Ein Grinsen aus Elfenbein - Ross Macdonald - E-Book

Ein Grinsen aus Elfenbein E-Book

Ross Macdonald

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Beschreibung

Am Anfang sieht alles ganz harmlos aus: Detektiv Lew Archer soll den Schmuck einer reichen Dame zurückbringen, den angeblich das farbige Hausmädchen Lucy gestohlen hat. Doch spätestens nach dem grausamen Mord an dem jungen Hausmädchen wird klar, daß es sich hier um ein handfestes Verbrechen handelt.
Ein packender Krimi über Personen, die zuviel wissen und dafür mit ihrem Leben bezahlen müssen."

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Ross Macdonald

Ein Grinsen aus Elfenbein

Roman

Aus dem Amerikanischen von Charlotte Hamberger

Diogenes

{5}1

Sie wartete vor meinem Büro: eine untersetzte Frau, knapp mittelgroß, in sportlichem blauem Kostüm und blauem Rollkragenpullover. Die blaue Nerzstola, die sie dazu trug, machte ihre Erscheinung nicht weiblicher. Das dunkle Haar war im Nacken kurz geschnitten; es betonte das Knabenhafte ihres eckigen und sehr braungebrannten Gesichts. Sie war der Typ, der nur dann um halb neun schon auf ist, wenn er entweder etwas sehr Wichtiges vorhat oder die ganze Nacht nicht ins Bett gekommen ist.

Während ich die Tür aufsperrte, trat sie zurück und sah zu mir auf mit dem Blick eines Vogels, der einen besonders großen Wurm anpeilt.

Ich sagte: »Guten Morgen!«

»Mr. Archer?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, streckte sie mir die kurze braune Hand hin. Ringe blitzten; der Händedruck war fest wie der eines Mannes. Dann faßte sie mich am Ellbogen und führte mich in mein eigenes Büro. Sie schloß die Tür hinter sich.

»Bin ich froh, daß Sie da sind, Mr. Archer!«

Sie ging mir bereits auf die Nerven. »Warum?«

»Warum was?«

»Warum sind Sie froh, daß ich da bin?«

»Weil … Na, setzen wir uns erst mal, damit wir uns unterhalten können.« Die durch Koketterie getarnte Starrköpfigkeit hatte überhaupt keinen Charme, sie war eher beunruhigend.

»Über was Besonderes?«

Sie setzte sich in einen Sessel in der Nähe der Tür und ließ {6}ihren Blick herumschweifen. Mein Wartezimmer ist weder groß noch teuer möbliert. Ihr Blick registrierte beides. Aber sie sagte nichts; sie rieb sich nur die Hände. Die Ringe klirrten leise. Drei an jeder Hand. Ziemlich große Diamanten. Sie sahen echt aus.

»Ich habe einen Job für Sie«, sagte sie zu meinem durchgesessenen Kunstledersofa, das gegenüber stand. »Nicht gerade einen großen Job, aber ich zahle gut … Fünfzig pro Tag?«

»Plus Spesen. Wer hat Sie zu mir geschickt?«

»Aber niemand … Setzen Sie sich doch endlich hin! Nein, Ihr Name ist mir bekannt, schon seit Jahren!«

»Ach? Ich wüßte nicht …«

Jetzt kam ihr Blick zu mir zurück, und er war gealtert und müde geworden nach dem Rundgang durch mein armseliges Vorzimmer. Sie hatte grünliche Ringe unter den Augen. Vielleicht war sie tatsächlich die ganze Nacht aufgewesen. Jedenfalls sah sie wie fünfzig aus, trotz des bald knabenhaften, bald backfischhaften Gehabes. Amerikaner werden nicht alt: sie sterben. Diese Erkenntnis sprach deutlich aus ihren Augen.

»Nennen Sie mich Una«, sagte sie.

»Sie leben in Los Angeles?«

»… nicht ganz. Ist ja auch egal, nicht? Ich sag Ihnen schon alles, was wichtig für Sie ist. Darf ich, ja? So ganz brutal?«

»Ich lechze danach.«

Ihr harter, unverhüllter Blick tastete mich beinahe spürbar ab. »Sie sehen okay aus. Aber wenn Sie reden, klingt’s ein wenig nach Hollywood.«

Ich war nicht aufgelegt für den Austausch von Komplimenten. Ihre rauhe Stimme, der jähe Wechsel zwischen guten Manieren und Unverschämtheit störten mich. Es war, als redete ich gleichzeitig mit mehreren Personen, von denen keine ganz vorhanden war.

