Egal war gestern - Jörg Isermeyer - E-Book

Egal war gestern E-Book

Jörg Isermeyer

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Beschreibung

Alle in der Schule kennen Finn und Lennard wegen der witzigen Videos, die sie auf ihrem Social-Media-Kanal posten. Die beiden checken akribisch ihre Clicks und Follower und träumen davon, berühmt zu werden. Alles läuft super, bis sie einen Deal mit Sam machen, einer Schülerin, deren Eltern aus Angola stammen. Der Plan, sich gegenseiteig zu pushen und die Reichweiten zu erhöhen, funktioniert sofort - doch ganz anders, als Finn es erwartet hat: Urplötzlich bricht ein Shitstorm über seinen Account herein. Hasskommentare statt Lach-Emojis. Einzig und allein, weil er Posts von Sam geliked hat. Gleichzeitig registriert Finns Vater, Lehrer an der Schule seines Sohnes, wie rassistische, antidemokratische Äußerungen salonfähig werden. Nicht nur im Klassenchat, auch in der Stadt, in der gerade ein rechtspopulistischer Kandidat für das Bürgeramt kandidiert. Als er die Situation in einem Brandbrief beklagt, steht er plötzlich selbst am Pranger. Und mit ihm Finn...

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Seitenzahl: 196

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Vorspann

Donnerstag, 26. September, nachmittags

Ich ordne die Szenen und Takes. Wie soll ich die Bilder zusammenschneiden? Natürlich so, dass sie einen reinziehen. Aber wie genau? Und warum ist mir das wichtig?

Weswegen mache ich das, was ich hier mache?

Vor einem halben Jahr war ich auch schon voll auf SoMe. Die neue Plattform, auf der alle waren, also alle in unserem Alter. Die Alten waren bei ihren alten Apps, und wir waren unter uns, zumindest halbwegs.

SoMe war meine Welt.

Okay, die Werbung nervte manchmal:

That’s SoMe – nirgendwo bist du so du!

Aber egal, damals drehte sich bei mir alles darum. Mit Lennard habe ich rumfantasiert, wie wir mit unseren Videos berühmt werden. Wie wir uns gegenseitig hochpushen, uns kommentieren, wie wir die ersten Anrufe von irgendwelchen Werbetypen kriegen und später bei Comedy-Shows auftreten, unsere eigene Sendung haben und so weiter …

Eigentlich war uns klar, dass das nichts wird. Ich meine, wie viele in unserm Alter wollen Profi-Fußballer werden – und wie viele werden es am Ende? Aber es hat Spaß gemacht. Das Filmen sowieso, aber auch das Rumspinnen. Und die meisten aus unserer Klasse haben sich die Clips angeguckt und gelikt. Wir waren zwar nicht die Stars der Schule, aber jeder wusste, dass es uns gab:

Finn & Lennard.

Lennard & Finn.

1 Ein halbes Jahr vorher – Montag, 18. März, erste Hofpause

»Und, wie viele Klicks hast du?«

Lennard ist schon bei unserem Stammplatz am Rand des Schulhofs und checkt seinen Kanal. Handys sind bei uns verboten, sogar in den Pausen, aber die Ecke hier an der Mauer ist halb hinter Büschen verborgen, da sieht uns keiner ‒ zumindest vom Eingangsbereich aus, wo die Aufsicht meist herumlungert. Im Sommer sowieso nicht, aber auch jetzt bieten die kahlen Zweige genug Schutz. Außerdem sind die Lehrer sowieso damit beschäftigt, sich um die Kleinen zu kümmern, dass die sich nicht prügeln und so. Jedenfalls können wir uns hier hinten um die wichtigen Dinge des Lebens kümmern. Also um die, die uns wichtig sind.

