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Das Vergangene ist nicht tot, es ist noch nicht einmal vergangen. (William Faulkner) Aus der Oulipo-Werkstatt: Ein Buch, hervorgegangen aus einem einzigen Satz. Ausgangspunkt der Echoortungen ist ein altes asiatisches Kinderspiel. Dabei legt man eine zusammengefaltete Blüte oder Knospe aus Papier in eine Schale mit Wasser, wo sie sich dann öffnet und ihre bemalte oder beschriftete Innenseite preisgibt. Die Berührung mit dem Wasser setzt die in der Knospe verborgenen Formen und Gestalten, die zunächst noch unsichtbar sind, frei. Eine Wunderblume erscheint. Die Knospe, die dem vorliegende Werk zu Grunde liegt, ist ein berühmtes Zitat. Der Satz entfaltet und vervielfältigt sich, sobald er in Kontakt mit dem Wasser, dem Bewusstsein eines anderen Autors, kommt. Ein Gedicht entsteht.
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Seitenzahl: 47
I 125 – 400 Hz Stimmen
II 440 Hz Klänge
Er betritt
den großen Lesesaal
der Bibliothek,
wo sie Spalier stehen;
schreitet
unbeeindruckt
aufrecht
durch ihre Reihen;
lässt sie
einzeln hervortreten,
indem er unbewegt
ihre Namen flüstert;
streicht
einem älteren Exemplar
tätschelnd
über den Rücken;
klappt es auf
und klatschend
wie eine Ohrfeige
wieder zu;
befingert ein anderes
und stellt es
ungerührt
zurück in die Kolonne;
liest flüchtig
Titel und
Seriennummer
eines dritten;
beendet
seine Inspektion
an der Frontlinie,
im Sektor der Avantgardisten;
wählt
unter Tausenden
hier im Limbus
einen aus,
der heute
im Licht seiner Nachttischlampe
von den Toten
auferstehen wird.
In dem Kaktus
(auf einer alten Postkarte
meines Großvaters)
erblickte ich als Kind
eine riesige Hand,
die mit ausgestrecktem
Mittelfinger
aus der Erde ragte.
Wollte ich
mit meiner Mutter
darüber reden,
wandte sie sich
hart ab.
Aus der Tasse Kaffee
steigt
Dampf,
und nicht Schwefel,
auf.
Eine Klimaanlage,
und nicht der Äther,
verströmt
kühlende Luft,
und nicht den Hauch des Todes.
Aus dem Fernseher
dröhnt
die Stimme eines Moderators,
und nicht der Sensenmann,
und verkündet
die Nachrichten,
und nicht das Evangelium.
Auf einem sterilen Tablett,
und nicht auf der Schale einer Waage,
liegt
ein Infusionsbeutel,
und nicht das Herz.
Im Mehrbettzimmer
stöhnen
drei arme Hunde,
und nicht die drei Köpfe des Kerberos.
Draußen
raunt das Personal,
und nicht ein Engelschor.
Künstliches Licht,
und nicht das Strahlen eines Feuers,
dringt
aus dem Flur nebenan,
und nicht aus dem Jenseits,
ins Zimmer.
Die Tür,
und nicht die Himmelspforte,
öffnet sich,
und hereintritt
mit ausgestreckten Armen,
und nicht mit offenen Flügeln,
nicht die Oberschwester,
sondern die geliebte Tote.
Sie hatte eine eigenwillige Art,
sich auszudrücken.
Sie sagte: „beten gemüssen“
und „kochen gesollen“.
Nur in die Pflichtschule
habe sie „gehen gemüssen“.
Fürs Leben habe sie dann alles
im Leben gelernt:
das Putzen, Kochen, Nähen,
Heuen, Melken, Kinderkriegen.
Das Knien und Singen im Chor.
Ihre Töchter hätten dann schon
mehr „lernen gedurfen“.
Sie hätten nach der Schule
mehr „machen gekönnen“,
also: mehr arbeiten.
Karriere statt Kinder,
raus aus dem Miststall
in ein belüftetes Büro.
Trotzdem habe sie nie
mit ihnen „tauschen gewollen“.
Ihr eigenes Leben, Vergeltsgott,
sei ja so schlecht nicht gewesen.
Ihre Trümpfe:
Der frohe Sinn vom Papa
und das Hirn der Mama.
Nehmerqualitäten. Brave Töchter.
Ein Mann, der trank, aber nicht hurte.
Der Kräutergarten.
Und dass sie immer gern „singen gemögen“.