»Tarnung.« Ich fing ihren Blick auf und hielt ihn fest. »Ich komme mit den verschiedensten Typen zusammen.«

Sie wurde nicht richtig rot. Einen Augenblick schien sie {7}unter Blutandrang zu leiden, aber das verflog gleich wieder. Dann machte die knabenhafte Hälfte wieder das Rennen.

»Ich meine: Pflegen Sie Ihren Klienten den Hals abzuschneiden? Ich habe schon mal schlechte Erfahrungen gemacht.«

»Mit Detektiven?«

»Mit Leuten. Detektive sind auch Leute.«

»Sie sprudeln ja von Komplimenten nur so über, Mrs. …«

»Sie sollen mich Una nennen, hab ich gesagt. Ich kenne keine sozialen Vorurteile. Kann ich mich darauf verlassen, daß Sie tun, was ich verlange, und damit Schluß? Daß Sie Ihr Honorar kassieren und sich im übrigen um Ihren eigenen Kram kümmern?«

»Honorar?«

»Hier.« Sie zog einen zerknitterten Schein aus einer blauen Lederbörse und warf ihn mir achtlos zu, als sei es ein gebrauchtes Kleenextuch und ich ein Papierkorb. Ich fing den Schein auf. Es waren hundert Dollar. Aber ich steckte sie nicht ein.

»Honorarvorschuß erzeugt immer eine gewisse Loyalität«, sagte ich. »Ich werde Ihnen natürlich den Hals trotzdem abschneiden, aber mit Narkose vorweg.«

Sie sah zur Decke. »Warum wollen hier bloß alle Leute mit Gewalt witzig sein? Liegt wahrscheinlich an der Nähe Hollywoods. Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

»Ich werde tun, was Sie verlangen, wenn es nicht gegen das Gesetz geht und einigermaßen vernünftig ist.«

»Ich verlange nichts Ungesetzliches«, erwiderte sie scharf, »und ich kann Ihnen versprechen, daß es vernünftig ist.«

»Um so besser.« Ich steckte den Schein in die Brieftasche. Er nahm sich dort recht einsam aus. Dann öffnete ich die Tür zu meinem eigentlichen Büro.

Darin standen drei Stühle, für einen vierten war kein Platz. Nachdem ich die Jalousien hochgezogen hatte, setzte ich mich auf den Drehstuhl hinter meinem Schreibtisch und {8}bot ihr mit einer Handbewegung den Sessel gegenüber an. Aber sie setzte sich auf einen unbequemen Stuhl vor die Schrankwand, weit weg vom Fenster und dem Einfall des Lichts.

Sie schlug die Beine übereinander, stopfte eine Zigarette in eine goldene Spitze und zündete sie mit einem flachen goldenen Feuerzeug an.

»Zu dem Job, von dem ich sprach: Sie sollen eine bestimmte Person ausfindig machen. Eine Farbige, die bei mir gearbeitet hat. Das Mädchen hat mein Haus vor zwei Wochen verlassen – um genau zu sein: am 1. September. Soweit wäre das für mich eine Erlösung, wenn sie nicht ein paar Kleinigkeiten mitgenommen hätte. Rubinohrringe und eine goldene Kette.«

»Nicht versichert?«

»Nein. Eigentlich nichts so besonders Wertvolles. Die Sachen haben für mich nur einen Gefühlswert, verstehen Sie?« Sie versuchte gefühlvoll auszusehen. Aber es mißlang ihr.

»Demnach ein Fall für die Polizei?«

»Darüber bin ich anderer Meinung.« Plötzlich war ihr Gesicht aus hartem braunem Holz. »Sie leben doch davon, Leute aufzuspüren, nicht wahr? Wollen Sie sich um Ihren Unterhalt bringen?«

Ich nahm den Hundert-Dollar-Schein aus meiner Brieftasche und warf ihn auf den Schreibtisch. »Scheint so.«

»Seien Sie doch nicht so empfindlich.« Sie zwang ihren verkniffenen, kleinen Mund zu einem Lächeln. »Wissen Sie, Mr. Archer, im Grunde hänge ich an allen Leuten, die für mich gearbeitet haben. Lucy hatte ich besonders gern, und ich möchte sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Nie im Leben würde ich ihr die Polizei auf den Hals hetzen; ich möchte lediglich mit ihr sprechen und meine Sachen wiederhaben. Und ich hatte gehofft, Sie würden mir dabei helfen …«

Sie klappte die Lider mit den kurzen Wimpern über die {9}kalten schwarzen Augen. Vielleicht hörte sie ferne Geigenklänge. Ich jedenfalls hörte nur den Lärm der Autos unten auf dem Sunset Boulevard.

