Edgar Allan Poe: Erzählungen - Edgar Allan Poe - E-Book

Edgar Allan Poe: Erzählungen E-Book

Edgar Allan Poe

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Beschreibung

Diese E-Book-Edition enthält die folgenden Werke von Edgar Allan Poe: • Bon-Bon • Das Faß Amontillado • Das Geheimnis der Marie Rogêt • Das Manuskript in der Flasche • Das schwatzende Herz • Das Stelldichein • Das System des Dr. Teer und Prof. Feder • Der Doppelmord in der Rue Morgue • Der Duc de l'Omelette • Der entwendete Brief • Der Mann der Menge • Der Teufel im Glockenstuhl • Der Untergang des Hauses Usher • Des wohlachtbaren Herrn Thingum Bob • Die Brille • Die Maske des roten Todes • Die schwarze Katze • Die Sphinx • Die Tatsachen im Falle Waldemar • Eine Geschichte aus Jerusalem • Hinab in den Maelström • Hopp-Frosch • König Pest • Landors Landhaus • Lebendig begraben • Ligeia • Vier Tiere in einem • Von Kempelen und seine Entdeckung • Wassergrube und Pendel • William Wilson

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Edgar Allan Poe

Edgar Allan Poe: Erzählungen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Bon-Bon

Das Faß Amontillado

Das Geheimnis der Marie Rogêt

Das Manuskript in der Flasche

Das schwatzende Herz

Das Stelldichein

Das System des Dr. Teer und Prof. Feder

Der Doppelmord in der Rue Morgue

Der Duc de l'Omelette

Der entwendete Brief

Der Mann der Menge

Der Teufel im Glockenstuhl

Der Untergang des Hauses Usher

Des wohlachtbaren Herrn Thingum Bob

Die Brille

Die Maske des roten Todes

Die schwarze Katze

Die Sphinx

Die Tatsachen im Falle Waldemar

Eine Geschichte aus Jerusalem

Hinab in den Maelström

Hopp-Frosch

König Pest

Landors Landhaus

Lebendig begraben

Ligeia

Vier Tiere in einem

Von Kempelen und seine Entdeckung

Wassergrube und Pendel

William Wilson

Impressum neobooks

Bon-Bon

Quand un bon vin meuble mon estomac,

Je suis plus savant que Balzac,

Plus sage que Pibrac;

Mon bras seul faisant l'attaque

De la nation Cossaque,

La mettroit au sac;

De Charon je passerois le lac

En dormant dans son bac;

J'irois au fier Eac,

Sans que mon cœur fit tic ni tac,

Présenter du tabac.

Französisches Vaudeville.

Bon-Bon war ein Wirt von vielen Gaben. Keiner, der je im Cul-de-sac Lefebvre zu Rouen seine kleine Kneipe besuchte, wird es, glaube ich, bestreiten. Noch unbegreiflicher aber ist Pierre Bon-Bons Bewandertsein in der Philosophie seiner Zeit. Seine pâtés à la foie waren zweifellos von höchster Vortrefflichkeit; aber welche Feder könnte seinen Essays »Sur la Nature«, seinen Gedanken »sur l'Ame«, seinen Betrachtungen »sur l'Esprit« Gerechtigkeit widerfahren lassen! Wohl waren seine Omelettes und Frikandeaus unschätzbar, doch welcher damals lebende Schriftsteller hätte nicht doppelt soviel für eine »idée de bon-bon« gegeben als für den ganzen Ideenplunder aller übrigen »Weisen«? Bon-Bon hatte Bibliotheken durchstöbert, die noch niemand sonst durchforscht hatte, unwahrscheinlich viel gelesen und Dinge begriffen, deren Auffaßbarkeit jeder andere für ausgeschlossen gehalten hätte. Trotz alledem gab es selbst zu der Zeit, da er auf seiner Höhe war, Autoren in Rouen, die behaupteten, daß »seine Dikta weder die Klarheit der Akademiker noch die Tiefe der Lyzeisten« aufwiesen. Ich kann versichern, daß seine Lehren durchaus nicht allgemein verstanden wurden, obgleich daraus keineswegs gefolgert werden darf, daß sie schwer zu verstehen waren. Ich glaube, es war gerade ihre Selbstverständlichkeit, die sie vielen so verworren erscheinen ließ. Sagt es nicht weiter – aber selbst Kant verdankt im wesentlichen Bon-Bon seine metaphysischen Begriffe. Bon-Bon gehörte weder zur Schule Platos, noch, streng genommen, zu der des Aristoteles, noch verschwendete er, wie der neuzeitlichere Leibniz, kostbare Stunden, die der Erfindung eines Frikassees oder, in leichter Abstufung, der Analyse einer Empfindung gewidmet werden konnten, in leichtfertigen Versuchen, die unverträglichen Öle und Wasser einer Moraldisputation zu verbinden. Ganz und gar nicht. Bon-Bon war ionisch; Bon-Bon war aber auch italisch. Er überlegte a priori; er überlegte a posteriori. Seine Ideen waren angeborene oder erworbene. Er glaubte an Georg von Trapezunt, er glaubte an Bossarion. Bon-Bon war ganz überzeugt ein – Bonbonist.

Ich habe bereits davon gesprochen, wie hochbegabt der Philosoph als Wirt war. Es wäre aber falsch, wenn einer meiner Freunde mutmaßen wollte, daß der Held unserer Geschichte bei der Erfüllung seiner Standespflichten sich nicht vollständig ihrer Wichtigkeit und Würde bewußt gewesen wäre. Weit entfernt. Es war unmöglich zu sagen, auf welchen seiner »Berufe« er am meisten stolz war. Nach seiner Meinung waren die Geisteskräfte innig mit der Leistungsfähigkeit des Magens verbunden. Ich glaube, daß sich seine Auffassung fast mit der der Chinesen deckte, die der Meinung sind, der Aufenthaltsort der Seele sei der Bauch. Auf alle Fälle gab er den Griechen recht, die für Geist und Zwerchfell das gleiche Wort gebrauchten. Natürlich fällt es mir nicht bei, durch diese Äußerung die Metaphysiker der Schlemmerei oder ähnlicher Untugenden anzuklagen. Wenn Peter Bon-Bon seine Fehler hatte – und welcher große Mann hätte nicht tausende? – also, wenn Bon-Bon seine Schwächen hatte, waren sie sehr geringfügiger Art – Fehler, die bei anderen Naturen oft eher als Tugenden angesehen werden. Was nun die eine dieser Schwächen betrifft, so würde ich sie überhaupt hier nicht erwähnen, wenn sie nicht so außerordentlich hervorstechend, so sehr in alto rilievo aus der Ebene seines sonstigen Wesens herausragend gewesen wäre. Nie konnte er sich die Gelegenheit entschlüpfen lassen, Geschäfte zu machen.

Nicht, daß er habgierig gewesen wäre – o nein! Zum Vergnügen des Philosophen war es durchaus nicht notwendig, daß der Handel zu seinem eigenen Vorteil ausfiel. Wenn nur ein Geschäft zustande kam – irgendein Handel irgendwelcher Art unter irgendwelchen Bedingungen –, so erstrahlte tagelang sein Antlitz in triumphierendem Lächeln, und ein schlaues Augenzwinkern war der Verkünder seiner Klugheit.

Ein solches Benehmen würde sicher zu jeder Zeit die Aufmerksamkeit und das Befremden der Umwelt herausgefordert haben. Überaus erstaunlich aber wäre es gewesen, wenn diese Eigenheit zur Zeit unserer Erzählung nicht ganz besonders beachtet worden wäre. Bald lief ein Gerede herum, daß jedesmal dann das von Bon-Bon zur Schau getragene Lächeln sich grundsätzlich von dem Grinsen unterschied, wenn er seine eigenen Witze belachte oder einen akuten Bekannten begrüßte. Und aufregende Anspielungen wurden gemacht, auf gefährliche Handelsgeschäfte die schnell abgeschlossen und später bereut worden seien; und Umstände wurden des weiteren angeführt, die irgendwie den Beweis führen sollten für unverständliches Können, für unbestimmte Wünsche und unnatürliche Neigungen, die vom Urheber alles Übels zur Erreichung seiner eigenen klugen Zwecke in Bon-Bon eingepflanzt worden seien.

Der Philosoph hat andere Schwächen, aber sie sind kaum einer Betrachtung wert. Zum Beispiel gibt es wenige Männer von außerordentlicher Tiefe, denen eine Neigung zur Flasche fehlt. Ob diese Neigung die Ursache oder der Beweis dieser Tiefe ist, ist schwer zu sagen. Soweit ich im Bilde bin, hat Bon-Bon es nicht für nötig gehalten, die Frage gründlich zu durchdenken; ich stimme mit ihm überein. Ich halte es nicht für ausgemacht, daß der Restaurateur bei seiner Nachgiebigkeit gegen eine so wirklich klassische Neigung das intuitive Unterscheidungsvermögen verlor, welches zugleich seine Essays und seine Omelettes auszeichnete. In den Standen seiner Einsamkeit hatte der Burgunder seine Zeit, und auch für die Côtes du Rhône hatte er seine bestimmten Stunden. Sauternes und Médoc verhielten sich für ihn zueinander wie Catull und Homer. Er konnte mit Syllogismen spielen, während er St. Peray schlürfte, bei Clos de Vougeot war er analytisch, und der Chambertin baute ihm seine Theorien. Es wäre gut gewesen, wenn Bon-Bon diese abwägende Genauigkeit auch auf vorbesagte Handelsneigung ausgedehnt hätte. Aber das war keineswegs der Fall. Um die Wahrheit zu sagen, die Leidenschaft für den Handel begann bei unserm Philosophen allmählich immer intensiver und mystischer zu werden, und die Diablerie der deutschen Schriften, mit denen er sich beschäftigte, drückte seinem Denken immer mehr ihren Stempel auf.