»Bei meinem neuen Clip?« Lennard grinst mich an. »235 Klicks. Und du hast …?«

»… 176.« Inzwischen habe ich mein Smartphone auch aus der Jacke rausgefriemelt. »Ist ja keine Kunst, dass du mehr hast. Wenn deine Eltern dich pushen.«

»Meine Eltern sind nur zwei.«

»… mit jeder Menge Freunde und Bekannte und Arbeitskollegen und …«

»Schon gut, ich hab’s begriffen.«

Er hebt abwehrend eine Hand und scrollt mit der anderen weiter durch seine neuesten Kommentare. Fröstelnd treten wir von einem Bein auf das andere, während wir mit unseren Daumen über die Displays wischen. Es ist saukalt, aber immerhin regnet es nicht ‒ und drinnen können wir viel leichter erwischt werden.

»Wieso bringst du nicht deine Eltern an den Start?«, fragt Lennard, ohne hochzugucken.

»Weil das total nach hinten losgehen kann. Du kennst doch meinen Vater. Dein Handy hatte er auch mal für eine Woche konfisziert.«

Mein Vater ist Lehrer, und zwar ausgerechnet an der Schule, auf die ich gehe. Gibt in unserer Kleinstadt eben nur die eine. Immerhin habe ich keinen Unterricht bei ihm. Aber Lennard geht in die Parallelklasse und hat bei meinem Vater Geo, der hat in der Hinsicht seine eigenen Erfahrungen.

»Ja, das war total ungerecht«, beschwert er sich, »der hat …«

»Quatsch. Du hast dich nur bescheuert angestellt. Mitten im Unterricht …«

Ich schüttele den Kopf und tue so, als würde ich meine Kommentare lesen. Dabei schiele ich auf seinen Bildschirm. Mist, er hat nicht nur mehr, sondern auch bessere ‒ auf jeden Fall welche mit mehr Text und dreimal so viel Lach-Emojis.

»Und deine Mutter?«

»Wenn’s um mich und meinen ›Medienkonsum‹ geht, sind die eigentlich immer einer Meinung.«

Ich seufze und stecke mein Handy weg. Eltern müssen nicht unbedingt wissen, womit man seine Zeit verbringt. Meistens finden meine es zwar gut, wenn ich »kreativ« bin. Aber dass ich den halben Tag am Handy hänge, sehen sie weniger gern. Und deswegen … na ja, ich würde nicht sagen, dass ich ihnen meine Leidenschaft verheimliche. Aber erzählt habe ich es ihnen auch nicht.

»Die wissen nicht mal, dass ich einen eigenen Account habe«, sage ich. »Und selbst wenn sie mir das nicht verbieten würden ‒ die sind weder auf SoMe noch auf irgendeinem anderen Portal unterwegs. Die benutzen ihr Handy wirklich nur zum Telefonieren.«

Lennard lacht. »Voll Steinzeit!« Dann hält er mir sein Smartphone vor die Nase. »Kennst du den schon?«

Ich sehe einen Dackel, der mit seiner Pfote Hundebilder auf einem Handy runterscrollt. Voll konzentriert. Schon witzig, obwohl ich den Clip nicht Hundeporno genannt hätte.

Dann fällt mein Blick auf die Klickzahlen.

»Nee …«, stöhne ich. »Und wir sind froh, wenn wir dreistellig werden.«

»Vielleicht solltest du mal was mit Fred machen?«, schlägt Lennard vor.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Ich will Comedy-Star werden, kein Hundedompteur.«

»Kannst es ja mit beidem versuchen.«

Lennard hat sein Gerät wieder selbst vor der Nase und ist schon beim nächsten oder übernächsten Video, als hinter uns eine Stimme ertönt.

»Handys sind auf dem Schulgelände verboten!«

Vor Schreck glitscht ihm das Ding fast aus den Fingern. Schuldbewusst drehen wir uns um. Meins ist sicher in der Jacken­tasche verstaut, aber Lennard sieht sein Heiligtum schon für die nächsten Tage im Lehrerzimmer verschwinden ‒ zumindest so lange, bis seine Eltern Zeit finden, es dort abzuholen.