»Ich dachte, es handelt sich um eine Schwarze.«

»Für mich gibt es keine Rassenunterschiede.«

»Das meine ich auch nicht. Nur – eine Farbige ist in dieser Stadt unauffindbar. Das hab ich schon mehrmals umsonst versucht.«

»Lucy ist auch nicht in Los Angeles. Ich weiß, wo sie sich aufhält.«

»Warum gehen Sie dann nicht zu ihr und reden mit ihr?«

»Das will ich ja auch, nur möchte ich vorher wissen, mit was für Leuten sie zusammen lebt und so.«

»Eine recht komplizierte Methode, um ein bißchen Schmuck zurückzubekommen. Was wollen Sie nun wirklich von ihr?«

»Das geht Sie nichts an.« Sie versuchte es schnippisch wie ein Backfisch zu sagen, aber die Feindseligkeit drang durch.

»Der Meinung bin ich auch.« Ich schob ihr den Geldschein über den Schreibtisch hin und stand auf. »Das Ganze sieht mir, ehrlich gesagt, etwas faul aus. Warum versuchen Sie es nicht mit einer Kleinanzeige in der Zeitung? Außerdem gibt es genügend Detekteien, die von solchen Fällen leben.«

»Lieber Himmel, ich glaube wirklich, der Mensch ist ehrbar!« Sie sagte es halb im Scherz. »Also gut, Mr. Archer, ich gebe mich geschlagen. Ich bin in Zeitdruck – um es genauer zu sagen, stecke ich in einer gewissen Klemme …«

»Was aber nichts mit einem kleinen Diebstahl zu tun hat. Sie hätten sich eine bessere Geschichte ausdenken sollen.«

»Na schön. Also: Lucy hat eine Zeitlang in meinem Haus gearbeitet und dabei einen gewissen Einblick in meine Familienverhältnisse gewonnen. Dann haben wir uns im Zorn getrennt, das heißt, sie war wütend auf mich – nicht umgekehrt. Hinterher wurde mir klar, wie unangenehm es sein könnte, wenn sie anfinge, gewisse Dinge herumzutratschen. {10}Darum möchte ich wissen, mit wem sie verkehrt. Ich kann daraus meine Schlüsse ziehen.«

»Wenn ich ein bißchen genauer wüßte, was sie nicht herumtratschen soll …«

»Das werde ich Ihnen gerade auf die Nase binden! Schließlich möchte ich Sie ja engagieren, damit diese Dinge nicht bekannt werden.«

Mir gefiel ihre Geschichte immer noch nicht, aber die zweite Version war schon besser als die erste. Ich setzte mich wieder. »Als was hat sie bei Ihnen gearbeitet?«

Sie stockte nur eine Sekunde. »Als Hausmädchen. Ihr voller Name ist Lucy Champion.«

»Und wo steht dieses Haus?«

»Das ist ja wohl gleichgültig.«

Ich schluckte meinen Ärger hinunter. »Wo ist sie jetzt? Oder darf ich das auch nicht erfahren?«

»Diese Frage bedeutet also, daß Sie den Auftrag annehmen?«

»Möglich.«

»Sie ist in Bella City, ein kleineres Nest, gut zwei Stunden von hier entfernt. Wenn Sie vor Mittag noch dort sein wollen, müssen Sie sich beeilen.«

»Ich kenne Bella City.«

»Um so besser. Ein Bekannter von mir hat sie gestern dort gesehen, in einem Restaurant Ecke Main und Hidalgo Street. Er erfuhr von dem Kellner, daß sie jeden Mittag zwischen zwölf und eins zum Lunch kommt. Das Lokal heißt Tom’s Café, Sie können es gar nicht verfehlen.«

»Ein Foto von Lucy haben Sie nicht?«

»Bedaure.« Sie spreizte unwillkürlich die Hände; eine Gebärde, die ihre Abstammung von der Nordküste des Mittelmeers verriet. »Ich kann sie Ihnen aber beschreiben: Ein hübsches Mädchen, so hellhäutig, daß man sie für eine Südamerikanerin oder eine spanischstämmige Kalifornierin halten könnte. Große braune Augen, keine aufgeworfenen Lippen, nette, zierliche Figur, vielleicht etwas zu mager …«

