Ein bezahlter Mann - Elke Krug - E-Book

Ein bezahlter Mann E-Book

Elke Krug

4,7

Beschreibung

SMS an den Leser: Nie, auch nicht in meinen kühnsten Träumen, hätte ich gedacht, dass mir, einer erfahrenen, lebensgewandten Mittvierzigerin, so etwas passieren könnte. Seitensprung und Gefühlschaos! Das ist doch das Terrain, in dem sich ausschließlich meine Freundin bewegt. Aber doch nicht ich!!! Mein friedlicher Alltagstrott hat bisher auch noch nichts von einer leicht kriminellen Energie meinerseits erahnen lassen. Was für ein Desaster!!! Ihr müsst das einfach selbst lesen! Liebe Grüße Lilly

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Elke Krug wurde 1959 im Chiemgau geboren. Sie studierte in München Betriebswirtschaft, um anschließend im Bereich Marketing zu arbeiten.

Ihren ersten Roman, „… schwanger sein dagegen sehr“, schrieb sie bei einem dreijährigen Auslandsaufenthalt mit ihrer Familie in New York. Er wurde 2004 beim Westkreuz-Verlag verlegt.

Seit 20 Jahren lebt sie in einem Münchner Vorort und arbeitet u.a. als freie Autorin.

Inhaltsverzeichnis

März

April

Mai

Juni

Juli

U-Bahnfahren am frühen Morgen bedeutet viele müde Gesichter mit unfreundlichen Mienen, die im besten Fall hinter der Morgenzeitung versteckt werden. Die Schlagzeilen verbessern die Stimmung auch nicht gerade: ein Unwetter hat ganze Landstriche zerstört, eine Wahl wurde von den falschen Personen gewonnen, ein Krieg hat immer noch kein Ende gefunden. Manchmal weiß ich einfach nicht, ob ich lieber die Zähne im vor Gähnen weit geöffneten Mund meines Gegenübers zählen soll, oder die Schuppen auf dem Mantel meiner Sitznachbarin. Ich entscheide mich dafür, die Augen zu schließen und noch ein wenig zu dösen.

Tag für Tag für Tag.

MÄRZ

Freitagmorgen. Die üblichen U-Bahngesichter. Manche wirken freundlicher, als sonst, weil das Wochenende naht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich darüber freuen soll, dass Freitag ist. Morgen will ich mit meiner pubertären, zurzeit im Selbstmitleid versinkenden Tochter zum Shoppen gehen. Juhu. Vielleicht geht heute Abend die Welt unter und mir bleibt somit Schlimmeres erspart. Ihr Geschmack gleicht im Moment dem eines achtzigjährigen Hippies und ihre Geduld der, eines zehnjährigen Mädchens am Weihnachtstag. Ich hingegen halte mich dann nur mit regelmäßigen Pausen in irgendwelchen Coffee-Shops über Wasser. Die Folge: eine durch fünf Tassen Kaffee gedopte und deshalb zittrige Mittvierzigerin sitzt schwitzend auf irgendeinem Hocker vor irgendeiner Umkleidekabine, begraben unter tausend Tüten, um an dem Untergang jeglichen Geschmacks, den sie ihrer heranwachsenden Tochter über die Jahre hinweg hingebungsvoll vermittelt hatte, langsam und leidvoll zu verzweifeln….

Ich befürchte allerdings, die Welt wird mir nicht den Gefallen tun, heute Abend noch unterzugehen.

Zu meinem großen Leidwesen wird sich das Wochenende danach auch nicht wirklich erfreulich weiterentwickeln, um die Last der Woche etwas auszugleichen. Nein, es wird sich vielmehr mit der Grausamkeit eines Dämons in der Form meines langjährigen Lebensgefährten auf mich stürzen, um mich im Dschungel seiner Verwandtschaft zu begraben. Ansonsten wartet an diesem Wochenende nichts weiter auf mich, als die ständige Ahnung, welche fast jeden braven Arbeitnehmer am Samstag und Sonntag begleitet, nämlich, dass es viel zu schnell vorbei sein wird und der Tatort am Sonntagabend gnadenlos das kriminelle Vorspiel einer neuen Woche bedeutet.

Ich gehöre nämlich der "Generation Tatort" an und bin stolz darauf. Diese Generation zeichnet sich dadurch aus, dass die Kinderjahre geprägt waren von Sonntagabenden, an denen man überpünktlich im Bett sein musste, um auf keinen Fall den Anblick eines Mordes in die Träume mitzunehmen. Deshalb musste man sich, als Kind dieser Generation geschickt auf einer Treppe, in einem Flur, auf einer Toilette oder sonst einem Platz verstecken, von dem aus man einen kleinen, eingeschränkten Blick auf den Fernseher wagen konnte, um anschließend dann entsetzlich schlecht zu träumen. Diese vielen verpassten Ermittlungen kriminaltechnischer Art zwingen uns dazu, am Sonntagabend zuhause zu bleiben, um jeden Tatort von Anfang bis Ende zu genießen, um ihn dann am nächsten Tag mit Freunden, Kollegen, Fremden in der U-Bahn etc. zerreißen zu können.

Normalerweise freue ich mich nicht allzu sehr auf den Sonntagabend (trotz Tatort), da dieser das gnadenlose Ende von zwei vermeintlich freien Tagen bedeutet.

Dieses Mal jedoch, kann ich es schon am Freitag kaum erwarten, dass es Sonntagabend wird.

