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Zwei Tierärzte sind einer zu viel! Eine turbulente, charmante und romantische Geschichte rund um eine kleine Tierarztpraxis in Cornwall.
Mit großen Hoffnungen reist Tierärztin Julia ins malerische Cornwall. Nur zu gerne möchte sie die Praxis im verschlafenen Örtchen Carywith übernehmen. Doch anstatt wie geplant in das hübsche Cove Cottage zu ziehen, landet sie im Gartenhaus – zusammen mit dem attraktiven Henry, der ihr den Job streitig macht. Zwei Wochen sollen sie zur Probe arbeiten. Zwischen der Perfektionistin und dem Chaoten fliegen sofort die Fetzen – und bald auch die Funken. Julia verliert mehr und mehr ihr Herz an ihren Konkurrenten. Allerdings hat sie ihm verschwiegen, weshalb sie London so überstürzt verlassen musste. Und auch er scheint ihr etwas zu verheimlichen …
In Cornwall werden Träume wahr! Der neue große Wohlfühlroman von SPIEGEL-Bestsellerautorin Kathryn Taylor!
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Seitenzahl: 393
Buch
Mit großen Hoffnungen reist Tierärztin Julia ins malerische Cornwall. Nur zu gerne möchte sie die Praxis im verschlafenen Örtchen Carywith übernehmen. Doch anstatt wie geplant in das hübsche Cove Cottage zu ziehen, landet sie im Gartenhaus – zusammen mit dem attraktiven Henry, der ihr den Job streitig macht. Zwei Wochen sollen sie zur Probe arbeiten. Zwischen der Perfektionistin und dem Chaoten fliegen sofort die Fetzen – und bald auch die Funken. Julia verliert mehr und mehr ihr Herz an ihren Konkurrenten. Allerdings hat sie ihm verschwiegen, weshalb sie London so überstürzt verlassen musste. Und auch er scheint ihr etwas zu verheimlichen …
Autorin
Kathryn Taylor begann schon als Kind zu schreiben – ihre erste Geschichte veröffentlichte sie bereits mit elf. Von da an wusste sie, dass sie irgendwann als Schriftstellerin ihr Geld verdienen wollte. Nach einigen beruflichen Umwegen und einem privaten Happy End ging ihr Traum in Erfüllung. Mittlerweile wurden ihre Romane in 15 Sprachen übersetzt und haben Stammplätze auf den Bestsellerlisten.
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KATHRYN TAYLOR
Roman
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Redaktion: Anne Fröhlich
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Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN: 978-3-641-28131-1V002
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Verdammt, sie kam zu spät! Julia nahm eine Hand vom Steuer und schob ihre Brille ein Stück nach oben. Sie hasste es, unpünktlich zu sein. Das passierte ihr sonst fast nie, und es machte sie noch nervöser, als sie ohnehin schon war.
Dabei konnte sie gar nichts dafür! Sie war heute Morgen so rechtzeitig in London losgefahren, dass sie eigentlich wie verabredet zum Tee in Cornwall hätte sein können. Aber dann war sie auf der M3 in gleich drei lange Staus geraten, und als sie die Autobahn endlich verlassen hatte, war kurz hinter Amesbury der Verkehr noch einmal komplett zusammengebrochen. Zahllose Besucher hatten versucht, auf den Parkplatz des berühmten Steinkreises von Stonehenge zu gelangen, und die anderen waren extrem langsam an dem Feld vorbeigefahren, um die eindrucksvoll angeordneten Felsbrocken zu bestaunen. Und so hatte Julia jetzt, kurz vor dem Ziel, fast vier Stunden Verspätung.
Die Sonne sank längst wieder über den grünen Hügeln und tauchte die raue Küstenlinie in ein goldenes Licht. Nach einem kurzen, aber heftigen Regenschauer war es kühler geworden, und in den ausgefahrenen Spurrillen stand noch Wasser. Ein kräftiger Wind wühlte das Meer auf, setzte helle Schaumkronen auf die Wellen, die unterhalb der Steilküste an die Strände rollten, und bewegte das hohe Gras und die Wildblumen am Straßenrand.
Gelegentlich säumten niedrige Mauern die Straße. An einer davon war ein Schild angebracht, und es verriet Julia, dass ihr Ziel, die kleine Ortschaft Carywith, jetzt nur noch ein paar Meilen entfernt lag. Während sie abbog, warf sie einen prüfenden Blick auf ihr Handy, das in einer an der Windschutzscheibe befestigten Halterung steckte. Laut Navigations-App erreichte sie das Dorf in etwa fünfzehn Minuten. Das bedeutete, sie würde um kurz nach acht ankommen. Unwahrscheinlich, dass Isobell Chegwin dann noch mit dem Tee auf sie wartete.
Julia überlegte, ob sie erneut im Cove Cottage anrufen sollte. Sie hätte so gerne Bescheid gesagt, dass sie sich verspätete, aber bei ihren bisherigen Versuchen war niemand rangegangen, was ihre Nervosität nur noch steigerte. Hatte sie sich etwa im Datum vertan? Oder ignorierte die alte Tierärztin das Klingeln des Telefons, weil sie es sich anders überlegt hatte? Der Gedanke ließ Julia das Gaspedal durchtreten. Nein, es musste klappen. Wenn sie den Zuschlag nicht bekam, dann …
Der Saugnapf der Handyhalterung gab ohne Vorwarnung nach und fiel mitsamt Handy auf den Schaltknüppel, rutschte von dort in den Fußraum des Beifahrersitzes.
»Nein!« Aus einem Reflex heraus beugte Julia sich vor und tastete danach, bekam das Handy jedoch nicht zu fassen. Als sie sich wieder aufrichtete und nach vorn blickte, sah sie voller Schrecken, dass der Mini viel zu weit nach links geraten war. Er rumpelte bereits über die Böschung und hielt auf einen kleinen runden Findling zu, der am Straßenrand aus dem Boden ragte. Entsetzt trat Julia die Bremse durch und riss das Steuer nach rechts, aber sie konnte nicht mehr ganz ausweichen. Der Wagen prallte mit einem hässlichen Krachen gegen den Stein, blieb jedoch nicht stehen, sondern fuhr weiter. Julia wurde in den Gurt gedrückt und durchgeschüttelt, als auch der Hinterreifen über den Stein rumpelte. Sie versuchte zu lenken, aber das Steuer reagierte kaum, ließ sich nur sehr schwer bewegen. Dann griffen endlich die Bremsen, und der Mini kam am Rand der Straße zum Stehen. Der Motor soff ab, und es wurde still.
Für einen langen Moment saß Julia mit wild klopfendem Herzen hinter dem Steuer und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Das ist nicht passiert, dachte sie verzweifelt. Sie war nicht so kurz vor dem Ziel gegen einen blöden Stein gefahren!
Vielleicht ist es ja nicht so schlimm, beruhigte sie sich und stieg aus, um sich den Schaden anzusehen. Aber leider war es sogar sehr schlimm. Die gesamte linke Front des Wagens war beschädigt. Die Stoßstange hing herunter, und der Kotflügel war verbogen. Außerdem stand das Vorderrad schräg, was vermutlich bedeutete, dass irgendetwas mit der Achse nicht mehr stimmte. In diesem Zustand würde sie damit nicht weiterfahren können.