Man schritt in das Heiligtum eines genialen Mannes, wenn man in jener Zeit die Kneipe im Cul-de-sac Lefebvre betrat. Bon-Bon war ein Genie. In ganz Rouen gab es nicht den kleinsten Koch, der nicht darauf geschworen hätte, daß Bon-Bon ein Genie sei. Sogar seine Katze wußte es und hörte auf mit dem Schweife zu wedeln, wenn er anwesend war. Seinem großen Neufundländer war die Tatsache ebenfalls wohl bekannt; wenn der Herr sich ihm näherte, so zeigte er deutlich sein Unterwürfigkeitsgefühl durch unschuldsvolles Benehmen, Niederhängen der Ohren und Herabfallenlassen des Unterkiefers, ein Benehmen, das eines Hundes würdig war. Andrerseits ist nicht zu leugnen, daß viel von dem dem Metaphysiker gezollten Respekt auf die Einwirkung seiner persönlichen Erscheinung zurückzuführen war. Meiner Meinung nach beeinflußt ein auffallendes Äußere sogar das Tier; und ich muß zugeben, daß in der Erscheinung Bon-Bons sehr viel dazu angetan war, die Einbildungskraft eines Vierfüßlers anzuregen. Die kleinen Großen (sofern es mir gütigst gestattet ist, diesen Ausdruck anzuwenden) tragen oft etwas Majestätisches zur Schau, ein Eindruck, den die Körpergröße an und für sich nicht hervorzubringen vermag. Wenn Bon-Bons Länge auch nicht mehr als drei Fuß betrug, wenn sein Kopf auch winzig klein war, so war es doch beim Anblick der Rundung seines Bauches unmöglich, sich eines Gefühls der Ehrerbietung, ja der Verehrung zu erwehren. In seiner Gestalt müssen Hunde und Menschen eine Verkörperung des Geistes, in seinem Umfang eine passende Behausung für seine unsterbliche Seele erblickt haben.

Ich könnte, wenn es mir Freude machte, nun auf Fragen des Aufputzes oder andere gleichgültige Äußerlichkeiten unseres Helden eingehen. Ich könnte sein Haar erwähnen, das kurz getragen und leicht über die Stirne gekämmt war und das eine kegelförmige, weiße, mit Quasten ausgezierte Flanellmütze überrag; ich könnte anführen, daß seine erbsengrüne Weste nicht den Schnitt zeigte, der bei den anderen Restaurators jener Zeit üblich war; daß die Ärmel etwas weiter waren, als die herrschende Mode vorschrieb; daß seine Manschetten nicht, wie es in jener barbarischen Geschmacksperiode üblich war, einen Umschlag von gleicher Farbe und Qualität wie der Anzug zeigten, sondern daß sie in zierlicher Weise mit dem verschiedenfarbig abgetönten Sammet von Genua überkleidet waren; daß seine Pantoffeln ein strahlendes Purpurrot in Durchbruchsarbeit zeigten und solch raffiniert spitze Form, solch herrliche Tönungen in Einfassung und Stickerei aufwiesen, daß man den Eindruck gewann, sie seien in Japan angefertigt; daß seine Kniehosen aus dem gelben atlasartigen Stoffe waren, den man »aimable« nannte, daß sein himmelblauer Überrock einem Morgenrock ähnlich, reich mit Hochrot gemustert und verziert war und so stolz um seine Schultern wallte, wie Morgennebel; daß sein »tout ensemble« die Benvenuta, eine florentinische Improvisatrice, zu der bemerkenswerten Äußerung veranlaßte: »Es ist schwer zu sagen, ob Bon-Bon ein Paradiesvogel oder die Vollkommenheit des Paradieses selbst ist.« Ich könnte, wie gesagt, über all diese Punkte weitläufig sprechen, aber ich enthalte mich solcher Ausführlichkeit; solche persönlichen Einzelheiten gehören ins Gebiet der historischen Novelle, sind aber unter der sittlichen Würde nüchterner Tatsachenschilderung.

Ich habe vorher gesagt, daß »man in das Heiligtum eines genialen Mannesschritt, wenn man die kleine Kneipe im Cul-de-sac betrat«; aber nur geniale Leute konnten die Vorzüge des Heiligtums richtig würdigen. Ein Aushängeschild in Gestalt eines großen Foliobandes schwebte vor der Eingangstür. Auf dem einen Deckel erblickte man eine gemalte Flasche, auf dem anderen eine Pastete, auf dem Buchrücken stand in großen Buchstaben »Oeuvres de Bon-Bon«. Auf diese Weise war der zwiefache Beruf des Besitzers zart angedeutet.

Beim Überschreiten der Schwelle hatte man sofort eine vollständige Übersicht über das Hausinnere. Das ganze Café enthielt nur einen einzigen, langgestreckten, niedrigen Raum von altertümlicher Bauweise. In einer Ecke des Zimmers stand das Bett des Metaphysikers. Eine Vorhangumkleidung und ein Betthimmel à la grecque gaben der Lagerstatt ein zugleich klassisches und behagliches Aussehen. In der Ecke, die der vorgenannten diagonal gegenüber lag, erschienen in engster Verbindung die Küchengeräte und die Bibliothek. Auf der Anrichte stand friedlich eine Platte mit polemischen Schriften. Hier lag ein Ofen voll ethischer Veröffentlichungen, dort ein Kessel voller Aufsätze in Duodezformat. Deutsche Moralschriften lagen in innigster Nachbarschaft beim Rost; Plato dehnte sich behaglich in der Bratpfanne; auf dem Spieß steckten zeitgenössische Manuskripte.

In anderer Beziehung jedoch unterschied sich Bon-Bons Kneipe wenig von den Durchschnittsrestaurants jener Periode. Gegenüber der Türe gähnte ein großer Kamin. Und rechts von diesem Kamin stellte ein offener Schrank eine stattliche Reihe von etikettierten Flaschen zur Schau.

Es war eines schönen Abends im harten Winter des Jahres –. Pierre Bon-Bon hatte den Bemerkungen seiner Nachbarn über seine eigentümliche Schwäche für den Handel zugehört und sich endlich von ihnen befreit, indem er ihnen nahelegte, nach Hause zu gehen; dann verriegelte er, eine Verwünschung vor sich hin murmelnd, die Tür und überließ sich in nicht gerade rosigster Laune der Bequemlichkeit, die ihm ein lederner Armstuhl und ein loderndes Feuerboten.

Es war eine jener grausigen Nächte, wie sie nur ein- oder zweimal im Laufe eines Jahrhunderts vorkommen. Der Schnee wirbelte in dichten Flocken, und das Haus erbebte bis in seine Grundfesten bei den Stößen des Windes, die in alle Risse und Ritzen der Mauern drangen, heulend den Kaminschlot herabfuhren, die Vorhänge am Bett des Philosophen unheimlich hin- und herwehen ließen und die Ordnung in seinen Pastetengeräten störten. Das große Schild, das draußen im wütenden Sturmwinde hin- und herschwankte, knarrte unheilverkündend, und ein schauriges Ächzen ging von seinen alten Eichenstützen aus.

Wie ich schon gesagt habe, rückte der Metaphysiker seinen Stuhl nicht gerade in der rosigsten Laune an seinen gewohnten Platz am Herde. Viele Umstände verwirrender Art hatten sich im Laufe des vergangenen Tages vereinigt, um seine Seelenruhe zu stören. Beim Versuche, Oeufs à la Princesse zuzubereiten, hatte er das Versehen begangen, eine Omelette à la Rheine zu machen; die Entdeckung eines ethischen Prinzips war durch das Überlaufen eines Stews zunichte gemacht worden; und was am schlimmsten war, eines jener bewundernswerten Handelsgeschäfte, deren erfolgreicher Abschluß ihm so sehr am Herzen lag, war ihm durchkreuzt worden. Aber seiner inneren Aufregung diesen seltsamen Wechselfällen gegenüber war bis zu einem gewissen Grade jene nervöse Beklemmung beigemischt, die durch die Wildheit einer stürmischen Nacht so leicht ausgelöst wird. Er pfiff den großen schwarzen Hund zu sich her, damit er ihn in seiner unmittelbaren Nähe habe, warf sich mit dem Gefühl des Unbehagens in seinen Stuhl und konnte sich nicht enthalten, seine Augen vorsichtig und unruhig in jene entfernteren Winkel des Raumes wandern zu lassen, deren schwer durchdringliche Schatten nicht einmal durch das rote Licht des Feuers völlig verdrängt werden konnten. Nachdem er diese Durchforschung des Raumes, deren eigentlicher Zweck ihm selbst vielleicht nicht ganz klar war, beendigt hatte, zog er einen kleinen, mit Büchern und Papieren bedeckten Tisch zu sich heran und war bald in die letzte Durchsicht eines dicken Manuskripts vertieft, das am nächsten Morgen veröffentlicht werden sollte.

Diese Beschäftigung dauerte kaum einige Minuten, als eine weinerliche Stimme plötzlich durch den Raum flüsterte: »Mir eilt es ganz und gar nicht, Herr Bon-Bon.«

»Zum Teufel!« stieß unser Held hervor, indem er aufsprang, den Tisch an seiner Seite umstieß und erstaunt im Zimmer umherstarrte.

»Stimmt genau.« antwortete die Stimme in größter Ruhe.

»Stimmt genau! – was stimmt genau? Wie kamen Sie hier herein?« schrie der Metaphysiker, als sein Blick auf ein gewisses Etwas fiel, das lang ausgestreckt auf dem Bette lag.

