Ein ganzes Leben lang - Hans Ernst - E-Book

Ein ganzes Leben lang E-Book

Hans Ernst

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Beschreibung

Regina, die bildhübsche Tochter des Tierarztes von Heimatsried, liebt Peter, der nur der Sohn eines armen Korbflechters ist. Ihre Eltern sind fassungslos darüber, machen der jungen Frau schwere Vorhaltungen und brechen schließlich sogar mit ihr. Doch Regina kämpft unerschrocken für ihr Lebensglück und setzt sich über Engstirnigkeit und falsches Standesbewusstsein hinweg. Und am Ende zeigt sich, dass der Erfolg dem jungen Paar Recht gibt.

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LESEPROBE ZU

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 1998

© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Titelfoto: Michael Wolf, München

Redaktion: Petra Schnell, Stephanskirchen

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-475-54740-9 (epub)

Worum geht es im Buch?

Hans Ernst

Ein ganzes Leben lang

Regina, die bildhübsche Tochter des Tierarztes von Heimatsried, liebt Peter, der nur der Sohn eines armen Korbflechters ist. Ihre Eltern sind fassungslos darüber, machen der jungen Frau schwere Vorhaltungen und brechen schließlich sogar mit ihr. Doch Regina kämpft unerschrocken für ihr Lebensglück und setzt sich über Engstirnigkeit und falsches Standesbewusstsein hinweg. Und am Ende zeigt sich, dass der Erfolg dem jungen Paar Recht gibt.

1

Es ist halb vier Uhr früh. Im Lindenbaum des Pfarrgartens in Heimatsried pfeift eine Amsel. Vom Turm der Kirche dröhnen die zwei Schläge so laut, dass die Amsel erschrocken innehält. Noch schläft der Marktflecken.

Nur beim Bäcker Hammerer brennt Licht in der Backstube und der Rauch steigt kerzengerade aus der Esse in die Morgendämmerung auf. Langsam verblassen die Sterne im aufkommenden Wind. Um diese Zeit erblickt Regina Helmbrecht mit einem ersten hellen Schrei das Licht der Welt.

In der weißen, in einer wunderlichen Mischung von gotischem und barockem Stil gebauten Villa des Tierarztes Heinrich Helmbrecht hat die ganze Nacht das Licht gebrannt.

Jetzt packt Dr. Hinterholzer die Instrumente zusammen und gibt der Hebamme noch Anweisungen. Die Geburt war schwer und mitunter hat es während der letzten Stunde so ausgesehen, als ob dieses Kind gar nicht lebend zur Welt kommen sollte. Aber dann hat Gott ein Einsehen gehabt mit der gequälten Frau und dem Ungeborenen. Wer weiß, vielleicht hat er noch etwas Besonderes vor mit diesem Kind.

Jetzt verlässt der Arzt das Haus. Bei der Gartenlaube, wo der Weg zur Straße hinausführt, steht Dr. Helmbrecht, die Augen müde und sorgenvoll.

Er hat es nicht mehr ausgehalten im Haus, in dem die Stunden dieser Nacht kein Ende nehmen wollten. Sooft er die Hebamme hatte abfangen können, hatte er sie mit den drei Worten »Was ist los?« überfallen. Und da sie nicht geneigt schien, ihm auf sein klares und eindeutiges Fragen ebenso klare Antworten zu geben, vielmehr nur mit den Schultern zuckte, zwang er sich, den Mund nicht mehr aufzutun. Er hatte schließlich doch ein Recht zu fragen, und es war kein Grund gegeben, seine Sorge zu verstecken, wenn der Tod um das Haus schlich, um die Mutter oder das Kind oder alle beide zu holen.

Nein, es ist und bleibt erbärmlich, dass ein Mann in solchen Stunden zu einem Nichts gestempelt wird. Er stehe nur im Weg herum, hatte die Köchin ihm frank und frei erklärt, als er in der Küche auf und ab gegangen war.

»Ich stehe im Weg? Dann kann ich ja gehen. Aber komme mir hernach niemand damit, ich sei davongelaufen, als es gefährlich wurde.«

Aber er geht nicht weit. Nur in den Stall, in dem die beiden Ponyhengste, Max und Moritz, mit leisem Wiehern die Köpfe drehen, in der Meinung, es sei schon Futterzeit.

Von dort geht er in den Garten, vergräbt sein Gesicht für ein paar Minuten in den blühenden Fliederbüschen und schaut dann wieder zu den Sternen hinauf.