»So ein Mist«, murmelte Julia und nahm die Umgebung in Augenschein. Es war noch ein gutes Stück bis Carywith, und hier gab es nichts außer Hügeln und Wiesen. Sie sah kein Haus und keinen Hof, nur die Straße, die ein paar Hundert Meter weiter über einen Hügel führte.
Was mach ich denn jetzt?, überlegte sie und entdeckte zu ihrer großen Erleichterung, dass sich aus der Richtung, aus der sie gekommen war, ein roter Sportwagen näherte.
»Hallo?« Julia trat einen halben Schritt auf die Straße und hob die Hand, winkte dem Fahrer zu. »Hallo, ich brauche Hilfe!«
Der Sportwagen, ein Aston Martin DB11, wurde nicht langsamer und rauschte an ihr vorbei. Dabei durchpflügte er die Pfütze in der Fahrrinne. Eiskaltes Wasser spritzte hoch und traf Julia, durchtränkte den Rock ihres geblümten Sommerkleides und sprenkelte das Oberteil. Dann brauste das Auto weiter den Hügel hinauf, bis es dahinter verschwand.
»Nein, nein, nein!« Entsetzt starrte Julia auf das Fleckenmuster, das sich auf ihren hellen flachen Pumps und dem Kleid abzuzeichnen begann. Tränen schossen ihr in die Augen, ohne dass sie es verhindern konnte.
Ganz ruhig, dachte sie und zwang sich, ein paarmal tief durchzuatmen. Es war nicht ihre Art zusammenzubrechen, egal was das Leben ihr in den Weg schleuderte. Andererseits war das in den letzten Wochen schon eine Menge gewesen, deshalb fiel es ihr schwerer als sonst, sich zusammenzureißen. Na ja, wenigstens konnte sie sich damit trösten, dass es nach den ganzen Desastern heute nicht mehr viel schlimmer werden konnte …
Ein weiteres Auto näherte sich, diesmal ein alter grauer Land Rover Defender mit weißem Dach. Julia trat instinktiv einen Schritt zurück, um nicht noch einmal unfreiwillig zu duschen. Doch das Auto hielt an, und ein Mann mit blonden Haaren streckte den Kopf aus dem heruntergekurbelten Fenster.
Er schien groß zu sein, und seinem Arm nach zu urteilen, den er quer auf das offene Fenster gelegt hatte, war er auch recht durchtrainiert. Julia sah die Sehnen, die sich unter seiner gebräunten Haut seines Unterarms abzeichneten, und den beeindruckenden Bizeps unter dem aufgekrempelten Hemdärmel.
»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte er und musterte sie mit einer Mischung aus Sorge und Belustigung, was Julia sehr unangenehm war. Hastig verschränkte sie die Arme vor der Brust.
»Ich hatte einen Unfall«, sagte sie. »Und jetzt fährt mein Auto nicht mehr.«
»Unfall?« Das Lächeln des Mannes erlosch. Er fuhr den Defender ein Stück weiter und parkte ihn vor Julias Mini. Dann stieg er aus, und während er auf sie zukam, fand Julia ihre Vermutungen bestätigt.
Er war tatsächlich groß und sportlich, mit breiten Schultern und Muskeln an den richtigen Stellen. Sein Alter schätzte sie auf Anfang dreißig, und seine blonden Haare waren für ihren Geschmack etwas zu lang. Aber er sah gut aus mit seinen strahlend blauen Augen, die einem sofort auffielen, und dem gepflegten Dreitagebart. Kleidungstechnisch war er eher der Holzfällertyp, mit Jeans, kariertem offenem Baumwollhemd über einem weißen T-Shirt und ausgetretenen Sneakers. Also nichts für mich, dachte sie, weil sie auf elegant gekleidete Männer stand. Nicht dass das eine Rolle spielte. Nach der Katastrophe mit Rob war sie definitiv nicht mehr auf der Suche …
»Wow, das sieht echt übel aus«, meinte der Mann, und Julia nahm wahr, dass er einen schottischen Akzent hatte. Er starrte auf die beschädigte Front des Mini und musterte dann Julia mit neuer Sorge. »Sind Sie verletzt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber der Wagen fährt nicht mehr. Und ich muss dringend nach Carywith.«
Der Mann überhörte ihre Bemerkung, war offenbar immer noch mit dem Wagen beschäftigt. »Wie ist das denn passiert?«
»Ich bin gegen den Stein da gefahren.« Julia deutete auf den Findling, der ihr zum Verhängnis geworden war.
»Gegen den großen da?« Der Mann runzelte die Stirn. »Warum?«
Julia spürte, wie ihre Wangen warm wurden, weil ihr der Findling jetzt, wo sie ihn noch mal betrachtete, auch ziemlich unübersehbar vorkam.
»Ich … war abgelenkt«, erklärte sie ausweichend.
»Und wieso ist Ihr Kleid nass?« Der Mann blickte zum Himmel. »Es regnet doch gar nicht mehr.«
»Ein Sportwagen ist vorbeigerast und hat mich nass gespritzt«, erklärte sie und löste die Arme, um noch einmal an sich hinunterzublicken. Dabei fiel ihr auf, wie viel der nasse Stoff von ihrer Figur enthüllte, deshalb verschränkte sie die Arme gleich wieder.
»Können Sie mich vielleicht ein Stück mitnehmen?«, bat sie den Mann.
Er nickte. »Ich kann Sie sogar nach Carywith bringen. Dahin bin ich nämlich unterwegs.«
»Aber ich habe ein paar Sachen dabei«, wandte Julia ein, als er schon wieder in Richtung Jeep gehen wollte. »Die müssen wir auch mitnehmen.«
»Wenn ich sie noch reinkriege, gerne«, erwiderte er und folgte Julia zum Kofferraum des Minis.
»Nicht wundern«, erklärte sie, bevor sie die beiden Hecktüren öffnete, aber der Mann stieß trotzdem überrascht die Luft aus, als er den großen rechteckigen Käfig sah, der mit mehreren Handtüchern abgedeckt war. Die Tücher waren verrutscht, vermutlich durch die Erschütterungen eben.
»Was ist denn das?«, wollte er wissen.
»Das ist mein Goldhamster«, erklärte Julia. »Also sein Käfig. Aber er ist da irgendwo drin.«
Sie hob das Handtuch an und warf einen Blick durch die Gitterstäbe. Doch von Bungee war nichts zu sehen, also hatte das Rumpeln ihn nicht geweckt – oder wenn, hatte es ihn offenbar nicht aus der Ruhe gebracht. Erleichtert zog Julia das Handtuch wieder gerade und richtete sich auf.
Der Mann musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Sie nehmen Ihren Hamster mit auf Reisen?«
»Na ja, ich konnte ihn ja schlecht allein zu Hause lassen«, erwiderte sie und schob ihre Brille ein Stück hoch, so wie immer, wenn sie nervös war.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Haben Sie denn niemanden, der auf ihn aufpassen kann, während Sie nicht da sind?«
Bei der Frage musste Julia schlucken. Nein, im Moment hatte sie niemanden, der das für sie tun konnte. Ihr Freund Rob hatte das sonst immer übernommen, und wenn er nicht konnte, hatte sie ihre beste Freundin Stella gefragt. Nur hatte Rob ihr kürzlich gestanden, dass er sich von ihr trennen wollte, weil er sich in Stella verliebt hatte. Die beiden waren jetzt ein Paar, weshalb Julia nicht nur keinen Freund und keine beste Freundin, sondern auch keinen Hamstersitter mehr hatte. Doch mit diesen traurigen Details ihres gerade sehr verkorksten Lebens wollte sie den Mann nicht langweilen, deshalb zuckte sie nur mit den Schultern.