Langsam wird es Zeit für mich, meine Augen zu öffnen. Die betörende Duftwolke verrät mir, dass die Dame mit dem pinkfarbenen Mantel immer noch neben mir sitzt. Der Mann gegenüber grinst mir zu. Nerv! Was soll das? So etwas verunsichert mich total. Ich hätte doch noch einmal in den Spiegel schauen sollen, bevor ich das Haus verließ. Bestimmt habe ich etwas Komisches im Gesicht. Jung ist der, mindestens zehn bis fünfzehn Jahre jünger als ich. Der lacht mich aus! Der lacht mich aus, weil ich schon so alt bin oder mich zu jugendlich kleide oder meine Haare zu rot färben lasse. Ich weiß es einfach nicht, warum. Leichte Hysterie macht sich in mir breit, die gerne meine neurotische Ader immer wieder voll zur Geltung bringt. Die pinkfarbene Dame neben mir beginnt zu schnarchen. Ein Grund mehr für den Grinser gegenüber, mich wieder anzulächeln. Er tut so, als wären wir langjährige Verbündete, die sich ohne Worte verstehen. Hätte ich nur nicht meine Augen so früh geöffnet. Ich bin froh, dass ich bei der nächsten Haltestelle aussteigen muss. Ich erhebe mich von meinem Sitzplatz, ohne den Grinser noch eines Blickes zu würdigen. Auf dem Bahnsteig habe ich ihn schon vergessen. Ob die Pinkfarbene wohl ihre Haltestelle verschläft?

Meine Arbeitsstelle ist nur fünf ‚flache-Schuhe-Minuten‘ oder zehn ‚hochhackige-Schuhe-Minuten‘ entfernt. Soll ich mir noch was Süßes kaufen? Vor dem Kiosk steht eine ziemlich dicke Frau. Ok. Ich kaufe mir lieber doch keine Schokolade, nur eine Zeitung. Wie immer lasse ich mich auch in diesem Fall sehr schnell beeinflussen. Meinen Lebensgefährten (wie man so schön sagt) nervt das ziemlich, aber er sagt es nicht, weil er mich nicht kränken will. Er heißt Norbert und ist ein ganz lieber.

Stellt euch vor, seine Eltern nannten ihn immer Norbi. Gott sei Dank muss ich ihn nicht so nennen. Beim Sex beispielsweise, ja Norbi, gut Norbi, zeig’s mir Norbi.... Entsetzlich. Ja, richtig gelesen, wir haben trotz unserer langen Beziehungszeit, entgegen jeglichem Klischee, immer noch Sex, guten Sex. Norbert sieht auch immer noch top aus, er hat sich sehr passabel gehalten. Besser, als ich, befürchte ich. Neurose Neurose Neurose.

Norbert ist eigentlich noch ein Relikt aus meiner Ehe mit Robert. Nicht, dass er ein Freund von Robert war, er war vielmehr ein Freund von einem Freund eines Freundes. Ich hatte ihn nur einmal während unserer Ehe auf einer Geburtstagsfeier gesehen und circa drei Worte mit ihm gewechselt. Erst viel später während unseres Scheidungsdramas, erster oder zweiter Akt, ich weiß das nicht mehr so genau, habe ich Norbert zufällig wiedergetroffen und die ersten zarten Bande geknüpft. Inzwischen sind wir ein altes, nicht verehelichtes Paar. Punkt.

An und für sich sollte ich mich nicht über den Namen Norbert lustig machen. Meiner ist auch nicht besser. Lilly. Wer nannte seine Tochter in den Sechzigern schon Lilly? Kein Mensch, nur meine lieben Eltern. Klasse und danke Lale Anderson. Kennt heute kaum noch jemand. Tipp: googelt doch mal, dann wisst ihr, was ich meine. Heute heißen ja wieder einige kleine Mädchen Lilly, aber zu meiner Zeit war das nicht üblich. Habe ich mir zumindest voller Verzweiflung und mit großem Unmut gegenüber meinen Eltern eingeredet. Eigentlich ist das nur von Vorteil, dass Norbert und ich nie geheiratet haben. Willst du Norbi, Lilly zu deiner Frau nehmen? Nein, geht gar nicht.

Vielleicht hätte ich mir doch Schokolade kaufen sollen. Zurzeit weiß ich einfach nie, was ich will. Nun werde ich den Freitag ohne mein Doping schaffen müssen. Dann mal los.

Auf dem Heimweg treffe ich kurz vor der rettenden heimischen Wohnung meine Lieblingsnachbarfeindin. Mist. Ob ich auch immer das Gestöhne aus der Wohnung unserer neuen Nachbarin hören würde und ob ich schon deren Liebhaber gesehen hätte. Nein, hätte ich nicht und außerdem sei ich schwerhörig, ob man ihr das nie gesagt hätte, deshalb könne ich mich auch nicht länger mit ihr unterhalten. Beleidigt wendet sie sich von mir ab. Ich war wohl doch zu direkt mit meiner offensichtlichen Notlüge. Egal.

Norbert ist noch nicht zuhause. Seit drei Jahren wohnen wir zusammen. Ist okay. Alex, meine Tochter, ist auch nicht da. Habe ich auch gar nicht erwartet. Ich freu mich. Ruhe Ruhe Ruhe.

Wie könnte ich mein Alleinsein in der Wohnung nutzen? Da gibt es gar viele Möglichkeiten. Angefangen beim Einräumen der Spülmaschine, über das Ausräumen des Trockners bis hin zum Durchdrehen beim Anblick vom Zimmer meiner Tochter. Mein Gott, früher war es mal ein Zimmer mit bunten fröhlichen Wänden, einem Kuschelbett mit vielen Kuscheltieren, Puppen und Puppenhäusern. Dinge, die jede Mama gern im Zimmer ihres kleinen Mädchens sieht. Vielleicht ein Grund dafür, dass Sechzehnjährige ihr Zimmer bis zur Unkenntlichkeit vergammeln lassen, damit ebendiese Mamas sich nicht dauernd im Zimmer der geliebten Tochter aufhalten möchten.