Endlich kommt Dr. Hinterholzer. Sofort rennt er auf ihn zu und sieht ihn voll banger Spannung an.

»Was … was ist denn eigentlich los?«

»Ein Mädchen ist es. Eine schwere Geburt. Wirklich, solche Geburten habe ich nicht viele gehabt. Aber nun ist es ja glücklich vorüber. Ich gratuliere, Helmbrecht. Ein gesundes Mädchen, fast acht Pfund. Na ja, jetzt haben Sie ein Pärchen.«

Helmbrecht atmet glücklich und befreit auf, dann schiebt er seinen Arm unter den des Arztes.

»Trinken wir ein Gläschen.«

»Nein, danke«, sagt der Arzt, »jetzt nicht. Aber etwas anderes: Im Ernst, Helmbrecht, noch eine Geburt hält Ihre Frau nicht durch. Wohl oder übel müssen Sie sich damit abfinden, dass es bei diesen Zweien bleiben muss.«

Heinrich Helmbrecht starrt den anderen mit einem Blick an, in dem sich mehr Verlegenheit als Enttäuschung spiegelt. Dann wirft er den Kopf in den Nacken: »Ist gut, Doktor, ich danke Ihnen.«

Er geht rasch ins Haus und schleicht auf Zehenspitzen hinauf in das obere Stockwerk, dabei nimmt er sogar die Hand vom Stiegengeländer, weil es so durchdringend knarrt. Ihm ist ganz feierlich ums Herz.

In grenzenloser Erschöpfung liegt seine Frau in den Kissen. Dunkles Haar umrahmt die marmorweiße Stirn. Die Stunden dieser Nacht haben die Schönheit ihres Gesichtes ein wenig verwischt. Jetzt aber schläft sie tief. Das Zimmer ist erfüllt vom Geruch starker Medikamente. Über dem Bett lächelt aus goldenem Rahmen das Bild eines pausbäckigen Engels, unergründlich und fern.

Nun beugt der Mann sich über ihr Gesicht, als ob er ihr leise etwas ins Ohr sagen wolle, vielleicht, dass sie tapfer gewesen sei, die ganze Nacht. Aber er sagt kein Wort. Es kann sein, dass er sich geniert, weil noch jemand im Zimmer ist. Vielleicht aber findet er wirklich nicht das richtige Wort, weil in den Jahren ihres Zusammenlebens so manches anders geworden ist, das auch in dieser Stunde nicht ausgeglichen werden kann.

Er sieht die kleine Ader an ihrem Hals schlagen und denkt unwillkürlich daran, wie viel glücklicher er vor drei Jahren war, als die geliebte Frau ihm das erste Kind, den Walter, schenkte.

Jetzt macht sich die Hebamme bemerkbar, eine Decke wird aufgeschlagen. Ein weinerliches Gesicht schaut dem Mann in faltiger Ausdruckslosigkeit entgegen. Es bewegt suchend die Lippen und der Mann hört kaum, dass die Hebamme wiederholt, was der Doktor ihm schon gesagt hat, nämlich dass es ein gesundes und starkes Mädchen sei.

In diesem Augenblick läutet das Telefon im Treppenhaus. Beim Lichtenegger in Haslach ist eine Stute erkrankt und man verlangt dringend den Tierarzt. Wenig später fährt Dr. Helmbrecht mit seinem Wagen durch das Hoftor und lenkt ihn zielsicher über den Marktplatz.

Wie ein Riese hockt dieser Mann in dem engen Wagen. Die braune Lodenjacke spannt sich wie ein Brett um den breiten Rücken. Der mausgraue Hut mit der geschlitzten Bussardfeder sitzt auf dem wuchtigen Schädel wie das Tüpferl auf dem i. Der Kragen des weißen Leinenhemdes steht am Hals offen, weil Heinrich Helmbrecht alles Enge inständig hasst und es so viel bequemer ist.

Im ständigen Umgang mit Bauern ist Dr. Helmbrecht im Laufe der Jahre selber ein halber Bauer geworden, sehr zum Leidwesen seiner Frau, die es nach vielen Bemühungen voller Resignation aufgegeben hat, ihm eine Lebensart beibringen zu wollen, die ihrer Meinung nach ihm und damit auch ihr gemäßer gewesen wäre.