»Ich habe gesagt,« sprach der Eindringling, ohne auf die Fragen zu achten, »ich habe gesagt, daß ich es ganz und gar nicht eilig habe. Das Geschäft, um derentwillen ich mir die Freiheit genommen habe, vorzusprechen, ist nicht von so großer Dringlichkeit – kurz, ich kann sehr wohl warten, bis Sie Ihre Darlegungen dort vollendet haben.«

»Meine Darlegungen! – nun aber! – wieso wissen Sie denn? Wie kamen Sie dazu, zu wissen, daß ich Darlegungen schreibe? Gütiger Himmel?«

»Pst!« antwortete der andere, mit merkwürdig schriller Stimme, sprang vom Bette auf und machte einen einzigen Schritt auf unseren Helden zu. Eine eiserne Lampe, die von oben herabhing, zuckte bei seiner Annäherung zurück.

Die Überraschung des Philosophen hinderte ihn nicht, Erscheinung und Kleidung des Fremden genau zu mustern. Die Umrisse der äußerst dürren, aber übermenschlich hohen Gestalt wurden deutlich hervorgehoben durch einen schäbigen Anzug aus schwarzem Tuch, der, abgesehen davon, daß er dem Körper ganz eng anlag, ziemlich nach der Mode des verflossenen Jahrhunderts geschnitten war. Diese Kleidung war offenbar für eine viel kleinere Gestalt als die des nunmehrigen Besitzers bestimmt gewesen. Seine Fuß- und Handknöchel ragten ein paar Zoll weit aus der Bekleidung hervor. Die glänzenden Schnallen seiner Schuhe straften jedoch den Eindruck Lügen, der durch die Armseligkeit seines übrigen Äußeren hervorgerufen wurde. Sein Kopf war unbedeckt und vollständig kahl, mit Ausnahme des hinteren Teiles, von dem ein Zopf in respektabler Länge herabhing. Eine grüne Brille mit Seitengläsern schützte seine Augen vor der Einwirkung des Lichtes und hinderte zugleich Bon-Bon daran, die Farbe oder die Form derselben festzustellen. An der Persönlichkeit war nichts die Spur von einem Hemd zu erblicken, hingegen schlang sich um seinem Hals eine mit außerordentlicher Genauigkeit gewundene Krawatte, deren beide Enden feierlich dicht nebeneinander herabhingen und so (meiner Überzeugung nach allerdings unabsichtlich) den Eindruck erweckten, man habe einen Geistlichen vor sich. Sowohl in seinem Benehmen als auch in seiner Erscheinung zeigte sich außerdem noch manches, was diesen Eindruck bestätigen konnte. Hinter seinem linken Ohre steckte nach Art und Gewohnheit moderner Schreiber ein Ding, das dem Stylus der Alten ähnlich war. Aus einer Brusttasche seines Rockes lugte deutlich ein kleiner, schwarzer, mit stählernen Klammern zusammengehaltener Band hervor. Ob aus Absicht oder nicht, jedenfalls war dieses Buch auf eine Weise in die Tasche gesteckt, daß die in weißen Buchstaben auf den Rücken aufgedruckten Worte »Rituel Catholique« sichtbar wurden. Sein Gesicht flößte durch einen seltsam finsteren Ausdruck und eine leichenhafte Blässe Interesse ein. Die hohe Stirn war von tiefen Falten gefurcht, die auf andauerndes Nachdenken schließen ließen. Die Mundwinkel waren herabgezogen, so daß der Mund einen Ausdruck unterwürfigster Demut zur Schau trug. Als er nun mit gefalteten Händen, tiefem Seufzern und Blicken innigster Frömmigkeit auf unseren Helden zuschritt, machte er einen unzweifelhaft fesselnden Eindruck. Auch der letzte Schatten von Ärger verschwand vom Antlitz unseres Metaphysikers, als er nach einer offenbar zufriedenstellenden Inspektion seinem Besucher die Hand schüttelte und ihm einen Sitz anbot. Es würde jedoch ein schwerer Irrtum sein, wollte man den plötzlichen Wechsel der Gefühle bei unserem Philosophen einem der Gründe zuschreiben, die man logischerweise als ausschlaggebend annehmen könnte. Aus allem, was uns über die Veranlagung Pierre Bon-Bons bekannt ist, geht klar hervor, daß gerade er unter allen Menschen am wenigsten dazu neigte, sich durch äußeren Schein imponieren zu lassen. Ein so scharfer Beobachter der Menschen und der Dinge mußte natürlich sofort das wahre Wesen desjenigen erkennen, der sich auf solche Weise das Gastrecht bei ihm angemaßt hatte. Noch mehr: die Fußbildung des Besuchers war auffallend genug; auf seinem Kopfe saß ein ungewöhnlich hoher Hut; an der Hinterseite seiner Kniehosen war eine bewegliche Beule bemerkbar, und die Schwingung seiner Rockschöße war eine handgreifliche Tatsache. Man beurteile also, mit welcher Befriedigung unser Held sich plötzlich in die Gesellschaft einer Persönlichkeit verseht sah, vor der er schon immer die höchste Achtung empfunden hatte. Er war jedoch zu sehr Diplomat, um sich eine Andeutung darüber entwischen zu lassen, daß er den wahren Stand der Dinge ahne. Es paßte nicht in seinen Plan, zu zeigen, daß er die hohe Ehre, deren er so unverhofft teilhaftig geworden war, empfinde; sondern er hielt es für vorteilhafter, seinen Gast in ein Gespräch zu verwickeln, um den einen oder andern Gedanken über Ethik aus ihm zu ziehen und diesen Gedanken in seiner beabsichtigten Veröffentlichung zu verwerten zur Aufklärung der Menschheit und zu Nutz und Frommen seiner eignen Unsterblichkeit. Wir müssen hinzufügen, daß das hohe Alter und die anerkannt hervorragende wissenschaftliche Stellung des Besuchers diesen wohl in den Stand setzten, moralische Gedanken von hohem Werte hervorzubringen.

Diese glänzenden Zukunftsträume erweckten den Tätigkeitstrieb unseres Helden, er forderte den Ankömmling auf, sich niederziehen, und nahm die Gelegenheit wahr, einige Blöcke Holz auf die Flammen zu werfen, einige Flaschen Champagner auf den jetzt freigewordenen Tisch zu stellen. Als diese Vorbereitungen flink beendigt waren, rückte er seinen Stuhl dem seines Gefährten gegenüber und wartete, bis jener die Unterhaltung beginne. Aber Pläne schlagen häufig fehl, wenn sie auch noch so reiflich überlegt sind, oft sogar beim ersten Versuch, sie zur Ausführung zu bringen, und der Wirt befand sich bereits bei den ersten Worten seines Gastes in der Klemme. »Ich sehe, du kennst mich, Bon-Bon,« sagte er, »ha! ha! ha! – he! he! he! – hi! hi! hi! – ho! ho! ho! – hu! hu! hu!« – und der Teufel ließ auf einmal die Heiligkeitsmaske fallen, riß seinen Mund von Ohr zu Ohr auf, so weit ihm dies irgend möglich war, zeigte ein zackiges Gebiß mit großen, hauerartigen Zähnen, warf den Kopf zurück und lachte ein böses, lautes, wieherndes und dröhnendes Lachen, so daß der schwarze Hund sich aufrichtete und kräftig in den Chor mit einstimmte, während die getigerte Katze mit einem Sprunge in den äußersten Winkel des Raumes setzte und von dort aus ein klägliches Miauen hören ließ.

Ganz anders war das Benehmen des Philosophen. Er war zu sehr Mann von Welt, um sich an den Gefühlsäußerungen des Hundes oder an den eine ungehörige Furcht verratenden Schreien der Katze zu beteiligen. Es darf immerhin nicht verschwiegen werden, daß Bon-Bon ein Gefühl des Erstaunens nicht ganz unterdrücken konnte, als er die weißen Buchstaben, die auf dem in der Tasche des Gastes steckenden Buche die Worte »Rituel Catholique« bildeten, plötzlich ihren Sinn und ihre Farbe verändern sah, so daß anstelle des ursprünglichen Titels mit einem Schlage die Worte »Registre des Condamnés« ihm in roten Lettern entgegenfunkelten. Diesem aufregenden Umstand ist es wohl zuzuschreiben, daß die Antwort auf die Bemerkung des Gastes in einem sonst bei Bon-Bon nie gehörten Tone von Verlegenheit gegeben wurde.

»O, mein Herr,« sagte der Philosoph, »o, mein Herr, ehrlich gesagt, glaube ich, Sie sind – auf mein Ehrenwort – der Leibh ... selbst – das heißt, ich glaube – ich denke–ich habe einen schwachen – ich habe einen sehr schwachen Begriff – von der überwältigenden Ehre – – –«

»O! – ah! – ja! – sehr gut!« unterbrach hier Seine Majestät; »bemühe dich nicht weiter, ich sehe wie die Dinge liegen.« Darauf nahm er seine grüne Brille ab, wischte sorgfältig die Gläser mit dem Ärmel seines Überrockes und steckte die Brille in die Tasche.

War Bon-Bon schon über das Erlebnis mit dem Buche erstaunt gewesen, so nahm seine Verblüffung wesentlich zu bei dem Schauspiel, das sich nun seinen Augen darbot. Als er mit dem Gefühl lebhafter Neugier seine Blicke erhob, um die Augenfarbe seines Gastes festzustellen, fand er sie entgegen seinen Erwartungen weder schwarz noch grau, wie es schließlich auch seinen Vorstellungen entsprochen hätte, weder gelb noch rot noch violett noch weiß noch grün noch von irgendeiner oben im Himmel oder unten auf Erden oder im Wasser unter der Erde auffindbaren Farbe. Kurz, Pierre Bon-Bon sah nicht nur, daß Seine Majestät überhaupt keine Augen hatte, sondern er konnte auch keine Spuren von einer früheren Anwesenheit derselben entdecken; denn der Platz, welchen die Natur den Augen sonst anweist, war einfach eine – Fleischfläche.

Es lag aber nicht in der Natur des Metaphysikers, sich der Frage zu enthalten, woher dieses außergewöhnliche Verhalten stamme; und Seine Majestät antwortete würdig, befriedigend und ohne Zögern.