Ich bin müde, fast erschöpft, muss ich leider feststellen. Zudem habe ich wieder das flaue Gefühl im Magen, das mich immer wieder einmal beschleicht, wenn Norbert sich verspätet. Er hatte mich vor ein paar Jahren betrogen. Das klingt sehr nüchtern, ist es aber nicht. Es hatte mich fast zerstört und ein kleiner Teil meiner Seele ist immer noch kaputt. Ehrlich gesagt, befürchte ich, wird das auch nicht mehr ganz heilen. Ich will jetzt nicht darüber nachdenken. Ich will eigentlich nie mehr darüber nachdenken.

Ich sollte mir lieber Gedanken darüber machen, wie ich aus dem unerfreulichen Wochenende, das unnachgiebig auf mich lauert, doch noch einigermaßen erträgliche Tage machen könnte. Praktisch veranlagt, wie ich bin, überlege ich mir ganz schnell, wie ich zumindest den morgigen Abend so gestalten könnte, damit ich mich darauf freuen und somit den Einkaufstag mit meiner süßen Tochter leichter und gut gelaunt überstehen kann (für den Sonntag brauche ich etwas derartiges gar nicht erst ins Auge fassen, der Tag ist sowieso hin und nur mit viel Alkohol zu überstehen).

Also dann nochmal zurück zum morgigen Abend:

Möglichkeit eins: Lecker Essen und Sex und Kuscheln mit Lebensgefährten - geht nicht, da Lebensgefährte mit Freunden beim Kartenspielen ist.

Möglichkeit zwei: Kino und Cocktails mit Freundinnen - geht nicht, da Freundinnen einen auf Familie machen.

Möglichkeit drei: ü40-Party (grausam) mit anderen Freundinnen (man hat ja mehr) - geht nicht, da die eine in einer Affäre steckt und der Typ nur morgen Abend Zeit hat.

Während ich also so nachdenke, meine Optionen abwäge und merke, wie mir die guten Ideen langsam ausgehen, ruft besagte Affären-Freundin an. Sie will sich bei mir auszuheulen, weil das Samstagabend-Date nun doch ins Wasser fällt. Sie tut mir leid, allerdings muss ich ihr zum hundertsten Mal sagen, dass ihr Lover ein vollkommener Idiot ist und zudem ein Loser (was ich so aus ihren Erzählungen betreff Sex entnehmen kann). Sie ist am Boden zerstört und ganz uneigennützig schlage ich ihr vor, den Samstagabend mit mir und meinem Einkaufskater zu verbringen. Sie zögert noch, willigt aber zu guter Letzt doch ein. Juhu!

Samstagmorgen, neuer Tag, neues Glück. Ich frühstücke für mein Leben gern. Norbert ist so eher der Nichtfrühstücker, sitzt aber immer brav mit mir am Tisch, schlürft seinen Kaffee und knabbert ein bisschen an einer Semmel herum. Das finde ich nett. Er macht das schließlich seit Jahren für mich. Ich versuche künstlich das Frühstück zu verlängern, aber irgendwann kann auch ich nichts mehr essen und muss mich dem Unvermeidlichen stellen. Ich muss meine Tochter wecken, damit wir uns noch vor Ladenschluss in den Einkaufstrubel stürzen können. Es klappt. Sie ist überraschend fröhlich und ich bin vorsichtshalber erst einmal sehr misstrauisch. Völlig unbegründet, sie ist echt gut gelaunt und der Einkaufswahnsinn hält sich in Grenzen.

Das wiederum macht mir Laune und ich bin bestens aufgelegt, als ich am Abend meiner Affären-Freundin Melli und einem Mai-Tai gegenüber sitze. Eigentlich heißt sie Melinda, aber auch sie liebt ihren Namen nicht wirklich. Wir kennen uns schon ewig. Ich war sogar vor fast 20 Jahren ihre Trauzeugin und bereue das seit 19 Jahren. Seitdem ist ihre Ehe nämlich ein tiefes schwarzes Loch, in dem abwechselnd sie oder ihr Gatte diverse Affären versenken und dort begraben. Ich mag sie wahnsinnig gern, aber sie ist eine Chaotin vom Feinsten. Scheidung kommt nicht in Frage (warum auch immer, es gibt keine Antwort darauf) und ihre außerehelichen Versuche enden ausnahmslos im Desaster. So gibt es auch heute Abend wieder viel über ihre neue Eroberung, dem Sex-Loser, zu berichten. Mich beunruhigt es ein wenig, dass sie dieses Mal anscheinend verliebt ist. Ausgerechnet in diesen wirklich unattraktiven Nichtsnutz. Wo die Liebe hinfällt…

Den Sonntag erspare ich euch. Die Familie ist einfach nur verrückt. Die Brüder von Norbert sind, jeder auf seine Art, unerträglich und die Schwester noch unerträglicher. Da braucht man, wie gesagt, viel viel Alkohol.

Der Tatort ist auch sehr unerfreulich. Wieder einmal schaffen die zwei Kommissare alles im Alleingang. Ha ha!

Montagmorgen. Die U-Bahn hat mich wieder. Neue Woche, altes Spiel. Gelangweilt schaue ich von meinem Buch hoch, das leider auch sehr öde ist und erblicke auf dem Sitzplatz direkt mir gegenüber den Grinser. Sofort lese ich vor Schreck mein ‚ich-schlafe-gleich-ein‘ Buch weiter oder tue zumindest so. Stattdessen kann ich nicht anders, als mir zu überlegen, ob das wohl Zufall ist oder ob er sich absichtlich dort hingesetzt hat, um mich weiter zu verunsichern. Ja, er ist sicher so ein Verrückter, der Spaß daran hat, ältere Damen in Verlegenheit zu bringen und dann macht er sich mit seinen Freunden darüber lustig. Mein Gott, die einzige Verrückte bin eigentlich ich, erstens bin ich nun auch noch nicht so alt und zweitens ist das bestimmt nur Zufall. Ich wage einen Blick nach oben und…er lächelt mich glückselig an. In meinen Augenwinkeln kann ich schräg gegenüber den pinkfarbenen Mantel erkennen und erkenne auch das dazugehörige Schnarchen. Eigentlich ist doch alles, wie immer, dennoch habe ich ein ganz komisches Gefühl. Ich muss hier raus. Und, ihr glaubt es nicht, ich bin tatsächlich so irre, eine Station früher auszusteigen, als ich müsste. Ich brauche dementsprechend 20 hochhackige Minuten länger und komme zu spät. Klasse! Ein wunderbarer Wochenbeginn.

