augen waren trüb vom Morphin, aber sie waren noch immer dieselben, und sein Blick suchte zwischen seinen Eltern nach mir.

»Sei gegrüßt, Tutanchamun«, sagte ich.

Worauf Harald, Louise und die Schwester, die gerade seinen Blutdruck maß, losprusteten. Sogar Dr. Genet gestattete sich ein kurzes Grinsen. Insgeheim war ich erleichtert, denn das gab mir die Gelegenheit, mich diesem Blick zu entziehen. Ich hätte ihn nicht ertragen – und ich wollte nicht vor aller Augen in Tränen ausbrechen.

4

Dieser erste Besuch brachte nicht viel. Nick war noch zu benommen von der Narkose, und wir anderen waren zu geschockt, um etwas Bedeutsames daraus zu machen. Als ich am Abend allein zurückkehrte, wusste ich, dass er schlafen würde, aber mich trieb das unbezwingliche Bedürfnis, ihn zu sehen.

Wie es in den Bergen oft der Fall ist – was ich damals noch nicht wusste, jetzt aber wohl –, hatten sich die Wolken kurz vor Sonnenuntergang verzogen. Louise und Harald waren nach dem Essen zu einem langen Spaziergang am Seeufer aufgebrochen. Sie waren reizbar durch den Unfall ihres Sohnes und durch die Mitteilung, dass Nick vielleicht in einer Woche in die Niederlande geflogen werden könnte, um die Infektionsgefahr zu verringern. Ich hatte ihre Einladung, sie zu begleiten, ausgeschlagen und war meiner eigenen Wege gegangen, bergauf, zurück zum CHUV, während ich überlegte, was ich tun sollte, wenn mir der Zutritt zur Station verwehrt würde.

Im Krankenhaus war es sehr still. Auf dem langen Gang, der zur Intensivstation führte – dem Gang, der einer lang gestreckten Wolke aus Uringeruch, Bodylotion und Desinfektionsmitteln glich – sah ich nur einen Patienten und zwei Pflegerinnen, die mich im Vorübergehen höflich grüßten. Ich versuchte, mich auf meine Füße zu konzentrieren, und blickte nur flüchtig auf, wenn es sich nicht vermeiden ließ, denn der Blick durch die großen Fenster verursachte mir eine Gänsehaut. Die Berge oberhalb des Sees waren dunkle Umrisse, die sich in einem seltsamen atmosphärischen Effekt in den Wolken auflösten, und ich spürte stärker denn je die Bedrohung, die von ihnen ausging.

Auf Nicks Station fand ich keine Spur mehr von der PoliceCantonale. Später hörte ich, dass sie Nick am Nachmittag ein paar Fragen gestellt hatten – Standardprozedere bei Bergsportunfällen mit Todesopfern. Sie hatten einen Bericht geschrieben und waren gegangen. Nick hatte Ja und Amen gesagt und die Schlussfolgerungen der Bergrettung bestätigt.

Selbst in seinem Zustand hatte Nick begriffen, dass es ihn teuer zu stehen kommen könnte, wenn er erzählte, was ihm wirklich im Kopf herumschwirrte.

Verwirrende Erinnerungen, Angstbilder, vage wie ein fernes Echo …

(Dum-dum-dum-duuuuummmmm – roll credits.)

Ich schlüpfte ungesehen in sein Zimmer. Dort lag mein perfekter Prinz, nackt auf seinem Bett. Die hellblaue Decke zurückgeschlagen, ein dünner Plastikschlauch aus seinem traurigen, schlappen Penis, eine junge Krankenschwester mit einem üppigen, dunklen Lockenkopf über ihn gebeugt. Mein perfekter mumifizierter Geliebter, angegrabbelt von einer feschen, jungen Kreditkartenpervofrau mit einem Zystoskopfetisch. Und konntest du es ihr verdenken? Reiß diesen Kopf runter, stell den Körper auf einen Sockel, und jemand wird ein Vermögen dafür bezahlen und es Apollos Torso nennen.

Dann sah ich die kleine Schüssel voll Wasser, den Waschlappen und den Urinbeutel zwischen seinen Beinen, an dem der Schlauch befestigt war, und dann bemerkte die Schwester mich. Sie schrie erschrocken auf.

»Bonsoir«, sagte ich.

Es ist witzig, wie hilflos Menschen in manchen Situationen sind.