»Augen? mein lieber Bon-Bon, Augen? Sagtest du nicht so? – oh! – ah! – Ich verstehe. Die lächerlichen Drucke, die im Umlauf sind, haben dir eine falsche Vorstellung von meinem Äußeren beigebracht. Augen, Pierre Bon-Bon, sind gut und schön an ihrem richtigen Orte – der ist, wie du behaupten möchtest, der Kopf? Richtig – der Kopf eines Wurms. Auch dir sind diese Sehwerkzeuge unentbehrlich, ich werde dich aber überzeugen, daß meine Sehkraft durchdringender ist als die deine. In der Ecke dort sehe ich eine Katze, eine hübsche Katze; sieh sie dir an, beobachte sie gut. Nun, Bon-Bon, kannst du ihre Gedanken erkennen – die Gedanken, sage ich, die Überlegungen, die Vorstellungen, die sich in ihrem Schädel entwickeln? Da hast du's ja – du kannst es nicht. Sie denkt, daß wir die Länge ihres Schwanzes und die Tiefgründigkeit ihres Gemütes bewundern. Sie ist eben mit sich darüber ins reine gekommen, daß ich der ausgezeichnetste aller Priester bin und daß sie in dir den oberflächlichsten aller Metaphysiker erblickt. Du siehst also, daß ich keineswegs ganz blind bin; aber für einen meines Standes würden die Augen, von denen du sprichst, nur eine Last und im übrigen jederzeit der Gefahr ausgesetzt sein, durch eine Röstgabel oder durch eine Ofengabel aus den Höhlen gerissen zu werden. Ich gestehe allerdings zu, daß dir diese optischen Dinger hier unentbehrlich sein mögen. Bemühe dich also, Bon-Bon, sie gut zu gebrauchen; – meine Sehkraft aber liegt im Innern.«

Hierauf schenkte sich der Gast von dem Weine ein, der auf dem Tische stand, schenkte auch Bon-Bons Humpen voll und forderte ihn auf, ohne Bedenken zu trinken und sich ganz wie zu Hause zu fühlen.

»Dein Buch hier ist tatsächlich hervorragend, Pierre«, mit diesen Worten nahm Seine Majestät die Unterhaltung wieder auf und klopfte ihrem Freund verständnisvoll auf die Schulter, gerade als letzterer sein Glas niedersetzte, nachdem er seine unbedingte Zustimmung zur Rede des Gastes zu erkennen gegeben hatte. »Dein Buch ist gut gemacht, auf Ehre, es ist ein Werk nach meinem Sinne. Immerhin könnte, meiner Meinung nach, in der Sache noch manches verbessert werden, und manche Begriffe erinnern an Aristoteles. Dieser war einer meiner allerintimsten Bekannten. Ich hatte eine große Zuneigung zu ihm wegen seines schrecklich schlechten Charakters und wegen seiner herrlichen Fertigkeit, Verwirrung anzurichten. Nur eine wirklich begründete Wahrheit ist in allem zu finden, was er schrieb, und die habe ich ihm eingegeben aus purem Mitleid mit seiner Albernheit. Ich vermute, Pierre Bon-Bon, daß du wohl weißt, von welcher herrlichen Lehre hier die Rede ist?«

»Ich kann nicht behaupten, daß ich – – –«

»Wirklich? Nun, ich war es, der Aristoteles beibrachte, daß die Menschen durch das Niesen überschüssige Gedanken auf dem Wege des Gesichtsvorsprunges entfernen.«

»Und das ist – hup! – zweifellos auch der Fall«, sagte der Metaphysiker, füllte sich zu gleicher Zeit seinen Humpen aufs neue mit Champagner und bot dem Gaste seine Schnupftabaksdose hin.

»Auch zu Plato,« fuhr Seine Majestät fort, indem Sie die Schnupftabaksdose und das damit verbundene Kompliment bescheiden ablehnte, »auch zu Plato fühlte ich einst freundschaftliche Zuneigung. Du kennst Plato, Bon-Bon? – Ah, nein, bitte tausendmal um Entschuldigung. Er traf mit mir eines Tages im Parthenon von Athen zusammen und sagte mir, daß er um eine Idee verlegen sei. Ich forderte ihn auf, niederzuschreiben, daß ὁνουςἐστιναὐλος. Er sagte, dies würde er tun und ging nach Hause, während ich mich hinüber zu den Pyramiden begab. Aber mein Gewissen strafte mich, weil ich eine Wahrheit geäußert hatte, wenn auch nur, um einem Freunde zu helfen. Ich eilte zurück nach Athen und kam hinter dem Stuhle des Philosophen an, als er gerade das Wort αὐλος niederschrieb.

Nun gab ich schleunigst dem Lambda einen Nasenstüber mit meinem Finger, so daß es auf dem Kopfe stand. Der Satz steht also jetzt folgendermaßen da: ὁνουςἐστιναὐγος und dieser Satz ist, wie dir bekannt sein wird, die Grunddoktrin seiner metaphysischen Schriften.«

»Waren Sie jemals in Rom?« fragte der Restaurateur, als er seine zweite Flasche Champagner austrank und für eine genügende Zufuhr von Chambertin sorgte.

»Nur einmal, Herr Bon-Bon, nur ein einziges Mal,« sprach der Teufel in einem Tone, als sagte er etwas Auswendiggelerntes her. »In früheren Zeiten herrschte dort fünf Jahre lang Anarchie. Während dieser Zeit war die Republik aller ihrer Beamten beraubt und hatte keine Oberleitung außer der der Volkstribunen, denen aber keinerlei Exekutivmacht zuband; damals, Herr Bon-Bon, damals war ich zum einzigen Male in Rom, und so kann ich keinerlei irdische Verbindung mit den dortigen Philosophen haben.«

»Wie denken Sie über – wie denken Sie über – hup! – Epikur?«

»Was ich über wen denke?« rief der Teufel im Tone höchstens Erstaunens. »Es fällt Ihnen doch wohl kaum bei, Epikur irgendwie zu tadeln. Was ich über Epikur denke. Meinen Sie mich damit, Herr? – Ich bin Epikur. Ich bin derselbe Philosoph, der jene hundert Abhandlungen erfaßte, die Diogenes Laertes bewahrte.«

»Das ist eine Lüge.« schrie der Metaphysiker, denn der Wein war ihm ein wenig zu Kopfe gestiegen.

»Sehr gut! – sehr gut, mein Herr! – wirklich sehr gut, mein Herr.« sagte Seine Majestät offenbar ungeheuer geschmeichelt.

»Das ist eine Lüge.« wiederholte der Restaurateur gebieterisch; »das ist eine – hup! – eine Lüge.«

»Gut, gut, wie du willst!« sagte der Teufel in beschwichtigendem Tone, und Bon-Bon, der Seine Majestät in der einen Streitfrage geschlagen hatte, hielt es für seine Pflicht, eine zweite Flasche Chambertin zu beendigen.

»Wie ich schon gesagt habe,« fuhr der Besucher fort – »wie ich schon vorhin bemerkt habe, finden sich einige sehr outrierte Begriffe in Ihrem Buche, Herr Bon-Bon. Was zum Beispiel wollen Sie mit all dem Schwindel betreffs der Seele sagen? Aber, bitte, was ist die Seele?«

»Die – hup! – Seele«, antwortete der Metaphysiker, indem er sich auf sein Manuskript bezog, »ist unzweifelhaft – – –«

»Nein, mein Herr.«

»Ganz zweifellos – – –«

»Nein, mein Herr.« »Unbestreitbar – – –«

»Nein, mein Herr.«

»Erwiesenermaßen – – –«

»Nein, mein Herr.«

»Unstreitig – – –«

»Nein, mein Herr.«

»Hup! – – –«

»Nein, mein Herr.«

»Und ohne jede Frage ein – – –«

»Nein, mein Herr, die Seele ist nichts dergleichen.«

(Hier nahm der Philosoph, indem seine Augen Blitze schossen, die Gelegenheit wahr, auf einen Schlag seiner dritten Flasche Chambertin ein Ende zu bereiten.)

»Dann – hup! – bitte, mein Herr, – was – was ist sie?«

»Gehört nicht hierher, Herr Bon-Bon,« antwortete Seine Majestät in tiefem Nachdenken. »Ich habe einige sehr schlechte, aber auch einige recht gute Seelen genossen – das heißt gekannt.« Dabei leckte er sich die Lippen, und seine Hand berührte unbewußt den Band in seiner Tasche, worauf er in einen heftigen Niesanfall ausbrach.

Er fuhr fort:

»Die Seele von Cratinus – leidlich; Aristophanes – pikant; Plato – köstlich; nicht dein Plato ist hier gemeint, sondern der Lustspieldichter gleichen Namens; bei deinem Plato würde dem Zerberus selbst übel geworden sein – pfui. Also weiter! Naevius, Andronicus, Plautus, Terenz. Dann Lucilius, Catull, Naso, Quintus Flaccus – das gute Quintchen. wie ich ihn nannte, als er zu meiner Belustigung ein Faeculare vortrug, während ich ihn in bester Laune auf einer Gabel briet. Aber es fehlt diesen Römern an Aroma. Ein fetter Grieche ist ein Duzend von ihnen wert, hält sich außerdem vorzüglich, was man aber von den Quiriten nicht behaupten kann. Jetzt probieren wir deinen Sauternes.«

Als die Sache nun so weit gediehen war, hatte sich Bon-Bon zum nil admirari durchgerungen und ließ es sich angelegen sein, die geforderten Flaschen herüberzureichen. Zugleich aber drang ein merkwürdiges, im Raume deutlich vernehmbares Geräusch an sein Ohr, das wie Schwanzwedeln klang. Trotzdem nun der Philosoph dies Benehmen Seiner Majestät höchst unschicklich fand, so gab er sich doch den Anschein, als achte er nicht darauf, gab nur dem Hunde einen Fußstoß und befahl ihm, sich ruhig zu verhalten.

