Echoortungen - René Steininger - E-Book

Echoortungen E-Book

René Steininger

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Beschreibung

Das Vergangene ist nicht tot, es ist noch nicht einmal vergangen. (William Faulkner) Aus der Oulipo-Werkstatt: Ein Buch, hervorgegangen aus einem einzigen Satz. Ausgangspunkt der Echoortungen ist ein altes asiatisches Kinderspiel. Dabei legt man eine zusammengefaltete Blüte oder Knospe aus Papier in eine Schale mit Wasser, wo sie sich dann öffnet und ihre bemalte oder beschriftete Innenseite preisgibt. Die Berührung mit dem Wasser setzt die in der Knospe verborgenen Formen und Gestalten, die zunächst noch unsichtbar sind, frei. Eine Wunderblume erscheint. Die Knospe, die dem vorliegende Werk zu Grunde liegt, ist ein berühmtes Zitat. Der Satz entfaltet und vervielfältigt sich, sobald er in Kontakt mit dem Wasser, dem Bewusstsein eines anderen Autors, kommt. Ein Gedicht entsteht.

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Seitenzahl: 47

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Inhaltsverzeichnis

I 125 – 400 Hz Stimmen

II 440 Hz Klänge

I125 – 400 Hz Stimmen

Der Leser

Er betritt

den großen Lesesaal

der Bibliothek,

wo sie Spalier stehen;

schreitet

unbeeindruckt

aufrecht

durch ihre Reihen;

lässt sie

einzeln hervortreten,

indem er unbewegt

ihre Namen flüstert;

streicht

einem älteren Exemplar

tätschelnd

über den Rücken;

klappt es auf

und klatschend

wie eine Ohrfeige

wieder zu;

befingert ein anderes

und stellt es

ungerührt

zurück in die Kolonne;

liest flüchtig

Titel und

Seriennummer

eines dritten;

beendet

seine Inspektion

an der Frontlinie,

im Sektor der Avantgardisten;

wählt

unter Tausenden

hier im Limbus

einen aus,

der heute

im Licht seiner Nachttischlampe

von den Toten

auferstehen wird.

Saguaro

In dem Kaktus

(auf einer alten Postkarte

meines Großvaters)

erblickte ich als Kind

eine riesige Hand,

die mit ausgestrecktem

Mittelfinger

aus der Erde ragte.

Wollte ich

mit meiner Mutter

darüber reden,

wandte sie sich

hart ab.

Terminale Geistesklarheit

Aus der Tasse Kaffee

steigt

Dampf,

und nicht Schwefel,

auf.

Eine Klimaanlage,

und nicht der Äther,

verströmt

kühlende Luft,

und nicht den Hauch des Todes.

Aus dem Fernseher

dröhnt

die Stimme eines Moderators,

und nicht der Sensenmann,

und verkündet

die Nachrichten,

und nicht das Evangelium.

Auf einem sterilen Tablett,

und nicht auf der Schale einer Waage,

liegt

ein Infusionsbeutel,

und nicht das Herz.

Im Mehrbettzimmer

stöhnen

drei arme Hunde,

und nicht die drei Köpfe des Kerberos.

Draußen

raunt das Personal,

und nicht ein Engelschor.

Künstliches Licht,

und nicht das Strahlen eines Feuers,

dringt

aus dem Flur nebenan,

und nicht aus dem Jenseits,

ins Zimmer.

Die Tür,

und nicht die Himmelspforte,

öffnet sich,

und hereintritt

mit ausgestreckten Armen,

und nicht mit offenen Flügeln,

nicht die Oberschwester,

sondern die geliebte Tote.

Ihre Trümpfe

Sie hatte eine eigenwillige Art,

sich auszudrücken.

Sie sagte: „beten gemüssen“

und „kochen gesollen“.

Nur in die Pflichtschule

habe sie „gehen gemüssen“.

Fürs Leben habe sie dann alles

im Leben gelernt:

das Putzen, Kochen, Nähen,

Heuen, Melken, Kinderkriegen.

Das Knien und Singen im Chor.

Ihre Töchter hätten dann schon

mehr „lernen gedurfen“.

Sie hätten nach der Schule

mehr „machen gekönnen“,

also: mehr arbeiten.

Karriere statt Kinder,

raus aus dem Miststall

in ein belüftetes Büro.

Trotzdem habe sie nie

mit ihnen „tauschen gewollen“.

Ihr eigenes Leben, Vergeltsgott,

sei ja so schlecht nicht gewesen.

Ihre Trümpfe:

Der frohe Sinn vom Papa

und das Hirn der Mama.

Nehmerqualitäten. Brave Töchter.

Ein Mann, der trank, aber nicht hurte.

Der Kräutergarten.