Dienstagmorgen. Die U-Bahn hat Verspätung. Ich habe schlecht geschlafen, weil ich dauernd an diesen Mann (mit dem eigentlich recht netten Lächeln) denken musste und zudem gezwungen war, Norbert ständig in die Rippen zu boxen, weil dieser der Pinkfarbenen bezüglich Schnarchen in nichts nachsteht… er sieht nur besser aus. Irgendwie bin ich aufgeregt. Ob dieser interessante, undurchsichtige Mann heute wieder da sein wird? Absichtlich setze ich mich so hin, dass mir gegenüber der Platz frei ist und bin mehr als gespannt, ob er in der nächsten Station einsteigen wird. Yes, und er setzt sich gleich auf den für ihn vorgesehenen Platz. Ich krame wichtigtuerisch in meiner riesigen Tasche. Ich liebe große Taschen und habe deshalb an meinem ‚Taschentragearm‘ auch schon ausgeprägtere Muskeln. Ja ehrlich, das ist so. Meine Monstertaschen sind nämlich auch immer sehr gut gefüllt. Wenn jemand plötzlich eine Kopfschmerztablette braucht oder ein Taschentuch oder einen Flaschenöffner oder eine Lesebrille oder ein Pflaster etc. etc., kann ich immer aushelfen. Allerdings ist derjenige, der das Pflaster braucht, sicherlich verblutet, bis ich es finde. Sorry, ich verliere mich hier in Kleinigkeiten. Zurück mit meinen Gedanken zu den Herrn gegenüber.

Bei meinen kurzen Blicken, die ich auf ihn werfe (länger kann ich ihn nicht anschauen, ich will mich schließlich nicht blamieren, indem ich rot werde), bei meinen kurzen Blicken also, kann ich feststellen, dass er richtig gut aussieht, was meine Lage nicht verbessert. Ich könnte es ja noch verstehen, dass er mich so anstrahlt, wenn er gruselig aussehen würde. Nee, nicht einmal dann, er ist einfach zu jung. Heute bleibe ich eisern sitzen und wage sogar ein kleines Lächeln in seine Richtung kurz bevor ich aussteigen muss und zack zack bin ich draußen.

Am Abend ist Norbert nicht zuhause und Alex hat sich in ihr Zimmer verzogen, weil wir mal ausnahmsweise wieder nicht einer Meinung sind, was ihre Schulleistungen betrifft. Sie findet, dass ausreichend buchstäblich ausreicht, ich hingegen sehe das etwas anders und muss ihr das ab und zu mitteilen. Heute ist so ein Tag. Kurz und gut, ich habe das Wohnzimmer, sprich den Fernseher für mich. Es läuft ausnahmsweise ein Film über Untreue und das gefällt mir gar nicht, wollte ich doch heute vorm Einschlafen ein bisschen von meinem ‚Vielleicht-Verehrer‘ träumen. Jetzt habe ich allein bei dem Gedanken ein schlechtes Gewissen. Obwohl, wenn ich es mir genau überlege, dann habe ich ja einmal fremdgehen gut, wenn ich an Norberts Fehltritt denke … ich bin doch irre. Jetzt wird geschlafen und das ohne Träumerei.

Mittwochmorgen. Ich bin zu früh am U-Bahnhof. Die Aufregung, denke ich. Zwischen meiner und seiner Station bleibt die U-Bahn stehen. Das glaube ich nicht! Ich bin total genervt. Der Platz mir gegenüber ist wieder frei. Ich habe mir heute besonders viel Mühe bei meinem kurzen Schminkaufenthalt vor dem Spiegel gegeben und fühle mich eigentlich gar nicht so ‚graue-Maus-mäßig‘, wie sonst. Also, alles perfekt! Nur die U-Bahn steht. Neiiin, da kommt die pinke Frau und setzt sich auf ‚seinen‘ Platz. Die saß doch schon da drüben. Jetzt erklärt sie mir auch noch lang und breit, warum sie sich dort weggesetzt hat. Als ob mich das interessieren würde. Ich höre nur ‚unappetitlicher Husten und so‘. Weg, du Schnarcherin, der Platz ist besetzt. Ich könnte verzweifeln. Die U-Bahn setzt sich endlich in Bewegung und fährt in den nächsten Bahnhof ein. Alle Aufregung umsonst, er steigt nicht ein. Der Tag ist gelaufen.

Falsch, der Tag ist noch nicht gelaufen. Norbert setzt noch eins drauf. Er ruft mich Mittag an, weil sein Rücken so schmerzen, er sich uralt fühlen und sein Ende langsam nahen würde. Richtig gelesen. So ist er. Ein Hypochonder ohne Gleichen. Zudem schildert er auch alles immer äußerst dramatisch. Stürzt er zum Beispiel mal beim Fahrradfahren, dann ist er in seinen Erzählungen knapp dem Tode entronnen. Passt eigentlich so gar nicht mit seiner Grundeinstellung zusammen. Er ist an und für sich immer sehr fröhlich und freut sich über jeden Sonnenstrahl. Aber heute ist dem wohl nicht so. Ich werde mich also am Abend aufopfernd um meinen leidenden Norbi (in solchen Situationen wird er ganz schnell zum kleinen Buben) kümmern dürfen. Darauf freue ich mich nur sehr reduziert.

