Edgar Wallace, Die spannendsten Fälle. Vom Erfinder des modernen Thrillers - Edgar Wallace - E-Book

Edgar Wallace, Die spannendsten Fälle. Vom Erfinder des modernen Thrillers E-Book

Edgar Wallace

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Beschreibung

Der längst totgeglaubte Hexer kehrt nach London zurück, um seine ermordete Schwester zu rächen. Das Gift einer schwarzen Mamba rafft zahlreiche Menschen dahin; steckt der berüchtigte Zinker dahinter? Auf einem alten Schloss fallen die Erben von Lord Lebanon nacheinander einem indischen Tuch zum Opfer, noch bevor das Testament verlesen ist. Im Kampf gegen das Verbrechen gibt es für Scotland Yard reichlich zu tun. »Der Hexer«, »Der Zinker«, »Das indische Tuch«: Dieser Band umfasst drei der berühmtesten Kriminalromane aus dem Werk von Edgar Wallace, dem Ahnherrn des modernen Thrillers.

  • Jubiläumsausgabe
  • Zum 150. Geburtstag von Edgar Wallace am 01. April 2025
  • Richard Horatio Edgar Wallace gehört zu den erfolgreichsten Kriminalschriftstellern und gilt als Erfinder des modernen Thrillers
  • Sein Werk umfasste insgesamt 175 Bücher, 15 Theaterstücke. Plus 73 Verfilmungen

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Aus dem Englischenvon Fritz Pütschund Ravi Ravendro

Anaconda

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© 2024 by Anaconda Verlag, einem Unternehmender Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

Umschlagmotiv: Adobe Stock

Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K., Heiligenhaus

ISBN 978-3-641-32454-4V002

www.anacondaverlag.de

Inhalt

Inhalt

Der Hexer

Der Zinker

Das indische Tuch

Quellenverzeichnis

Der Hexer

1

Der Kommissar drückte auf den Klingelknopf und sagte zur Ordonnanz, die einige Augenblicke später eintrat:

»Bitten Sie Herrn Inspector Wembury, zu mir zu kommen!«

Der Kommissar legte das Dokument, das er soeben gelesen hatte, in eine Mappe. Nicht nur als Polizeibeamter, sondern auch als Soldat hatte Alan Wembury eine ausgezeichnete Laufbahn hinter sich. Er war während des Krieges zum Offizier befördert worden und hatte den Rang eines Majors erreicht.

Die Tür öffnete sich, und ein Mann in mittleren Jahren trat ein.

»Guten Morgen, Wembury!«

»Guten Morgen, Sir.«

Alan Wembury war ein Mann Anfang der Dreißiger, ein Sportsmann, dem man sofort ansah, dass er an das Leben im Freien gewöhnt war.

»Ich habe Sie zu mir gebeten, weil ich Ihnen eine angenehme Mitteilung zu machen habe«, sagte der Kommissar, der eine aufrichtige Freundschaft für seinen Untergebenen empfand.

»Jede Mitteilung ist mir angenehm«, lachte Alan.

Er stand stramm vor dem Kommissar, der ihm mit einer Handbewegung einen Stuhl anbot.

»Sie sind zum Bezirksinspektor befördert worden und übernehmen am Montag in acht Tagen den ›R‹-Bezirk«, fuhr der Vorgesetzte fort. Alans Augen leuchteten auf.

»Das kommt sehr überraschend, Sir«, bemerkte er endlich.

»Ich bin dafür sehr dankbar, aber ich glaube doch, dass vielen anderen vor mir diese Auszeichnung zusteht, bevor ich …«

Oberst Walford schüttelte den Kopf.

»Ich freue mich Ihretwegen, doch kann ich Ihnen nicht zustimmen«, entgegnete er lebhaft, »wir nehmen bedeutende Veränderungen in Scotland Yard vor. Bliss, der bei der Gesandtschaft in Washington arbeitete, kehrt zurück. Sie kennen ihn doch?«

Alan schüttelte den Kopf. Er hatte von dem gefürchteten Bliss gehört, wusste aber nur, dass er ein fähiger Polizeibeamter war und von beinahe jedem Mann im Yard sehr ungern gesehen wurde.

»Der ›R‹-Bezirk ist nicht mehr so aufregend, wie es in den früheren Jahren der Fall war«, äußerte der Kommissar mit einem Blinzeln. »Sie sollten sich aber darüber freuen!«

»War es wirklich ein aufregender Bezirk?«, fragte Alan, dem Deptford ein neues Gebiet war.

Oberst Walford nickte.

»Ich dachte an den ›Hexer‹ und habe oft an der Wahrheit des Berichtes über seinen Tod gezweifelt. Die australische Polizei behauptete, dass der Mann, der aus dem Hafen von Sydney aufgefischt wurde, dieser Schuft war.«

Alan Wembury nickte langsam.

»Der Hexer!«

Wer hatte nicht von dem »Hexer« gehört? Seine Taten hatten London erschreckt. Wenn es sich um eine persönliche Rache handelte, hatte er Leute unbarmherzig getötet. Männer, die Grund hatten, ihn zu hassen und zu fürchten, hatten sich gesund und munter schlafen gelegt und über die Gefahr gelacht, die sie bedrohte, da sie sich von der Polizei bewacht wussten; am nächsten Morgen aber fand man sie tot vor.

»Obgleich der Hexer nicht mehr in Ihrem Bezirk haust, möchte ich Sie doch vor einem Mann in Deptford warnen«, sagte Oberst Walford, »und das ist …«

»Maurice Messer!«, unterbrach ihn Alan, und der Kommissar hob erstaunt die Augenbrauen.

»Kennen Sie ihn?«, fragte er. »Ich wusste nicht, dass Messers guter Ruf als Rechtsanwalt so bekannt ist.«

Alan Wembury zögerte mit der Antwort.

»Ich kenne ihn nur als Anwalt der Familie Lenley«, meinte er endlich.

Der Kommissar schüttelte den Kopf.

»Ich kenne die Lenleys nicht.« Dann aber fügte er hinzu: »Meinen Sie etwa den alten George Lenley in Hertford, der vor einigen Monaten gestorben ist?«

Alan nickte.

»Ich bin mit ihm öfters zur Jagd geritten«, sagte der Kommissar nachdenklich. »Er gehörte zu jenen alten englischen Landherren, die tüchtige Reiter und Trinker waren. Es ist mir erzählt worden, dass er vermögenslos starb. Hatte er Kinder?«

»Zwei, Sir«, erwiderte Alan ruhig.

»Und Messer ist ihr Anwalt?« Der Kommissar lachte kurz auf. »Man hat sie nicht gut beraten, ihr Vermögen in die Hand des Maurice Messer zu legen.« Er dachte nicht an Messer, sondern an die Kinder, die sich in dessen Obhut befanden.

»Messer kannte den Hexer«, sagte er ganz unerwartet, und Wemburys Augen wurden groß vor Erstaunen.

»Den Hexer?«, wiederholte er.

Walford nickte. »Ich weiß nicht, wie gut er ihn kannte, aber ich glaube, zu gut – zu gut, um, wenn er noch am Leben wäre, Ruhe zu finden. Der Hexer hatte seine Schwester Gwenda Milton in Messers Obhut gelassen. Vor sechs Monaten ist ihr Leichnam aus der Themse gezogen worden.«

Alan nickte, da er sich des unglücklichen Vorfalles erinnerte. »Sie war Messers Sekretärin. Wenn Sie dieser Tage nichts zu tun haben, gehen Sie in das Aktenzimmer hinauf – vieles wurde bei den gerichtlichen Verhandlungen nicht erwähnt.«

»Über Messer?«

Oberst Walford nickte.

»Wenn der Hexer tot ist, hat es nichts weiter zu sagen, aber wenn er noch lebt«, er zuckte seine breiten Achseln und schaute bedeutungsvoll unter seinen buschigen Augenbrauen auf den jungen Detective, »wenn er noch lebt, so weiß ich, dass etwas ihn nach Deptford und zu Messer zurückbringen wird.«

»Was ist das, Sir?«, fragte Wembury.

Wieder lächelte Walford bedeutungsvoll.

»Lesen Sie die Akten durch, und Sie werden eins der ältesten Dramen der Welt lesen – die Geschichte einer vertrauensvollen Frau und eines ehrlosen Mannes.«

Mit einer Handbewegung gab er zu verstehen, dass er über den Hexer nicht mehr sprechen wollte.

»Montag über acht Tage treten Sie Ihren neuen Dienst an. Haben Sie vielleicht Lust, sich schon vorher mit der Arbeit im neuen Bezirk bekannt zu machen?«

Alan zögerte.

»Wenn möglich, Sir, möchte ich eine Woche Urlaub nehmen«, sagte er, und sein Gesicht rötete sich leicht.

»Urlaub? Aber selbstverständlich. Wollen Sie die gute Botschaft Ihrem Mädel verkünden?« Walford zwinkerte gutmütig.

»Nein, Sir.« Seine Verlegenheit strafte seine Worte Lügen. »Ich möchte einer Dame über meine Beförderung berichten«, fuhr er fort. »Es ist Miss Mary Lenley.«

»Oh, Sie kennen also Miss Lenley so gut?«, bemerkte der Kommissar.

»Nicht so, Sir, sie ist mir nur immer eine gute Freundin gewesen«, antwortete Wembury. »Ich habe mein Leben in einem Häuschen auf dem Gut der Lenleys begonnen. Mein Vater war der Obergärtner des Mr Lenley, und ich kenne die Familie, soweit mein Gedächtnis zurückreicht, und …«

»Nehmen Sie Ihren Urlaub, mein Junge, und gehen Sie, wohin Sie wollen! Wenn Miss Mary Lenley ebenso weise wie schön ist – ich kann mich ihrer als Kind erinnern –, so wird sie vergessen, dass sie eine Lenley von Lenley Court und Sie ein Wembury aus dem Häuschen des Gärtners sind! Wembury, in unserem demokratischen Zeitalter«, seine Stimme klang ernst, »ist der Mann, was er selbst ist, und nicht, was sein Vater war. Ich hoffe, dass Sie sich niemals unterschätzen werden!«

2

Als Alan vom Bahnhof her in das Dorf Lenley kam, sah er hinter den hohen Pappeln das Dach von Lenley Court, dem alten, grauen Herrenhaus, aufleuchten.