Über der Grotte
von Lourdes
steht jetzt eine Kathedrale,
und das Heilwasser
wird in Flaschen abgefüllt.
Die kleine Heilige,
die es entdeckte,
hatte selbst nichts davon.
„Die Quelle ist nicht für mich“,
sagt sie in dem Schwarzweißfilm von 1943.
Sie sagt es
wie eine stillende Mutter,
oder wie Mozart,
Van Gogh, Shakespeare, Sokrates, Leonardo
es gesagt haben könnten -
inspirierte Tagelöhner.
Das Heilwasser
ist nie für die,
aus denen es fließt.
Es quellt
im Licht der Sonne,
im Schlaf der Katzen,
in einer Schnittblume,
einem Ventilator.
Einer Drehorgel,
die für ein wechselndes Publikum
Pour Elise spielt.
Es strömt rauschend
in den Lieben Augustin
und verlässt ihn
mit einem Kater.
Es wandert
von einem zum andern,
von dir zu mir
durch eine Münze, einen Blick, ein Wort.
Oder durch Handauflegen.
In der Obdachlosen
vom Stadtpark
fließt es
durch zwei Goldzähne
wie aus goldenen Wasserhähnen,
wenn sie lacht.
Wenn ihr das nicht habt in euch,
wird das, was ihr nicht habt in euch,
euch töten.
Thomasevangelium
Er aß
zahnlos
mittels Vollprothesen
sein Filet Mignon
las
halbblind
mit einer Lupe
den Börsenbericht
befehligte
stumm
mittels einer Software
seine Untergebenen
gelangte
gehbehindert
in einem Lift
auf seine Dachterrasse
hörte
taub
mit einem Hörgerät
die Bahndurchsagen
vergnügte sich
impotent
dank Viagra
im Laufhaus
inhalierte
atemlos
durch ein Lungenimplantat
seine Havanna
weckte
abgestumpft
kraft Hochkonjunktur
seine Lebensgeister
starb
putzmunter
für alle überraschend
an einem Herzinfarkt
Die erste Generation
der Gastarbeiter
rackert sich tot
damit ihre Kinder
eine andere Geschichte erzählen
Die erste Generation
der Pizzabäcker
schuftet sich stumpf
damit ihre Kinder
eine andere Geschichte erzählen
Die erste Generation
der Frisöre
schindet sich gichtig
damit ihre Kinder
eine andere Geschichte erzählen
Die erste Generation
der Zulieferer
hastet sich platt
damit ihre Kinder
eine andere Geschichte erzählen
Die erste Generation
der Nachtwächter
quält sich bewusstlos
damit ihre Kinder
eine andere Geschichte erzählen
Die erste Generation
der Dealer
gaunert sich knastreif
damit ihre Kinder
eine andere Geschichte erzählen
Die erste Generation
der Akademiker
büffelt sich blöd
damit ihre Kinder
eine andere Geschichte erzählen
Die erste Generation
der Schriftsteller
dichtet sich hirnweich
um die Geschichte
ihrer Eltern zu erzählen
Die ungeheuerste Kultur, die der Mensch
sich geben kann, ist die Überzeugung,
daß die andern nicht nach ihm fragen.
Johann Wolfgang Goethe
Der Penner,
der meine Schuhe bekommt,
wird das winterharte Leder
gut vertragen.
Der Kollege,
der meinen Spind bekommt,
wird die alten Aufkleber
entfernen müssen.
Der Antiquar,
der meine Bibliothek bekommt,
wird die Duineser Elegien
mit meinen Randnotizen verhökern.
Die gute Seele,
die meine Katze bekommt,
wird das treulose Biest
wieder schnurren machen.
Die Koryphäe,
die meine Kakteensammlung bekommt,
wird die dornige Echinopsis
auch zum Blühen bringen.
Der Angehörige,
der meine Espressomaschine bekommt,
wird seinen morgendlichen Kaffee
dann feingemahlen trinken.
Der Schnäppchenjäger,
der meinen Computer bekommt,
wird meine alten Dateien
wie Schwemmgut entsorgen.
Der Stein,
der meinen Namen bekommt,
wird ihn datiert
zurück zu den anderen legen.
Der Wichser,
der deine Aktfotos bekommt,
wird eine betörende Fremde
mit nackten Brüsten sehen.
Auf einer Verkehrsinsel
ein riesiger Baum
isoliert wie ein
König im Exil
wie Napoleon
auf St. Helena
vielleicht auch
siech wie er
(krank durch
chronische Vergiftung)
aber nicht liegend