Donnerstagmorgen. Ich habe noch eine leise Hoffnung, aber nein, der schöne Unbekannte kommt nicht mehr.

Freitagmorgen. Nicht erwähnenswert!

Wochenende. Alles ist wieder gut…für Norbert. Der Rücken ist total in Ordnung und somit sein Fußballnachmittag am Sonntag gerettet. Er musste ihn ja schon letzte Woche ausfallen lassen, wegen der geliebten Familie. Für mich hingegen… Ich bin enttäuscht. Erstens, weil meine Reize doch wohl nicht so betörend sind und zweitens, weil ich eigentlich gerne ein ganz klein wenig geflirtet hätte. Auf keinen Fall mehr. Daran habe ich wirklich kein Interesse. Na ja, mir bleibt ja immer noch Melli mit ihren Geschichten. Ich treffe mich mit ihr am heiligen Fußballsonntagnachmittag. Da bleibt mir auch wenigstens Alex und ihre missmutige Stimmung erspart, wenn sie wie ein Opferlamm durch die Wohnung schleicht, weil ich ihr verboten habe, die heimischen Gefilde zu verlassen, bevor sie nicht alle ihre Hausaufgaben gemacht hat.

Melli wartet schon vor unserem Lieblings Café und sieht ziemlich fertig aus. Das sage ich ihr dann auch gleich etwas uncharmant.

„Du siehst schrecklich aus!“

„Und du verstehst es wahrlich, Komplimente zu machen“, schmettert sie dagegen.

„Tut mir leid! Du weißt, ich mache mir nur Sorgen. Was gibt es denn Neues?“ frage ich einlenkend, obwohl ich ihr am liebsten sofort von meinem Fast-Verehrer erzählen würde.

„Lass uns erst einmal einen Platz suchen. Gehen wir rein, oder? Dir ist doch sowieso wieder zu kalt draußen.“

Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Ich bin wahrlich sehr verfroren und obwohl die Sonne ganz zeitgemäß ihre ‚Endmärz – Frühlingsstrahlen‘ zeigt, bin ich immer noch angezogen wie im Januar.

Nachdem wir beide jeweils ein dickes Trost-Tortenstück und ein Haferl Kaffee bzw. eine Tasse Tee bestellt haben, fängt Melli auch gleich an zu jammern. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich richtig schockiert bin. Nie hätte ich gedacht, dass meine Freundin sich würde so von einem Mann behandeln lassen. Nicht nur, dass er sie antanzen lässt, wann es ihm passt, nein, sie bringt ihm dann auch noch Geschenke mit und kocht für ihn. Unfassbar!

„…und dann meinte er einfach, ich solle doch wieder gehen, da er lieber alleine fernsehen würde und an Sex habe er im Moment auch kein Interesse. Er, die Oberlusche. Eigentlich muss er froh sein, wenn ich mich seiner erbarme“, grollt Melli vor sich hin.

„Offensichtlich nicht. Sei mir nicht böse, aber du lässt dir ja alles gefallen. Wenn ich schon höre, dass du ihm wieder eine DVD mitgebracht hast. Was erhoffst du dir denn von ihm? Er ist noch jung und obwohl er nicht gerade eine Schönheit ist (wie bereits erwähnt: unattraktiver Nichtsnutz), wird er irgendwann doch mal eine jüngere Frau finden und dich unglaublich verletzen. Tut mir leid, du weißt, ich will dir nicht wehtun, aber ich wäre eine schlechte Freundin, wenn ich hier nicht ehrlich sage, was ich meine.“

Glücklicherweise kann ich ganz offen mit ihr sprechen. Sie ist nie beleidigt und ich kann einfach keine Begeisterung heucheln. Außerdem, wenn nicht ich ihr die Meinung sage, dann tut es keiner (Zwang des Faktischen: nur ich weiß Bescheid).

„Du hast ja Recht, das ist mir schon klar. Ich hätte auch nie gedacht, dass mir jemals so etwas passieren würde. Man kann wirklich erst urteilen oder verurteilen, wenn man selbst so etwas erlebt hat. Ich will auch gar nicht mehr darüber sprechen. Was ist bei dir los?“

Endlich kann ich über mein mageres, außerbeziehungsmäßiges Liebesleben berichten. Während ich erzähle, komme ich mir noch idiotischer vor, als vorher und finde die Geschichte eigentlich nur noch peinlich. Melli ist höchsterfreut, dass ich zumindest zu einem Flirt bereit gewesen wäre. Ich glaube, sie ist dankbar für jede Ablenkung von ihrem eigenen Chaos, auch, wenn es nur meine ziemlich maue Geschichte ist. Gefrustet schaufeln wir die Tortenstücke in uns rein, bis uns bewusst wird, was für ein jämmerliches Pärchen wir abgeben, das sich im Selbstmitleid suhlt. Wir schauen uns an und brechen in schallendes Gelächter aus, das nicht mehr aufhören will. Die restlichen Cafébesucher sind deutlich genervt und wünschen sich mit Sicherheit unseren Trübsinn zurück.

Montagmorgen. Nicht erwähnenswert!

Dienstagmorgen. Ich gewöhne mich langsam wieder an meinen langweiligen, frühmorgendlichen U-Bahntrott. Müde Gesichter, Kaffeemundgeruch oder Teemundgeruch verbreitet durch ausgiebiges Gähnen, schlechtes Rasierwasser und nicht zu vergessen, die schnarchende Pinkfarbene, die heute allerdings eine grellgrüne Jacke anhat. Ich hatte sie schon auf dem Bahnsteig gesehen.