Die Nachricht von seiner Beförderung war vor ihm eingetroffen. Der kahlköpfige Wirt des Gasthauses »Zum Roten Löwen« kam ihm mit frohem Lächeln auf dem roten Gesicht entgegengelaufen.

»Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Alan«, sagte er. »Wir haben von Ihrer Beförderung gehört und sind stolz auf Sie. Demnächst werden Sie Polizeipräsident sein. Gehen Sie nach dem Herrenhaus hinauf, um Miss Mary aufzusuchen?« Als Alan die Frage bejahte, schüttelte der Wirt den Kopf. »Dort steht es sehr schlecht, Alan. Man sagt, dass von dem ganzen Vermögen weder für Mr Johnny noch für Miss Mary etwas übrig bleibt. Für Mr Johnny ist es gleichgültig, denn er ist ein Mann, der sich in der Welt zurechtfinden kann – aber ich wünschte, er hätte einen besseren Weg eingeschlagen, als es der Fall ist.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Alan schnell.

Der Wirt schien sich plötzlich zu erinnern, dass er zu einem Polizeibeamten sprach, und wurde zurückhaltender.

»Man erzählt, dass er zum Teufel geht. Sie wissen doch, wie die Leute reden, aber etwas Wahres muss dahinter sein. Der junge Mann kann die Armut nicht leicht verwinden.«

»Warum bleiben sie denn auf Lenley Court, wenn es so schlecht steht? Der Unterhalt des Besitztums muss ziemlich teuer sein. Warum verkauft es Johnny Lenley nicht?«

»Verkaufen!«, spottete der Wirt. »Es ist bis zum letzten Blatt auf dem höchsten Zweig jedes Baumes mit Hypotheken belastet! Soweit ich gehört habe, bleiben die Lenleys hier, bis ihr Londoner Rechtsanwalt die Erbschaftsangelegenheit geregelt hat, und ziehen in der nächsten Woche nach London.«

Der Londoner Rechtsanwalt! Alans Stirn legte sich in Falten. Das musste Maurice Messer sein, und er wurde neugierig, den Mann kennenzulernen, über den so viele seltsame Gerüchte im Umlauf waren. Man flüsterte sich in Scotland Yard über Maurice Messer Dinge zu, die, wenn sie laut gesagt oder niedergeschrieben worden wären, Verleumdungen oder Beleidigungen sein konnten.

»Wollen Sie mir ein Zimmer reservieren, Mr Griggs! Der Dienstmann wird mein Gepäck vom Bahnhof bringen. Ich will nach dem Herrenhaus hinaufgehen und sehen, ob ich Johnny Lenley sprechen kann.«

Er sagte »Johnny«, aber sein Herz meinte Mary.

Als er den breiten, von Eichen umschatteten Fahrweg entlangging, traten ihm überall die Anzeichen der Armut entgegen. Auf dem mit Kies bestreuten Weg wuchs Gras; die wunderschönen Eibenhecken des ­Tudorgartens waren von einer ungeübten Hand zurechtgestutzt worden; der Rasen vor dem Haus sah ungepflegt aus. Als das Herrenhaus selbst sichtbar wurde, erbebte sein Herz beim Anblick der allgemeinen Vernachlässigung. Die Fenster des Ostflügels waren schmutzig, viele Scheiben waren zerbrochen und nicht erneuert worden.

Als er sich dem Haus näherte, trat eine Gestalt aus dem schmutzigen Säulengang hervor. Sobald sie ihn erkannte, lief sie ihm entgegen.

»O Alan!«

Im nächsten Augenblick hielt er ihre beiden Hände in den seinen und sah auf das emporgehobene Gesicht hinab. Er hatte sie zwölf Monate nicht gesehen. Ihre feine, bleiche Schönheit berührte das Innerste seines Herzens. Er hatte ein reizendes Kind gekannt und schaute jetzt in die kristallklaren Augen einer voll erblühten Frau. Die schlanke, kindliche Gestalt, die er gekannt hatte, hatte eine Verwandlung durchgemacht, und das hübsche Gesicht erglühte in neuer, seltener Schönheit.

»Alan, wie freue ich mich, Sie zu sehen!«, rief sie, und in ihren traurigen Augen leuchtete ein Lächeln. »Sie haben viel Neues zu erzählen, Alan! Wir haben es schon in der Morgenzeitung gelesen.«

»Ich wusste nicht, dass meine Beförderung so welterschütternd ist«, sagte er.

»Sie müssen mir jetzt alles erzählen.«

Sie nahm ihn unter den Arm, wie sie es in ihren Kindertagen getan hatte, als er der Sohn des Gärtners und ihr Spielgefährte gewesen war. Damals war er der schüchterne Knabe, der ihren Drachen steigen ließ und der ihr den Ball zuwarf, als sie den Kricketschläger schwang, der beinahe so groß war wie sie selbst.

»Da gibt es nicht viel mehr zu erzählen«, äußerte Alan. »Bei der Beförderung sind bessere Männer übersprungen worden, und ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll oder nicht!«

»Unsinn!«, bemerkte sie überzeugt. »Sie sind befördert worden, weil Sie es verdienten!«

Sie beobachtete ihn, sah, wie seine Augen über das Haus schweiften, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich plötzlich und nahm einen ungewohnten Ernst an.

»Armer, alter Lenley Court!«, sagte sie nachdenklich. »Alan, haben Sie es schon gehört? In der nächsten Woche verlassen wir unser Haus.« Sie seufzte tief. »Man darf kaum darüber nachdenken! Johnny will eine Wohnung in der Stadt nehmen, und Maurice hat mir Arbeit versprochen.«

»Arbeit?«, fragte Alan erstaunt. »Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen müssen?«

Sie lachte.

»Aber selbstverständlich, mein lieber – mein lieber Alan! Ich versuche jetzt schon in die Geheimnisse der Stenografie und des Maschinenschreibens einzudringen. Ich soll Sekretärin von Maurice werden.«

Messers Sekretärin!

Die Worte kamen ihm bekannt vor. Er erinnerte sich plötzlich an eine andere Sekretärin, deren Leichnam man an einem nebligen Morgen aus dem Fluss gezogen hatte, und die bedeutungsvollen Worte des Obersten Walford klangen ihm in den Ohren.

»Warum sind Sie so ernst, Alan? Gefällt Ihnen der Gedanke nicht, dass ich meinen Lebensunterhalt verdienen werde?«, fragte sie mit zuckenden Lippen.

»Nein«, antwortete Alan. »Es wird doch etwas aus dem Zusammenbruch gerettet werden können?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nichts – auch gar nichts! Von meinem mütterlichen Erbe beziehe ich ein kleines Einkommen, das mich vor dem Verhungern schützen wird. Dann ist Johnny auch ganz tüchtig. Er hat in der letzten Zeit viel Geld verdient – das klingt doch seltsam? Niemand hat gedacht, dass Johnny ein guter Kaufmann ist, und doch ist es der Fall. Er hofft, in wenigen Jahren Lenley Court zurückkaufen zu können.«

Die Worte verrieten Mut, aber Alan ließ sich nicht täuschen.

3

Er bemerkte, wie sie über seine Schulter hinwegschaute, und als er sich umdrehte, sah er zwei Männer auf sie zukommen.

Trotz des warmen Frühlingswetters trug Mr Messer doch die seit alten Zeiten herkömmliche Kleidung eines erfolgreichen Rechtsanwaltes. Der langschößige Gehrock saß tadellos auf seiner schlanken Gestalt, und in der schwarzen Krawatte steckte ein schimmernder Opal. Er trug einen Zylinderhut, und seine gelben Handschuhe waren einwandfrei. Sein mageres, etwas gelbliches Gesicht, seine dunklen, unergründlichen Augen und seine Sprache gaben ihm etwas Aristokratisches. »Er sieht aus wie ein Herzog, spricht wie ein spanischer Edelmann und denkt wie der Teufel«, war nicht das am wenigsten Schmeichelhafte, was über Messer je gesagt worden war.

Sein Begleiter war ein großer junger Mann, nicht viel älter als zwanzig Jahre. Als er den Besucher erblickte, zogen sich seine Augenbrauen finster zusammen.

»Hallo!«, rief er mürrisch aus und wandte sich dann an seinen Begleiter: »Sie kennen doch Wembury, Maurice, er ist Oberwachtmeister oder etwas Ähnliches bei der Polizei.« Maurice Messer lächelte.

»Bezirkskriminalinspektor, glaube ich«, erklärte er und streckte seine lange, dünne Hand aus. »Soweit ich gehört habe, kommen sie in meine Nachbarschaft, um meinen unglückseligen Klienten neuen Schrecken einzuflößen!«

»Ich hoffe, wir werden in der Lage sein, sie auf bessere Wege zu bringen«, entgegnete Alan. »Dazu sind wir ja da!«

Johnny Lenley hatte Alan schon als Knabe nicht leiden können, und jetzt, aus irgendeinem Grund, flackerte bei der Anwesenheit des Detective sein Groll wieder auf.

»Was führt sie nach Lenley?«, fragte er mürrisch. »Ich wusste nicht, dass Sie Verwandte hier haben.«

»Ich habe hier wenig Freunde«, sagte Alan ernst.