»Ich wollte nur …«, fängt er an.

Aber mehr als diesen Standard-Ausrede-Anfang muss er sich nicht aus den Hirnwindungen leiern. Vor uns steht Sam ‒ mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen, das ein paar von den älteren Jungs bestimmt umhauen würde.

»Wie wär’s mit einem Deal?«, fragt sie.

Sam heißt eigentlich Zamara, aber alle nennen sie Sam. Ihre Eltern kommen irgendwo aus Afrika. Angola, glaube ich. Vielleicht waren das aber auch die Großeltern, jedenfalls ist sie einen Jahrgang über uns und mit ihren Geschwistern das schwärzeste Mädchen, das unsere Schule zu bieten hat. Das finden einige aus ihrem Jahrgang cool – zumindest den Sprüchen nach, die ich beim Training höre. Okay, es gibt auf dem Schulhof auch andere Sprüche über sie, die nicht so cool sind, aber egal.

»Was für einen Deal?«, frage ich.

Lennard muss sich erst noch von seinem Schreck erholen. Statt einer Antwort zaubert Sam ihr Handy aus ihrer Daunenjacke hervor, tippt darauf herum und hält es mir vor die Nase.

»Das bist du, oder?«

Ich sehe mich mit Brille, Gel in den Haaren und der Aktentasche meines Vaters, wie ich – Cut ‒ meinem völlig überfordertem Schüler-Ich – Cut ‒ die Welt erkläre. Oder zumindest das Einmaleins.

»Schlau erkannt«, lobe ich sie.

»Und das bist du!«, sagt sie und hält Lennard das Telefon hin.

Ich erkenne ihn im pinken Trainingsanzug seiner Mutter und mit Handtuch über dem Kopf, eine seiner Lieblingsfiguren.

Lennard nickt nur.

»Gar nicht so übel.« Sie macht ein anerkennendes Gesicht, meint es aber wohl halb ironisch . »Könnte ich direkt liken.«

»Und warum tust du es nicht?«, frage ich.

Sie tippt kurz auf ihrem Smartphone herum und hält es uns erneut hin.

»Darum«, sagt sie.

Diesmal sehe ich Sam. Sam in neongrünen Sportklamotten, wie sie tanzt. Das heißt, eigentlich ist es eine Mischung aus Musik, Rhythmus und Karate-Moves, wild, kämpferisch und trotzdem … na ja … »elegant« ist vielleicht nicht das richtige Wort. Auf jeden Fall ist es nicht das übliche Playback-Getue, Rumgewackel und Augengeplinker, von dem sonst das Netz voll ist. Ich gucke vielleicht etwas zu lange auf das Display, jedenfalls ist der Clip noch nicht vorbei, als sie ihr Handy wegsteckt.

»Gibt nichts geschenkt auf der Welt«, sagt sie und guckt uns herausfordernd an. »Also, wie ist es mit einem Deal?«

Freundschaft beruht auf Gegenseitigkeit. Das ist im Netz genauso wie im Rest der Welt. Deshalb haben wir den Deal gemacht. Dabei geht’s nicht um diesen einzelnen Klick, sondern darum, dass wir uns gegenseitig pushen. Also aktiv für den anderen Werbung machen, ihn verlinken … so in der Art: »Hey, kennt ihr das schon?«

Und da Sam in einem anderen Jahrgang ist und sich auch auf SoMe in einer anderen Blase bewegt, haben wir bisher wenig Überschneidung.

Aber das lässt sich ja ändern.

Mit dem Deal.

2 Donnerstag, 21. März,ungefähr 19 Uhr

»Du machst doch nicht mit bei diesen Sachen, oder?«

»Was?«

Mein Kopf ist wieder mal woanders, jedenfalls nicht bei meinen Eltern am Abendbrottisch. Der bietet auch nichts Besonderes: Brot, Butter, Käse und einen Salat mit Tomaten und Gurke … und leider ohne Schafskäse, sonst wäre er wenigstens halbwegs annehmbar.