Ich sagte: »Ich bin froh, dass ich hier nicht Dr. Genet in die Arme laufe.« Das sagte ich auf Französisch, wie auch das Folgende, denn Cécile sprach offenbar nur ein paar Brocken Englisch.

Sie wirkte ein wenig entspannter – wenn auch nur sehr wenig – und schaute mich aus hellen, nervösen Augen an. »Du musst Sam sein.«

»Stimmt. Woher weißt du das?«

Sie lächelte, wich dann aber meinem Blick wieder aus. »Nick hat mir von dir erzählt. Ich bin Cécile Métrailler.«

»Hallo, Cécile.« Ich ging zum Bett und schüttelte über dem nackten Leib meines Freunds ihre in Latex gehüllte Hand. »Wenn Männer solche Handschuhe tragen, haben sie in der Regel ganz andere Dinge vor.«

Angeblich hilft Humor in schwierigen Situationen, aber mein Versuch, Cécile aufzulockern, schlug fehl. Sie kicherte verlegen, wandte sich dann rasch ab und schob ein Fieberthermometer in Nicks Ohr.

Ihre Anspannung griff auf mich über, wie ich nun merkte. Es setzte meinem Nervenkostüm zu, das schlafende, eingewickelte Gesicht anzusehen, und deshalb ließ ich meinen Blick zu den Druckverbänden an anderen Stellen seines Körpers wandern. Bizeps: check. Quadriceps: check. Reps: Bis du nicht mehr kannst. Natürlich, sein Gesicht geflickt mit einem Stück vom Arm, sein Arm mit einem weiteren Verband abgedichtet. Plastische Chirurgie besteht im Verpflanzen der Narbe an eine Stelle, wo sie nicht stört. Der Mensch als All inclusive-Bauset.

Tatsache ist: Bei so einem Körper gibt es keine Stelle, wo es nicht stört.

Tatsache ist: Ohne Gesicht verliert so ein Körper seinen Wert.

Ich riss meinen Blick vom Bett los und fragte: »Wie geht es ihm?«

»Er schläft tief und fest. Temperatur und Blutdruck sind stabil. Er spürt nichts.« Zum ersten Mal sah Cécile mich etwas länger an. »Aber wie geht es dir eigentlich?«

Ich zuckte mit den Schultern, spielte mit dem Gedanken zu lügen, sagte dann: »Schlecht.«

Ich weiß nicht, warum ich bei einer Person, die ich seit gerade einmal vierzig Sekunden kannte, so ehrlich war, aber Cécile weckte meine Neugier, und ich fand sie sofort sympathisch. Manchmal passiert so etwas. Unter anderen Umständen hätten wir vielleicht sogar Freunde werden können.

»Es ist bestimmt schwer«, sagte sie. Sie reichte mir den Waschlappen. »Hier, sicher willst du ihn waschen.«

Das wollte ich durchaus nicht, und Cécile wusste das verdammt gut, aber sie sah, dass ich Abstand zum Bett hielt, und meine Bemühungen, dem zu entgehen, dem ich am Ende doch ins Auge würde schauen müssen. Das hier war Nick, und je früher ich mich daran gewöhnte, desto besser. Unser Leben würde definiert werden von dem Moment, in dem der Verband abgenommen und Nicks unwiderruflich entstelltes Gesicht enthüllt wurde. Dieser Augenblick ragte vor mir auf wie ein Berg. Ich musste immer wieder daran denken, wie Dr. Genet die Fotos mit der Rückseite nach oben gehalten und dann umgedreht hatte. Aber so groß auch meine Angst vor der Frage war, ob ich mit dem würde umgehen können, was ich sah, noch größer war meine Angst um Nick. Der Fluch der Schönheit ist, dass sie wichtig für uns wird. Sie wird zu einer Sucht. Die Schwerkraft ist unsere Feindin. Ein Blick in den Spiegel, und Nick würde zu einem Junkie in der Entzugsklinik werden.

Ich hatte eine Todesangst davor, dass mein Gesicht dieser Spiegel sein würde und Nick nicht ertragen könnte, was er darin sah.

Also ließ ich mir von Cécile den Waschlappen geben und machte mich daran, Nick zu waschen. Ich reinigte seinen Körper, jede Stelle, die ich durch und durch kannte, jede Wölbung, die ihre eigene Erinnerung mit sich brachte. Ich schaffte Platz für seine Unvollkommenheiten und Narben, lernte sie kennen und nahm damit dem Grauen, das unter der Mumienmaske auf uns wartete, die scharfen Kanten.