»Selbstverständlich hat er welche«, warf Mary ein. »Natürlich ist er gekommen, um mich aufzusuchen, nicht wahr, Alan? Es tut mir leid, dass wir Sie nicht bitten können, bei uns zu wohnen, aber es sind so gut wie gar keine Möbel übrig geblieben.«

»Es ist doch nicht nötig, unsere Armut im ganzen Land zu verkünden«, rief Johnny Lenley schroff. »Ich glaube kaum, dass Wembury sich für unser Missgeschick interessiert, und wenn …«

»Das Missgeschick auf Lenley Court ist der Öffentlichkeit bekannt, mein lieber Johnny«, unterbrach ihn Messer besänftigend. »Seien Sie nicht unnötig empfindlich! Ich meinerseits freue mich, die Gelegenheit zu haben, einen so ausgezeichneten Polizeibeamten wie Alan Wembury kennenzulernen. Augenblicklich werden Sie Ihren Bezirk sehr ruhig finden, Mr Wembury. Wir haben nicht mehr die Aufregungen wie damals, als ich von Lincoln’s Inn Fields nach Deptford zog.«

Alan nickte.

»Sie meinen, dass der Hexer Sie nicht mehr belästigt?«, fragte er.

Die Bemerkung war ganz harmlos gemeint, und er war gar nicht auf die Veränderung vorbereitet, die in Messers Gesicht vorging. Seine Augen blinzelten plötzlich, als wenn ein helles Licht aufleuchtete. Der gebogene Mund wurde eine gerade, harte Linie.

»Der Hexer«, seine Stimme klang heiser. »Eine alte Geschichte! Der arme Teufel ist tot!«

Er sagte dies mit besonderem Nachdruck. Alan schien es, als wenn der Mann sich selbst überzeugen wollte, dass dieser berüchtigte Verbrecher nicht mehr lebte.

»Tot … in Australien ertrunken!«

Das Mädchen schaute ihn verwundert an.

»Wer ist der Hexer?«, fragte sie.

»Niemand, den Sie kennen, und den Sie auch nicht kennen sollten«, versetzte Messer barsch. Dann fuhr er lächelnd fort: »Jetzt fachsimpeln wir aber, und eine Unterhaltung über das Verbrechertum passt am wenigsten für die Ohren einer jungen Dame.«

»Ich wünschte, Sie fänden einen anderen Gesprächsstoff«, brummte Johnny Lenley und wollte sich schon umdrehen, als Maurice fragte:

»Sie sind doch jetzt im Westend-Bezirk, Wembury? Was war Ihr letzter Fall? Ich kann mich nicht erinnern, Ihren Namen in der Zeitung gelesen zu haben.«

Alan verzog das Gesicht.

»Wir verkünden unsere Fehlschläge niemals«, entgegnete er. »Meine letzte Arbeit waren die Nachforschungen über eine Perlenkette, die der Lady Darnleigh in Park Lane gestohlen wurde, als sie den großen Botschafterball gab.«

Während er sprach, schaute er Mary an. Er bemerkte nicht, wie Johnny Lenley sich bemühte, einen unwillkürlichen Ausruf zu unterdrücken, noch sah er den schnellen, warnenden Blick, den Messer dem jungen Mann zuwarf. Es entstand eine kurze Pause.

»Lady Darnleigh?«, fragte Messer in gezogenem Ton. »O ja, ich glaube mich erinnern zu können… Waren Sie nicht auf jenem Ball, Johnny?«

Er blickte Johnny an, der ungeduldig die Achseln zuckte.

»Selbstverständlich war ich dort … Ich habe aber erst lange nachher etwas darüber gehört. Habt ihr denn nichts anderes, als über Verbrechen, Diebstähle und Morde zu sprechen?«

Er drehte sich auf dem Absatz um und ging langsam über den Rasen.

Mary schaute ihm mit einem besorgten Gesicht nach. »Ich möchte wissen, was Johnny in den letzten Tagen so mürrisch macht. Wissen Sie es, Maurice?«

Maurice Messer betrachtete die glimmende Zigarette in seiner Bernsteinspitze.

»Johnny ist jung, und dann dürfen Sie nicht vergessen, meine Liebe, dass er in der letzten Zeit viel Aufregung hatte!«

»Ich auch«, erwiderte sie ruhig. »Oder glauben Sie, dass es für mich nichts zu bedeuten hat, Lenley Court zu verlassen?«

Einen Augenblick zitterte ihre Stimme, doch mit großer Willenskraft zwang sie sich zu lächeln. »Ich werde sehr pathetisch, und wenn ich mich nicht zusammennehme, werde ich noch an Alans Schulter weinen. Kommen Sie, Alan, und schauen Sie sich den alten Rosengarten an! Vielleicht sehen wir ihn zum letzten Mal.«

4

Johnny Lenley blickte ihnen nach, bis sie verschwunden waren. Sein Gesicht war blass, und seine Lippen zitterten.

»Was führt diesen Kerl hierher?«, fragte er.

Maurice Messer, der ihm gefolgt war, sah ihn seltsam an. »Mein lieber Johnny, Sie sind noch sehr jung und sehr unreif. Sie haben die Erziehung eines Gentleman genossen, Sie benehmen sich aber wie ein Bauer!«

»Was erwarten Sie denn, das ich tun soll? Soll ich ihm herzlich die Hand drücken und ihn auf Lenley Court willkommen heißen? Der Kerl ist aus der Gosse hervorgegangen. Sein Vater war unser Gärtner …«

»Sie sind sehr eingebildet, Johnny! Das schadet nichts«, unterbrach ihn Messer, »wenn Sie nur lernten, Ihre Gefühle zu verbergen.«

»Ich sage, was ich meine«, erklärte Johnny kurz.

»Das macht auch der Hund, wenn man ihm auf den Schwanz tritt«, entgegnete Maurice. »Sie Esel!«, fuhr er ihn mit unerwarteter Heftigkeit an. »Sie Idiot! Bei der Erwähnung der Darnleigh-Perlen haben Sie sich beinahe selbst verraten. Haben Sie sich vergegenwärtigt, mit wem Sie sprachen, und wer Sie wahrscheinlich beobachtete? Der gefährlichste Detective der Kriminalabteilung! Der Mann, der Hersey abfasste, der Gostein an den Galgen brachte, der die Flackbande auflöste!«

»Er hat nichts gemerkt«, sagte der andere verdrießlich und versuchte das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken: »Sie haben heute Morgen einen Brief erhalten. Stand etwas über die Perlen darin – sind sie verkauft?«

»Glauben Sie wirklich, dass man Perlen im Werte von fünfzehntausend Pfund in einer Woche verkaufen kann? Wie denken Sie sich eigentlich den Vorgang – dass man sie etwa zu Christie’s zur Versteigerung gibt?«

Johnny Lenley biss die Lippen zusammen.

»Es ist seltsam, dass Wembury den Fall zur Behandlung hatte – anscheinend hat man jede Hoffnung aufgegeben, den Dieb noch zu fangen. Selbstverständlich hatte die alte Lady Darnleigh keinen Verdacht …«

»Seien Sie nicht allzu sicher!«, warnte Messer. »Jeder Gast, der in jener Nacht in Nr. 304 von Park Lane war, ist verdächtig. Sie mehr als jeder andere, da jedermann weiß, dass Sie arm sind. Außerdem hat Sie ein Diener gesehen, wie Sie kurz vor Ihrem Weggang die Haupttreppe hinaufgingen.«

»Ich sagte ihm, dass ich meinen Mantel holen wollte«, warf Johnny Lenley ein. »Warum haben Sie vor Wembury erwähnt, dass ich dort war?«

Maurice lachte.

»Weil er es wusste, denn ich habe ihn beim Sprechen beobachtet. Ein schwaches Schimmern in seinen Augen verriet es mir. Aber ich will Sie beruhigen. Die Person, die man augenblicklich in Verdacht hat, ist Lady Darnleighs Kellermeister. Glauben Sie aber ja nicht, dass alles vorbei ist – das ist nicht der Fall. Die Polizei ist noch viel zu rührig in der Sache, als dass wir daran denken könnten, die Perlen loszuwerden, und wir müssen eine günstige Gelegenheit abwarten, um sie in Antwerpen unterzubringen.«

Er zog ein goldenes Etui hervor und suchte sich sorgsam eine Zigarette aus, die er anzündete. Johnny beobachtete ihn neidisch.

»Sie sind ein kaltblütiger Teufel. Sie sind sich doch im Klaren, dass, wenn die Wahrheit über die Perlen herauskommen sollte, auch für Sie Zuchthaus in Aussicht steht?«

Der Anwalt stieß einen Rauchring in die Luft.

»Ich bin mir vollständig im Klaren, dass Ihnen, mein lieber Freund, Zuchthaus in Aussicht stünde. Ich glaube, es wäre ziemlich schwer, mich mit in die Sache hineinzuziehen. Wenn Sie zu Ihrem Vergnügen ein Räuberbaron werden und sich in hochstaplerische Abenteuer stürzen, kann das nur Ihr Leichenbegängnis sein. Weil ich Ihren Vater und Sie schon von Kindheit an kenne, laufe ich diese Gefahr. Vielleicht finde ich an dem Abenteuerlichen Geschmack …«

»Blödsinn!«, unterbrach ihn Johnny Lenley grob. »Sie sind, seitdem Sie gehen können, ein Schwindler gewesen. Sie kennen jeden Dieb in London und sind ein Hehler.«

»Gebrauchen Sie dieses Wort nicht!«

Maurice Messers Stimme klang plötzlich sehr schroff.

»Wie ich Ihnen schon sagte, sind sie noch sehr unreif. Habe ich den Diebstahl von Lady Darnleighs Perlen angestiftet? Habe ich Ihnen in den Kopf gesetzt, dass Diebstahl mehr abwirft als Arbeit und dass Ihre Erziehung und Beziehungen zu den besten Familien Ihnen Gelegenheiten geben, die einem gemeinen – Dieb versagt bleiben?«

Dieses Wort reizte Johnny Lenley ebenso sehr wie das Wort »Hehler« den Rechtsanwalt.