»Ich bleibe eine Weile«, erklärte sie. »Zumindest glaube ich das.«
»Aber wissen tun Sie es nicht genau?« Der Mann betrachtete sie skeptisch. »Ist wirklich alles in Ordnung mit Ihnen? Haben Sie sich bei dem Unfall den Kopf gestoßen?«
»Nein«, erklärte Julia, peinlich berührt, und ärgerte sich, dass sie ihre momentan sehr unsichere Lage überhaupt erwähnt hatte. Vielleicht war sie durch den Schock wirklich ein bisschen durcheinander. Auf jeden Fall ging es den Mann nichts an, wie ihre Zukunftspläne aussahen, und sie hatte auch keine Lust, sie mit ihm zu diskutieren. Deshalb hob sie den Käfig vorsichtig aus dem Auto.
»Würden Sie die anderen Sachen nehmen?« Sie deutete mit dem Kinn auf die prall gefüllte Reisetasche und die große Plastiktasche mit Hamsterfutter und Streu, die sich noch im Kofferraum befanden.
Der Mann hob beides aus dem Wagen und betrachtete die Gepäckstücke skeptisch.
»Könnte tatsächlich eng werden«, murmelte er, und als sie einen Moment später bei seinem Defender ankamen und er die Hecktüren öffnete, begriff Julia, was er meinte.
Die komplette Ladefläche, die bis zu den vorderen Sitzen reichte, war eigentlich schon voll. Auf der rechten Seite stand eine Transportkiste mit Gittern für einen größeren Hund, die jedoch leer war. Daneben lagen ein verpacktes Zelt, ein nicht zusammengerollter Schlafsack, eine Isomatte, Werkzeuge, ein Seesack und mehrere Kartons ohne ersichtliche Ordnung übereinander. An der Ladekante stand außerdem noch ein Paar sehr dreckige Wanderschuhe.
Der Mann nahm die Schuhe und warf sie weiter nach vorne in den Wagen. Dann räumte er Zelt und Schlafsack so zur Seite, dass Julia den Hamsterkäfig neben der Hundekiste abstellen konnte.
»Ich sehe mal, wo ich den Rest unterbringe«, meinte er und räumte weiter das Gepäck um, während Julia zum Mini zurückkehrte, um ihre Handtasche und ihr Handy zu holen.
»Vorne muss ich auch noch aufräumen«, warnte der Mann sie, als sie zur Beifahrertür ging.
Und tatsächlich bot sich ihr, als sie die Tür öffnete, ein ähnlich chaotisches Bild. Im Fußraum lagen mehrere leere Wasserflaschen und eine ebenfalls leere Kekspackung, auf dem Sitz diverse Landkarten und – zu Julias großer Überraschung – die aktuelle Ausgabe des Journal of Veterinary Pharmacology and Therapeutics, eine Fachzeitschrift für Tiermedizin, die sie selbst auch regelmäßig las.
»Sind Sie Tierarzt?«, erkundigte sie sich.
»Ja.« Er hatte die Hecktüren wieder geschlossen und kam zu ihr, schob sie ein Stück zur Seite und räumte die Sachen aus dem Fußraum und vom Sitz, indem er sie nach hinten stopfte. »Deshalb finde ich es auch nicht gut, dass Sie Ihren Hamster mit auf Reisen nehmen. Das ist doch viel zu viel Stress für den Kleinen.«
»Bungee ist sehr robust«, widersprach Julia ihm. »Und im Übrigen bin ich auch Tierärztin, also brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Mein Hamster ist bei mir in den besten Händen.«
»Tierärztin?« Der Mann blickte über seine Schulter und musterte sie so ungläubig, dass ein vertrautes Gefühl der Wut in Julia aufstieg.
Sie hasste es nicht nur, unpünktlich zu sein, sondern auch, von Leuten nicht ernst genommen zu werden. Aber das passierte leider häufig, wenn man nur einen Meter fünffundsechzig groß und sehr zierlich war. Viele hielten sie deshalb für jünger und konnten kaum glauben, dass sie mit inzwischen sechsundzwanzig nicht nur ihr Studium der Veterinärmedizin erfolgreich abgeschlossen, sondern auch schon fast zwei Jahre Berufserfahrung hatte.
Dem Mann schien es ähnlich zu gehen. »Wo arbeiten Sie denn?«, fragte er, hörbar skeptisch.
»Im Moment nirgends. Ich …« Sie zögerte nur ganz kurz. »Ich mache mich gerade selbstständig.«
»Na, dann viel Erfolg.« Er verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. Anscheinend rechnete er ihr wegen ihres vermeintlich fehlenden Wissens über die Bedürfnisse von Nagetieren nur wenig Chancen aus.
»Und Sie?«, fragte Julia zurück. »Wo arbeiten Sie denn?«
»Im Moment bin ich zwischen zwei Jobs.« Er strich mit der Hand über den Sitz und fegte ein paar Krümel nach draußen. »Ich habe die letzten Jahre im Ausland gearbeitet, jetzt schaue ich mal, wohin es mich verschlägt.«
»Im Ausland?«, hakte Julia, gegen ihren Willen neugierig, nach. »Wo denn?«
»Das letzte halbe Jahr in Skandinavien. Davor in Südafrika und davor in Indonesien«, erwiderte er. »Immer da, wo ich gerade gebraucht wurde. Tierärzte sind überall gefragt, und so konnte ich beim Arbeiten ein bisschen von der Welt sehen. Gefällt mir besser, als immer an einem Ort zu sein.«
»Ich bin gerne nur an einem Ort«, erklärte Julia, wohl wissend, dass ihr zu dieser Behauptung die praktischen Erfahrungen fehlten. Sie hatte sich immer ein festes Zuhause gewünscht, doch als einzige Tochter von zwei erfolgreichen Geschäftsleuten, die ständig durch die Weltgeschichte jetteten, hatte sie nie eines besessen. Als Kleinkind war sie mit ihren Eltern gereist, dann hatten die beiden sich scheiden lassen, und Julia war, sobald es Zeit für die Schule wurde, auf verschiedene Internate gegangen, wo sie sich nicht besonders wohlgefühlt hatte. Und selbst die Ferien waren ein Roulette gewesen, weil sie nie gewusst hatte, in welches Land sie diesmal fliegen musste, um Zeit mit ihrem Vater oder ihrer Mutter zu verbringen. Dieses unstete Leben hatte in Julia die tiefe Sehnsucht geweckt, endlich mal irgendwo anzukommen. Sie wollte einen Ort, an den sie gehörte, und hatte eigentlich London dafür ausgewählt. Doch dort konnte sie nicht mehr bleiben, deshalb begann die Suche von vorn …
Der Mann, der ihr jetzt wieder den Rücken zuwandte und irgendetwas hinter den Sitzen zurechtrückte, schnaubte leise.
»Was?«, fragte Julia, leicht ungehalten.
Er wandte sich zu ihr um, und ihr fiel wieder auf, wie groß er war. Sie reichte ihm gerade mal bis zur Schulter. Mit skeptischem Blick sah er auf sie herunter.