Bei aller bäuerlichen Grobheit hat Helmbrecht aber ein weiches Herz. Er gehört zu jenen Männern, die von energischen Ehefrauen um den Finger gewickelt werden.

Die schmale Straße steigt jetzt ein wenig an und der Wagen kocht bald. Dr. Helmbrecht legt den Arm über die Lehne und schaut zurück.

Wie schön ist doch dieser Maimorgen!

Hinter dem Marktflecken dehnt sich in nördlicher Richtung der Staatsforst. Es scheint, als wäre Heimatsried dorthin kulissenartig abgeschirmt. Wie ein weit geöffnetes Auge schimmert zwischen den letzten Häusern und dem Forst der Schlossweiher.

Gegen Süden und Osten hin ist das Land mehr eben und wird erst tief in der Ferne vom Gebirge abgegrenzt.

Mitunter begegnen Helmbrecht jetzt Bauern auf ihren Traktoren mit frisch gemähtem Gras. Die Leute grüßen freundlich, was Dr. Helmbrecht stets mit einem kurzen Nicken beantwortet. Sein Augenmerk gilt mehr den Traktoren. Einmal hält er mit kurzem Ruck seinen Wagen an und kurbelt das Fenster herunter.

»Wie geht‘s deinem Rappen, Eder, lahmt er immer noch?«

»Ja, Doktor, er lahmt immer noch. Mir will scheinen, als ob er den Hufkrebs hätte.«

Dr. Helmbrecht lässt den Motor wieder an und ruft aus dem Fenster: »Komm, lass ihn uns schnell ansehen.«

»Heb ihn auf!« Mit aller Gründlichkeit betastet Helmbrecht wenig später im Stall den Huf, bis der Gaul zusammenzuckt. Dann schiebt er den Hut aus der Stirn und stemmt die Fäuste in die Hüften.

»Wer hat dir denn gesagt, dass der Gaul den Hufkrebs hat? Sei nur still, ich kenn mich schon aus! Wenn nur er nicht den Hirnkrebs hat. Das kannst dem Bacher Simon sagen. Ich muss ihm doch einmal anständig auf die Finger klopfen, wenn er mit seinem Kurpfuschen nicht aufhört. Der Gaul ist falsch beschlagen, weiter nichts. Reiß ihm das Eisen herunter und lass ihn ein paar Tage im Stall stehen, dann ist es vorbei.«

Die Fahrt geht weiter. Der Bach zur linken Seite der Straße rauscht sein Lied. In seinem klaren Wasser flitzen Forellen hin und her. Still und feierlich steht der Wald. Aus seiner Tiefe ruft endlos ein Kuckuck, als wolle er Methusalems Alter aufzählen. Und über allem strahlt verschwenderisch die Sonne.

In tiefen Zügen atmet Helmbrecht die köstliche Luft ein und lächelt vor sich hin. Der lockende Kuckucksruf erinnert ihn an vergangene Zeiten, als er beim Kuckucksruf das Orakel in mannigfacher Form befragt und beschworen hat wie zur Nachtzeit das Fallen der Sternschnuppen.

Ob alle seine damaligen Wünsche sich erfüllten? Erst nach einer langen Reihe von Jahren vermag der Mensch zu erkennen, wie weit das Leben ihn von seinen einstigen Jugendträumen abgetrieben hat.

Dr. Helmbrecht hat längst erkannt, dass sich das Wunschbild seiner Jugend nicht erfüllt hat. Aber das war gewiss nicht seine Schuld. Nein, Sina, seine Frau, hat nicht gehalten, was er sich von ihr erhofft hatte. Es war kein Glück geworden, ruhig und verlässlich, die Jahre durchdauernd. Nach einem kurzen, heißen Rausch schien Sina sich eingesponnen zu haben in eine Schale aus kaltem Metall, aus dem ihr Herz sich immer seltener herauswagte, bis schließlich zwischen den Eheleuten nur mehr ein verschwindend kleiner Rest innerer Zusammengehörigkeit übrig blieb. Gerade noch so viel, dass man es der Öffentlichkeit wie auf einem Präsentierteller zeigen konnte.

Ja, er hätte sie gehen lassen sollen auf der großen Straße des Lebens, auf der er ihr als junger Student begegnet war. Blitzartig hatte er sich in die kühle, dunkle Schönheit verliebt.