{11}»Wie alt?«

»Nicht alt; jünger wie ich – als ich.« Mir entging weder die Korrektur noch die Eitelkeit, die aus der Bemerkung sprach. »Anfang Zwanzig, würde ich sagen.«

»Haare?«

»Schwarz, glatt und kurz geschnitten. Sie glättet sie mit Öl.«

»Größe?«

»1,60 etwa.«

»Besondere Kennzeichen?«

»Die Beine sind das Beste an ihr, und das weiß sie auch.« Una brachte es anscheinend nicht fertig, etwas Positives über eine andere Frau zu sagen, ohne einen kleinen Seitenhieb hinzuzufügen. »Wenn sie nicht diese schrecklich aufgestülpte Nase hätte, wäre sie sogar ganz niedlich.«

»Und was hatte sie an, als Ihr Bekannter sie sah?«

»Ein schwarz-weißes Kleid, mit Fischgrätenmuster, das ich ihr vor ein paar Monaten geschenkt hatte.«

»Das Kleid wollen Sie aber nicht wieder zurück?«

Das nahm sie übel. Sie riß den Zigarettenstummel aus der Spitze und drückte ihn wild im Aschenbecher aus. »Ich habe mir jetzt allerhand von Ihnen bieten lassen, Mister.«

»Wir sind ungefähr quitt, ich habe mitgezählt«, entgegnete ich. »Ich finde, Sie sollten sich nicht unbedingt der Täuschung hingeben, für hundert Piepen besonders viel eingekauft zu haben. Eins lassen Sie mich klarstellen: Sie sind mißtrauisch – ich bin empfindlich.«

»Sie tun ja gerade, als wären Sie schon mal gebissen worden. Leiden Sie vielleicht zufällig unter unglücklichen häuslichen Verhältnissen?«

»Dasselbe wollte ich Sie fragen.«

»Oh, meine häuslichen Verhältnisse lassen Sie ruhig meine Sorge sein. Soviel zu diesem Punkt. Übrigens – ich möchte nicht, daß Sie sich mit Lucy unterhalten.« Sie war sprunghaft oder gab sich zumindest so. »Zum Teufel, wir vergeuden hier {12}nur Zeit. Wollen Sie tun, was ich sage – nicht mehr und nicht weniger?«

»Mehr schon gar nicht. Möglich, daß sie heute gar nicht in dem Restaurant erscheint. Wenn ja, dann bleibe ich ihr auf den Fersen und notiere mir, wohin sie geht und mit wem sie spricht. Soll ich Ihnen Bericht geben?«

»Ja, wenn’s geht, noch heute nachmittag. Ich steige in Bella City im Missions Hotel ab. Fragen Sie nach Mrs. Larkin.« Sie sah auf die viereckige goldene Armbanduhr an ihrem rechten Handgelenk. »Am besten, Sie brechen gleich auf. Sollte sie die Stadt verlassen, folgen Sie ihr und benachrichtigen mich sofort.«

Schnell und entschlossen ging sie auf die äußere Bürotür zu. Der Nacken unter dem kurzen Haar war breit und muskulös wie der eines Holzfällers oder eines Wildschweins, das mit dem Rüssel im Dreck wühlt. Während sie auf die Tür zusteuerte, winkte sie mir zum Abschied.

Ich ging an meinen Schreibtisch zurück und rief den Auftragsdienst an. Nach dem fünften Läuten antwortete eine weibliche Stimme. Ich sagte, ich würde übers Wochenende verreisen.

2

Vom höchsten Punkt der Straße aus sah ich die Berge auf der anderen Talseite, die sich wie Granittafeln an den blaugekachelten Himmel lehnten. Unter mir, zwischen septemberlich braunen Hügeln, schlängelte sich die Straße weiter. Und unten im Tal lag Bella City; eine schmutzige, wuchernde Stadt, klein wie aus einem Spielzeugkasten. Dort hinunter führte mich mein Weg.

Die Packhäuser der landwirtschaftlichen Betriebe standen wie Flugzeugschuppen am Rand der grünen Felder. Etwas weiter zur Stadt hin folgten die üblichen Tankstellen, Drive-ins und Motels, deren Zweitklassigkeit sich unter hochtrabenden Namen zu verbergen suchte.