»Ich habe gefunden, daß Horaz und Aristoteles sich im Geschmacke ziemlich ähnlich waren; – Sie wissen, ich liebe Abwechslung. Terenz und Menander konnte ich kaum unterscheiden. Naso entpuppte sich zu meiner Verwunderung als ein anders zubereiteter Nicander. Virgil hatte einen starken Beigeschmack nach Theokrit. Martial erinnerte mich lebhaft an Archilochus, Titus Livius war ganz und gar derselbe wie Polybius.«

»Hup!« – antwortete Bon-Bon, und Seine Majestät fuhr fort:

»Doch meine ganze Neigung, so weit ich überhaupt eine besitze, gehört den Philosophen, aber, Herr Bon-Bon – das eine ist zu beachten: nicht jeder Teuf – – will sagen nicht jeder Mann ist imstande, einen Philosophen richtig auszuwählen. Die Langen taugen nichts; und die Besten werden durch die Einwirkung der Galle etwas ranzig, wenn sie nicht sorgsam ausgeschält werden.«

»Ausgeschält?«

»Ich meine damit natürlich, aus dem Leichnam herausgenommen.«

»Was ist Ihre Ansicht über die – hup! – Ärzte?«

»Erwähnen Sie die nicht! – brr.« – (Hier würgte der Ekel Seine Majestät heftig.) »Ich habe nur ein einzigesmal einen gekostet – diesen elenden Hippokrates. – Er roch nach asa foetida – brr! brr! brr! – ich erwischte einen scheußlichen Schnupfen, als ich ihn im Styx abwusch, und nachher hing er mir die Cholera an.«

»Dieser – hup! – Lump.« stieß Bon-Bon hervor, »diese – hup! – Mißgeburt einer Pillenschachtel.« – und der Philosoph vergoß eine Träne.

»Schließlich,« fuhr der Besucher fort, »schließlich, wenn ein Teuf ... wenn ein Mann leben will, muß er mehr als ein oder zwei Talente haben; und bei uns gilt ein fettes Gesicht als Zeichen diplomatischer Veranlagung.«

»Wieso?«

»Es geht uns manchmal äußerst schlecht mit der Ernährung. Du mußt wissen, daß in einem so drückend heißen Klima, wie das meine ist, oft keine Möglichkeit besteht, einen Geist länger als zwei bis drei Stunden am Leben zu erhalten; nach dem Tode aber – riechen sie – du verstehst doch, nicht? – wenigstens wenn sie nicht augenblicklich eingepökelt werden (und eingepökelter Geist schmeckt nicht gut). Es besteht immer die Gefahr der Verwesung, wenn die Seelen uns auf dem gewöhnlichen Wege zugesandt werden.«

»Hup! – hup! – heiliger Gott. wie richten Sie es denn ein?«

In diesem Moment hob die eiserne Lampe mit verdoppelter Gewalt hin- und herzuschwingen an, und der Teufel fuhr halb von seinem Sitze auf. Bald jedoch faßte er sich wieder, stieß einen leisen Seufzer aus und sprach mit leiser Stimme: »Ich will dir etwas sagen, Pierre Bon-Bon, wir dürfen keine Verwünschungen mehr laut werden lassen.«

Der Wirt stürzte wieder einen Humpen voll hinab, um dadurch seine Einwilligung und sein volles Verständnis auszudrücken, und der Besucher fuhr fort:

»Nun also, man kann sich auf verschiedene Weise einrichten. Die meisten von den Unsrigen verschmachten, einige begnügen sich mit Eingepökeltem; ich meinerseits ziehe es vor, die Geister vivente corpore zu kaufen; ich finde, auf diese Art halten sie sich sehr gut.«

»Aber der Körper! – hup! – der Körper!«

»Der Körper, der Körper – nun was soll die Frage? – Ach! ja! ich verstehe. Nun, der Körper wird durch den Handel gar nicht in Mitleidenschaft gezogen. Ich habe in meinem Leben zahllose Geschäfte dieser Art abgeschlossen, und die andere Partei hat sich nie irgendwie dadurch belästigt gefühlt. Kain, Nimrod, Nero, Caligula, Dionys, Pisistratus und – und tausend andere wußten im späteren Lebensalter nichts davon, was es heißt, eine Seele zu haben; trotzdem waren diese Männer eine Zierde der Gesellschaft. Und dann A ..., den Sie so gut kennen wie ich? Ist er nicht im Vollbesitze seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten? Wer schreibt ein scharfsinnigeres Epigramm? Wer urteilt geistreicher? Wer – aber halt! sein Pakt steht ja in meinem Taschenbuche.«

Mit diesen Worten zog er eine flache Brieftasche aus rotem Leder aus seiner Tasche und entnahm ihr eine Anzahl Papiere. Bon-Bon gelang es, auf dem einen oder anderen einige unzusammenhängende Silben zu erspähen: »Machi ..., Maza ..., Robesp ...« – dann auch ganze Worte: »Caligula, George, Elisabeth.« Seine Majestät suchte einen schmalen Pergamentstreifen heraus und las laut die folgenden Worte vor:

»In Anerkennung gewisser geistiger Gaben, auf deren Aufzählung hier einzugehen nicht nötig ist, außerdem in Anerkennung von eintausend Louis d'or trete ich hiermit dem Inhaber dieses Paktes alle meine Rechte, Titel, und Pertinenzien an dem Schatten ab, der sich meine Seele nennt. (gezeichnet) A .....« (Nun nannte Seine Majestät einen Namen. Ich fühle mich nicht berechtigt, ihn in klarerer Weise anzudeuten.)

»Ein gewandter Bursche,« fuhr jener fort; »aber, wie du, lieber Bon-Bon, war er gründlich über die Seele im Irrtum. Du lieber Gott, die Seele ein Schatten. Die Seele ein Schatten! Ha! ha! ha! – he! he! he! – hu! hu! hu! Stell dir nur einmal einen frikassierten Schatten vor!«

»Man stelle sich – hup! – einen frikassierten Schatten vor!« rief unser Held, dessen Geisteskräfte durch die tiefsinnigen Reden Seiner Majestät aufs äußerste angefeuerte wurden. »Man stelle – hup.–sich einen frikassierten Schatten vor. Nun, hol mich der Teufel! – hup! – hm! Als ob ich solch ein – hup! – Einfaltspinsel wäre! Meine Seele, Herr – hm!«

»Ihre Seele, Herr Bon-Bon?«

»Ja! mein Herr – hup! – meine Seele ist – –«

»Was, mein Herr?«

»Kein Schatten, zum Teufel nochmal!«

»Wollten Sie vielleicht behaupten – – –«

»Ja, mein Herr, meine Seele ist – hup! – hm! – ja, mein Herr.«

»Hatten Sie nicht die Absicht, zu erklären – – –«

»Meine Seele ist – hup! – besonders geeignet für – hup! – ein – – –«

»Was, mein Herr?«

»Stew.«

»Ha!«

»Soufflee.«

»Oh.«

»Frikassee.«

»In der Tat.«

»Ragout und Frikandeau – und nun paß auf, mein guter Bursch. Ich werde es dir zukommen lassen – hup! ein Handel.« Er klopfte Seine Majestät auf den Rücken.

»Ausgeschlossen«, sagte letztere ruhig, und damit erhob sie sich. Der Metaphysiker starrte sie an.

»Für den Augenblick bin ich genügend versehen,« sagte Seine Majestät.

»Hu – up! – wa–as?« sprach der Philosoph.

»Momentan ohne Pekunia.«

»Was?«

»Außerdem wäre es meinerseits sehr schofel – – –«

»Mein Herr.«

»Vorteil ziehen zu wollen – von – – –«

»Hup.«

»Ihrer gegenwärtigen widerlichen und unschicklichen Verfassung.«

Der Besucher verbeugte sich und zog sich zurück – wie er dies bewerkstelligte, konnte nicht genau festgestellt werden –, der Metaphysik aber machte eine Anstrengung, eine Flasche nach »dem Schurken« zu schleudern, die dünne Kette, die vom Plafond herabhing, riß auseinander, und der Philosoph wurde durch die herabstürzende Lampe zu Boden gestreckt.

Ils écrivaient sur la philosophie (Cicero, Lucretius, Seneca), mais c'était la philosophie grecque. – Concorcet. Wer? Arouet.

Das Faß Amontillado

Alle die tausend kränkenden Reden Fortunatos ertrug ich, so gut ich konnte, als er aber Beleidigungen und Beschimpfungen wagte, schwor ich ihm Rache. Ihr werdet doch nicht annehmen – ihr, die ihr so gut das Wesen meiner Seele kennt –, daß ich eine Drohung laut werden ließ. Einmal würde ich gerächt sein! Aber die Bestimmtheit, mit der ich meinen Entschluß faßte, verbot mir alles, was mein Vorhaben gefährden konnte. Ein Unrecht ist nicht bestraft, wenn den Rächer Vergeltung trifft für seine Rachetat; es ist auch nicht bestraft, wenn es dem Rächer nicht gelingt, sich als solcher seinem Opfer zu zeigen.

Es muß vorausgeschickt werden, daß ich Fortunato weder mit Wort noch Tat Grund gegeben, meine gute Gesinnung anzuzweifeln. Ich war weiter liebenswürdig zu ihm, und er gewahrte nicht, daß mein Lächeln jetzt dem Gedanken seiner Vernichtung galt.

Er hatte eine Schwäche, dieser Fortunato – obschon er in anderer Hinsicht ein geachteter und sogar gefürchteter Mann war. Er brüstete sich damit, daß er ein Weinkenner sei. Nur wenige Italiener besitzen den wahren Kunstverstand. Sie begeistern sich meist nur für eine einzige Sache: für betrügerische Manipulationen gegenüber britischen und österreichischen Millionären. In der Beurteilung von Bildern und Edelsteinen war Fortunato, gleich seinen Landsleuten, ein unwissender Prahlhans, in bezug auf alte Weine aber hatte er ein ehrliches und sicheres Urteil. Hierin stand ich selbst ihm kaum nach; ich kannte die italienischen Weine gut und kaufte viel, sooft sich mir günstige Gelegenheit bot.