„Haben Sie mich vermisst?“

Erschrocken blicke ich auf, von meinem noch immer langweiligen Buch. Er sitzt mir gegenüber und grinst. Spinnt der? Der kann mich doch nicht einfach anreden. Der darf mich anlächeln und das war es dann aber auch. Ich würde liebreizend zurücklächeln und dann vielleicht noch ein bisschen mit den Augen flirten. Von Ansprechen kommt in meinen Träumen nichts vor. Ich glaube, ich muss das Träumen auch noch etwas besser üben.

„Kennen wir uns?“ frage ich huldvoll und völlig deplatziert. Peinlich berührt blicke ich um mich, aber kein Mensch interessiert sich für meine heikle Situation. Warum auch?

Er geht erst gar nicht auf meine dämliche Frage ein, sondern plaudert fröhlich weiter, als würden wir uns jeden Tag in der U-Bahn unterhalten. Irgendwie finde ich das auf der einen Seite unangebracht, auf der anderen Seite hingegen, sehr aufregend. Er erzählt mir, dass er ein paar Tage auf Fortbildung gewesen und deshalb nicht um diese Zeit mit der U-Bahn gefahren sei. Ich nicke nur ab und zu distanziert, wie es sich für eine Dame in meinem Alter gehört und weiß nicht, ob mir von den unterschiedlichen Morgendüften schlecht ist oder wegen der absurden Situation. Höflich verabschiede ich mich leise und kurz. Bin froh, dass ich, ohne durch fahrtbedingtes Schwanken aufzufallen, sicher die Tür erreiche, als er mir lauthals nachschreit:

„Mein Name ist übrigens Andi. Bis morgen dann!"

Im Büro rufe ich sofort Melli an. Natürlich nicht von meinem Platz aus. Zu viele neugierige Lauscher um mich herum. Außerdem ist es nicht unbedingt erwünscht, Privatgespräche zu führen, nur wenn es wirklich mal wichtig sein sollte. Jetzt ist es zwar für mich persönlich enorm wichtig, aber mein Chef hätte wahrscheinlich zu diesem Thema eine andere Meinung. Also verkrieche ich mich in unserem Büromateriallager. Nicht die schönste Umgebung, aber sie wird von der ganzen Kollegenschaft aufgesucht, um Privatgespräche zu führen. Manchmal habe ich den Eindruck, diese Kammer ist immer besetzt und man sollte Kärtchen ziehen lassen, wer als nächster seine privaten Angelegenheiten dort abwickeln darf. Auch nicht wirklich Sinn der Sache, aber was soll’s. Heute habe ich Glück. Keiner lungert vor der Tür herum und der Raum selbst ist auch frei. Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass meine liebe Freundin nicht bei ihrer Pilates Stunde ist. Sie liebt Sport jeder Art.

Vor einem Jahr hatte ich mich von ihr überreden lassen, an einem Abend in der Woche mit ihr gemeinsam einen Pilates-Kurs zu besuchen. Klasse! Ich bin denkbar ungelenkig und mein Gleichgewichtsgefühl ist eine Katastrophe. Genau aus diesem Grund sei Pilates für mich unumgänglich, überredete Melli mich. Es war so unglaublich peinlich. Einige Stunden ließ ich die Schmach über mich ergehen. Als ich allerdings bei einer Übung, bei der es erforderlich war, sich selbst zu verknoten (anders kann ich das nicht ausdrücken), wie ein plumper Sack einfach umfiel, habe ich die Segel gestrichen. Seitdem geht Melli alleine zur Pilates-Folter und ich halte mich mit Joggen fit (mehr oder weniger regelmäßig). Vor den anderen Teilnehmern dieser fragwürdigen Pilates-Stunde verstecke ich mich meistens, falls mir zufällig mal einer oder eine über den Weg läuft, um peinlichen Fragen aus dem Weg zu gehen.

Ich habe Glück, sie geht ans Handy.

„Hallo, hast du kurz Zeit?“

Ich erzähle ihr dermaßen ausführlich von der U-Bahnfahrt, dass sie mich unterbricht:

„Hey, komme jetzt endlich mal auf den Punkt. Was willst du mir denn eigentlich erzählen?“

„Er war wieder da!“

„Wer?“

Das glaube ich jetzt nicht! Wie kann sie meinem Verehrer schon vergessen haben. Ich bin fast empört.

„Ja er, der Grinser.“

„Ach, du lieber Himmel. Entschuldige, aber an den habe ich wirklich nicht mehr gedacht.“

Ja ganz toll, aber ich höre mir ohne Unterlass die Höhen und Tiefen ihrer unerfreulichen Männergeschichten an. Ich habe jetzt aber keinen Nerv beleidigt zu reagieren. Ich will schließlich meine Story loswerden. Also erzähle ich ohne Punkt und Komma weiter.

„Was machst du, wenn er dich morgen wieder anspricht und ich denke, das wird er mit Sicherheit tun…“

In diesem Moment kommt eine Kollegin mit dem Handy am Ohr in das Zimmer und ich unterbreche das Gespräch mit der Abmachung, am Abend nochmal zu telefonieren. Der Kollegin werfe ich einen schiefen Blick zu. Sie hätte schließlich auch warten können. Also wirklich.

Mittwochmorgen. Ich bin nach einem langen Abendtelefongespräch gut gewappnet. Glaubte ich zumindest. Kaum sitzt er neben mir, (man beachte: neben mir) haben meine Zuversicht gemeinsam mit meinem Selbstbewusstsein die U-Bahn bereits wieder verlassen. Er fängt sofort an, wieder zu labern und ich muss mich echt konzentrieren, um alles zu verstehen. Etwas verwirrend erzählt er mir, dass er nicht aus München, sondern erst vor einem Jahr zugezogen sei, von irgendwelchen Büchern, die er gerne lesen würde und so ganz nebenbei von seiner (Achtung!) Scheidung.