{13}Der Highway war ein strenger, sozialer Äquator, der die Stadt in eine hellere und eine dunklere Hemisphäre zerschnitt. In der nördlichen, höher gelegenen Hälfte lebten die Weißen; Inhaber und Angestellte von Banken, Restaurants, Textil-, Lebensmittel- und Spirituosengeschäften. Die andere Hälfte wurde von Dunkelhäutigen bewohnt, Mexikanern und Schwarzen, die nahezu die ganze manuelle Arbeit taten, die es in Bella City und dem anschließenden Hinterland zu verrichten gab. Ich erinnerte mich, daß die Hidalgo Street parallel zum Highway verlief.

Es war ziemlich heiß und so trocken, daß meine Stirnhöhlen schmerzten. Die Main Street war erfüllt vom Tosen und Glänzen des mittäglichen Verkehrs, der sich Stoßstange an Stoßstange voranschob. Ich bog links in die East Hidalgo Street ein und fand gleich beim ersten Häuserblock eine Parklücke. Schwarze, braune und bleiche Hausfrauen schleppten Taschen und schoben Einkaufsroller auf dem Gehsteig vor sich her.

Auf einmal tauchten zwei junge GIs auf, in ihren Uniformen bleich wie zwei junge Gespenster, die vom Tageslicht überrascht wurden. Ich stieg aus und ging ihnen nach bis zu einem Zeitschriftenladen an der Ecke Main Street. Das Eckhaus auf der gegenüberliegenden Seite trug die Aufschrift Tom’s Café.

Die Soldaten prüften mit Kennerblicken einen Ständer mit Comic strips. Jeder suchte sich ein halbes Dutzend aus, dann bezahlten sie und gingen.

»Milchgesichtige Waschlappen«, sagte der Verkäufer, ein grauhaariger Mann mit trüben Brillengläsern. »Heutzutage werden sie schon in den Windeln einberufen. Direkt von der Wiege ins Grab. Als ich noch in der Army war …«

Ich räusperte mich. Von meinem Platz konnte ich den Eingang von Tom’s Café überblicken. Das Publikum war ziemlich gemischt: korrekte Straßenanzüge und Overalls, Sporthosen und Sporthemden, Unterhemden und Pullover gingen {14}da ein und aus. Die Frauen in Baumwollkleidern, Sonnenkleidern mit Trägern, Hosen und Blusen, leichte Mäntel über verblaßten, geblümten Seidenkleidern. Es waren auch Weiße darunter, aber Schwarze und Mexikaner in der Mehrzahl. Ein schwarzweißes Fischgrätenmuster sah ich nicht.

»Zu meiner Zeit war es in der Army …« Die Stimme des Verkäufers klang wehmütig.

Ich nahm eine Zeitschrift und tat, als würde ich lesen, während ich die ständig vorbeiflutende Menschenmenge auf dem gegenüberliegenden Gehsteig beobachtete.

»Sie müssen die Zeitschrift kaufen, wenn Sie sie lesen wollen«, sagte der Verkäufer in verändertem Ton.

Ich warf ihm einen Vierteldollar hin, und er war beruhigt. »Nichts für ungut – Geschäft ist Geschäft.«

»’türlich«, entgegnete ich brummig, um ihn nicht wieder auf alte Kriegserinnerungen zu bringen.

Wieder starrte ich durch die staubigen Scheiben. Tom’s Café wurde rechts von einem Kino und links von einem Leihhaus flankiert, in dessen Fenster ein paar Schrotflinten und Geigen auslagen. Mein Blick wanderte zurück zur Drehtür des Lokals. Und plötzlich zuckte ich zusammen. Eine hellhäutige Schwarze mit kurzen schwarzen Haaren und einem schwarz-weißen Kleid kam heraus, blieb am Rande des Gehsteigs stehen und wandte sich dann nach Süden.

»Sie haben Ihr Heft vergessen«, rief mir der Verkäufer nach.

Ich war halb über der Straße, als sie an der Ecke Main und Hidalgo Street anlangte. Sie ging nach links, jetzt mit schnelleren, kleinen Schritten. Die Sonne glänzte auf ihrem öligen Haar. Im Abstand von etwa einem Meter ging sie an meinem Kabriolett vorbei. Ich rutschte hinters Steuer und ließ den Motor an.

Lucy wußte sich zu bewegen. Sie ging aufrecht und anmutig, mit leicht schwingenden Hüften. Ich wartete, bis sie am Ende des Häuserblocks angekommen war, dann fuhr ich {15}hinterher, hielt wieder an und folgte ihr so etappenweise nach. Ich hielt vor einer buddhistischen Kirche, dann vor einer Billardhalle, schließlich vor dem roten Backsteingebäude einer Schule. Lucy ging weiter, geradeaus in östlicher Richtung.