Anfangs war auch alles nach Wunsch gegangen. Welch ein Triumph in Heimatsried! Die Männer blieben stehen und schauten verstohlen der schönen Frau des jungen Tierarztes nach. Die Frauen versuchten sich so zu kleiden, wie Sina Helmbrecht es tat, und brachten es doch nicht so fertig, weil nur sie diese Art besaß, die Kleider so zu tragen, dass sie Wirkung erzielten.

Ihn aber hatte ein herrliches Gefühl des Stolzes eingesponnen. Ihm war, als fände sein Leben nur durch diese Frau einen Sinn. Die Geburt Walters vor drei Jahren war noch in die Zeit seines Glückes gefallen. Danach aber war es, als hätte über Nacht ein kalter Reif alles überzogen.

Und nun war doch nach dieser Zeitspanne noch die Regina gekommen. Ihm wäre eigentlich als Name Margaret, in Erinnerung an seine Mutter, lieber gewesen. Aber was Sina einmal bestimmt hatte, daran war nur schwer zu rütteln.

Also gut: Regina. Er, Heinrich Helmbrecht, Tierarzt von Heimatsried, hat seit heute Morgen eine Tochter. Diese Erkenntnis erfüllt ihn erst jetzt mit Freude und väterlichem Stolz.

Im Kleefeld neben der Straße springen ein paar Rehe auf. Das schreckt den Mann aus seinen Gedanken. Der Jäger in ihm erwacht und sein Herz weitet sich beim Anblick des herrlichen Rehbockes, der mit stolzen Sprüngen nun hinter der Geiß her im nahen Wald verschwindet.

Da gewahrt Helmbrecht am Waldrand eine Art Lagerstätte fahrender Leute; ein Karren auf hohen Rädern mit einer grauen Plane als Dach.

Abseits des Karrens steht der Korbflechter Sebastian Gigglinger. Er winkt dem Tierarzt heftig zu.

Der beachtet es aber nicht mehr, denn er biegt gerade in das Sträßlein nach Haslach ein, indes sich hinter ihm im Wald das Schicksal anschickt, das Leben des Korbflechters Gigglinger mit einem Schlag in andere Bahnen zu lenken.

Ja, der Mann hatte dem Tierarzt nachgewinkt. Sein Gaul, die steinalte Fanni, liegt dort drüben im Moos und hat alle viere von sich gestreckt. Kein Schmeicheln des graubärtigen Mannes, kein Locken und Streicheln seiner Hände will mehr helfen. Die Fanni kann nicht mehr aufstehen.

Diesen Gaul hatte der Korbflechter Gigglinger einmal gerade vor der Schlachthauspforte einem Milchhändler abgejagt, der ihn dort verkaufen wollte. Gigglinger bot ihm etwas mehr und bekam den Gaul. Treue um Treue, dachte die Fanni und zog noch fast zehn Jahre tapfer und geduldig den leichten Karren des Korbflechters durch die Lande. Nun aber war es endgültig aus.

Sieben Kindern und zwei Frauen hat der Korbflechter ins Grab nachschauen müssen. Es hat sein Leben schwer erschüttert. Aber fast ebenso greift dieses langsame Verlöschen der abgedienten Stute an sein Herz. Ihm ist, als gehe nun auch das Letzte fort aus seinem Landfahrerleben.

Im Karren schläft auf einem Strohbett der dreijährige Peter, der einzige Bub, der dem Gigglinger noch geblieben ist. Er bringt es nicht übers Herz, ihn zu wecken, damit er Zeuge sei, wenn die treue Fanni den letzten Schnaufer tut. Zu dumm, dass Dr. Helmbrecht sein Winken nicht bemerkt hatte. Es ist wohl am besten, wenn er hinausgeht zur Straßenkreuzung und wartet, bis er zurückkommt.

Indes liegt der Gaul allein unter den stillen Bäumen. Den Kopf ins Moos gelegt, fällt das Licht der Sonne durch die Baumlücken in seine brechenden Augen. Hin und wieder geht ein Zittern über das braune Fell und wärmt die starren Glieder.

Auf alle Fälle, zu helfen ist nicht mehr. Das sagt auch Dr. Helmbrecht, als er nach einer Stunde mit dem Korbflechter die Lichtung betritt.