»Wenn das Vagabundenleben nichts für Sie ist, warum muten Sie es dann Ihrem Hamster zu?«
»Weil es …« Julia hob die Arme und ließ sie wieder fallen. »Es ging eben nicht anders.«
Mühsam schluckte sie gegen den Kloß an, der ihr plötzlich im Hals saß. Herrgott, sie wollte nicht vor diesem blonden Hünen in Tränen ausbrechen. Aber das würde sie, wenn er noch lange auf der Tatsache herumritt, dass sie im Moment verdammt allein war.
»Können wir jetzt fahren?«, bat sie.
Er trat einen Schritt zur Seite und deutete auf den Beifahrersitz. »Bitte sehr.«
Julia zögerte, denn besonders einladend wirkte das abgeschabte und teilweise beschädigte Leder immer noch nicht.
»Sehen Sie es positiv«, meinte der Mann, der ihren skeptischen Blick offenbar richtig gedeutet hatte. »Hätte ich top gepflegte Velourledersitze, würde ich Sie mit Ihrem dreckigen Kleid vielleicht nicht so gerne darauf Platz nehmen lassen.«
Erschrocken sah Julia ihm dabei zu, wie er den Wagen umrundete und an der Fahrerseite einstieg. Er hat recht, dachte sie beschämt. Sie konnte froh sein, dass er angehalten hatte und nicht einfach weitergefahren war wie der rote Sportwagen. Das war schon sehr nett von ihm gewesen.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte Ihnen keine Umstände machen.«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Passt schon. Steigen Sie ein.«
Julia blickte noch mal zurück zu ihrem Mini, der beschädigt am Straßenrand stand, dann zog sie sich an der Tür hoch und setzte sich auf den Beifahrersitz. Der nasse Rock berührte unangenehm kalt ihre Beine.
»Denken Sie, es ist okay, wenn ich den Wagen erst mal hierlasse?«, fragte sie, während sie sich anschnallte. »Ich kümmere mich gleich morgen darum, dass er in die nächste Werkstatt abgeschleppt wird. Es gibt hier doch sicher eine?«
»Das weiß ich nicht«, gestand er. »Früher ja, aber ich war schon einige Jahre nicht mehr in Carywith.«
Er startete den Motor. Das Gebläse sprang an, und der kalte Luftzug ließ Julia in ihrem nassen Kleid frösteln. Sie dachte an ihre Jacke, die sie heute Morgen in ihre Reisetasche gestopft hatte, weil das Juliwetter so schön gewesen war. Den Mann bitten, die Tasche noch mal aus dem Auto zu holen, wollte sie nicht, das würde nur Zeit kosten, und sie war sowieso schon unglaublich spät dran. Deshalb verschränkte sie nur die Arme vor der Brust und wartete darauf, dass es losging.
Der Mann warf ihr einen Seitenblick zu. »Ist Ihnen kalt?«
»Es geht schon«, erklärte sie. »Bitte, können wir fahren? Ich habe es ein bisschen eilig.«
Er griff hinter seinen Sitz und zog mit einigen Mühen eine dunkelblaue Sweatjacke heraus. »Hier, die können Sie überziehen, wenn Sie wollen.«
Julia nahm die Jacke entgegen, die ihr mehrere Nummern zu groß war. »Aber dann wird sie dreckig«, gab sie zu bedenken.
»Das macht nichts«, erwiderte der Mann. »Na los, so viel Zeit muss sein. Sie klappern ja gleich mit den Zähnen.«
Hastig schnallte Julia sich noch einmal ab und schlüpfte in die Jacke. Sie musste die Ärmel umkrempeln, aber der dicke Sweatstoff wärmte sie sofort angenehm.
»Danke.« Sie schloss den Reißverschluss der Jacke und schnallte sich wieder an, während der Mann den Jeep zurück auf die Straße lenkte.
Erst jetzt registrierte Julia den männlichen Duft, den die Jacke verströmte. Es war eine Mischung aus Zeder, Moos und Seife, die sie sehr angenehm fand, aber die sie gerade deshalb auch irritierte. Genauso warm und wohlriechend wäre vermutlich eine Umarmung des Mannes gewesen, und das fühlte sich viel zu intim an, schließlich kannten sie sich gar nicht.
»Ich bin übrigens Henry«, sagte er, fast so, als hätte er ihren Gedanken erraten, und setzte den Blinker, um einem Straßenschild zu folgen. »Henry Campbell.«
»Julia Shaw«, erwiderte sie und betrachtete den Mann von der Seite. Campbell war ein schottischer Name. Und dann noch der deutlich hörbare Akzent …
»Sie kommen nicht aus Carywith, oder?«
»Nein«, bestätigte er. »Ich besuche hier nur eine alte Freundin.«
Julia fragte sich, ob das Adjektiv auf das Alter der Freundin bezogen war. Oder meinte er, dass er sie schon lange kannte? Eine Ex-Freundin vielleicht? Er sah irgendwie so aus, als hätte er Erfolg bei Frauen. Jedenfalls bei denen, die auf Chaoten stehen, dachte sie und warf einen schnellen Blick über ihre Schulter auf das achtlos gestapelte Gepäck.
Die Straße führte über einen weiteren Hügel, und Julia stieß überrascht die Luft aus.
»Ist das Carywith?«
Henry Campbell nickte. »Schön, oder?«
Da konnte Julia ihm nur zustimmen, denn das Fischerdorf, das sich unten an den Rand der Bucht schmiegte, war wirklich ganz zauberhaft. Kleine Häuser, deren Steinfassaden teilweise weiß getüncht waren, standen dicht beieinander, ein Kirchturm ragte aus den Dächern heraus, und im Hafen lagen die Boote hinter der Kaimauer nicht an Stegen, sondern waren einfach mit einem gewissen Abstand zueinander im Hafenbecken festgemacht.
Julia hatte im Internet viel über Carywith recherchiert und wusste, dass gerade Flut sein musste. Bei Ebbe würden die Boote nämlich wie gestrandete Wale auf dem Strand liegen und warten müssen, bis das Wasser zurückkam. Das betraf auch die Fischerboote direkt an der Kaimauer, über denen zahlreiche Möwen ihre Kreise zogen. Weiter draußen am Ende der Landzunge entdeckte Julia außerdem den kleinen Leuchtturm, der den Schiffen den Weg wies.
Sie seufzte tief und vergaß für einen Moment ihr dreckiges, nasses Kleid und die Sorgen, die sie sich wegen ihrer Verspätung machte.
Es war richtig, an diesen idyllischen Ort zu fahren, weit weg von London, dachte sie. Hier konnte sie endlich zur Ruhe kommen und vergessen, was in der St. George’s Vet Clinic passiert war. Und hier lief sie auch nicht Gefahr, Rob und Stella zu begegnen und mitansehen zu müssen, wie die beiden miteinander turtelten …
»Alles okay?« Henry Campbell warf ihr einen Seitenblick zu, und Julia merkte zu ihrem Schrecken, dass sich eine Träne aus ihrem Auge gelöst hatte. Hastig nahm sie ihre Brille ab und wischte sich über die Wange.
»Ja, alles gut«, versicherte sie ihm.
Er griff an ihr vorbei und öffnete das Handschuhfach, zog zwischen den vielen Dingen, die darin herumflogen, zielsicher eine Packung Taschentücher hervor. »Hier.«
Julia nahm die Taschentücher dankbar an. Sie schnäuzte sich und stopfte das benutzte Taschentuch in ihre Handtasche. Dann klappte sie die Sonnenblende herunter und blickte in den kleinen Spiegel.