Es war in der tollen Karnevalszeit, als ich an einem dämmerigen Abend meinem Freunde begegnete. Er begrüßte mich mit übertriebener Wärme, denn er hatte viel getrunken. Der Mann war maskiert. Er trug ein enganliegendes, zur Hälfte gestreiftes Gewand, und auf seinem Kopfe erhob sich die konisch geformte Narrenkappe. Ich freute mich so sehr, ihn zu sehen, daß ich gar kein Ende finden konnte, ihm die Hand zu schütteln.

Ich sagte zu ihm: »Mein lieber Fortunato, es freut mich, dich zu treffen. Wie prächtig du heute aussiehst – außerordentlich wohl! Doch höre: ich habe ein Faß Wein bekommen, das für Amontillado gilt, und ich habe meine Zweifel.«

»Wie?« sagte er, »Amontillado? Ein Faß? Unmöglich! Und mitten im Karneval?«

»Ich habe meine Zweifel«, erwiderte ich. »Und ich war töricht genug, den vollen Amontillado-Preis zu zahlen, ohne dich erst zu Rate zu ziehen. Du warst nicht zu finden, und ich fürchtete, durch eine Verzögerung den ganzen Handel zu verlieren.«

»Amontillado!«

»Ich habe meine Zweifel.«

»Amontillado!«

»Und ich muß sie zum Schweigen bringen.«

»Amontillado!«

»Da du beschäftigt bist, werde ich Luchesi aufsuchen. Wenn einer ein kritisches Urteil hat, ist er es. Er wird mir sagen –«

»Luchesi kann Amontillado nicht von Sherry unterscheiden!«

»Und doch behaupten so ein paar Narren, daß sein Weinverstand dem deinigen gleichkomme.«

»Komm, laß uns gehen.«

»Wohin?«

»In deine Kellereien.«

»Nein, mein Freund; ich will nicht deine Gutmütigkeit ausnützen. Ich sehe, du bist beschäftigt. Luchesi –«

»Ich bin nicht beschäftigt, komm!«

»Lieber Freund, nein! Es ist ja nicht nur das, daß du etwas anderes vorhattest; du bist ernstlich erkältet. Die Kellergewölbe sind unerträglich feucht. Sie haben eine Salpeterkruste angesetzt.«

»Laß uns trotzdem gehen! Die Erkältung ist nicht der Rede wert. Amontillado! Man hat dich betrogen; und Luchesi – der kann Sherry von Amontillado nicht unterscheiden.«

Mit diesen Worten zog Fortunato mich fort. Ich nahm eine schwarze Seidenmaske vors Gesicht, hüllte mich dicht in meinen Mantel und duldete, daß er mich eilends zu meinem Palazzo geleitete.

Die Dienerschaft war nicht zu Hause; der Karneval hatte sie hinausgelockt. Ich hatte den Leuten gesagt, daß ich nicht vor dem nächsten Morgen heimkommen würde, und ihnen streng verboten, sich aus dem Hause zu rühren. Ich wußte, daß dies genügte, damit alle zusammen, sobald ich ihnen den Rücken wandte, davonliefen.

Ich nahm aus den Ringen an der Wand zwei Fackeln, gab Fortunato eine davon und komplimentierte ihn durch mehrere Zimmerreihen in den Bogengang, der zu den Gewölben führte. Ich schritt eine lange gewundene Treppe hinab und bat ihn, mir vorsichtig zu folgen. Endlich kamen wir unten an und standen zusammen in der feuchten Tiefe der Katakomben der Montresors.

Der Gang meines Freundes war unsicher, und die Schellen an seiner Kappe klingelten bei jedem Schritt.

»Das Faß!« sagte er.

»Das ist weiter hinten«, antwortete ich. »Siehst du das weiße Gewebe, das da ringsum von den Kellermauern leuchtet?«

Er wandte sich mir zu und sah mir in die Augen. Seine Blicke waren feucht von Schnupfen und Trunkenheit.

»Salpeter?« fragte er schließlich.

»Salpeter«, erwiderte ich. »Wie lange hast du schon diesen Husten?«

Er hustete, hustete, hustete. Mein armer Freund konnte minutenlang keine Antwort geben.

»Es ist nichts«, erwiderte er dann.

»Komm«, sagte ich sehr bestimmt, »wir wollen umkehren; deine Gesundheit ist kostbar. Du bist reich, geachtet, bewundert, geliebt; du bist glücklich, wie ich einst war. Du würdest eine Lücke hinterlassen. Um mich ist es nicht schade. Wir wollen umkehren! Du wirst krank werden, und ich kann das nicht verantworten. Übrigens kann ja Luchesi –«

»Genug!« sagte er. »Der Husten ist ganz belanglos; er wird mich nicht umbringen. Ich werde nicht daran zugrunde gehen.«

»Wahr – wahr«, erwiderte ich. »Wirklich, ich hatte nicht die Absicht, dich unnötig zu beunruhigen – aber du solltest die Vorsicht nicht außer acht lassen. Ein Schluck Médoc wird uns vor der Einwirkung der Dünste schützen.«

Bei diesen Worten zog ich aus einer langen Flaschenreihe, die längs der Mauer auf der Erde lag, eine Flasche hervor und schlug ihr den Hals ab.

»Trink«, sagte ich und bot ihm den Wein. Er setzte ihn an die Lippen. Er hielt inne und nickte mir vertraulich zu; seine Glöckchen klingelten.

»Ich trinke«, sagte er, »auf die Toten, die hier unten ruhen.«

»Und ich auf dein langes Leben!«

Er nahm von neuem meinen Arm, und wir gingen weiter.

»Diese Gewölbe«, sagte er, »sind weitläufig.«

»Die Montresors«, erwiderte ich, »waren eine große und zahlreiche Familie.«

»Ich vergaß dein Wappenzeichen.«

»Ein riesiger goldener Fuß in blauem Felde; der Fuß zertritt eine sich bäumende Schlange, deren Zähne ihm in der Ferse sitzen.«

»Und das Motto?«

»Nemo me impune lacessit.«

»Gut!« sagte er.

Der Wein flackerte aus seinen Augen, und die Glöckchen klingelten. Auch mir stieg der Médoc zu Kopfe. Wir waren an einer ganzen Reihe aufgestapelter Skelette und Fässer vorbei bis in den entferntesten Teil der Katakomben gelangt. Ich blieb wieder stehen, und diesmal wagte ich es, Fortunato am Arm zu rütteln.

»Der Salpeter!« sagte ich. »Sieh, wie es immer mehr wird. Er hängt an den Wölbungen wie Moos. Wir sind unter dem Flußbett. Die Nässe tropft durch die Skelette. Komm, wir wollen umkehren, ehe es zu spät ist. Dein Husten –«

»Nicht der Rede wert«, sagte er; »laß uns weitergehen. Vorher aber ... noch einen Schluck Médoc.«

Ich schlug einer Flasche de Grave den Hals ab und reichte sie ihm. Er leerte sie mit einem Zug. In seinen Augen flackerte ein wildes Licht. Er lachte und warf die Flasche mit einer seltsamen Bewegung zur Decke – eine Geste, die ich nicht verstand.

Ich sah ihn verwundert an. Er wiederholte die absonderliche Geste.

»Du verstehst nicht?« fragte er.

»Nicht im geringsten«, antwortete ich.

»Du gehörst nicht zur Bruderschaft!«

»Wie?«

»Du bist kein Maurer.«

»Ja, ja«, sagte ich. »Jawohl, ja.«

»Du? Unmöglich! Ein Maurer?«

»Ein Maurer«, antwortete ich.

»Ein Zeichen!« sagte er.

»Hier ist es«, erwiderte ich, aus den Falten meines Überwurfs eine Maurerkelle hervorziehend.

»Du spaßest«, rief er aus und wich vor mir zurück. »Aber komm weiter zum Amontillado!«

»Gut also«, sagte ich, nahm die Kelle wieder unten den Mantel und bot ihm den Arm. Er lehnte sich schwer darauf. Wir setzten unseren Weg fort. Wir gingen durch mehrere niedere Bogengänge, gingen hinab, hinauf und wieder hinab, und betraten nun eine tiefe Gruft, wo die Luft so modrig war, daß unsere Fackeln nicht mehr flammten, sondern nur noch schwelten.

Am entlegensten Ende der Gruft kam eine andere, kleinere zum Vorschein. An ihren Wänden waren bis zur Decke hinauf Menschenknochen aufgestapelt gewesen, ähnlich wie in den großen Katakomben von Paris. Drei Seiten dieser innersten Gruftkammer waren noch jetzt so geschmückt.

Von der vierten waren die Knochen weggeräumt; sie lagen auf dem Boden herum und waren an einer Stelle zu einem Haufen aufgetürmt. Inmitten der so bloßgelegten Mauer bemerkten wir noch eine letzte Höhlung. Sie war etwa vier Fuß tief, drei Fuß breit und sechs bis sieben Fuß hoch. Sie schien nicht zu irgendeinem besonderen Zwecke gemacht worden zu sein, sondern bildete lediglich den Zwischenraum zwischen drei der mächtigen Stützpfeiler, die die Deckenwölbung der Katakomben trugen; ihre Rückwand wurde von einer der massiven Granitmauern gebildet.

Vergeblich hob Fortunato seine trübe Fackel, um in die Tiefe der Höhlung zu spähen. Das schwache Licht gestattete nicht, die Rückwand zu erblicken.