»Ich weiß, ich weiß«, meint Gigglinger. »Jung machen kann man sie nicht mehr, die Fanni. Aber ich will sie nicht dem Rossmetzger übergeben. Haben Sie keine Kugel für die Fanni, Herr Doktor? Dann braucht sie nicht mehr länger zu leiden und hat ein schönes Sterben.«

Dr. Helmbrecht zieht aus seiner hinteren Hosentasche den kleinen Browning, den er immer bei sich trägt, wenn er über Land fährt, und setzt die Mündung an die Schläfe der Stute. Dies gehört zwar sonst nicht zu seinen Aufgaben, aber er will dem Korbflechter den Wunsch nicht versagen.

»Nun grab sie aber tief genug ein, damit die Füchse sie nicht ausbuddeln.«

Von dem Schuss ist auch der kleine Peter aus dem Schlaf geschreckt worden. Er steht nun barfuß und im Hemdchen, das viel zu kurz ist, auf der oberen Treppe des Karrens und stößt einen Schrei aus, als er sieht, was geschehen ist. Er versteht noch nichts von dem wohltätigen Werk des Tierarztes und sieht in ihm nur den grausamen Mann, der die Fanni getötet hat. Bockbeinig verschließt er darum den Mund, als Helmbrecht ihn freundlich nach Namen und Alter fragt. Das muss der Vater für ihn beantworten.

Erst als Helmbrecht ihn fragt, was er einmal werden wolle, gibt er trotzig zur Antwort: »Korbflechter halt.«

»Gut so«, lacht Helmbrecht. »Auch dieses Gewerbe ist notwendig und darf nicht aussterben. Ein nettes Bürscherl«, wendet er sich an Gigglinger. »Hast nur mehr den einen, gelt? Ja – aber was machst denn jetzt ohne Gaul?«

Gigglinger zuckt die Schulter und antwortet traurig: »Kaufen kann ich mir im Augenblick keinen. Muss halt wieder den Handkarren nehmen und über Land ziehn.«

Helmbrecht fährt dem Buben über den schwarzen Lockenkopf. »Dann schau nur, dass ein tüchtiger Korbflechter aus dir wird, Peterl! Komm einmal vorbei bei mir, Gigglinger! Es sind sicher einige abgelegte Kleidungsstücke von meinem Buben da. Die kannst sicher brauchen.«

»Vergelt‘s Gott, Herr Doktor!«

Dann begleitet er den Tierarzt bis zur Straße hinaus. Für den erwiesenen Dienst will er ihm ein paar Körbe machen. Dr. Helmbrecht schüttelt heftig den Kopf: »So siehst du aus! Es war bloß eine Gefälligkeit, weiter nichts. Wenn du wieder Körbe bringst, ja, dann nehme ich sie dir gern ab zum üblichen Preis.«

Damit steigt er in seinen Wagen und lässt umständlich den Motor an. Gigglinger schaut ihm nach, bis er um eine Wegbiegung verschwindet.

»Armer Mann«, sagt er leise, und in seine grauen Augen kommt etwas wie Zorn. »Merkwürdig, dass immer nur die Guten vom Schicksal gezwiebelt werden. Immer nur die Besten werden an der Nase herumgeführt und ausgenutzt.«

Langsam geht der Gigglinger zurück, nimmt den Spaten und gräbt eine tiefe Grube für die tote Stute.

Als er damit fertig ist, geht er in seinen Wagen und begibt sich an eine Arbeit, die ihm weniger liegt, denn mit dem Schreiben steht er von jeher auf Kriegsfuß. Und doch dünkt ihm, dass dieser Tag festgehalten werden müsse, an dem die Fanni ihn verließ, hat er es doch damals auch in sein Buch eingetragen, als er sie freudestrahlend an einem hanfenen Halfter heimbrachte und vor seinen Karren spannte.

Dieses Buch ist nicht etwa ein Tagebuch, wie vornehme Leute es führen, mit Büttenrand und blütenweißem Leinen. Nein, es ist nur ein abgegriffenes Schulheft für zehn Pfennig mit Linienführung für Erstklassler. Aber es stehen Dinge darin, die über den Rahmen einer gewöhnlichen Familienchronik hinausgehen und es ratsam erscheinen lassen, das Büchlein immer gut in der eisernen Kassette zu verschließen, die er noch von seinem Vater geerbt hat.