Na toll, dachte sie und nahm sich noch ein Taschentuch, um damit den schwarzen Strich wegzuwischen, den die Träne über ihre Wange gezogen hatte. Normalerweise schminkte sie sich kaum, aber heute hatte sie Eyeliner und Wimperntusche aufgetragen. Es betonte ihre bernsteinfarbenen Augen, die das Auffälligste an ihr waren, wie sie fand. Die dünne Fassung ihrer Brille war deshalb goldfarben – weil das gut zusammenpasste. Ansonsten war sie nicht wirklich etwas Besonderes. Ihre Gesichtszüge waren gleichmäßig und weder auffällig schön noch hässlich, mit einer geraden Nase und geschwungenen Lippen. Ihre langen Haare, die eine fiese Klassenkameradin mal als »mausbraun« bezeichnet hatte, waren zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, doch einzelne Strähnen lösten sich bereits daraus. Und sie war wie immer viel zu blass. Ihre Haut neigte generell eher zu Sonnenbrand als zu Sonnenbräune, aber im Moment war sie weiß wie die Wand, und das betonte die dunklen Schatten unter ihren Augen. Sie schlief einfach nicht mehr gut in letzter Zeit, weil ihr das alles so zusetzte. Dann noch der schreckliche Tag heute – war es da ein Wunder, dass sie nicht aussah wie das blühende Leben?
Julia klappte die Sonnenblende energisch wieder hoch, und als sie nach vorn blickte, sah sie, dass sie den Ortsrand von Carywith erreicht hatten.
Wohin müssen Sie denn?«, erkundigte sich Henry Campbell.
»Zum Cove Cottage«, erwiderte Julia. »Das liegt etwas außerhalb des Ortes, an der Ocean Road.« Sie kramte ihr Handy heraus. »Warten Sie, ich kann Ihnen genau sagen, wo Sie …«
»Ich weiß, wo das ist«, sagte er und musterte sie mit neuem Interesse. »Da wohnt Isobell Chegwin. Sie ist die alte Freundin, die ich besuchen will.«
»Oh!« Julia starrte ihn an, erschrocken darüber, dass sie nicht viel früher geschaltet hatte. Herrje, er war auch Tierarzt! Und wenn er ebenfalls zum Cove Cottage wollte, dann war das vielleicht kein Zufall! »Aber Sie sind nicht wegen der Praxis hier, oder?«, erkundigte sie sich vorsichtig.
»Wegen Isobells Tierarztpraxis?«, fragte er zurück. »Wieso? Was ist denn damit?«
»Doktor Chegwin will sich zur Ruhe setzen«, erwiderte Julia. »Sie verkauft das Haus und die Praxis.«
Sie sah die Anzeige wieder vor sich, auf die sie bei ihren Recherchen im Internet gestoßen war. Altes Cottage in Cornwall mit angeschlossener Tierarztpraxis an Nachfolger/in zu verkaufen hatte es darin geheißen, und Julia hatte sofort gewusst, dass das die Lösung für sie war. Schon als Kind hatte sie immer davon geträumt, Landtierärztin zu sein. So wie in »Der Doktor und das liebe Vieh«, der Lieblingsserie ihres Kindermädchens. Nala hatte alle Folgen auf DVD besessen, und es gehörte zu Julias glücklichsten Kindheitserinnerungen, auf dem Schoß der Spanierin zu sitzen und den Geschichten um die Tierärzte James Herriot und Siegfried und Tristan Farnon zu folgen, die in einem Dorf in Yorkshire praktizierten. Manchmal war sie sogar sicher, dass ihr Entschluss, Veterinärmedizin zu studieren, etwas mit diesem Kindheitserlebnis zu tun hatte.
Ihre Eltern waren total entsetzt gewesen über ihren Berufswunsch, beide hatten erwartet, dass ihre einzige Tochter in ihre Fußstapfen treten und in die Wirtschaft gehen würde. Ihr Vater hatte sogar gedroht, ihr die Studiengebühren nicht zu bezahlen. Zum Glück war Julias Großtante Paige vermögend genug gewesen, um für sie in die Bresche zu springen. Auntie Paige hatte sie immer unterstützt, und ihr war es am Ende auch gelungen, Julias Eltern davon zu überzeugen, dass Julia ihren eigenen Weg gehen musste.
Und genau das hatte Julia getan. Sie hatte ihr Studium der Veterinärmedizin in Rekordzeit beendet, und zwar so gut, dass sie anschließend sofort von einer der renommiertesten Tierkliniken Londons angeworben worden war. Und dort wäre sie jetzt vermutlich auch noch angestellt, wenn die Sache mit Dominion nicht passiert wäre. Der Skandal um das wertvolle Rennpferd hatte Julias Leben massiv aus der Bahn geworfen, und für einige lange, dunkle Wochen hatte sie nicht mehr gewusst, was sie tun sollte. Erst die Anzeige von Isobell Chegwin hatte das geändert. Ein Cottage in Cornwall mit angeschlossener Praxis war der Ausweg, nach dem Julia gesucht hatte. Und den würde sie sich auch nicht nehmen lassen, deshalb hielt sie Henry Campbells forschendem Blick stand.
»Isobell will … was?«, fragte er, sichtlich entsetzt.
»Sie verkauft das Cottage und die Praxis«, wiederholte Julia. »Und zwar an mich. Das hat sie mir mündlich schon zugesagt, und ich bin hier, um …«
»Nein, da irren Sie sich«, unterbrach er sie. »Ich bin Isobells Nachfolger. Wenn sie die Praxis tatsächlich aufgibt, dann geht sie an mich.«
»Aber …« Julias Gedanken rasten zurück zu ihrem Telefonat mit der alten Tierärztin. »Das kann nicht sein! Ich habe gestern noch mit Doktor Chegwin gesprochen, und da meinte sie, es gäbe keine weiteren Bewerber.«
Henry Campbell wich einem Transporter aus, der ihm auf einer der engen Gassen im Ort entgegenkam.
»Ich muss mich nicht bewerben«, erklärte er. »Diese Abmachung haben Isobell und ich schon getroffen, als ich damals mein Studium begonnen habe. Sie meinte, dass ich die Praxis übernehmen kann, wenn ich das will. Das habe ich sogar schriftlich.«
Julia schwieg. Ihr war plötzlich kalt, und sie achtete nicht mehr auf den Hafen, an dem sie jetzt vorbeifuhren. Ihre Gedanken überschlugen sich. Konnte das wirklich sein, dass ausgerechnet der Mann, der ihr in ihrer Not geholfen hatte, ihr die eine Sache wegnahm, die überlebenswichtig für sie war?
Nein, so haben wir nicht gewettet, dachte sie und spürte, wie ihr Kampfgeist zurückkehrte.
»Doktor Chegwin hat Sie nicht erwähnt«, beharrte sie. »Und Sie haben eben selbst noch gesagt, dass Sie nicht wissen, wie es für Sie weitergeht. Da war von einer Praxisübernahme noch nicht die Rede.«
Henry Campbell hupte, weil ein anderes Auto ihn nicht passieren ließ, dann bog er ab, und Julia sah, dass sie dabei waren, den Ort wieder zu verlassen.