»Wir befinden uns beide in demselben Boot«, betonte er. »Sie könnten mich nicht verraten, ohne sich selbst zu ruinieren. Ich behaupte nicht, dass Sie irgendetwas angestiftet haben, Maurice, aber Sie haben tüchtig mitgeholfen. Eines Tages werde ich Sie zum reichen Mann machen.«

Messers schwarze Augen wandten sich langsam Johnny Lenley zu. Zu jeder anderen Zeit hätte er über die gönnerhafte Sprache des jungen Mannes gelacht, jetzt aber war er gereizt.

»Mein lieber Freund«, sagte er steif, »Sie sind etwas zu zuversichtlich. Raub mit oder ohne Gewalt ist nicht so einfach, wie Sie es sich vorstellen. Sie glauben, dass Sie gewandt sind …«

»Ich bin etwas tüchtiger als Wembury«, unterbrach ihn Johnny selbstzufrieden.

Maurice Messer unterdrückte ein Lächeln.

Mary führte ihren Besucher nicht in den Rosengarten, sondern nach dem Garten mit den sonderbaren, verwitterten Steinfiguren. Dort stand an einem kleinen Teich eine Marmorbank, Mary setzte sich und bat auch ihren Gast, Platz zu nehmen.

»Alan, ich möchte Ihnen etwas sagen. Ich spreche jetzt zu Alan Wembury und nicht zum Inspector Wembury«, begann sie.

»Aber selbstverständlich!« Er stockte, beinahe hätte er sie mit dem Vornamen angesprochen. »Ich habe niemals den Mut gehabt, Sie Mary zu nennen, aber ich fühle mich alt genug dazu!«

»Tun Sie es nur! ›Miss Mary‹ klingt so schrecklich unnatürlich. Von Ihnen klingt es beinahe unfreundlich.«

»Was gibt es also?«, fragte er, indem er sich neben sie setzte.

Sie zögerte einen Augenblick.

»Johnny«, erzählte sie, »spricht in mancher Beziehung so seltsam. Alan, es ist schwer, so etwas zu sagen, aber manchmal scheint es, als wenn er den Unterschied zwischen Mein und Dein vergessen hat. Oft denke ich, dass er so etwas nur aus Eigensinn sagt, und dann fühle ich wieder, dass er es wirklich ernst meint. Auch über unseren armen Vater spricht er sehr abfällig. Das kann ich nur schwer verzeihen. Vater war sehr leichtsinnig und verschwenderisch, aber er ist Johnny – und mir ein guter Vater gewesen«, setzte sie mit zitternder Stimme hinzu.

»Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, dass er in mancher Beziehung seltsam spricht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das ist nicht das Einzige; er hat auch so eigenartige Bekannte. Vorige Woche war ein Mann hier – ich habe ihn nur gesehen und nicht gesprochen – namens Hackitt. Kennen Sie ihn?«

»Hackitt? Sam Hackitt?«, fragte Wembury erstaunt. »Aber selbstverständlich! Sam und ich sind alte Bekannte!«

»Was ist er?«, fragte sie.

»Einbrecher!«, war die ruhige Antwort. »Wahrscheinlich interessierte sich Johnny für ihn und ließ ihn herkommen …«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, das war nicht der Grund.« Sie biss sich auf die Lippen. »Johnny hat mich angelogen. Er sagte, dass der Mann ein Handwerker sei, der nach Australien fahren wollte. Sind Sie sicher, dass es derselbe Hackitt ist?«

Alan gab eine sehr wahrheitsgetreue, wenn auch kurze Beschreibung des Mannes. »Das ist er!«, nickte sie. »Alan, glauben Sie, dass Johnny – schlecht ist?«

»Selbstverständlich nicht!«

»Aber seine eigenartigen Freunde …«

Diese Gelegenheit durfte er nicht ungenützt vorbeigehen lassen. »Ich befürchte, Mary, dass Sie eine ganze Menge Leute wie Hackitt und noch schlimmere Leute als Hackitt treffen werden.«

»Warum?«, fragte sie erstaunt.

»Sie beabsichtigen, als Messers Sekretärin zu arbeiten – Mary, ich wünschte, Sie würden nicht zu dem Anwalt gehen.«

»Warum in aller Welt, Alan …? Ich verstehe allerdings, was Sie meinen. Maurice hat eine große Anzahl von Klienten, und ich werde sicher mit ihnen zusammenkommen, aber ich habe doch nur geschäftlich mit ihnen zu tun.«

»Wegen der Klienten bin ich nicht besorgt«, erwiderte Alan ruhig. »Besorgt bin ich wegen – Maurice Messer.«

»Besorgt wegen Maurice?« Sie mochte kaum ihren Ohren trauen. »Aber Maurice ist doch ein so lieber Mann! Er ist die Freundlichkeit selbst zu Johnny und mir gewesen, und wir kennen ihn unser ganzes Leben lang.«

»Ich kenne Sie auch so lange, Mary«, meinte Alan ruhig, aber sie unterbrach ihn.

»Aber sagen Sie mir, warum? Was könnten Sie gegen Maurice haben?«

Jetzt wurde er einer direkten Frage gegenübergestellt, und er fühlte sich unsicher.

»Ich weiß nichts von ihm«, gab er freimütig zu. »Ich weiß nur, dass Scotland Yard ihn nicht ›gern‹ hat.«

Sie lachte heiter.

»Weil er es fertigbringt, diese armen, elenden Verbrecher vor dem Gefängnis zu bewahren! Das ist Neid von Berufs wegen. O Alan!«, neckte sie ihn. »Das hätte ich von Ihnen nicht gedacht!«

Es wäre unnütz gewesen, wenn er die Warnung wiederholt hätte. Eine Beruhigung hatte er: Wenn sie bei Messer arbeitete, würde sie auch in seinem Bezirk wohnen.

5

Maurice Messer stand hinter einer Eibenhecke und beobachtete sie. Es schien ihm, dass er niemals vorher die Schönheit Mary Lenleys gewahr geworden war. Er musste sich eingestehen, dass es der augenscheinlichen Bewunderung eines Polizeibeamten bedurfte, um sein Inte­resse an dem Mädchen zu erwecken, das er, im Augenblick eines später bereuten Impulses, anzustellen versprochen hatte. Er bewunderte den Umriss ihrer Wangen, die Haltung ihres dunklen Kopfes, die geschmeidige Gestalt, als sie mit Alan Wembury sprach. Mr Messer befeuchtete seine trockenen Lippen. Es war merkwürdig, dass er so blind gewesen war.

Er liebte blonde Frauen. Gwenda Milton hatte einen goldblonden Kopf. Ein einfältiges Mädchen, das langweilig geworden war und das in einer Tragödie ihr Ende gefunden hatte. Maurice schauderte, als er sich des trüben Tages während der gerichtlichen Vernehmung erinnerte, wie er vor dem Zeugentisch gestanden und gelogen, gelogen und abermals gelogen hatte.

Als Mary den Kopf umwandte, sah sie ihn und winkte ihm zu. Langsam näherte er sich ihnen.

»Wo ist Johnny?«, fragte sie.

»Johnny schmollt. Fragen Sie mich aber nicht, warum, denn ich weiß es nicht.«

Welch wunderbare Haut sie hatte! Wie bewundernswert waren die dunkelgrauen Augen mit den langen Wimpern! Seit ihrer Kindheit hatte er sie gekannt und hatte nun eine Woche lang unter demselben Dach mit ihr zugebracht, und doch hatte er ihren Wert bis jetzt nicht schätzen gelernt.

»Unterbreche ich eine vertrauliche Unterredung?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. Er fragte sich, worüber diese beiden gesprochen haben konnten. Hatte sie Alan Wembury gesagt, dass sie nach Deptford zu kommen beabsichtigte? Früher oder später würde sie es doch sagen, also war es besser, ihm diese Nachricht selbst zuerst mitzuteilen.

»Wissen Sie schon, dass Miss Lenley mich beehren will, meine Sekretärin zu werden?«

»So höre ich«, versetzte Alan und schaute dem Rechtsanwalt in die Augen. »Ich habe Miss Lenley gesagt«, er sprach mit Überlegung, jedes Wort war von Bedeutung, »dass sie in meinem Bezirk wohnen wird … sozusagen unter meiner väterlichen Obhut.«

Eine Warnung und eine Drohung klangen aus diesen Worten. Messer war zu klug, um eins von beiden zu überhören.

Alan Wembury hatte sich zum Beschützer des Mädchens gemacht. Unter anderen Umständen hätte es ihn belustigt, sogar vor einer Stunde noch hätte er Alan Wemburys Bemerkung als einen Scherz aufgefasst. Aber jetzt …

Er schaute Mary an, und sein Puls fing an zu rasen. »Das ist sehr interessant!« Seine Stimme klang etwas heiser, und er räusperte sich. »Sehr interessant. Ist das eine der Pflichten Ihres Amtes?«

Alan bemerkte den leisen Spott, der aus Messers Stimme klang.

»Die Pflichten des Polizeibeamten«, entgegnete er ruhig, »werden ziemlich genau durch die Überschrift über dem Old Bailey, unserem ehrwürdigen Gerichtsgebäude, beschrieben.«

»Und was besagt die?«, fragte Messer. »Ich habe mir noch nicht die Mühe genommen, sie zu lesen.«

»Beschützt die Kinder der Armen und bestraft die Übeltäter!«, sagte Alan Wembury ernst.

»Ein edles Wort!«, stimmte Maurice bei. »Das muss für mich sein«, fügte er hinzu und ging schnell einem Telegrafenboten entgegen, der am Gartenende erschien.

»Ist Maurice auf Sie böse?«, fragte Mary.

Alan lachte.