»Habe ich gerade erzählt.« Mein Vater verdreht die Augen. »Kriegst du gar nichts mit?«

»Was denn?«

Statt einer Antwort zieht er sein Handy raus und öffnet eine Fotodatei.

»Davon. Und davon. Und davon.«

Die Fotos sind Screenshots. Wenn ich das auf die Schnelle richtig erkenne, irgendwas mit Hakenkreuzen und anderem Nazikram: Hitlerbildchen mit Sprechblasen … Comics und Fotos mit Texten in dieser Schrift, die Leute benutzen, wenn sie einen auf hart machen wollen … Witze über Ausländer und Juden …

»Das ist aus dem Klassenchat der 10 b«, erklärt mir mein Vater. »Hat mir eine Schülerin weitergeleitet. Erst hat sie im Chat direkt darauf geantwortet ‒ also, dass sie das überhaupt nicht lustig findet, sondern menschenverachtend. Da hat sie ordentlich Gegenwind bekommen.«

Er scrollt weiter durch die Fotos.

»Ob sie keinen Spaß verstehe. Ob sie so eine ›links-grün-versiffte Ökotussi‹ sei ‒ und noch ein paar heftigere Sachen. Da hat sie die Klappe gehalten.«

Es geht weiter und weiter. Die Datei scheint ziemlich groß zu sein.

»Sie hat gedacht, das ist vielleicht eine Phase und bald vorbei. Aber es ist immer mehr geworden. Und gestern ist sie damit zu mir gekommen.«

»Wieso zu dir?« Verwundert schaue ich ihn an. »Du bist doch gar nicht ihr Klassenlehrer.«

»Na ja, sagen wir mal so …« Mein Vater seufzt und schließt die Datei. »Ich habe wohl einen gewissen Ruf an unserer Schule.«

Er steckt das Handy weg und starrt auf den Tisch. In dem dunkelblauen Pullover und mit seiner kantigen Brille, ohne die er fast blind ist, sieht er aus wie der langweiligste Standard-Lehrer aus irgendeiner Schulkomödie. Dass er nicht der Sportlichste ist und man ihm das sogar ansieht, kommt erschwerend hinzu. Aber dass er einen gewissen Ruf hat, kann ich bestätigen. Wobei es da weniger um sein Engagement geht ‒ sondern darum, dass er ziemlich streng sein kann, wenn man ihm zu sehr auf die Nerven geht. Ansonsten (oder vielleicht auch deswegen) ist er relativ beliebt bei den Schülern.

Und diese Bilder scheinen ihn zu nerven …

Was ich nur so halb nachvollziehen kann. Einerseits sind die in der Masse schon heftig, andererseits sehe ich ein paar davon nicht zum ersten Mal. Auch bei uns geht jede Menge Scheiß rum. Vieles so nach dem Motto »Boah, kennst du das schon?« und »voll krass« … Man zeigt sich das Zeug vor allem, weil es das gibt. Gar nicht, weil man es gut findet.

»Und?« Meine Mutter sieht mich fragend an.

»Was und?«

Ich habe komplett den Faden verloren.

»Na, Papa hat gefragt, ob du da auch …«

Sie lässt die Frage in der Luft hängen. Das macht sie gerne. Überhaupt ist sie in vielem der totale Gegensatz zu meinem Vater. Klein und schlank und von den Klamotten her eher wie die Computer-Nerds aus irgendwelchen Serien. Vor allem ist sie immer noch am Abwägen, wo er eine klare Meinung hat. Wo er ein Ziel vor Augen hat, ist sie immer noch am Suchen. Und wo er meine Zockzeit einfach beendet, kann ich mit ihr immer noch verhandeln.