Wieder einmal will ich nur aussteigen, mir ist das alles zu viel. Morgen wähle ich einen anderen Wagon aus, nehme ich mir vor. Was soll denn das? Ich bin nicht auf der Suche nach einem Abenteuer und überhaupt, ich weiß doch gar nicht, was der will. Wahrscheinlich will er nur quatschen und ich bin das höfliche, immer freundlich zuhörende Opfer. Aus und Schluss. Keine Träume mehr.

Ich bin ganz wirr, als ich im Büro ankomme. Eigentlich ist es ja kein richtiges Büro. Ich arbeite im Empfangsbereich eines riesigen Job-Centers. Da ist ab 9:00 Uhr die Hölle los. Jetzt ist es Gott sei Dank noch ganz ruhig. Ich überprüfe meine Liste mit den Job-Suchenden, die heute Termine im Haus haben und stelle mich auf einen turbulenten Tag ein.

Am Abend ist heute unser Lieblingsitaliener angesagt. Norbert und ich lieben das kleine Restaurant. Dort hatte auch unser erstes offizielles Date nach meiner Scheidung stattgefunden. Alex hingegen liebt Lieferservice und irgendwelche merkwürdigen ‚Staffeln‘ im Fernsehen und zieht es deshalb vor, zuhause vor sich hin zu pubertieren. Ich bin froh, dass sie heute das freie Wohnzimmer nicht nutzen möchte, um die Hälfte ihrer Klasse einzuladen.

„Mann, manchmal bin ich wirklich schwer von Begriff. Jetzt weiß ich, warum Alex gar so grantig ist, weil wir heute zum Essen gehen. Heute ist Mittwoch und nicht Wochenende, sprich kein geeigneter Abend, um es krachen zu lassen. Sehr gut!“ fällt es mir auf dem Weg zum Italiener ein.

„Bestimmt unterstellt sie uns böse Absichten“, kichert Norbert vor sich hin.

Ja, ganz richtig, Norbert kichert wie ein Mädchen. Daran musste ich mich wirklich erst gewöhnen und ehrlich gesagt, habe ich mich nach so langer Zeit immer noch nicht ganz damit abgefunden. Wenn wir alleine sind, dann ist das ganz okay, aber in Gesellschaft kann das schon mal sehr peinlich werden. Aber er ist so ein liebenswürdiger Mensch, dass sich niemand darüber lustig macht.

„Ich habe ‚unseren‘ Tisch reservieren lassen. Ist das in Ordnung?“

Und ob das in Ordnung ist, ich liebe diesen Tisch und ich liebe es, wenn Norbert mir eine Freude machen will und ich liebe Norbert. Das war es dann mit Grinser Andi!!!

„Mann, geht es mir gut mit dir…“

Noch während mir die Worte aus dem Mund purzeln, sehe ich sie und würde liebend gerne meine Worte wieder einsammeln und Norbert das Glas Wein, das vor mir steht, ins Gesicht schütten. Solche Anwandlungen habe ich immer, wenn ich SIE sehe. SIE ist Norberts Fehltritt!

Allein, wenn ich an diese Frau denke, wird mir schon ganz schlecht, aber sie zu sehen, ist eine Katastrophe. Sie ist älter als ich und echt unattraktiv. Ich frage mich immer wieder, was ihn da wohl geritten hatte. Angeblich sei auch gar nichts passiert. Sie brauchte nur Trost und den konnte ihr anscheinend nur der Gutmensch neben mir geben. Irgendwie kennt Norbert sie von früher und… ach, ich kann einfach nicht mehr vernünftig denken, wenn ich diese … vor mir sehe. Norbert hat sie jetzt auch entdeckt. Das kann ich an seiner plötzlich ungesunden Gesichtsfarbe erkennen. Der Abend ist erledigt und meine guten Vorsätze auch. Wilde, eifersüchtige Gedanken zwingen mich dazu, über den schönen, jungen (ha ha) Andi nachzudenken. Aber nicht einmal das gelingt mir, so sehr wälze ich mich gerade in einem längst vergangenen, aber immer wieder abrufbaren Selbstmitleid.

Donnerstagmorgen. Ich bin ganz schlecht aufgelegt und möchte mir gerade selbst nicht über den Weg laufen. Ich setze mich in einen anderen U-Bahnwagon. Ich habe keine Lust, meine ‚Vielleichtchancen‘ durch mein heutiges Stimmungstief, das ich verbal nicht unterdrücken kann, in die absolute Null Zone zu bugsieren.

Freitagmorgen. Immer noch auf der Flucht vor dem Wagon des Lächelns. Schieben wir es auf die nächste Woche. Das Wochenende werde ich ausgiebig dazu nutzen, Norbert zu strafen.

Das verläuft eigentlich immer nach Schema F:

Ich wärme die alte, leidige Geschichte mit Wollust auf, ohne auch nur das feinste Detail auszulassen. Das geht weit über die Schmerzgrenze für beide Beteiligte hinaus und ab und zu gelingt es mir, andere unleidige Punkte aus unserer Vergangenheit (wer hat die nicht) mit einzubauen und breit zu treten. Da ich hier eine fast unmenschliche Ausdauer beweisen kann, bleibt einem anfangs sehr reumütigen, im Laufe meiner nicht enden wollenden Rede aber sehr ungeduldig werdenden Norbert nichts anderes mehr übrig, als zu fliehen – ins Bett.

So, den Freitagabend habe ich geschafft. Der Samstag und der Sonntag wird ein Kinderspiel und spätestens am Sonntagabend haben wir uns wieder lieb.

Montagmorgen. Gut ausgetobt und bestens aufgelegt warte ich lässig auf die Dinge die da kommen und sie kommen in Form eines sich überschwänglich freuenden Andis auf mich zu. Das ist mir schon fast wieder ein bisschen zu viel der Freude.