»Jeder wird früher oder später auf mich böse. Ich muss befürchten, dass meine Umgangsformen jämmerlich werden.«

»Alan«, sagte sie halb belustigt und halb ernst, »ich glaube, ich werde niemals mit Ihnen böse sein. Sie sind der netteste Mann, den ich kenne.«

Einen Augenblick fanden sich ihre Hände, und dann sahen sie Maurice mit dem ungeöffneten Telegramm in der Hand zurückkommen.

»Für Sie!«, rief er heiter. »Es muss doch schön sein, wenn man so eine wichtige Persönlichkeit ist, dass man das Amt nicht fünf Minuten verlassen kann, ohne dass man telegrafisch zurückgerufen wird.«

Alan nahm mit gerunzelter Stirn das Telegramm in Empfang. »Für mich?«

Er hatte nur wenige Freunde, und es war nicht anzunehmen, dass sein Urlaub vom Amt gekürzt werden würde.

Er öffnete das Telegramm und las:

»Sehr eilig. Kommen Sie sofort zurück und melden Sie sich in Scotland Yard. Bereiten Sie sich vor, Ihren Bezirk morgen früh zu übernehmen. Australische Polizei berichtet, Hexer verließ vor vier Monaten Sydney. Es wird angenommen, dass er jetzt in London ist.«

Das Telegramm trug die Unterschrift »Walford«.

Alan schaute vom Telegramm auf das Mädchen, das ihn mit besorgtem Gesicht betrachtete.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte sie.

Er schüttelte langsam den Kopf.

Der Hexer war in England. Artur Milton, der schonungslose Mörder seiner Feinde, schlau, verwegen und furchtlos.

Alan Wemburys Gedanken eilten nach Scotland Yard und zum Büro des Kommissars zurück. Gwenda Milton – war tot, ertrunken, eine Selbstmörderin!

Trug Maurice Messer die Verantwortung, dass diese junge Seele unaufgefordert vor den Richterstuhl Gottes getreten war? Wehe, Maurice Messer, wenn das wahr wäre, wenn das auf deinem Gewissen lastet!

6

Der Hexer hatte seinen Namen vom Volksmund erhalten. Er änderte seine Verkleidung so oft, dass die Polizei noch nie in der Lage gewesen war, eine Beschreibung des Mannes in Umlauf zu setzen. Er war ein Meister der Verkleidung und ein unbarmherziger Feind, der ohne Gnade den Mann erschlug, der seinen Hass heraufbeschworen hatte.

Der Hexer war in London! Und nur ein Grund konnte ihn nach England zurückgetrieben haben: Rache an Maurice Messer, dem er seine Schwester anvertraut hatte.

In welchem Winkel der Riesenstadt würde der Hexer unterzutauchen suchen?

Für Wembury gab es nur eine Antwort: Deptford – der Stadtteil, den der kühne Verbrecher kannte wie seine eigene Tasche, in dem der Mann wohnte, der ihm so Schweres zugefügt hatte.

Deptford! Wembury fuhr erschrocken zusammen.

Mary Lenley begann ja ihre Tätigkeit im Büro Maurice Messers – und Gefahr für den Anwalt würde auch Gefahr für Mary bedeuten.

»Sie haben also mein Telegramm erhalten?«, fragte Walford, als er den eintretenden Alan erblickte. »Es tut mir leid, Ihren Urlaub unterbrochen zu haben, aber ich möchte, dass Sie Ihr Amt in Deptford sofort übernehmen, damit Sie möglichst schnell mit Ihrem neuen Bezirk vertraut werden.«

»Ist der Hexer zurück, Sir?«

Walford nickte.

»Warum er zurückkam und wo er steckt, weiß ich nicht. Ein direkter Bericht über ihn liegt eigentlich nicht vor, und wir nehmen nur an, dass er zurückgekehrt ist.«

Walford nahm aus einem Korb auf seinem Tisch ein langes Kabel.

»Der Hexer hat eine Frau. Nur wenige Leute wissen das!«, sagte er. »Er hat sie vor ein oder zwei Jahren in Kanada geheiratet. Nach seinem Verschwinden hat auch sie das Land verlassen, und man hat sie bis nach Australien verfolgt. Das konnte nur auf eins hinweisen. Der Hexer war dort. Jetzt hat sie Australien ebenso schnell wieder verlassen und kommt morgen früh in England an.«

Alan nickte langsam.

»Ich verstehe. Das bedeutet also, dass der Hexer entweder schon in England oder auf dem Weg hierher ist?«

»Sie haben doch mit niemand darüber gesprochen?«, fragte der Kommissar. »Sagten Sie nicht, dass Messer in Lenley Court war? Sie haben doch nichts davon erwähnt?«

»Nein, Sir!«, antwortete Alan. »Eigentlich bedauere ich es. Ich hätte gern die Wirkung auf ihn beobachtet!«

»Der Hexer ist das Lieblingsgepenst Londons«, sagte Oberst Walford ernst, »und eine Andeutung, dass er nach England zurückgekehrt ist, wird genügen, um sämtliche Zeitungsmenschen von Fleet Street auf mich zu hetzen. Durch ihn hatten wir mehr Fehlschläge als durch jeden anderen Verbrecher auf unseren Listen! Die Nachricht, dass er sich frei in London bewegt, wird einen Sturm heraufbeschwören, den auch ich nicht werde aufhalten können!«

»Glauben Sie, dass der Fall meine Kräfte übersteigen wird?«, fragte Alan.

»Nein«, meinte Walford überraschenderweise, »ich habe auf Sie große Hoffnungen gesetzt – auf Sie und Dr. Lomond. Haben Sie übrigens Dr. Lomond kennengelernt?«

»Nein, wer ist das?«

Oberst Walford nahm ein Buch in die Hand, das auf dem Tisch lag.

»Vor vierzehn Jahren hat er das einzige Buch über Verbrecher geschrieben, das sich zu lesen lohnt. Er war jahrelang in Indien und in Tibet, und ich glaube, der Unterstaatssekretär kann froh sein, dass ­Lomond das Amt annahm.«

»Welches Amt, Sir?«

»Das Amt des Polizeiarztes des ›R‹ – Bezirkes – also Ihres Bezirkes«, bemerkte Walford.

Alan Wembury blätterte in dem Buch.

»Eigentlich merkwürdig, dass der Mann einen so untergeordneten Posten annimmt«, sagte er, und Walford lachte.

»Er hat sein Leben lang nichts anderes getan. Wollen Sie seine Bekanntschaft machen? Er ist im Haus.«

Er drückte auf den Klingelknopf und gab der eintretenden Ordonnanz Anweisung.

»Wird er uns helfen, den Hexer zu fassen?«, fragte Alan lächelnd und war erstaunt, als der Kommissar nickte.

»Ich habe das Gefühl«, versetzte er.

Die Tür öffnete sich in diesem Augenblick, und eine große, gebeugte Gestalt kam herein.

Alan taxierte ihn auf etwas über fünfzig. Sein Haar war grau, ein kleiner Schnurrbart hing ihm über den Mund, und ein Paar bewegliche Augen schauten Alan freundlich an. Sein Anzug saß schlecht, und sein hoher Filzhut gehörte schon den Siebzigern an.

»Darf ich Sie mit Inspector Wembury bekannt machen, der Ihrem Bezirk vorstehen wird?«, fragte Walford, und Wemburys Hand wurde kräftig gedrückt.

»Haben Sie einige interessante Exemplare in Deptford, Inspector?«, fragte Dr. Lomond im reinsten schottischen Dialekt. »Ich möchte gern einige Köpfe vermessen.«

Alan lachte über das ganze Gesicht.

»Ich bin in Deptford ebenso unbekannt wie Sie. Ich bin seit Anfang des Krieges nicht dort gewesen«, erklärte er.

Der Arzt kratzte sein Kinn, während seine scharfen Augen auf den jungen Mann gerichtet waren.

»Ich glaube nicht, dass sie so interessant wie die Lelos sein werden. Das ist eine wunderbare Rasse, mit einer seltsamen Kopfform und einer eigenartigen Entwicklung des Scheitelbeines …«

Wenn er auf sein Lieblingsthema geriet, sprach er schnell und mit großer Begeisterung.

Während der Arzt seine Meinung über die Abstammung eines seltsamen tibetanischen Stammes erklärte, verschwand Alan geräuschlos aus dem Zimmer.

Eine Stunde später traf er Walford, der aus seinem Zimmer kam, und ging mit ihm zum Kai hinunter.

»Ja – ich bin den Doktor losgeworden«, sagte der Oberst lachend, »er ist zu gescheit, als dass man ihn einen langweiligen Menschen nennen könnte, aber er hat mir Kopfschmerzen gemacht.« Dann fuhr er plötzlich fort: »Übergeben Sie Burton die Perlensache – ich meine die Darnleigh-Perlen. Einen neuen Anhaltspunkt haben Sie nicht gefunden?«

»Nein, Sir!«, antwortete Alan.

Der Kommissar runzelte die Stirn.

»Da Sie gerade nach Lenley Court fuhren, fiel mir ein, dass der junge Lenley am Abend des Diebstahls auf dem Ball der Lady Darnleigh war« – er bemerkte den Ausdruck im Gesicht seines Untergebenen und fuhr schnell fort: »Ich will damit selbstverständlich nicht sagen, dass er etwas damit zu tun hat, aber es ist doch ein eigenartiger Zufall. Ich möchte gern, dass wir diesen Fall bald erledigen, denn Lady Darnleigh hat mehr Freunde in Whitehall, als mir lieb ist, und ich erhalte jeden zweiten Tag einen Brief vom Minister des Innern, worin er über den Fortgang der Sache anfragt.«

Alan Wembury ging mit schweren Gedanken seinen Weg weiter. Er hatte gewusst, dass Johnny am Abend des Raubes dort gewesen war, aber er hatte niemals daran gedacht, ihn mit dem rätselhaften Verschwinden von Lady Darnleighs Perlen in Zusammenhang zu bringen. Er rief sich nochmals die nur allzu kurze Unterredung mit Mary ins Gedächtnis zurück.