Ich schüttele den Kopf. »Nee, ich doch nicht.«

»Und bei euch in der Klasse? Gibt’s da so …?«

Anscheinend weiß sie nicht, wie sie es nennen soll. Oder sie möchte das Wort nicht in den Mund nehmen. Jedenfalls beendet sie den Satz wieder nicht.

»Nee, bei uns geht’s eher um Hausaufgaben und so«, druckse ich herum. »Also nicht nur, aber … so was jedenfalls nicht.«

Mein Vater löst sich aus seiner Erstarrung und sieht mich an.

»Aber was Ähnliches?«

Sofort gehe ich in Angriffshaltung über. Das passiert mir in letzter Zeit öfter, wenn wir über die Schule reden. Und ich kenne diesen Blick. So sieht er mich an, wenn er mich aus der Reserve locken will. Weil er etwas ahnt oder sogar etwas weiß. Etwas, das ich vielleicht selbst gar nicht klar hab, aber das mir trotzdem ein schlechtes Gewissen macht. Und auf jeden Fall etwas, was ich ihm nicht sagen will. Und dabei habe ich nicht mal was, was ich vor ihm verbergen will. Also … jedenfalls nicht wirklich.

»Willst du jetzt meinen Klassenchat kontrollieren, oder was?«

Er hält den Blick noch eine Weile aufrecht, dann seufzt er und greift nach der Salatschüssel.

»War nur eine Frage.«

Ich habe noch genug Grünzeug auf dem Teller. Konzen­triert stochere ich darin herum. Mein Klassenchat ist mir dabei herzlich egal – aber Kontrolle von Eltern ist niemals gut.

Obwohl ich mit meinen eigentlich gut klarkomme.

3 Samstag, 23. März,nachmittags

»Tag, Herr Hilken, ist Lennard da?«

Natürlich weiß ich, dass Lennard da ist. Es ist nicht nur Wochenende und außerdem der erste Tag der Osterferien ‒ wir haben uns vor allem gerade erst geschrieben. Aber die Frage ist noch aus unserer Sandkasten-Zeit hängen geblieben.

»Klar, komm rein.« Lennards Vater tritt einen Schritt zurück und winkt mich ins Haus. »Er ist oben, hat schon meinen halben Klamottenschrank ausprobiert.«

Ich trete meine Schuhe ab, hänge meine nasse Regenjacke an die Garderobe, drücke mich an ihm vorbei und steige die Treppe hoch. Im Gegensatz zu meinen Eltern weiß hier jeder, was wir beide machen. Hängt wohl auch damit zusammen, dass man Lennards Eltern selbst kaum ohne ihre Handys sieht. Die sind fast schon an ihnen festgewachsen. Sie sind zwar mehr auf anderen Plattformen unterwegs ‒ SoMe ist ja eher was für Jüngere ‒, aber allein wegen den Clips von ihrem Sohn tummeln sie sich da genauso und sind fleißig am Liken und Kommentieren. Ich bekomme jedenfalls regelmäßig mehrere Zeilen mit Emojis als Kommentar auf meine Clips.

Darum treffen wir uns auch immer hier, wenn wir was gemeinsam drehen wollen. Meist bastelt jeder an seinen eigenen Filmen herum, aber ab und zu hat einer von uns eine Idee für ein Duo – und dann gibt es einen Special-Guest-Auftritt.

Lennard wartet oben am Treppenabsatz auf mich. Betont lässig gegen die Wand gelehnt, hebt er einen Finger zum Gruß.

»Ciao, Bello! Bereit für DER AUFTRAG?!«

Mit seiner angesagten Kurzhaar-Frisur und im Anzug seines Vaters und vor allem mit der Sonnenbrille sieht er aus wie ein cooler Security-Typ. Oder wie ein Mafioso … also genau das, was wir brauchen.