Als ich fertig war, hatte Cécile endlich genug Vertrauen zu mir gefasst, um den zweimal gefalteten Zettel aus der Tasche ihrer Schwesterntracht zu ziehen. Sie schaute an mir vorbei zur Tür und sagte mit gesenkter Stimme: »Ich soll dir das von ihm geben. Es ist auf Niederländisch, aber ich habe den Google Translator benutzt, und da steht, dass er dich liebt.« Sie errötete. »Sorry, ich war neugierig.«

Ich faltete den Zettel auseinander und las Nicks Mitteilung, dass es kein Unfall gewesen sei.

Es schien stiller zu werden im Krankenzimmer. Ich bemerkte plötzlich meinen hämmernden Herzschlag. Als ich aufschaute, sah ich, dass Cécile den Zeigefinger gegen ihre Lippen drückte. Ich erschrak. Ich begriff, dass das, was ich zuerst für Nervosität gehalten hatte, in Wirklichkeit Angst war.

Ich dachte: Dr. Genet.

»Hör mal, ich habe Spätdienst«, sagte sie eilig, »aber hättest du Lust, morgen mit mir einen Kaffee zu trinken? Ich kenne da ein nettes Café am See.«

5

Am nächsten Morgen wurde Nick früh wach, und seine Eltern und ich wechselten uns an seinem Bett ab. Später würden Harald und Louise sich auf den Weg ins Val d’Anniviers machen, um Nicks Ford Focus zu holen, den die PoliceCantonale an der Stelle gefunden hatte, wo er und Augustin ihn vor ihrem fatalen Aufstieg geparkt hatten. Sobald wir wussten, wann Nick ins AMC überführt werden konnte, würden sie das Auto in die Niederlande zurückbringen.

Nicks Augen schwebten gespenstisch zwischen den Verbandsschichten. Er war noch immer benommen vom Morphin, aber er war klarer im Kopf als am Vortag, und ich redete nonstop auf ihn ein, weil ich seine Gedanken von dem Naheliegenden ablenken wollte. Flash: Fazila und Rob legten mal wieder eine Pause ein, also, nichts Neues unter der Sonne. Flash: Ramses hatte mit Chef gekämpft, ein Ohr war zerfetzt, und er traute sich jetzt nur noch hinters Haus. Flash: Weleda hatte ein neues Skin Food Facial auf den Markt gebracht, für trockene Haut, und die machte alles viel geschmeidiger als … oh fuck. Ich ertappte mich dabei, dass ich es die ganze Zeit vermieden hatte, sein verbundenes Gesicht anzusehen. Ich sah zum Spiegel an der Wand – die Schwestern hatten ihn umgehängt, damit Nick nicht hineinschauen konnte –, dann wieder zum Bett und wieder zum Spiegel, und immer so weiter, eine niemals endende Realitätsschleife, bis Nick meine Hand packte und mich damit zum Schweigen brachte.

Ich bin ein Monster.

schrieb er auf seinen Notizblock.

Flash: In Ohio hatte eine Frau ihr Baby gegessen und damit einen neuen Trend gestartet. #onlinohio.

Wenn du mich verlässt, nehme ich dir das nicht übel.

»Spinn nicht rum.«

Seine Augen, ich konnte mich nicht dazu bringen, hineinzuschauen.

»Hier wird niemand verlassen, ist das klar? Wir ziehen das gemeinsam durch.«

Das hoffte ich ehrlich, aber wir wussten beide, dass ein Moment kommen konnte, in dem die Wirklichkeit uns einholte. Drei Jahre lang waren wir unzertrennlich gewesen. Wegen Nick war ich nicht nach New York zurückgekehrt. Wir hatten davon geträumt, es irgendwann zusammen zu tun. Ich hatte ihm das Tanzen beigebracht, und er hatte mir das Lieben beigebracht. Die Realitätsschleife: Es ging hier nicht um mich, das war mir klar. Aber wenn ich nun in diese Augen schaute, würde ich den Ozean sehen, der zwischen unserem alten und unserem neuen Leben lag, und ich hatte keine Ahnung, wie wir den überbrücken sollten.