Warum in aller Welt sollte Johnny, und doch – die Lenleys waren ­ruiniert … und Mary war sichtlich nervös gewesen …

Blödsinn!, dachte Alan, als sich ihm ein hässlicher Gedanke aufdrängte. Blödsinn!

Am nächsten Morgen übergab er die Akten in der Perlensache Inspector Burton und verließ Scotland Yard mit einem gewissermaßen erleichterten Gefühl.

In der folgenden Woche war Alan Wembury sehr in Anspruch genommen.

Mary schrieb ihm nicht, wie er erwartet hatte, und er wusste nicht, dass sie in London war, bis sie ihm eines Tages aus einem vorüberfahrenden Taxi zuwinkte. Er beauftragte einen seiner Untergebenen, festzustellen, wo sie und Johnny wohnten, und erfuhr, dass sie sich in der Nähe der Malpas Road in einem modernen Häuserblock niedergelassen hatten, der von besseren Handwerkern bewohnt wurde.

7

»Ich sah heute Morgen deinen Polypen«, sagte Johnny aufgeräumt, der zum Lunch zurückgekehrt war.

Sie schaute ihn mit großen Augen an.

»Meinen Polypen?«, wiederholte sie.

»Wembury«, erklärte Johnny. »Wir nennen diese Leute so.« Er sah, wie sie ihr Gesicht veränderte.

» ›Wir nennen sie?‹ « wiederholte sie. »Du meinst doch, ›man‹ nennt sie so, Johnny?«

Das schien ihn zu belustigen, als er sich an den Tisch setzte.

»Mach dich nicht lächerlich, Mary«, rief er. »Wir oder man ist doch kein Unterschied. Im Grunde genommen sind wir alle Diebe, ob es ein Kaufmann in einem Rolls-Royce oder ein Arbeiter auf der Straßenbahn ist. Jeder versucht, den anderen übers Ohr zu hauen.«

»Wo hast du denn Alan gesehen?«

»Warum, zum Kuckuck, nennst du ihn beim Vornamen?«, fuhr Johnny sie an. »Der Mann ist Polizist, und du tust, als wenn er auf derselben gesellschaftlichen Stufe mit dir stünde.«

Mary lächelte. Sie schnitt das Brot ab und erwiderte: »Unser Nachbar hier im Haus ist Schlosser, und über uns wohnt ein Bahnarbeiter mit einer sechsköpfigen Familie.«

Er schob seinen Stuhl gereizt zurück.

»Diese Wohnung ist für uns nur ein vorübergehender Notbehelf. Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mein ganzes Leben in diesem finsteren Loch zubringen werde? Einmal werde ich Lenley Court zurückkaufen.«

»Womit, Johnny?«, fragte sie ruhig.

»Mit dem Geld, das ich verdiene«, antwortete er. »Übrigens ist Wembury nicht ein Mann, mit dem du verkehren solltest«, bemerkte er. »Ich habe heute Morgen mit Maurice über ihn gesprochen, und Maurice ist auch der Meinung, dass wir diese Bekanntschaft aufgeben sollten.«

»Wirklich?« Marys Stimme klang kalt. »Und Maurice denkt es auch – das ist sehr eigenartig.«

Er schaute sie misstrauisch an.

»Wieso eigenartig?«, brummte er. »Jedenfalls wünsche ich den Verkehr mit ihm nicht und …«

Sie stand ihm auf der anderen Seite des Tisches gegenüber und hatte beide Hände leicht aufgestützt.

»Und ich«, versetzte sie ruhig, »lasse mir darüber keine Vorschriften machen. Es tut mir leid, wenn du oder Maurice dies nicht billigt, aber ich habe Alan gern und …«

»Ich hatte meinen Kammerdiener auch gern«, unterbrach sie Johnny gereizt, »habe ihn aber trotzdem entlassen.«

»Alan Wembury ist nicht dein Diener, Johnny«, sagte sie kopfschüttelnd. »Du magst meinen Geschmack nicht billigen, aber Alan ist ein Gentleman – und solche Menschen findet man heutzutage nicht allzu häufig.«

Johnny hielt es für richtiger, mit einem Achselzucken zu antworten.

Am nächsten Morgen sollte Mary ihr neues Leben beginnen. Der Gedanke an eine Zusammenarbeit mit Maurice Messer beunruhigte sie jetzt doch ein wenig.

Ein unbestimmtes Gefühl, über dessen Ursprung sie sich selbst nicht klar war, bedrückte sie.

Mr Messers Haus unterschied sich angenehm von der überaus hässlichen und schmutzigen Nachbarschaft.

Es stand etwas von der Straße zurück und war von einer hohen Mauer umgeben, die von einer schwarzen, in einen Hof führenden Einfahrt unterbrochen wurde. Dort stand das kleine Herrenhaus in gregorianischem Stil, wo der Rechtsanwalt Büro und Wohnung hatte.

Eine alte Frau führte sie die abgenutzte Treppe hinauf, öffnete eine schwere, verzierte Tür und ließ sie eintreten. Der Raum sah etwas schäbig aus, und doch war er ziemlich freundlich. An den Wänden hingen Bilder, die sie sofort als Werke großer Meister erkannte.

Am meisten interessierte sie aber ein großer Flügel, der in einem Alkoven stand. Sie sah ihn verwundert an und wandte sich dann an die Frau.

»Spielt Mr Messer Klavier?«

»Er?«, sagte die Frau lachend. »Das sollte ich meinen!«

Neben diesem Zimmer war ein kleiner Vorraum ohne Türen, der anscheinend als Büro benutzt wurde, denn dort befanden sich Regale an der Wand, und auf einem kleinen Schreibtisch stand eine verdeckte Schreibmaschine.

Sie hatte kaum Zeit, sich umzuschauen, als die Tür plötzlich geöffnet wurde und Maurice Messer hereintrat. Er kam schnell auf sie zu und nahm ihre beiden Hände in die seinen.

»Meine liebe Mary«, sagte er, »das ist wunderbar!«

»Es handelt sich bei mir nicht um einen Anstandsbesuch, Maurice!«, erwiderte sie. »Ich bin gekommen, um zu arbeiten!«

Sie entzog ihm ihre Hände, denn sie erinnerte sich nicht, mit ihm je auf so vertrautem Fuß gestanden zu haben.

»Meine liebe Mary, da ist genug Arbeit – Urkunden, Zeugenaussagen«, er sah sich wie suchend um.

»Können Sie Schreibmaschine schreiben?«, fragte er.

Er erwartete eine Verneinung zu hören und war erstaunt, als sie es bejahte.

»Ich hatte schon eine Schreibmaschine, als ich zwölf Jahre alt war«, lächelte sie. »Mein Vater schenkte sie mir, damit ich mich damit amüsieren sollte.«

Maurice hatte nie gewünscht und auch nicht erwartet, dass Mary sein Anstellungsangebot ernst auffasste – niemals, bis er sie in Lenley Court sah und es ihm auffiel, dass das linkische Kind sich so wunderbar entwickelt hatte.

»Ich will Ihnen eine eidliche Aussage zum Abschreiben geben«, sagte er und suchte fieberhaft unter den Papieren auf seinem Schreibtisch. Es dauerte lange Zeit, bis er auf ein Dokument stieß, das genügend harmlos für sie war, denn Maurice Messers Klienten waren meistens sehr eigentümlicher Art. Es war daher schwer für ihn, ihrer Durchsicht etwas von seiner zweifelhaften Korrespondenz anzuvertrauen, und erst als er das Schriftstück ganz durchgelesen hatte, übergab er es ihr.

»Nun, Mary, werden Sie sich hier wohl fühlen?«

Sie nickte.

»Ich denke es. Es ist sehr nett, für jemand zu arbeiten, den man schon so lange kennt – und Johnny ist ja auch in der Nähe. Er sagte mir, ich würde ihn öfters sehen.«

Seine schweren Augenlider senkten sich einen kurzen Augenblick.

»Oh«, meinte Maurice Messer und sah an ihr vorbei. »Er sagte, dass Sie ihn öfters sehen würden? Doch nicht etwa während der Bürostunden?«

Sie fühlte den Sarkasmus in seinem Ton nicht.

Er wandte seine Augen nicht von ihr. Sie war noch schöner, als er es sich vorgestellt hatte. Sie war der zierliche Typ, den er so gern hatte, dunkler als Gwenda Milton, aber feiner. Aus ihren Augen schauten eine Seele und ein Geist, eine verborgene Leidenschaft, die noch nicht erweckt war, ein glimmendes Feuer, das noch angefacht werden musste. Er bemerkte, wie sie unter seinem Blick verlegen wurde.

»Ich will Ihnen jetzt das Haus zeigen«, sagte er lebhaft.

Vor einer Tür im obersten Stock zögerte er, doch zog er nach kurzer Überlegung einen Schlüssel hervor und öffnete sie.

Mary sah an ihm vorbei und erblickte ein Zimmer, wie sie es in diesem alten, schäbigen Haus nicht erwartet hätte. Trotz des Staubes, der überall herumlag, war es ein wunderschöner Raum, mit einem Luxus ausgestattet, der sie in Erstaunen setzte. Es schien Wohn- und Schlafzimmer in einem Raum zu sein. Ein dicker Teppich bedeckte den Fußboden, und die wenigen Bilder an den Wänden waren mit Sorgfalt ausgewählt. Die Möbel zeigten alten französischen Stil, und sowohl die silbernen Leuchter an den Wänden als auch jeder Gegenstand verrieten einen verschwenderischen Aufwand.

»Ist das ein hübsches Zimmer!«, rief sie aus, als sie ihr Erstaunen überwunden hatte.

»Ja … sehr hübsch.«

Er starrte düster in das Nest, das einst Gwenda Milton gekannt hatte, bevor sie ihr tragisches Ende fand.