Bei mir wird das schwieriger. Ich bin zwar ein halbes Jahr älter als Lennard, aber er ist einen ganzen Kopf größer. Deswegen kann er den Anzug seines Vaters beinahe ausfüllen, obwohl der breitere Schultern und vor allem mehr Bauch hat. Ich dagegen werde in den Klamotten versinken. Aber das ist ja der Plan – schließlich machen wir Comedy. Und dafür ist es ideal, dass wir so unterschiedlich aussehen. Er groß und dunkelhaarig, ich klein und straßenköterblond. Und so was wie eine echte Frisur habe ich auch nicht, bei mir schneidet meine Mutter die Haare.

Na ja, Comedians im Doppelpack sehen selten gleich aus.

Lennard hat für mich einen fast identischen Anzug rausgesucht, samt Schlips und weißem Hemd. Sein Vater ist Bestatter, deswegen hat er genug davon im Schrank hängen. Die Sonnenbrille habe ich selbst mitgebracht. Einen kleinen Vorrat an Kostümen und Requisiten haben wir mittlerweile beide, das meiste vom Flohmarkt. Aber natürlich sind die Bestände unserer Eltern unser bester Fundus.

Erst verziehen wir uns in sein Zimmer, proben unsere Sätze und Gesten, sprechen die letzten Details ab. Dann gehen wir nach unten an die Haustür. Das ist unser Drehort. Zum Glück hat das Haus ein Vordach, sonst würden wir bei dem Wetter ordentlich nass werden. So bilden die Regenfäden den passenden Hintergrund. Lennard spielt im Wechsel Mafioso 1 und die Frau unseres »Opfers«, ich Mafioso 2 und den Mann in Trainingshose. Eine Stunde später haben wir alle Szenen im Kasten.

Noch eine halbe Stunde später ist das Video fertig geschnitten.

DER AUFTRAG

Mafioso 1: Sagen wir noch was?

Mafioso 2: Hat der Boss nichts von gesagt.

Mafioso 1: Also dann … kurz und schmerzlos?

Mafioso 2: [nickt]

Mafioso 1: [klingelt]

Mann in Trainingshose:[öffnet] Ja bitte!

Mafiosi 1 und 2: Luigi schickt uns. [fassen in ihre Jacketts]

Trainingshose: [sinkt auf die Knie] Bitte! Bitte! Bitte nicht! Ich habe doch Frau und Kinder …

Frau: [kommt dazu] Schatz? Was ist denn?

Trainingshose: Ihr könnt doch nicht … das könnt ihr nicht machen!

Mafioso 2: Befehl ist Befehl!

Trainingshose: Nein, das lasse ich nicht zu. Ihr verdammten Schweine … ihr … dann mache ich es selbst! [zieht eine Pistole, stürmt weg, Schüsse]

Frau: Schatz? Was tust du?

Trainingshose: [kommt zurück, erschießt die Frau, dann sich selbst]

Mafioso 1: Und jetzt? Ziehen wir's durch?

Mafioso 2: [zuckt die Schultern] Befehl ist Befehl!

Mafiosi 1 und 2: [holen Zettel aus den Jacketts, falten sie auseinander und singen vom Blatt]

Happy birthday to you, happy birthday to you …

Lennard lädt den neuen Clip gleich hoch. Der erste Kommentar lässt nicht lange auf sich warten.

Natürlich ist er von seinem Vater.

Das gibt Arbeit für den Bestatter.

5 Montag, 8. April,vormittags

»Cool, oder?«

Es ist Pause, die erste Hofpause nach den Ferien, und die Sonne knallt, als wäre Hochsommer. Wir haben wieder unseren Platz hinter den Büschen bezogen, die mit ihren sprießenden Blättern einen immer besseren Sichtschutz bilden, und daddeln auf unseren Handys herum. Lennard hat über die Ferien einen neuen »Kollegen« entdeckt, der so ähnliches Zeug macht wie wir, allerdings mit Tanz und Musik gemixt. Und der außerdem schon viel weiter ist, bekannter und so. Die großen Namen kenne ich natürlich, auch auf den anderen Plattformen, das geht schnell. Aber immer taucht was Neues auf, ein neuer Stil, ein neues Gesicht, ein neues Format, neue Ideen …