Mit feinsäuberlichen Buchstaben malt er also auf eine neue Seite des Heftes:

»Heute früh die Fanni eingegraben. Wäre an Altersschwäche gestorben, aber der Viehdoktor Helmbrecht hat sie mit einem Gnadenschuss erlöst. War ein guter Kamerad.«

Hier bleibt es offen, wer mit dem guten Kameraden gemeint war. Und weil er nun schon das Heft in der Hand hat, blättert er einige Seiten zurück und liest:

»Heute, am 3. August, ist mir die Frau des Tierarztes Helmbrecht von Heimatsried im Wald begegnet. Der junge Verwalter vom Schlossgut hat sie an der Hand geführt. Sie hat gelacht, als ob eine Lerche trillert. Sie haben mich nicht gesehen, weil ich schnell hinter einen Busch geschlupft bin. Mir will scheinen, dass die zwei was miteinander haben.«

»16. Oktober. Hab sie weinen gesehn heute in seinen Armen. Bin ihnen sehr nahe gewesen heute und habe manches Wort verstanden. War auch von einem Kind die Rede und vom Auseinandergehn. Der Administrator sagte, dass er die Stellung wechseln wolle. Und ob sie wegen dem Kind vielleicht in die Stadt fahren solle zu einer Frau, worauf sie schnell nein sagte. Kruzitürken! So eine Gaudi. Dabei ist vor einer Stunde erst der Tierarzt mit dem Jagdgewehr vorbeigegangen. Dem scheinen die Rehböcke mehr Freude zu machen als seine Ehe. Der gutmütige Narr. Nun wollen sie ihm auch noch ein Kuckucksei unterlegen. Dabei ist der Helmbrecht ein Kerl wie ein Baum und gutmütig wie eine Pinzgauer Milchkuh. Ich könnte dem Frauenzimmer den Hintern vollklopfen. Der Gutsverwalter hat weniger Schuld. Ist ein lediger Mensch und nimmt halt, was ihm in den Schoß fällt. Man weiß ja, wie das ist.«

Hier hören die Eintragungen über Sina Helmbrecht auf. Nur später ist dann in diesem Zusammenhang noch vermerkt, dass der Gutsverwalter Schellendorf Heimatsried verlassen hat, um irgendwo anders unterzutauchen.

Mit einem Seufzer klappt Gigglinger das Heft wieder zu und verbirgt es in der Kassette unter anderem Schreibzeug, weil das Schloss dieses eisernen Gewahrsams unbrauchbar geworden ist. Schließlich schiebt er die Kassette mit dem Fuß wieder weit unter das hölzerne Bettgestell, weil sie ihm dort am sichersten aufbewahrt scheint.

Wenige Wochen darauf bepackt Sebastian Gigglinger seinen Handkarren, setzt den kleinen Peter obendrauf und legt sich den Ledergurt um die Schulter. Es hält ihn nichts mehr. Zu lange ist er jetzt sesshaft gewesen auf diesem Platz. Fast ein ganzes Jahr. Seit Tagen juckt ihn der Trieb zum Wandern in allen Poren, die Sehnsucht nach der Ferne, nach fremden Feldern, nach dunklen Wäldern. Es ist nichts zu machen, es liegt im Blut.

Hei, wie leicht der Karren läuft! Die Brust hebt sich wie unter einem befreienden Atemzug. Leicht und frei wird es dem Korbflechter Gigglinger ums Herz. Er lächelt seinem Knaben zu und beginnt zu singen:

»Schön ist‘s, zu wandern zur Sommerzeit

im Licht vom jungen Morgen.

Wir wandern bis zur Ewigkeit

und leben frei von Sorgen.

Wir haben weder Gut noch Geld,

so ziehn wir fröhlich durch die Welt.

Am Abend liegen ich und du

im grünen Wald zu guter Ruh.

Drum ist‘s so schön zur Sommerzeit

zu wandern bis zur Ewigkeit …«

Er fühlt den Tritt seiner nackten Füße auf dem Boden. Staub wirbelt auf zwischen seinen Zehen. Der Marktflecken Heimatsried liegt schon weit hinter ihnen, als es Gigglinger einfällt, dass er in der Tierarztvilla noch hätte vorsprechen sollen wegen der abgelegten Kleider. Er verschiebt es lieber auf ein anderes Mal, im Augenblick liegt ihm nichts daran. Die Ferne lockt, die Straße hat ihn wieder aufgenommen, es hat ihn wie ein Rausch erfasst. Es ist ja so schön im Sommer.