Louise und Harald brachten Kaffee. Ich war erleichtert. Das Gespräch blieb oberflächlich, und genau so wollte ich es. Als seine Eltern sich eine halbe Stunde später auf den Weg ins Wallis gemacht hatten, beugte ich mich zu Nick und flüsterte: »Was soll das heißen, dass es kein Unfall war?«

Es sah aus, als ob er diese Frage nicht beantworten wollte, aber dann schüttelte er langsam den Kopf.

»Weißt du nicht mehr, was passiert ist?«

Er wandte sein Gesicht ab. Ein kleiner roter Fleck zeichnete sich wie eine Träne im Verband auf der rechten Wange ab.

»Das ist doch normal.«

Er blutete den Verband durch.

»Ich meine … Gedächtnisverlust. Nach einem Koma.«

Nick griff nach dem Notizblock, und während er schrieb, sah ich seine breiten, gebräunten Schultern, an die ich mich so oft geschmiegt hatte. Die Senken unter den Schlüsselbeinen, in die ich so gern meine Finger krallte. Der Dreitagebart, den ich so sexy fand. Den Mullverband, der so Entsetzliches in sich verbarg.

Ich weiß nicht. Habe Angst, daran zu denken. Hilf mir, Sam. Habe Angst, dass ich verrückt werde. Vertraue nicht mal meinen eigenen Gedanken. Du würdest schreiend von mir wegrennen, wenn ich …

Sein Stift schwebte lange über dem Notizblock, ehe er noch einige Wörter hinzufügte, das Blatt abriss und mir übergab.

Das wäre vielleicht das Beste.

Ich wünschte, er hätte das nicht getan. Die Andeutung, die in seinem unvollendeten Satz lag, war schlimm gewesen, aber das hier war schlimmer. Ob ich es ertrug, bei ihm zu bleiben, oder mit ihm, aus einem so banalen Grund wie einem verstümmelten Gesicht, Schluss machte, war meine Entscheidung, nicht seine. Ich hasste mich wegen dieses Gedankens, aber wenn mir auch diese Entscheidung aus den Händen genommen wurde, das Letzte, was ich noch hatte, dann konnte ich auch gleich meine Organe als dampfenden Haufen spenden. Man kann ankreuzen, dass man das Herz behalten will, aber warum sollte man das tun?

Nicks Augen waren offen, er lebte, aber innerlich war er in dem Moment erstarrt, in dem er hochblickte und den Felsbrocken auf sich zukommen sah. Ich wollte nicht an seinem geistigem Zustand zweifeln, denn das wäre mir wie Verrat vorgekommen, aber ich konnte Dr. Genets Diagnose nicht einfach ignorieren. Wie konnte ich ihn davon überzeugen, dass der eisige Wind, der seine Gedanken aufwirbelte, nichts anderes war als das Echo eines zerfetzten Gesichts, der Kampf einer traumatisierten Psyche? Er war nicht verrückt, er war auf einem Trip. PTSS und Morphin – ein wirksamer Cocktail.

Da saß ich nun.

Starrte seine Worte an.

Und wusste nicht, was ich ihm sagen sollte.

Die Schultern. Der Mumienkopf. Sie zeigten meine Unfähigkeit, mit der Situation umzugehen und ihm das zu geben, was er jetzt brauchte. Ich war nicht daran gewöhnt, der Stärkere zu sein. Ich versagte hoffnungslos, ich brauchte seine Schultern, um mich anzulehnen. Sein Gesicht, um es in meine Hände zu nehmen. Seine Lippen, die mir zuflüsterten, dass alles gut sei.

Wenn man die Dynamik zwischen zwei Menschen verändert, starren beide mit großen Augen in ihre eigene Finsternis.

Von diesem Bett wegzugehen war das Schwierigste, was ich jemals getan habe. Als ich mich einmal in Bewegung gesetzt hatte, zerriss ich den Zettel und stopfte die Fetzen in meine Gesäßtasche. Ich sagte: »Schlaf erst mal ’ne Runde.« Ich sagte: »Ich bin gleich wieder da.« Ich weiß nicht mehr, was ich alles gesagt habe, und dann hatte ich die Tür erreicht. Das Letzte, was ich sah, ehe ich sie hinter mir zuzog, waren Nicks geschundener Leib auf dem Krankenhausbett, seine trüben Augen, und das Allerschlimmste, wie er langsam begriff.