»Geh weiter«, sagte ich. »Hier drin ist der Amontillado. Übrigens könnte Luchesi –«

»Er ist ein Dummkopf«, fiel mir mein Freund ins Wort, während er unsicher vorwärts schritt; ich folgte ihm auf den Fersen. Einen Augenblick später hatte er das Ende der Höhlung erreicht; verdutzt stand er vor der Mauer, die ihm Halt gebot. Und noch einen Augenblick später hatte ich ihn an den Granit gefesselt. In der Mauer befanden sich auf gleicher Höhe und in zwei Fuß Entfernung voneinander zwei Schließhaken; an einem derselben hing eine kurze Kette, am andern ein Vorlegeschloß. Ich warf die Kette um Fortunatos Leib und befestigte sie im Schloß. Das Ganze war das Werk weniger Sekunden. Er war zu verblüfft, um Widerstand entgegenzusetzen. Ich zog den Schlüssel ab und trat aus der Nische zurück.

»Streich mit der Hand über die Mauer«, sagte ich. »Du wirst den Salpeter fühlen. Wahrhaftig, es ist bedenklich feucht darin. Noch einmal: laß dich beschwören, umzukehren! Nein? Dann muß ich dich wirklich verlassen. Aber zuerst muß ich dir noch alle die kleinen Aufmerksamkeiten erweisen, die in meiner Macht stehen.«

»Der Amontillado!« rief mein Freund, der sich von seinem Erstaunen noch nicht erholt hatte.

»Wahr«, erwiderte ich; »der Amontillado.«

Bei diesen Worten machte ich mir am Knochenhaufen zu schaffen, von dem ich vorhin gesprochen habe. Ich warf die Knochen beiseite und legte bald eine Anzahl Bausteine und ein Häufchen Mörtel bloß. Mit diesen Materialien und mit Hilfe der Maurerkelle begann ich, eilig den Eingang der Nische zuzumauern.

Ich hatte kaum die erste Reihe des Mauerwerks errichtet, als ich entdeckte, daß Fortunatos Betrunkenheit sehr nachgelassen hatte. Das erste Anzeichen dafür gab mir ein leiser klagender Schrei, der aus der Tiefe der Höhlung kam. Es war nicht der Schrei eines Betrunkenen. Dann folgte ein langes eigensinniges Schweigen. Ich mauerte eine zweite Reihe – und eine dritte und vierte; und dann hörte ich das wütende Stoßen und Schwingen der festgespannten Kette. Das Geräusch dauerte mehrere Minuten, während welcher ich, um besser lauschen zu können, meine Arbeit einstellte und mich auf den Knochenhaufen setzte. Als das hastige Klirren endlich aufhörte, ergriff ich von neuem die Kelle und vollendete ohne Unterbrechung die fünfte, die sechste und die siebente Reihe. Der Wall war nun fast in gleicher Höhe mit meiner Brust. Ich hielt von neuem inne, hob die Fackel über das Mauerwerk und warf damit ein paar schwache Strahlen auf die Gestalt da drinnen.

Da stieß der Gefesselte plötzlich wilde Schreie aus – viele laute gellende Schreie, die mich zurücktaumeln machten. Einen Augenblick zögerte ich – zitterte ich. Ich zog den Degen und stach damit in das Dunkel der Nische hinein. Doch nach kurzer Überlegung beruhigte ich mich wieder. Ich legte die Hand auf das massige Gemäuer der Katakomben und war befriedigt. Ich trat wieder an meine Mauer. Ich antwortete auf das Geheul des Rufenden. Ich ahmte es nach – verstärkte es – übertönte es. Das tat ich eine Weile, und der Schreier wurde still.

Es war jetzt Mitternacht, und meine Arbeit nahte sich ihrem Ende. Ich hatte die achte, die neunte und die zehnte Reihe vollendet. Ich hatte einen Teil der elften und letzten Reihe beendet; es blieb nur noch ein einziger Stein einzusetzen und festzumauern. Ich rang mit seinem Gewicht. Ich hob ihn an seinen Platz, konnte ihm jedoch nicht sogleich eine richtige Lage geben. Jetzt kam aus der Nische ein leises Lachen, das mir die Haare auf dem Kopf zu Berge stehen machte. Dann sprach eine traurige Stimme, die ich nur schwer als die Stimme des edlen Fortunato erkennen konnte. Die Stimme sagte:

»Ha ha ha – he he – wahrhaftig ein guter Spaß, wir werden im Palazzo noch oft darüber lachen – he he he – über unsern Wein – he he he!«

»Den Amontillado!« sagte ich.

»He he he – – he he – ja, den Amontillado. Aber ist es nicht schon spät? Werden sie uns nicht im Palazzo erwarten? Die Lady Fortunato und die andern? Laß uns gehen.«

»Ja«, sagte ich, »laß uns gehen.«

»Bei der Liebe Gottes, Montresor!«

»Ja«, sagte ich, »bei der Liebe Gottes!«

Aber auf diese Worte erwartete ich vergeblich eine Antwort. Ich wurde ungeduldig, ich rief laut:

»Fortunato!«

Keine Antwort.

Ich rief wieder:

»Fortunato!«

Noch keine Antwort.

Ich nahm seine Fackel, stieß sie durch die Öffnung und ließ sie drinnen zu Boden fallen. Als Antwort kam nur ein Klingeln der Schellen. Mein Herz wurde schwer – infolge der Moderluft in den Katakomben. Ich beeilte mich, meine Arbeit zu beenden. Ich zwang den letzten Stein in seine richtige Lage. Ich mauerte ihn ein. Gegen das neue Mauerwerk türmte ich den alten Knochenwall auf. Seit einem halben Jahrhundert hat kein Sterblicher ihn angerührt. In pace requiescat!

Das Geheimnis der Marie Rogêt

Ein junges Mädchen namens Mary Cecilia Rogers war in der Nähe New Yorks ermordet worden. Ihr Tod hatte eine ungeheure und nachhaltige Aufregung hervorgerufen; das Geheimnis desselben war in der Zeit, da diese Geschichte geschrieben und veröffentlicht wurde, noch nicht aufgedeckt. In vorliegender Erzählung folgt der Autor, unter dem Vorgeben, das tragische Geschick einer Pariser Grisette zu berichten, bis in die kleinsten Einzelheiten den wesentlichen Tatsachen des wirklichen Mordes an der Mary Rogers, während er die unwesentlichen nur parallel stellte. So ist also jede auf die Fiktion gegründete Schlußfolgerung auf das wahre Ereignis anwendbar, und der Zweck der Geschichte war die Ergründung der Wahrheit.

›Das Geheimnis der Marie Rogêt‹ wurde weit entfernt vom Tatorte niedergeschrieben und basierte lediglich auf den betreffenden Zeitungsberichten. So entging dem Schreiber manches, woraus er an Ort und Stelle hätte Nutzen ziehen können. Dessenungeachtet ist zu bemerken, daß die Aussagen zweier Personen (deren eine die Frau Deluc der Erzählung ist), die zu verschiedenen Zeiten und lange nach Veröffentlichung der folgenden Blätter gemacht wurden, nicht nur die allgemeine Schlußfolgerung, sondern auch die hauptsächlichsten hypothetischen Einzelheiten, durch die diese Schlußfolgerung gewonnen wurde, voll bestätigten.

Es gibt eine Reihe idealischer Begebenheiten, die der Wirklichkeit parallel läuft. Selten fallen sie zusammen. Menschen und Zufälle modifizieren gewöhnlich die idealische Begebenheit, so daß sie unvollkommen erscheint und ihre Folgen gleichfalls unvollkommen sind. So bei der Reformation; statt des Protestantismus kam das Luthertum hervor.

Novalis: Moral-Ansichten

Selbst unter den kühlsten Denkern gibt es nur wenige, die nicht gelegentlich durch ein fast wundervolles Zusammentreffen von Ereignissen sich versucht gefühlt hätten, an übernatürliche Dinge zu glauben. Solches Fühlen – denn dies halbe Glauben, von dem ich rede, wird nur gefühlt, nicht streng gedacht –, solches Fühlen ist schwer zu unterdrücken, höchstens durch die Lehre von den Zufälligkeiten, oder, wie der terminus technicus lautet, durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Nun ist solche Berechnung in ihrem Wesen rein mathematisch, und da haben wir also die Absonderlichkeit, die exakteste aller Wissenschaften auf die Schatten und Schemen der spekulativsten Wissenschaft angewendet zu sehen.

Man wird finden, daß meine zeitlich voranliegende Geschichte, zu deren Veröffentlichung ich jetzt aufgefordert worden bin, in ihren Einzelheiten höchst merkwürdigerweise das vollkommene Seitenstück bildet zu der jüngst geschehenen Mordtat an der Mary Cecilia Rogers in New York.

Als ich vor Jahresfrist in einer Erzählung, betitelt ›Der Doppelmord in der Rue Morgue‹, versuchte, die auffallenden Geistesgaben meines Freundes, des Chevalier C. Auguste Dupin zu schildern, ahnte ich nicht, daß ich dies Thema je wieder aufnehmen würde. Meine Absicht hatte sich vollkommen erfüllt, und der seltsame Gang der Ereignisse hatte den Beweis für Dupins eigentümliche Fähigkeiten zur Genüge erbracht. An keinem anderen Beispiel hätte ich sie so trefflich zeigen können. Jüngste Ereignisse aber, überraschende Enthüllungen, haben mir einige weitere höchst seltsame Dinge offenbart, über die ich nicht schweigend hinweggehen kann.

Nachdem Dupin die Tragödie aufgedeckt, die über dem geheimnisvollen Tode der Frau L'Espanaye und ihrer Tochter lag, widmete er der Angelegenheit keine Aufmerksamkeit mehr und fiel wieder in seine alte träumerische Versunkenheit zurück. Selbst immer zur Einsamkeit geneigt, teilte ich ohne weiteres seine Stimmung. In unsere Zimmer im Faubourg Saint-Germain vergraben, schlugen wir alle Zukunftspläne in den Wind und schlummerten friedlich dahin, die düstere Welt mit Träumen vergoldend.