»Ich hatte keine Ahnung, dass Isobell aufhören will«, erklärte er. »Aber wenn es so ist, dann trete ich selbstverständlich ihre Nachfolge an. So war es immer verabredet.« Er deutete nach vorn. »Aber wir können Isobell auch selbst fragen, wem von uns sie die Praxis gibt. Wir sind nämlich gleich da.«
Julia sah, dass sich der Weg vor ihnen gabelte. Henry folgte dem linken Abzweig einen kleinen Hügel hinauf. Nach einer sanften Rechtskurve lag das Cottage vor ihnen.
Die letzten rosavioletten Streifen am Himmel tauchten das Haus mit dem tiefgezogenen Reetdach und dem schwarz-weißen Fachwerk in ein zauberhaft warmes Licht. Ein Garten umgab das Anwesen, mit knorrigen Bäumen und üppigen Stauden und Blumen, deren Blüten sich zur Nacht bereits geschlossen hatten. In die niedrige Steinmauer, die das gesamte Grundstück umgab, war ein weiß gestrichenes, einladend geöffnetes Tor eingelassen, durch das Henry den Defender fuhr. Als er auf dem großen Platz vor dem Haus neben einem dunkelgrünen Range Rover anhielt, sah Julia, dass sich hinter dem Cottage noch ein weiteres Gebäude anschloss, das sie ebenfalls schon von den Fotos im Internet kannte. Es war der ehemalige Stall, der erweitert und zur Praxis umfunktioniert worden war. Weiter hinten auf dem Grundstück erkannte sie außerdem noch etwas, das wie ein kleines Gartenhaus aussah.
Julia konnte es kaum fassen. Auf den Bildern hatte Cove Cottage schon zauberhaft gewirkt, aber in natura war es …
»Perfekt«, murmelte sie und sah zu Henry Campbell, der den Kopf zu ihr gewandt hatte.
»Das finde ich auch.« Seine blauen Augen funkelten herausfordernd, während er schwungvoll die Fahrertür öffnete und den Wagen verließ. Mit langen Schritten ging er zum Cottage.
»Warten Sie!« Julia wollte ihm folgen, doch als sie ausstieg, merkte sie, dass sie immer noch die viel zu große Sweatjacke trug. Verärgert öffnete sie den Reißverschluss, um sie abzustreifen – und sah die Flecken auf ihrem Kleid. Sie überlegte kurz und beschloss dann, dass die Jacke das kleinere Übel war. Schnell schloss sie den Reißverschluss wieder und umrundete das Auto.
Henry Campbell stand schon an der Haustür, die sich gerade öffnete. Licht fiel aus dem Innern des Cottages und umgab die alte Frau, die im Türrahmen erschien, wie ein Heiligenschein. Sie musste um die siebzig sein, war groß und schlank und hielt sich sehr gerade. Ihr schlohweißes Haar war in ihrem Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, und sie trug einen braunen Rock und einen langen grünen Cardigan, den sie vor der Brust zusammenhielt.
»Duncan, jetzt sag nicht, du hast schon wieder …« Sie hielt inne, und ein strahlendes Lächeln erschien auf ihrem faltigen Gesicht. »Henry!«, rief sie entzückt und streckte die Arme aus. »Ja, ist das denn die Möglichkeit! Was machst du denn hier?«
»Hallo, Isobell.« Henry ging auf sie zu und drückte sie fest an sich, was Julia, die jetzt ebenfalls vor der Tür ankam, einen Stich versetzte. Die beiden kannten sich offenbar wirklich gut.
»Meine Güte, wie lange ist das her?«, fragte die alte Dame, als sie sich wieder von Henry löste. »Sechs Jahre?«
»Ziemlich genau«, bestätigte er, während Isobells Blick auf Julia fiel.
»Und wer ist das?«, fragte sie lächelnd. »Deine Freundin?«
»Nein, das ist Julia Shaw«, erklärte er, bevor Julia es schaffte, sich selbst vorzustellen. »Ihr Auto ist draußen auf der Landstraße liegen geblieben, deshalb habe ich sie mitgenommen.«
»Ach, Doktor Shaw, natürlich!« Die alte Tierärztin nickte und betrachtete Julia noch einmal genauer. »Mit Ihnen hatte ich, ehrlich gesagt, nicht mehr gerechnet. Ich dachte, Sie hätten es sich anders überlegt.«
»Nein, das habe ich nicht«, erklärte Julia hastig. »Ich wurde nur aufgehalten, deshalb bin ich so spät dran. Ich habe versucht, Sie anzurufen und Ihnen das mitzuteilen. Aber es ist niemand rangegangen.«
»Oh, das kann sein«, erklärte Isobell Chegwin. »Ich musste heute Mittag raus zur Farm vom alten Duncan. Er hatte Sorge um eines seiner Schafe. Es war zum Glück nur eine Kolik, aber es hat eine Weile gedauert. Und zwischendurch war ich im Garten. Wenn ich nach meinen Blumen sehe, vergesse ich manchmal die Zeit.« Sie lächelte versöhnlich. »Und Sie hatten Schwierigkeiten mit Ihrem Auto, sagt Henry? Was ist denn passiert?«
»Ich hatte einen kleinen Unfall.« In wenigen Worten schilderte Julia ihre Panne, ohne allzu deutlich darauf einzugehen, dass sie selbst schuld daran war, weil sie nicht aufgepasst hatte. Dafür erklärte sie, wieso sie eine Jacke trug, die ihr viel zu groß war und ihren Aufzug ganz sicher lächerlich wirken ließ.
»Mister Campbell war so nett, mir auszuhelfen«, sagte sie mit einem Seitenblick auf den blonden Hünen, der für ihren Geschmack zu dicht neben ihr stand. Seine Größe war ein bisschen einschüchternd, vor allem jetzt, wo sie wusste, dass sie Konkurrenten waren.
»Das war aber nett von dir, Henry«, sagte Isobell Chegwin. »Aber du warst ja schon immer ein Gentleman.« Sie betrachtete Julia mitleidig. »Wollen Sie sich vielleicht erst mal umziehen?«
Julia war kurz versucht, das Angebot anzunehmen. Doch dann hätte sie Henry mit der alten Dame allein lassen müssen, und die Chance wollte sie ihm nicht geben, deshalb schüttelte sie den Kopf. »Nein, es geht schon.«
»Na, dann kommt erst mal rein«, meinte Isobell Chegwin. »Ich werde uns Tee machen und mal nachsehen, was ich noch an Essen im Haus habe.«
Julia und Henry sahen sich an. »Nach Ihnen«, sagte er und ließ ihr mit grimmiger Miene den Vortritt.
Den Eingangsbereich mit den hübschen Steinfliesen erkannte Julia sofort von den Bildern wieder, die sie im Netz gesehen hatte. Es gab einen kleinen Tisch, auf dem eine Vase mit frischen Blumen stand, und einen mit blauem Samt bezogenen Sessel. Die Farbe changierte leicht, und Julia musste sofort an das Meer denken. Links daneben führte eine Holztreppe nach oben in den ersten Stock, rechts ging ein Flur in den hinteren Teil des Hauses.
An dieser Stelle endete jedoch die Ähnlichkeit mit den Fotos, die Julia kannte. Denn offensichtlich hatte Isobell schon angefangen, ihre Sachen für den Umzug zu packen. Auf der Treppe stapelten sich Bücher, und im Flur standen mehrere Kartons. Eine Lampe mit aufgewickeltem Kabel lag darauf.