»Das ist doch besser als Malpas Mansions, was?«

Seine gerunzelte Stirn hatte sich geglättet. »Es muss nur etwas gereinigt und Staub gewischt werden, und schon ist ein Zimmer für eine Prinzessin vorhanden – ich werde Ihnen das Zimmer überhaupt zur Verfügung stellen, meine Liebe.«

»Zu meiner Verfügung?«, fragte sie, während sie ihn anstarrte. »Das ist unmöglich, Maurice, ich lebe mit Johnny zusammen, könnte also nicht hier wohnen!«

Er zuckte die Achseln.

»Johnny? Ja. Aber eines Abends könnte es hier einmal spät werden – oder Johnny könnte fort sein. Ich wage nicht, daran zu denken, dass Sie dann allein in jener elenden Wohnung hausen müssten.«

Er verschloss die Tür wieder.

»Das ist eine Angelegenheit, die Sie allein entscheiden müssen«, meinte er leichthin. »Das Zimmer ist da, wenn Sie es jemals brauchen sollten.«

Sie antwortete nicht. Das Zimmer war schon bewohnt gewesen, das stand fest. Eine Frau hatte darin gelebt – denn es war kein für einen Herrn passendes Zimmer. Mary fühlte sich etwas unbehaglich, denn über Maurice Messer und sein Privatleben wusste sie nichts. Sie erinnerte sich undeutlich, dass Johnny eine gewisse Episode aus Messers Leben angedeutet hatte, aber sie war nicht neugierig gewesen.

Gwenda Milton!

Erschrocken erinnerte sie sich jetzt des Namens. Gwenda Milton, die Schwester eines Verbrechers! Sie fuhr zusammen, als ihre Gedanken wieder zu dem prächtigen kleinen Zimmer wanderten, dass von dem Geist einer toten Liebe bewohnt wurde. Sie saß vor der Schreibmaschine, und ihr war es, als wenn ein blasses, von Todesangst verzerrtes Gesicht sie anstarrte.

8

Am Nachmittag des gleichen Tages landete die »Olympic« im Dock von Southampton. Die beiden Männer von Scotland Yard, die das Schiff von Cherbourg begleitet und jeden Passagier einer genauen Beobachtung unterworfen hatten, verließen es zuerst und stellten sich am Ende der Landungsbrücke auf. Sie mussten lange warten, bis die Prüfung der Pässe in Gang kam, doch bald begannen die Passagiere, einzeln auf den Kai hinabzusteigen.

Plötzlich entdeckte einer der Detectives ein Gesicht, das er auf dem Schiff nicht gesehen hatte. Ein Mann mittlerer Größe, ziemlich schlank und mit einem kleinen Spitz- und schwarzen Schnurrbart erschien am Schiffsgeländer und kam langsam herab.

Die beiden Detectives schauten sich gegenseitig an, und nachdem der Passagier den Kai erreicht hatte, trat der eine von ihnen an ihn heran.

»Verzeihen Sie bitte«, sagte er, »ich habe Sie nicht auf dem Schiff gesehen.«

Der Mann mit dem Bart betrachtete ihn einen Augenblick lang kaltblütig.

»Machen Sie mich für Ihre Blindheit verantwortlich?«, fragte er.

»Kann ich Ihren Pass sehen?«

Der bärtige Passagier zögerte erst, dann griff er mit der Hand in die innere Rocktasche, nahm aber nicht eine Brieftasche, sondern ein Lederetui heraus, aus dem er eine Karte hervorzog. Der Detective nahm sie in die Hand und las:

Hauptinspektor Bliss

Kriminalabteilung Scotland Yard

attachiert bei der Gesandtschaft in Washington

»Ich bitte um Verzeihung.«

Der Detective gab die Karte zurück.

»Ich habe Sie nicht erkannt, Mr Bliss. Sie trugen keinen Bart, als Sie Scotland Yard verließen.«

Bliss nahm die Karte zurück, steckte sie wieder in das Etui und wandte sich mit einem Kopfnicken ab.

Er trug sein Gepäck nicht ins Zollamt, sondern stellte es nieder, blieb, mit dem Rücken dem Gebäude zugekehrt, stehen und beobachtete die Landung der Passagiere. Endlich sah er die Frau, die er suchte.

Schlank, lebenslustig, sehr gescheit und absolut furchtlos – das war der erste Eindruck, den Inspector Bliss von ihr gewann. Er hatte noch niemals Grund gehabt, sein erstes Urteil zu ändern. Die olivenfarbige Haut war makellos, die unter den scharf umränderten Augenbrauen hervorblickenden dunklen Augen schauten in die Welt, als wenn sie viel gesehen hätten und vieles kannten. Das war eine Frau, die sich nicht verblüffen ließ. Sie war ein wunderbares Produkt der modernen Zeit. Sie ging gut, vielleicht etwas zu gut gekleidet; an der weißen Hand glitzerten Diamanten, und zwei Steine funkelten an den kleinen Ohren.

Sie war in Cherbourg an Bord gekommen, und es war ein großer Zufall, dass sie auf demselben Schiff nach England reisten, ohne dass sie ihn erkannt hatte. Er folgte ihr ins Zollamt und beobachtete, wie sie sich ihren Weg durch das angehäufte Gepäck bahnte, bis sie zum Buchstaben »M« gelangte. Seine eigenen Zollformalitäten waren schnell beendet. Er übergab seine Handtasche einem Gepäckträger und befahl, einen Platz im wartenden Zug zu belegen. Dann ging er in der Richtung weiter, wo er die Frau unter der Menge von Passagieren sah, wie sie einem Zollbeamten ihr Gepäck zeigte.

Als ob sie seine Beobachtung fühlte, schaute sie zweimal über ihre Schulter hinweg. Beim zweiten Mal trafen sich ihre Blicke, und er glaubte, in ihrem Gesicht Verwunderung – oder war es Besorgnis – zu erkennen.

»Mrs Milton, wenn ich mich nicht irre«, sagte Bliss.

Wieder derselbe Blick. Es war ohne Zweifel Furcht, die er ausdrückte.

»Das ist mein Name«, äußerte sie, während sie jedes Wort in die Länge zog. Sie hatte den sanften, gebildeten Akzent der in den südlichen Staaten Aufgewachsenen. »Aber ich weiß nicht, mit wem ich spreche!«

»Mein Name ist Bliss. Hauptinspektor Bliss von Scotland Yard«, bemerkte er.

Anscheinend hatte der Name keine Bedeutung für sie, doch als er seinen Beruf nannte, wich die Farbe aus ihren Wangen, kehrte aber sofort zurück.

»Das ist sehr interessant! Und was kann ich für Sie tun – Hauptinspektor Bliss von Scotland Yard?«

»Ich möchte, bitte, Ihren Pass sehen.«

Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie das Dokument aus einer kleinen Handtasche und händigte es ihm aus. Er wendete schweigend die Blätter um und sah sich die Stempel der Einschiffungshäfen an.

»Sie sind erst kürzlich in England gewesen?«

»Das war ich allerdings!«, erwiderte sie mit einem Lächeln. »Ich war in der vorigen Woche hier. Ich musste aber eilig nach Paris fahren und habe die Rückreise über Cherbourg gemacht – ich sehnte mich geradezu danach, wieder einmal Amerikaner sprechen zu hören.«

Sie blickte ihn scharf an, war aber mehr verwundert als erschrocken.

»Bliss?«, fragte sie nachdenklich. »Ich erinnere mich nicht, und doch ist es mir, als wenn ich Sie irgendwo schon getroffen hätte.«

Er schaute sich immer noch die Stempel an.

»Sydney, Genua, Domodossola – Sie reisen viel, Mrs Milton, aber nicht so schnell wie Ihr Mann.«

Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Nein«, fuhr er fort, »von Ihnen will ich nichts, aber ich hoffe, in diesen Tagen Ihren Mann zu treffen.«

Ihre Augen schlossen sich ein wenig.

»Hoffen Sie auch in den Himmel zu kommen?«, fragte sie höhnisch. »Ich dachte, Sie wüssten, dass Artur tot ist!«

Seine weißen Zähne schimmerten unter seiner bärtigen Lippe hervor.

»Der Himmel ist nicht der Ort, wo ich hingehen müsste, um ihn zu treffen«, sagte er.

Er reichte ihr den Pass zurück, drehte sich auf dem Absatz um und ging fort.

Sie folgte ihm mit dem Blick, bis er verschwunden war, dann wandte sie sich mit einem kleinen Seufzer dem Zollbeamten zu.

Bliss! Die Häfen wurden also beobachtet.

Hatte der Hexer England erreicht? Cora Ann Milton liebte diesen verwegenen Mann, der nur tötete, weil er sich rächen oder weil er strafen wollte, und der jetzt ein Ismael und ein Wanderer auf der Erde war, gegen den sich die Hände aller Männer erhoben und dessen Fährte Hunderte von Polizisten folgten.

Sie schritt den Bahnsteig entlang und betrachtete jeden Wagen unauffällig. Nach einer Weile entdeckte sie den Mann, den sie suchte. Bliss saß auf einem Ecksitz und war anscheinend in die Morgenzeitung vertieft.

Wo hatte sie ihn schon gesehen? Warum erfüllte der Anblick dieses Mannes mit dem ernsten Gesicht ihre Seele mit Furcht? Cora Ann Miltons Reise nach London war sehr sorgenvoll.

9

Als Johnny Lenley an demselben Nachmittag bei Messer vorsprach, war ihm der Anblick seiner Schwester an der Schreibmaschine sehr peinlich. Ihm war zumute, als wenn er sich erst jetzt der Armut bewusst würde, der die Lenleys verfallen waren.

Sie war allein im Zimmer, als sie ihn hinter einem Berg von Briefen anlächelte.

»Wo ist Maurice?«, fragte er, und sie wies auf das kleine Zimmer, wo Messer seine wichtigen und vertraulichen Besprechungen mit seinen eigenartigen Klienten hatte.