Diese Träume waren jedoch nicht ganz ungestört. Man kann sich denken, daß die Rolle, die mein Freund in dem Drama der Rue Morgue gespielt, auf die Pariser Polizei nicht wenig Eindruck gemacht hatte. Bei ihren Beamten wurde der Name Dupins viel genannt. Da die einfachen Rückschlüsse, mit Hilfe deren er das Geheimnis entwirrt hatte, nicht einmal dem Präfekten, sondern einzig nur mir bekannt waren, ist es weiter nicht erstaunlich, daß man die Sache für ein Wunder und des Chevaliers analytische Fähigkeiten für eine Art Sehergabe nahm. Seine Offenheit würde ihn veranlaßt haben, ein solches Vorurteil zu zerstreuen; dazu kam es aber nicht, weil seine Indolenz ihm gegenüber das Berühren eines Themas verbot, das für ihn selbst alles Interesse verloren hatte. So kam es, daß die Augen der Polizei bewundernd an ihm hingen und man in nicht wenigen Fällen versuchte, seine Dienste für die Präfektur in Anspruch zu nehmen. Einer der bemerkenswertesten Fälle war der der Ermordung eines jungen Mädchens namens Marie Rogêt.

Dieser Mord ereignete sich ungefähr zwei Jahre nach den Greueltaten in der Rue Morgue. Marie, deren Tauf- und Familienname durch seine Ähnlichkeit mit jenem der unglücklichen ›Zigarren-Verkäuferin‹ sofort auffällt, war die einzige Tochter der Witwe Estelle Rogêt. Der Vater war gestorben, als Marie noch ein Kind gewesen, und seit seinem Tode bis achtzehn Monate vor der Mordtat, die den Gegenstand unserer Erzählung bildet, hatten Mutter und Tochter gemeinsam in der Rue Pavée Sainte Andrée gewohnt, wo die Mutter unter Mithilfe ihrer Tochter eine Pension leitete. So lebten sie dahin, bis das junge Mädchen zweiundzwanzig Jahre zählte; da erregte ihre große Schönheit die Aufmerksamkeit eines Parfümeurs, der im Erdgeschoß des Palais Royal einen Laden hatte und dessen Kundschaft in der Hauptsache von den verzweifelten Abenteurern gebildet wurde, die die Nachbarschaft unsicher machten. Herr Le Blanc war sich über den Vorteil klar, der seinem Parfümeriegeschäft durch Anwesenheit der schönen Marie erwachsen würde, und seine glänzenden Angebote wurden von dem Mädchen gern, von der Mutter nach einigem Zögern angenommen.

Die Erwartungen des Kaufmanns erfüllten sich, und die Reize der anmutigen ›Grisette‹ machten seinen Laden bald bekannt. Sie stand ungefähr ein Jahr in seinen Diensten, als ihre Verehrer durch ihr plötzliches Verschwinden in Verwirrung gesetzt wurden. Herr Le Blanc wußte für ihr Fernbleiben keine Erklärung zu geben, und Frau Rogêt war in verzweifelter Angst und Aufregung. Die Zeitungen nahmen die Sache auf, und die Polizei wollte gerade ernstliche Nachforschungen anstellen, als Marie eines schönen Morgens nach Verlauf einer Woche, gesund, wenn auch mit etwas trüber Miene, wieder hinter dem Ladentisch erschien. Selbstredend wurde alles Forschen und Fragen sofort unterdrückt. Herr Le Blanc behauptete wie vorher, nichts zu wissen. Marie und ihre Mutter erwiderten auf alle Fragen, das junge Mädchen habe die letzte Woche bei Verwandten auf dem Lande zugebracht. Man beruhigte sich also, und die Sache wurde bald vergessen, um so mehr als das Mädchen, augenscheinlich um sich der dreisten Neugier zu entziehen, ihre Stellung aufgab und sich in den Schutz der mütterlichen Behausung, Rue Pavée Sainte Andrée, zurückzog.

Es war etwa fünf Monate nach dieser Rückkehr, als ihre Freunde zum zweiten Male durch ihr plötzliches Verschwinden beunruhigt wurden. Drei Tage gingen hin, und man hörte nichts von ihr. Am vierten fand man ihren Leichnam in der Seine, und zwar in einer Gegend, die dem Viertel der Rue Sainte Andrée nahezu entgegengesetzt und nicht sehr weit von der Barrière du Roule lag.

Die Gräßlichkeit dieses Mordes – denn es war klar, daß ein Mord geschehen war –, die Jugend und Schönheit des Opfers und vor allem des Mädchens allgemeine Beliebtheit riefen bei den leicht erregbaren Gemütern der Pariser große Aufregung hervor. Ich kann mich keines ähnlichen Ereignisses erinnern, das einen so allgemeinen und so tiefen Eindruck gemacht hätte. Wochenlang vergaß man im Gespräch über diesen einen Fall selbst die wichtigsten politischen Tagesereignisse. Der Präfekt machte ganz ungewöhnliche Anstrengungen; und die gesamte Pariser Polizei spannte ihre Kräfte aufs äußerste an.

Zuerst, als man die Leiche entdeckte, nahm man an, der Mörder werde sich höchstens ganz kurze Zeit vor den sofort in Angriff genommenen Nachstellungen verborgen halten können. Erst nach Ablauf einer Woche hielt man es für nötig, eine Belohnung auszusetzen, und selbst da meinte man, mit tausend Francs genug getan zu haben. Inzwischen wurden die Nachforschungen mit Eifer, wenn auch nicht immer mit Verstand, fortgesetzt, und zahlreiche Personen wurden zwecklos verhaftet; da aber nach wie vor jeder Schlüssel zu dem Geheimnis fehlte, wuchs die allgemeine Aufregung aufs höchste. Nach zehn Tagen hielt man es für ratsam, die ursprünglich festgesetzte Summe zu verdoppeln, und schließlich, als die zweite Woche verstrichen war, ohne irgendwelche Anhaltspunkte zu liefern, und das Vorurteil, das in Paris gegen die Polizei nun einmal herrscht, sich in mehreren ernsthaften Angriffen Luft gemacht hatte, nahm es der Präfekt auf sich, die Summe von zwanzigtausend Francs auszusetzen ›für Überführung des Mörders‹, oder, falls es sich erweisen sollte, daß mehr als einer beteiligt gewesen, ›für Überführung irgendeines der Mörder‹. In der Proklamation, die diese Belohnung verkündete, wurde jedem, der seinen Mitschuldigen nannte, völlige Straffreiheit zugesichert, und dieser Proklamation war ein privater Aufruf einiger Bürger angefügt, die sich zusammengetan hatten, um der von der Präfektur ausgesetzten Summe aus eigenen Mitteln zehntausend Francs hinzuzufügen. Die gesamte Belohnung belief sich also auf nicht weniger als dreißigtausend Francs, ein ganz ungewöhnlich hoher Betrag, in Anbetracht der niedrigen sozialen Stellung des Mädchens und der Häufigkeit solcher Mordtaten in der Großstadt.

Niemand bezweifelte mehr, daß sich nun schnell das Dunkel über dem geheimnisvollen Mord lichten werde. Doch obgleich ein oder zwei Verhaftungen vorgenommen wurden, von denen man sich Aufklärung versprach, ergab sich nichts, was die Verdächtigungen gegen die Betreffenden gerechtfertigt hätte, und man mußte sie wieder entlassen. So seltsam es auch scheinen mag, so war doch schon die dritte Woche nach Auffindung der Leiche hingegangen – und hingegangen, ohne in das Dunkel der Sache Licht zu bringen –, ehe auch nur ein Gerücht über diese die öffentliche Meinung so aufregenden Ereignisse Dupin und mir zu Ohren kam. In Forschungen vertieft, die unsere ganze Aufmerksamkeit erforderten, war es fast ein Monat, seit einer von uns zuletzt ausgegangen oder einen Besucher empfangen oder mehr als einen flüchtigen Blick auf den politischen Leitartikel der führenden Tageszeitung geworfen hatte. G. selbst war es, der uns die erste Mitteilung von dem Morde machte. Er besuchte uns am 13. Juli 18.. früh am Nachmittag und blieb bis tief in die Nacht. Er war über das Fehlschlagen aller seiner Bemühungen, die Mordbuben ausfindig zu machen, sehr gereizt. Sein Ruf – so sagte er mit der Selbstgefälligkeit des Parisers – stehe auf dem Spiele. Selbst seine Ehre sei gefährdet. Die Augen der Menge seien auf ihn gerichtet, und es gäbe kein Opfer, das er nicht für die Aufdeckung des Geheimnisses bereitwillig brächte. Er schloß seine etwas konfuse Rede mit einem Kompliment auf das, was er Dupins ›Taktgefühl‹ zu nennen beliebte und machte ihm ein direktes Angebot – ein glänzendes Angebot, das näher darzutun ich mich nicht berufen fühle, das aber auch für den eigentlichen Gegenstand meiner Erzählung von keiner Bedeutung ist.

Das Kompliment wies mein Freund zurück, so gut er konnte, das Angebot aber nahm er ohne weiteres an, obwohl dasselbe lediglich in der Zuerkennung einer Provision bestand. Dies erledigt, erging sich der Präfekt sogleich in Darlegungen seiner eigenen Ansichten, sie mit langen Kommentaren über die tatsächlichen Geschehnisse würzend. Über diese letzteren waren wir noch immer nicht aufgeklärt. Er redete viel und keineswegs unerfahren, während ich hie und da eine Vermutung, einen Rat einwarf und die Nacht langsam hinschlich. Dupin, der behaglich in seinem gewohnten Lehnstuhl saß, schien die verkörperte Aufmerksamkeit. Er hatte die ganze Zeit seine Brille auf, und ein gelegentlicher Blick hinter ihre grünen Gläser genügte, mich zu überzeugen, daß er während der ganzen sieben oder acht bleiernen Stunden, die der Präfekt noch bei uns weilte, tief und friedlich schlief.