»Ihr müsst entschuldigen«, sagte Isobell. »Ich sortiere gerade aus. Über die Jahre hat sich einfach zu viel angesammelt, und das möchte ich nicht alles mitnehmen.«
»Dann stimmt es also?«, erkundigte sich Henry. »Du verlässt Carywith?«
Die alte Dame nickte. »Ich ziehe zu meiner Cousine nach Nottingham. Emma hat den Tod ihres Mannes nicht gut verkraftet. Sie lebt in einem großen Haus mit Garten und möchte nicht allein sein – und wenn ich ganz ehrlich bin, will ich das auch nicht mehr. Ich werde nicht jünger, und es ist besser, wenn ich diesen Schritt jetzt gehe. Solange ich hier wohne, würde ich niemals aufhören zu arbeiten.«
Henry schüttelte den Kopf. »Aber …«
»Geht doch schon mal vor in den Salon«, unterbrach Isobell ihn und deutete in den Flur. »Ich mache nur schnell den Tee. Ich bin gleich zurück.«
Sie verschwand durch eine Tür, hinter der Julia die Küche vermutete. Henry brummte etwas Unverständliches und ging dann weiter durch den Flur. Julia folgte ihm in den Raum ganz hinten rechts, der offensichtlich als Wohnzimmer diente.
Ein hoher Zeitschriftenstapel auf dem Couchtisch und zwei übereinandergestellte Kartons in einer Ecke zeugten davon, dass Isobell hier offenbar auch schon mit dem Ausmisten angefangen hatte. Ansonsten war jedoch alles noch an seinem Platz: ein Sofa und zwei Lehnsessel, die bequem aussahen und mit einem hübschen Stoff mit Blumenprint bezogen waren, standen vor dem Kamin, und mehrere Bücherschränke mit Glastüren, übervoll mit alten, ledergebundenen Büchern, flankierten den kleinen Sekretär unter dem einzigen Fenster. An den Wänden hingen gerahmte Bilder, die allesamt Blumenmotive zeigten, und zwei große gläserne Flügeltüren führten auf eine Steinterrasse hinaus. Von dort aus sah man nicht nur den Garten, sondern etwas weiter entfernt auch das Meer. Es war genauso schön wie auf dem Foto, das Julia gesehen hatte, und ihr Herz schlug schneller, weil sie jetzt noch sicherer war, dass sie dieses Haus unbedingt haben wollte. Aber würde sie es bekommen?
Sie blickte zu Henry Campbell hinüber, der an die Glastür getreten war und hinausstarrte. Seine Hände steckten in den Taschen seiner Jeans, und seine Schultern wirkten angespannt. Dass er ihr den Rücken zuwandte, kam ihr fast demonstrativ vor, so als wollte er ihre Anwesenheit absichtlich ignorieren. Aber er kannte sie schlecht, wenn er glaubte, dass sie sich davon beeindrucken ließ. Wenn sie eins gelernt hatte während der harten Jahre im Internat, dann sich nicht einschüchtern zu lassen. Sie mochte klein sein, aber das bedeutete nicht, dass sie sich alles gefallen ließ …
Als hätte er ihre Gedanken gehört, drehte Henry sich plötzlich wieder zu ihr um. Ihre Blicke trafen sich, und Julia schluckte, als sie die Traurigkeit sah, die für eine Sekunde in seinen blauen Augen lag. Dann aber funkelte er sie wieder so wütend an wie zuvor im Wagen.
»Wie kommen Sie eigentlich darauf, dass eine Tierarztpraxis auf dem Land etwas für Sie wäre?«, fragte er. »Sie sind doch völlig ungeeignet! Das muss jemand machen, der weiß, wie die Leute hier ticken. Jemand, der Isobell würdig ersetzen kann.«
Julia schluckte, aber sie hielt seinem Blick stand. »Ach, und das können Sie?«
»Jedenfalls bin ich sehr viel geeigneter als Sie«, setzte er seine Tirade fort. »Ich habe früher alle meine Ferien bei Isobell verbracht. Durch sie habe ich von der Pike auf gelernt, was Tierärzte hier draußen machen. Außerdem kenne ich mich in Carywith aus. Sie dagegen können nicht mal unfallfrei über eine freie Landstraße fahren und kutschieren obendrein noch Ihren Hamster durch die Gegend! Das sagt doch alles!«
Seine Worte trafen Julia, aber sie wich nicht zurück, sondern trat einen Schritt auf ihn zu, blickte zu ihm auf.
»Ach ja? Na, wenn der Inhalt unserer Autos Rückschlüsse auf unsere berufliche Befähigung zulässt, dann würde ich sagen, dass Isobell sich gut überlegen sollte, Ihnen die Praxis oder das Cottage mit dem gepflegten Garten anzuvertrauen. Sie würden es doch schaffen, diesen Ort im Nullkommanichts ins Chaos zu stürzen.«
Henry blinzelte, und an seiner Wange zuckte ein Muskel, wie Julia zufrieden registrierte. Doch dann schluckte sie erneut, weil er weiter auf sie zukam. Sie standen jetzt dicht voreinander, und er beugte sich drohend zu ihr herunter.
»Gut, geschenkt, dann sind Sie vielleicht organisierter als ich«, knurrte er. »Aber hier geht es nicht darum, wer die Papiere besser in Aktenordner heften kann, sondern wer es schafft, die Tiere der Leute optimal zu versorgen. Und wir reden hier nicht von Hamstern. Hier müssen Bullen kastriert und Kälber und Fohlen auf die Welt geholt werden. Sie werden ja wohl nicht leugnen, dass Ihnen dafür die körperlichen Kräfte fehlen.«
»Sie sollten mich nicht unterschätzen, Mister Campbell«, gab sie zurück. »Vor allem dann nicht, wenn Sie meinen beruflichen Werdegang nicht kennen. Ich habe in meinem letzten Job vor allem mit Pferden gearbeitet und weiß mir durchaus zu helfen, wenn ein Tier mehr wiegt als mein kleiner Bungee.«
Henry Campbell ballte die Hände zu Fäusten und starrte sie grimmig an, aber zumindest für den Moment schienen ihm die Argumente ausgegangen zu sein.
»Na, worüber redet ihr denn so angeregt?« Die alte Dame betrat lächelnd den Salon. Sie trug ein Tablett mit drei dampfenden Bechern Tee und einem großen Teller mit Sandwiches und stellte es auf dem Couchtisch ab.
Julia wich einen Schritt von Henry zurück, und er tat dasselbe und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
Isobell schien jetzt zu merken, wie aufgeladen die Stimmung zwischen ihnen war, und runzelte besorgt die Stirn. »Oder streitet ihr euch etwa?«
»Ja, das tun wir«, stieß Henry hervor. »Weil Miss Shaw behauptet, du hättest ihr zugesagt, dass sie das Cottage und die Praxis kaufen kann.«
Isobell setzte sich auf das Sofa. »Ja, so ist es. Die Details müssen wir natürlich noch klären, aber da sie bis jetzt die einzige Interessentin ist, werden wir uns sicher einig werden.«
»Genau«, bestätigte Julia erleichtert. »Da werden wir uns sogar ganz bestimmt einig.«
Henry lief jetzt nervös auf und ab und fuhr sich immer wieder mit der Hand durch sein blondes Haar, das ihm gleich zurück in die Stirn fiel.