„Wo warst du denn am Donnerstag und am Freitag? Ich habe dich vermisst.“

Oh je, wie peinlich.

„Und wie toll du heute wieder aussiehst.“

Oh Gott, noch peinlicher! Ich hoffe, alle sind mit sich selbst beschäftigt, wie an jedem Morgen. Die Schnarcherin schläft allerdings nicht. Ich glaube, die lauscht. Außerdem soll der mich nicht mit Komplimenten nerven. Derartige Freundlichkeiten verärgern mich nämlich in dreifacher Form:

Erstens hasse ich Komplimente, zweitens glaube ich sie nicht und drittens ärgere ich mich über erstens und zweitens, weil ich ein Kompliment wegen erstens und zweitens nicht einmal genießen kann.

Ich tu einfach so, als hätte ich es nicht gehört.

Das scheint ihm ziemlich egal zu sein, wie beim letzten Mal schon, plappert er einfach weiter. Er will wissen, wo ich arbeite. Das geht ihn doch nichts an und völlig zusammenhanglos platzt es aus mir heraus:

„Ich habe eine Tochter und einen Lebensgefährten.“

Oh lieber U-Bahnboden, tu dich bitte auf für mich und verschlinge mich für immer. Die Pinkfarbene (heute schon wieder grellgrün) wirft mir strafende Blicke zu und ich frag mich, was sie das angeht.

„Ich habe auch eine Tochter und einen Sohn und bin, wie gesagt, geschieden.“

„Wie alt sind Ihre Kinder denn?“

Interessiert mich überhaupt nicht, aber irgendetwas muss ich ja sagen, allein schon wegen der Schnarcherin, die erwartet das sicher von mir und ich will sie nicht noch mehr verärgern.

„12 und 15 und du kannst gerne du zu mir sagen.“

Das geht mir gerade noch ab. Ich verrenne mich hier wirklich in etwas völlig Verrücktes und das auch noch vor morgenmuffeligen Zeugen.

„Also dann, ich muss jetzt aussteigen. Ciao.“

Er winkt mir noch fröhlich, als ich am Bahnsteig verdattert der U-Bahn hinterher schaue. Oh Mann, was will der denn von mir?

Am Abend treffe ich mich spontan mit Melli.

„Irgendetwas stimmt mit dem Kerl nicht.“ Nachdenklich nippe ich an meinem Cocktail.

„Ich würde eher sagen, irgendetwas stimmt mit dir nicht. Kannst du dich nicht einfach nur darüber freuen, dass du in deiner Beziehung nicht zu einem Neutrum zusammengeschrumpft bist, sondern sich ein Mann immer noch in dich vergucken kann. Du gefällst ihm offensichtlich. Warum sollte da mit ihm etwas nicht stimmen. Nur, weil er jünger ist?“

Melli ist richtig genervt. Sicher hat sie wieder Stress mit einem ihrer Männer und lässt das jetzt an mir aus. Ist mir aber egal. Ich muss über diese Geschichte reden, sonst platze ich.

„Nein, das meine ich gar nicht. Kann schon sein, dass sich mal jemand für mich interessiert, aber irgendwie ist das alles so übertrieben und wirkt fast ein wenig aufgesetzt.“

„Ja, aber was soll denn schon groß dahinter sein? Treff‘ dich doch mal mit ihm, wenn du unbedingt wissen willst, was da los ist. Ich wette, du landest mit ihm im Bett und das war es dann.“

Na ja, Melli fehlt manchmal eine kleine romantische Ader. Ich habe grundsätzlich einen Hang zur Romantik und genau deshalb schwebe ich in dem Gefahrenzustand, mich irgendwann zu einem Rendezvous überreden zu lassen. Gott sei Dank habe ich meine schwärmerischen Sehnsüchte im Moment gut hinter meiner Lebensgemeinschaft mit Norbert verbarrikadiert. Es besteht also nicht die geringste Gefahr, dass ich mich auf ein Date mit Herrn Andi Unbekannt einlassen würde.

Dienstagmorgen.

„Ja, einen Kaffee können wir schon mal trinken gehen, wenn es mein Zeitplan erlaubt.“

Wusch. Mit dieser Antwort habe ich meine vorabendlichen Beteuerungen mit einem Satz zunichte gemacht. Entsetzlich, ich kann ja nicht einmal mir selbst trauen.

Die übliche Morgenmannschaft hat sich wieder zum Gähnen und ‚Missmutig-dreinschauen‘ in der U-Bahn versammelt. Bilde ich mir das ein, oder schauen mich alle neugierig und verachtend an, weil sie mich verurteilen und den Scheiterhaufen schon aufrichten.

„Oder vielleicht lieber doch nicht“, schiebe ich verunsichert nach.

„Was spricht denn dagegen. Wir unterhalten uns doch so gut und ich wollte dir doch auch noch die Unterlagen zeigen, “ zwinkert Andi mir zu, als er meinen erschreckten Blick auf die Mitfahrer bemerkt.

Welche Unterlagen will er mir zeigen? Ich zweifle wirklich langsam an meinem Verstand. Habe ich da etwas überhört? Als ich sein Grinsen sehe, wird mir klar, dass er unserer Unterhaltung nur einen offiziellen Touch geben möchte, um die womöglich wild gewordene Fantasie unserer morgendlichen Sitznachbarn etwas einzudämmen.

„Ich gebe dir mal meine Handynummer. Ruf mich doch an, wenn du mal Zeit hast.“

Und schon habe ich einen Zettel in der Hand, als ich wieder einmal hochgradig verwirrt die U-Bahn verlasse.

„Ich bin ab morgen wieder auf…“ höre ich nur noch, als sich die Tür der U-Bahn schließt.