Peter sitzt hoch oben auf dem Packen, der Wäsche enthält: einige Kleider, Seife, eine Bürste aus Draht, ein Gebetbuch, eine zierliche Feder aus der flaumigen Brust eines Bussards und sonstigen Krimskrams. Der Wind spielt mit seinen Locken. Er jauchzt vor Fröhlichkeit. Die Ahnung einer großen Freiheit ist über ihn gekommen. In seinen kleinen Fingern hält er eine Schnur; die Zügel, die der Vater sich an beide Arme gebunden hat. »Hott …!«, schreit er und »Brrr …«, so wie der Vater es früher getan hatte, als die Fanni noch den Karren zog. Und der Vater reagiert auf die Zurufe des kleinen Fuhrmanns! Er schnaubt durch die Nüstern und schlägt einen zuckelnden Trab an. Oh, dieser Vater!

Sie leben wirklich ohne Sorgen, wie es in Gigglingers Landstreicherlied heißt. Seht, da hat sich ein junger Hahn von einem Gehöft auf die Straße verirrt. Er gerät unter die Füße des Kärrners, ein Geschenk Gottes sozusagen. Mit einem schnellen Griff hat der Mann ihn beim Gefieder, wirft ihn auf den Karren und Peter legt schnell eine Decke über ihn, unter der ein paar helle Schreie der Not erstickt werden.

»Ist das Diebstahl?«, fragt Peter von seinem Thron herab.

Der Vater wendet den Kopf und meint lachend:

»Nein, nur Mundraub.«

Am Abend bräunt der junge Hahn über einem offenen Feuer am Rand eines Waldes.

»Was essen wir gestern?«, fragt Peter, während er gesättigt aufs Stroh schlüpft. Er verwechselt immer Gegenwart mit Zukunft und Vergangenheit.

»Morgen, meinst du?«, fragt der Vater. »Mach dir keine Sorgen, Peter! Gott schenkt es den Seinen im Schlaf.«

Mit Bibelsprüchen ist er ja nie verlegen, der Gigglinger, obwohl er alles andere als fromm ist. Er lebt eben so, wie Leute seinesgleichen leben, ein wenig gleichgültig, wurstig, zuweilen frech und verwegen, aber niemals schlecht oder gemein. Er legt sich Gottes Willen immer so aus, wie er es bequem findet, und nimmt es nicht tragisch, wenn er sich selbst dabei eine Kleinigkeit vorschwindelt.

Er schlüpft zu dem Buben ins Stroh und aneinandergekuschelt schlafen die beiden. Die Sterne stehen über dem Wald, ruhige Lichter Gottes, und der Wind streicht wie der Ton einer Bassgeige über die Baumkronen hin.

2

Erst drei Jahre später zieht Sebastian Gigglinger an der weißen Tierarztvilla zu Heimatsried die Glocke. So lange hat ihn diesmal die Ferne behalten. Der Peter ist gewachsen, muss nun dringend zur Schule. Er braucht für diesen Zweck ein paar Kleidungsstücke. Leider ist Dr. Helmbrecht über Land, und deshalb steht Sina nach dem Öffnen so hochmütig in der Tür, dass es dem Korbflechter ganz kalt über den Rücken läuft.

»Ich bin hierher bestellt«, wiederholt er hartnäckig. »Vor drei Jahren wurde ich hierher bestellt.«

»Vor drei Jahren schon? Pflegen Sie immer so lange zu warten?«

Ihr kalter Hochmut ärgert ihn, so dass er nahe daran ist, ihren Hochmut ein wenig zu beugen. Sonst eigentlich nicht, könnte er sagen. Nur diesmal. Wissen Sie, gnädige Frau, ich habe mich so lange auf einem Gut am Rand des Gebirges aufgehalten. Gnädige Frau kennen vielleicht den Gutsbesitzer Schellendorf. Verwalter war er einmal hier. Ja, gut verheiratet hat er sich nun und hat zwei Mädchen, eines davon heißt Sina.

Aber weil er anständig und wohl auch der Meinung ist, dass Sina mit ihrer strahlenden Schönheit sich erlauben darf, ein wenig hochmütig zu sein, verschweigt er das.

»Warten Sie«, sagt Sina plötzlich und schlägt die Tür vor seiner Nase zu. Drinnen hört er sie nach der Köchin rufen.

»Ja, ja, so sind die Menschen«, lächelt Gigglinger in ironischer Erkenntnis vor sich hin. Dann will er sich an Peter wenden, den er noch hinter sich wähnt. Peter aber hat sich in der Zwischenzeit selbstständig gemacht. Er findet im Pferdestall in der Streu ein Hühnernest mit sechs Eiern.