»Echt cool«, stimme ich ihm zu. »Vielleicht sollten wir auch was in der Richtung machen?«

»Ich werde nicht so mit den Hüften wackeln.« Lennard grinst mich an. »Aber wenn du das machen willst …«

Er versucht ein paar Moves, was alles andere als gut aussieht. Das macht er natürlich extra ‒ weil er mir sagen will, dass ich nicht tanzen kann.

»Besser als du krieg ich das locker hin«, halte ich dagegen, »aber wir müssen ja nicht selbst tanzen. Wozu haben wir einen Deal?«

»Du meinst, wir sollten Sam fragen?«

»Sie hat uns gefragt, jetzt können wir sie fragen. Und ein Trio wäre mal was Neues.«

Wie von selbst wandern unsere Blicke über den Schulhof. Seit unserer Abmachung haben wir nicht mehr mit ihr geredet. Zum einen wegen der Ferien, außerdem ist es bei uns nicht üblich, dass sich die Jahrgänge mischen. Die meisten hängen in den Pausen mit ihresgleichen ab. Nichts Besonderes also – und es geht ja umSoMe, nicht um echte Freundschaft.

»Ich weiß nicht …« Lennard verzieht das Gesicht. »Das geht mir zu schnell. Außerdem sind wir für die doch voll die Babys.«

»Fragen kostet nichts«, zitiere ich meinen Vater.

»… nur Überwindung«, ergänzt Lennard, der den Spruch ebenfalls kennt.

Jetzt sehe ich Sam. Sie steht am anderen Ende vom Schulhof, mit ein paar Mädchen aus ihrem Jahrgang. Alle in bunten T-Shirts und wild am Rumalbern, als würde die Sonne ihren Motor anschmeißen. Keine Ahnung, ob sie meinen Blick spürt, jedenfalls guckt sie plötzlich in meine Richtung. Aber kein Winken kommt.

Kein Zeichen, nichts.

Ich mache auch nichts. Nur unsere Blicke kreuzen sich. Dann dreht sie sich wieder zu ihrer Gruppe.

Ich wende mich Lennard zu, suche nach einem Spruch. Irgendwas, um nicht in Aktion treten zu müssen … da ertönt der Pausengong.

»Na, hat auch Zeit bis morgen«, murmele ich.

Widerwillig stecken wir unsere Handys weg und bummeln in Richtung Schulgebäude. Im Eingangsbereich staut sich die Menge. Kein Wunder, dass es etwas drängelig wird. Direkt vor mir schiebt sich die Gruppe um Sam nach drinnen, fast gleichzeitig mit ein paar Jungs aus dem zehnten Jahrgang. Plötzlich schubst einer in schwarzer Trainingsjacke sie unsanft zur Seite.

»Hey, Sklaven hinten anstellen!«, ruft er.

So laut, dass es alle hören können. Beifall heischend sieht sich der Typ um. Das schadenfrohe Lachen seiner Freunde bleibt nicht aus.

Der ganze Pulk ist zum Stillstand gekommen. Sam hat sich nach dem Angreifer umgedreht und die Fäuste geballt. Ich erwarte schon, dass sie einen ihrer Karate-Moves macht, aber stattdessen entspannt sie sich, tritt einen Schritt zurück und lässt ihm mit einer einladenden Geste den Vortritt.

»Bitte sehr. Wenn du es nicht abwarten kannst, deinem Lehrer in den Arsch zu kriechen.«

Die ganze Überheblichkeit des Jungen sackt in sich zusammen.

»Ich kriech niemandem in den Arsch!«, faucht er.

»Ach, und weswegen hast du es so eilig?« Spöttisch lächelt sie ihn an. »Deutsche Pünktlichkeit, oder was?«