Einen Augenblick schaute er sie schweigend an. Er konnte es nicht leiden, sie so – als Angestellte – zu sehen. Er biss die Zähne zusammen, ging an die Tür zu Messers Privatbüro und klopfte.

»Wer ist da?«, fragte eine Stimme.

Johnny drückte auf die Klinke, aber die Tür war verschlossen. Dann hörte er das Schließen eines Geldschrankes, das Zurückschieben eines Riegels, und die Tür wurde geöffnet.

»Um was für ein Geheimnis handelt’s sich?«, brummte Johnny, als er eintrat.

»Ich habe einige sehr interessante Perlen untersucht. Es ist doch selbstverständlich, dass man nicht die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf Diebesgut lenkt«, erwiderte der Anwalt bedeutungsvoll.

»Haben Sie ein Angebot dafür erhalten?«, fragte Johnny.

Maurice bejahte es. »Ich will die Perlen heute Abend noch nach Antwerpen schicken«, sagte er. Er schloss den Geldschrank auf, der in einer Ecke des Zimmers stand, entnahm ihm eine flache Schachtel und öffnete den Deckel. Eine wunderbare Perlenkette kam zum Vorschein.

»Die haben einen Wert von mindestens zwanzigtausend Pfund«, betonte Johnny, und seine Augen leuchteten.

»Das sind mindestens fünf Jahre Zuchthaus!«, versetzte Maurice roh. »Ich muss offen gestehen, Johnny, ich fürchte mich.«

»Wovor?«, höhnte der andere. »Niemand würde vermuten, dass Mr Messer, der berühmte Rechtsanwalt, bei den Perlen der Lady Darnleigh den Hehler macht.« Johnny musste bei dem Gedanken lachen. »Zum Teufel! Maurice, Sie würden eine seltsame Gestalt auf der Anklagebank des Old Bailey abgeben. Können Sie sich vorstellen, mit welchem Genuss die Zeitungen die Sensation der Verhaftung und Verurteilung von Mr Maurice Messer, früher in Lincoln’s Inn Fields und jetzt in der Flanders Lane, Deptford, berichten würden?«

Nicht ein Muskel in Maurice Messers Gesicht bewegte sich, nur in seinen dunklen Augen glomm ein böser Funken.

»Sehr amüsant. Ich habe Ihnen früher niemals eine solche Einbildungskraft zugetraut.« Er nahm die Perlen ans Licht und betrachtete sie nochmals, dann schloss er den Deckel der Schachtel.

»Haben Sie Mary getroffen?«, fragte er im Unterhaltungston.

Johnny nickte. »Es ist scheußlich, sie arbeiten zu sehen, aber es lässt sich nicht ändern. Maurice …«

»Nun?«

»Ich habe mir manches überlegt. Sie hatten früher in Ihrem Büro ein Mädchen namens Gwenda Milton?«

»Und?«, fragte Maurice weiter.

»Sie hat sich doch ertränkt? Wissen Sie vielleicht warum?« Maurice Messer sah ihm voll ins Gesicht. Auch nicht das Zwinkern eines Augenlides verriet die Wut, die in ihm emporstieg.

»Das Gericht sagte …«, begann er.

»Ich weiß, was das Gericht sagte«, unterbrach ihn Johnny grob, »aber ich habe darüber meine eigene Ansicht.«

Er ging zum Rechtsanwalt hinüber und berührte leicht dessen Schulter, als wenn er jedem seiner Worte Nachdruck verleihen wollte.

»Mary Lenley ist nicht Gwenda Milton«, betonte er. »Sie ist nicht die Schwester eines flüchtigen Mörders, und ich erwarte für sie eine etwas bessere Behandlung, als sie Gwenda Milton von Ihnen erfahren hat.«

»Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte Messer.

»Ich glaube doch, dass Sie mich verstehen«, fuhr Johnny langsam ­nickend fort. »Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass etwas passieren wird, falls Mary etwas zustößt. Man sagt, dass Sie in dauernder Furcht vor dem Hexer leben – Sie würden mehr Grund haben, mich zu fürchten, wenn Mary ein Leid geschähe!«

Nur einen Augenblick senkte Maurice die Augen.

»Sie sind hysterisch, Johnny«, meinte er, »außerdem heute Morgen nicht besonders höflich. Vor einer Woche habe ich Sie, soweit ich mich erinnern kann, unreif genannt, und ich habe keine Veranlassung, dieses Wort zurückzunehmen. Wer soll Mary etwas zuleide tun? Und was den Hexer und seine Schwester anbetrifft, so sind sie tot!«

Er nahm die Perlen vom Tisch, öffnete die Schachtel wieder und war anscheinend vollständig in die Betrachtung der Perlen vertieft.

»Als Juwelendieb …«

Er kam nicht weiter, denn es klopfte leise an der Tür.

»Wer ist da?«, fragte er schnell.

»Bezirksinspektor Wembury!«

10

Maurice Messer warf die Perlen hastig in den Geldschrank. Obwohl der Rechtsanwalt eiserne Nerven hatte, war sein gelbliches Gesicht ganz weiß geworden, und tiefe Furchen kamen zum Vorschein. Auch sein Freund verriet Zeichen von Aufregung, als Alan eintrat. Johnny war der erste, der die Fassung wiedererlangte.

»Hallo, Wembury!«, sagte er mit einem gezwungenen Lachen. »Ich scheine überall auf Sie zu stoßen!«

»Ich hörte, dass Lenley hier ist«, bemerkte Alan, »und da ich ihn sprechen wollte …«

»Sie wollten mich sprechen?«, fragte Johnny, und sein Gesicht zuckte. »In welcher Angelegenheit denn?«

Wembury wusste genau, dass Messer ihn scharf beobachtete. Der schlaue Rechtsanwalt ließ sich keine Bewegung und keinen Blick entgehen. Was fürchten sie? Alan stand vor einem Rätsel, und sein Herz tat ihm weh, als er an den beiden vorbei sah und Mary, die von allem Bösen nichts wusste, an der Schreibmaschine erblickte.

»Sie kennen doch Lady Darnleigh?«, fragte er.

Johnny Lenley nickte schweigend.

»Vor einigen Wochen hat sie eine wertvolle Perlenkette verloren«, fuhr Alan fort, »und man hatte mir die Nachforschungen in der Sache übertragen.«

»Ihnen!«, rief Maurice Messer unwillkürlich aus.

Alan nickte.

»Ich dachte, Sie wüssten das, denn mein Name wurde in den Zeitungen erwähnt. Ich habe jetzt die Sache Inspector Burton übergeben und erhielt heute Morgen eine Mitteilung von ihm, worin er mich bat, einen Punkt aufzuklären, der ihm rätselhaft erschien.«

Mary war von der Schreibmaschine aufgestanden und herangetreten.

»Ein Punkt, der ihm rätselhaft erschien?«, wiederholte Johnny Lenley mechanisch. »Und was ist das?«

»Er wollte wissen, was Sie veranlasste, in Lady Darnleighs Zimmer zu gehen.«

»Ich glaube, ich habe schon die einzig richtige Aufklärung gegeben«, brauste Johnny auf.

»Sie hätten geglaubt, dass Sie Ihren Mantel und Hut im ersten Stock gelassen hatten. Er hat aber erfahren, dass ein Diener, als Sie hinaufgehen wollten, Ihnen gesagt hat, dass die Mäntel und Hüte im Erdgeschoss seien.«

»Dessen kann ich mich nicht erinnern«, erwiderte Johnny. »Mir war an dem Abend nicht ganz wohl. Ich kam auch sofort wieder herunter, als ich meinen Irrtum erkannt hatte. Wird etwa angenommen, dass ich etwas über den Diebstahl weiß?« Seine Stimme zitterte ein wenig.

»Eine derartige Vermutung ist von niemand ausgesprochen worden«, sagte Wembury lächelnd, »aber wir müssen versuchen, alle möglichen Informationen zu sammeln.«

»Ich wusste nichts über den Diebstahl, bis ich es in den Zeitungen gelesen hatte und …«

»O Johnny«, rief Mary, »du sagtest mir, als du nach Hause kamst, dass ein …«

Ihr Bruder starrte sie schweigend an.

»Wenn du dich richtig erinnern willst, meine Liebe, war es zwei Tage danach«, fuhr er ruhig und nachdrücklich fort. »Ich brachte dir die Zeitung und sagte, dass ein Diebstahl passiert sei. Ich hätte es dir gar nicht an demselben Abend mitteilen können, denn ich habe dich nicht gesehen.«

Marys Gesicht war farblos, und ihre Augen verrieten so großen Schmerz, dass Alan sie nicht anzuschauen wagte.

»Selbstverständlich erinnere ich mich, Johnny … ja, ich erinnere mich«, sagte sie. »Ich bin ganz dumm!«

Es folgte ein peinliches Schweigen.

Alan stand da, mit den Händen in den Rocktaschen und blickte auf den abgenutzten Teppich.

»Gut!«, rief er endlich. »Das wird hoffentlich Burton befriedigen. Es tut mir leid, dass ich Sie wegen dieser Sache gestört habe.«

Seine Augen schauten nicht Mary an, sondern waren auf Johnny gerichtet.

»Warum reisen Sie nicht ins Ausland, Lenley?« Er sprach gezwungen. »Sie sehen nicht so gut aus, wie Sie eigentlich sollten.«

»England ist für mich gut genug«, antwortete Johnny verdrießlich.

»Sind Sie der Familienarzt, Wembury?«

Alan schwieg.

»Ja«, sagte er endlich, »das würde mich ganz gut kennzeichnen«, und mit einem kurzen Nicken ging er.

Mary war an ihre Schreibmaschine zurückgegangen, arbeitete jedoch nicht. Maurice schloss hinter ihm ruhig die Tür.

»Ich nehme an, dass Sie verstanden haben, was Wembury meint?«