Dann sieht er plötzlich im Garten etwas Rotes aufleuchten, das sich bei näherem Hinschauen als Kleidchen eines niedlichen kleinen Mädchens entpuppt. Das ist die erste Begegnung zwischen Peter Gigglinger und Regina Helmbrecht.

Das Kind sitzt neben dem Goldfischteich und das Erste was den Peter stört, ist der Schnuller, der unter ihren saugenden Lippen leicht vibriert. Regina schaut mit großen Augen zu dem stämmigen Jungen auf, dessen dunkles Haar sich so lustig über der gebräunten Stirn kräuselt. Er erscheint ihr mit seinen geflickten Hosen und dem zerrissenen Hemd wie ein Wesen aus einer anderen Welt.

»Gehören die Goldfische dir?«, fragt er und sie nickt lebhaft. Dabei fällt ihr der Schnuller ins Gras. Peter stößt ihn blitzschnell mit dem Fuß ins Wasser. Sie schreit nicht, nein, sie lacht herzhaft, als sie den roten Punkt im Wasser schwimmen und die Fischlein danach schnappen sieht. Das Lachen steckt ihn an und er macht ihr vor, wie ein Specht hämmert, wie die Grillen zirpen und wie ein Pferd wiehert. Dann greift er in den Hosensack, zieht ein Ei hervor und sticht mit einem Nagel ein Loch in das Ei. Er lehrt sie, wie man das Ei nun austrinken kann. Regina weiß nicht, ob es gut schmeckt, aber sie ist neugierig.

Peter kitzelt sie an der Kniekehle und fragt sie, ob sie schon Depp sagen könne und Affe. Nein, das kann sie noch nicht. Regina ist streng erzogen, doch findet sie große Freude an Peters Worten und plappert alles nach, was er ihr vorsagt.

In diesem Augenblick kommt Gigglinger um das Hauseck mit einem Bündel getragener Kleider, darunter ein Matrosenanzug mit langer Hose und einer blauen Mütze mit Bändern. Auch Gigglinger besieht sich das kleine Wesen im roten Kleid und sucht eine Gleichheit zwischen diesem und jenem Gesicht, das er im Winter fernab auf jenem Gutshof gesehen hat. O ja, man kann schon gewisse Schlüsse ziehen, wenn man gelernt hat, in Gesichtern zu lesen, und wenn man, wie er, um verborgene Zusammenhänge weiß.

»Gehn wir«, sagt Gigglinger und fasst Peter bei der Schulter. Peter aber will noch schnell wissen, wie sie heißt. Ehe er aber den Namen recht versteht, tönt vom anderen Gartenende her die schrille Stimme der Köchin:

»Püppchen, wo steckst du denn wieder?«

Das Püppchen will sich geschwind verstecken, aber die Köchin hat es schon erspäht und hebt es vom Boden auf.

»Du weißt genau, dass es dir verboten ist, ans Wasser zu gehen. Du folgst überhaupt nicht, Reginchen!«

Sie zieht die Kleine hinter sich her und misst dabei die Korbflechter mit einem kalten Blick, den sie wahrscheinlich ihrer Herrin abgeguckt hat. Das Letzte, was Peter von Regina sieht, ist ein verstohlen winkendes Patschhändchen zwischen Tür und Angel.

Die beiden Gigglingers lachen sich an und trotten zu ihrer Behausung im Wald. Hier muss vor allen Dingen erst einmal Ordnung gemacht werden. Im Laufe der drei Jahre hat sich allerhand Staub angesammelt. Der Vater schleppt unentwegt Wasser herbei und fegt den Karren sauber.

Am nächsten Morgen meldet er sich auf dem Bürgermeisteramt an. »Soso, der Gigglinger ist also wieder da«, sagt man. »Ein alter Bekannter«, erklärt der Schreiber einem Kollegen, der erst seit kurzem hier tätig ist.

Der Gigglinger ist wieder da! Es spricht sich rasch im Marktflecken herum und die Leute suchen ihre zerrissenen Körbe hervor.

»Du bist lange ausgewesen«, sagen sie. »Jawohl, drei Jahre. Aber in Zukunft komme ich jedes Jahr.«

Und er hält Wort. Gigglinger trifft meist nach Pfingsten ein und bleibt des Knaben wegen, bis die großen Ferien beginnen. Länger hält er es aber keinen Tag aus. Die Straße ruft ihn, die Ferne. Er muss wandern – es liegt ihm im Blut.

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