»Aber das geht nicht, Isobell. Du hast mir die Praxis versprochen, weißt du nicht mehr?« Er blieb stehen und sah sie eindringlich an. »Du hast gesagt, ich kann sie übernehmen, wenn ich will.«
Die alte Dame überlegte einen Moment. »Ja, das stimmt. Aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Henry, das war vor einer Ewigkeit. Du warst doch zuletzt nur noch im Ausland unterwegs, und ich habe dich seit Jahren nicht zu Gesicht bekommen. Ich dachte, das hättest du längst vergessen.«
»Nein, das habe ich nicht!« Er zog ein schon reichlich ramponiertes Portemonnaie aus der Gesäßtasche seiner Jeans und klappte es auseinander, öffnete eines der Fächer und holte nach einigen Schwierigkeiten einen zusammengefalteten Zettel heraus. Die Kanten waren vergilbt, und das Papier klebte zusammen, dennoch gelang es ihm, es zu entfalten. Julia sah, dass etwas Handgeschriebenes darauf stand. Henry reichte Isobell den Zettel, die ihn überrascht entgegennahm.
»Mein Gott, das hast du noch?«
Julia schluckte. »Was steht da drauf?«
»›Hiermit erkläre ich, Henry William Campbell, dass ich Tierarzt werde, weil es der beste Beruf der Welt ist‹«, zitierte er aus dem Kopf.
»Und ich habe druntergeschrieben: ›Hiermit erkläre ich, Isobell Belinda Chegwin, dass Henry William Campbell eines Tages meine Praxis übernehmen darf, wenn er tatsächlich Tierarzt wird‹«, ergänzte Isobell. Sie hatte Tränen in den Augen. »Meine Güte, Henry, das haben wir aufgeschrieben, als du zwölf warst. Hast du das wirklich die ganzen Jahre bei dir getragen?«
Er nickte. »Es war immer mein Traum, in deine Fußstapfen zu treten. Ich möchte …«
»Nein!« Der Ausruf entfuhr Julia spontan. Sie wandte sich an Isobell. »Ich war zuerst da! Sie haben mir gestern zugesagt, dass ich die Praxis kaufen kann. Das war auch schon immer mein Traum. Ich muss neu anfangen, und dieses Haus ist perfekt. Ich liebe es jetzt schon!« Sie schluckte gegen den Kloß an, der ihr plötzlich im Hals saß. »Bitte, Doktor Chegwin, verkaufen Sie an mich. Ich werde mich gut um alles kümmern, darauf können Sie sich verlassen.«
»Das kommt nicht infrage! Ich habe die sehr viel älteren Rechte«, beharrte Henry und deutete auf den Zettel. »Wie ich belegen kann.«
»So eine Briefbotschaft ist doch kein bindender Vertrag«, schimpfte Julia. »Das bedeutet gar nichts!«
»Immerhin habe ich etwas Schriftliches«, erwiderte Henry. »Sie dagegen …«
»Stopp! Nicht streiten!«, rief Isobell. Sie war ganz blass geworden. »Meine Güte, das tut mir so leid! Ich habe Henry damals wirklich versprochen, dass er die Praxis bekommen kann, wenn er sie will. Daran habe ich nur nicht mehr gedacht. Und Ihnen habe ich auch schon fest zugesagt, Doktor Shaw. Was mache ich denn jetzt?«
Sie schwieg einen langen Moment, dann hob sie in einer hilflosen Geste die Arme. »Ich kann die Praxis nicht teilen, und das Haus auch nicht. Also muss ich eine Entscheidung treffen. Aber dafür muss ich erst noch etwas wissen. Und zwar von …« Sie sah Julia an, dann schwenkte ihr Blick zu Henry. »Und zwar von dir.«
»Bist du dir ganz sicher, dass du die Praxis übernehmen willst?«
Henry sah den fragenden Ausdruck in Isobells Augen, und für einen kurzen Moment überkamen ihn Gewissensbisse. Nein, er war nicht sicher. Dafür war seine Zukunft zu ungewiss.
Aber er konnte auch nicht zulassen, dass er diesen Ort verlor, der in seiner Vorstellung immer seine ultimative Zuflucht gewesen war. Wenn Julia Shaw die Praxis übernahm, dann konnte er nicht mehr hierherfahren, wenn es ihm schlecht ging – so wie jetzt. Dann würde sie alles verändern und auslöschen, was diesen Ort so besonders machte. Das würde er verhindern, zur Not, indem er die Praxis erst einmal übernahm. Wie er das Problem dann löste, wusste er noch nicht, das würde sich finden. Hauptsache, Julia Shaw schnappte ihm nicht weg, was in seinen Gedanken immer seins gewesen war. Deshalb nickte er entschlossen.
»Ja, das will ich. Das sagte ich doch.«
»Aber Sie haben das reichlich spontan entschieden«, warf Julia ein. Sie trat einen Schritt auf ihn zu und schob einen der umgekrempelten Ärmel der Sweatjacke hoch, der sofort wieder herunterrutschte. Die Jacke hing an ihr wie ein Sack, bedeckte ihr Kleid fast vollständig. Nur der Rocksaum schaute unten heraus. »Auf der Fahrt sagten Sie noch, dass Sie nicht wissen, wie es für Sie weitergeht. Erst als Sie erfuhren, dass die Praxis zum Verkauf steht, ist Ihnen plötzlich eingefallen, dass Sie sie auch haben wollen. Das klingt für mich nicht nach einem wohlüberlegten Entschluss.«
Henry musterte Julia mit einer Mischung aus Ärger und Verzweiflung. Herrgott, diese Frau war die Pest! Er hatte sie komplett unterschätzt, als er sie vorhin am Straßenrand hatte stehen sehen. Sie war keine besondere Schönheit; klein und zierlich, mittelbraunes Haar, Brille. In ihrem nass gespritzten Kleid hatte sie hilflos gewirkt, aber das war sie nicht, im Gegenteil. Julia Shaw wusste sich zu wehren und hielt dagegen, wenn man sie angriff. Und vor allem schien sie überhaupt nicht beeindruckt zu sein von ihm, was ihn ziemlich irritierte. Er war es gewohnt, dass ihm seine Größe von einem Meter neunzig und seine kräftige Statur eine Art natürlichen Respekt verschafften. Das schien für Julia jedoch nicht zu gelten. Sie wich kein Stück zurück, wenn er sie anging, und auch jetzt blitzten ihre bernsteinfarbenen Augen angriffslustig hinter ihren Brillengläsern.
Hätte ich doch bloß nicht angehalten, dachte er. Wenn er weitergefahren wäre, dann wäre er vor Julia Shaw hier gewesen und hätte eine bessere Chance gehabt, die Situation zu kontrollieren. Aber das hatte er nicht fertiggebracht, weil sie ausgesehen hatte, als käme sie nicht klar. Sein Fehler!
Er fuhr sich wieder durch die Haare, wie immer, wenn er aufgebracht war. »Ich hatte keine Gelegenheit, es vorher zu entscheiden, weil ich nicht wusste, dass du dich zur Ruhe setzen willst, Isobell«, rechtfertigte er sich. »Wenn du es mir gesagt hättest, dann wäre ich längst hergekommen, um die Übernahme mit dir zu klären.«