Und dass sie immer gern „singen gemögen“.

Heilwasser

Über der Grotte

von Lourdes

steht jetzt eine Kathedrale,

und das Heilwasser

wird in Flaschen abgefüllt.

Die kleine Heilige,

die es entdeckte,

hatte selbst nichts davon.

„Die Quelle ist nicht für mich“,

sagt sie in dem Schwarzweißfilm von 1943.

Sie sagt es

wie eine stillende Mutter,

oder wie Mozart,

Van Gogh, Shakespeare, Sokrates, Leonardo

es gesagt haben könnten -

inspirierte Tagelöhner.

Das Heilwasser

ist nie für die,

aus denen es fließt.

Es quellt

im Licht der Sonne,

im Schlaf der Katzen,

in einer Schnittblume,

einem Ventilator.

Einer Drehorgel,

die für ein wechselndes Publikum

Pour Elise spielt.

Es strömt rauschend

in den Lieben Augustin

und verlässt ihn

mit einem Kater.

Es wandert

von einem zum andern,

von dir zu mir

durch eine Münze, einen Blick, ein Wort.

Oder durch Handauflegen.

In der Obdachlosen

vom Stadtpark

fließt es

durch zwei Goldzähne

wie aus goldenen Wasserhähnen,

wenn sie lacht.

Jedermann (Remix)

Wenn ihr das nicht habt in euch,

wird das, was ihr nicht habt in euch,

euch töten.

Thomasevangelium

Er aß

zahnlos

mittels Vollprothesen

sein Filet Mignon

las

halbblind

mit einer Lupe

den Börsenbericht

befehligte

stumm

mittels einer Software

seine Untergebenen

gelangte

gehbehindert

in einem Lift

auf seine Dachterrasse

hörte

taub

mit einem Hörgerät

die Bahndurchsagen

vergnügte sich

impotent

dank Viagra

im Laufhaus

inhalierte

atemlos

durch ein Lungenimplantat

seine Havanna

weckte

abgestumpft

kraft Hochkonjunktur

seine Lebensgeister

starb

putzmunter

für alle überraschend

an einem Herzinfarkt

Die erste Generation

Die erste Generation

der Gastarbeiter

rackert sich tot

damit ihre Kinder

eine andere Geschichte erzählen

Die erste Generation

der Pizzabäcker

schuftet sich stumpf

damit ihre Kinder

eine andere Geschichte erzählen

Die erste Generation

der Frisöre

schindet sich gichtig

damit ihre Kinder

eine andere Geschichte erzählen

Die erste Generation

der Zulieferer

hastet sich platt

damit ihre Kinder

eine andere Geschichte erzählen

Die erste Generation

der Nachtwächter

quält sich bewusstlos

damit ihre Kinder

eine andere Geschichte erzählen

Die erste Generation

der Dealer

gaunert sich knastreif

damit ihre Kinder

eine andere Geschichte erzählen

Die erste Generation

der Akademiker

büffelt sich blöd

damit ihre Kinder

eine andere Geschichte erzählen

Die erste Generation

der Schriftsteller

dichtet sich hirnweich

um die Geschichte

ihrer Eltern zu erzählen

Hinterlassenschaften

Die ungeheuerste Kultur, die der Mensch

sich geben kann, ist die Überzeugung,

daß die andern nicht nach ihm fragen.

Johann Wolfgang Goethe

Der Penner,

der meine Schuhe bekommt,

wird das winterharte Leder

gut vertragen.

Der Kollege,

der meinen Spind bekommt,

wird die alten Aufkleber

entfernen müssen.

Der Antiquar,

der meine Bibliothek bekommt,

wird die Duineser Elegien

mit meinen Randnotizen verhökern.

Die gute Seele,

die meine Katze bekommt,

wird das treulose Biest

wieder schnurren machen.

Die Koryphäe,

die meine Kakteensammlung bekommt,

wird die dornige Echinopsis

auch zum Blühen bringen.

Der Angehörige,

der meine Espressomaschine bekommt,

wird seinen morgendlichen Kaffee

dann feingemahlen trinken.

Der Schnäppchenjäger,

der meinen Computer bekommt,

wird meine alten Dateien

wie Schwemmgut entsorgen.

Der Stein,

der meinen Namen bekommt,

wird ihn datiert

zurück zu den anderen legen.

Der Wichser,

der deine Aktfotos bekommt,

wird eine betörende Fremde

mit nackten Brüsten sehen.

Vert de Vienne

Auf einer Verkehrsinsel

ein riesiger Baum

isoliert wie ein

König im Exil

wie Napoleon

auf St. Helena

vielleicht auch

siech wie er

(krank durch

chronische Vergiftung)

aber nicht liegend