Die Straße wurde schlechter, schließlich zu einem reinen Lehmweg, und dann hörte auch der Bürgersteig auf. Mühsam bahnte sie sich ihren Weg durch schreiende Kinder, vorbei an Häusern mit zerbrochenen Fensterscheiben, die mit Pappe ausgebessert waren.

Bei der zwölften Kreuzung bog Lucy nach Norden ab. Sie ging an einem grüngestrichenen Bretterzaun vorbei, hinter dem ein Baseballplatz lag. Ich parkte an der Ecke, halb versteckt von einer gestutzten Hecke. Der Name der Straße war an die Bordkante des Bürgersteigs gemalt. Mason Street.

Ich sah Lucy auf einen weißen Bungalow zugehen, vor dessen Tür ein blaßgrünes Ford-Coupé parkte. Ein großer, kräftiger schwarzer Junge in gelber Badehose spritzte den Wagen gerade ab. Bei Lucys Anblick lachte er und drehte den Wasserstrahl in ihre Richtung. Sie duckte sich und lief auf ihn zu. Fröhlich ließ er den Wasserstrahl senkrecht über sich in die Höhe schießen, stand eine Sekunde prustend und schnaufend unter der Brause, dann drehte er das Wasser ab und legte den Schlauch auf den Boden.

Sie standen sich gegenüber auf dem grünen Rasen und hielten sich an den Händen. Plötzlich verstummte ihr Gelächter. Sie sahen sich an. Das letzte Wasser aus dem Schlauch blubberte ins Gras.

Irgendwo wurde eine Tür zugeworfen. Das Liebespaar fuhr auseinander. Eine dicke schwarze Frau trat vor die Tür des Bungalows. Sie hatte die Hände über dem dicken Bauch unter der Schürze verschränkt und blickte die beiden wortlos an.

Der Junge hob das Putzleder wieder auf und begann das Wagendach zu polieren, als gälte es, alle Sünden der Welt wegzuwischen. Das Mädchen lief an dem Jungen vorbei und {16}verschwand hinter dem Haus. Ohne ein Wort zu sagen, ging die dicke Frau ins Haus zurück und machte die Tür hinter sich zu.

3

Ich ließ meinen Wagen stehen, wo er stand, und ging zu Fuß die Mason Street entlang. Das Haus, vor dem der Junge arbeitete, war das fünfte in der Reihe. Ich klopfte an die Haustür des dritten und holte dabei ein schwarzes Notizbuch und einen Bleistift aus der Brusttasche.

Die Tür wurde einen Spalt geöffnet, und das schmale, gelbliche Gesicht eines Schwarzen erschien in der Öffnung. »Was wolln Sie? Wir brauchen nichts!« Schon hatte er die Tür wieder zugemacht.

Die Tür des Nachbarhauses stand offen. Wieder klopfte ich.

Der Junge sah von seiner Arbeit hoch. »Gehn Sie ruhig rein, Aunty freut sich über jeden Besuch.«

In derselben Sekunde ertönte eine zittrige Stimme aus dem rückwärtigen Teil des Hauses: »Bist du’s, Holly? Nein, Holly kann es noch nicht sein. Ist ja gleich, wer’s ist – kommen Sie ruhig herein.«

Die Stimme redete ununterbrochen weiter, und die Wörter verschwammen ineinander in diesem netten, anheimelnden Verschleifen der Südstaatler. Die Stimme geleitete mich durch einen kleinen Flur, dann durch die Küche bis zu einem angrenzenden Zimmer. »Früher hab ich meine Gäste im Salon empfangen. Aber jetzt hat der Doktor gesagt, du bleibst jetzt im Bett, hat er gesagt, und fang ja nicht wieder an, herumzukrauchen, das laß man Holly für dich machen. Ja, und da lieg ich nun.«

Es war ein kleines, kahles Zimmer. Die Stimme kam aus dem Bett neben dem offenstehenden Fenster. Eine Schwarze lag mit Kissen gegen das hölzerne Bettende gestützt; große {17}Augen leuchteten mir aus dem eingefallenen Gesicht entgegen. Die blauen Lippen bewegten sich unaufhörlich:

»Wär ein Segen für mich, sagt er, daß meine Gelenke steif sind von der Arthritis, denn wenn ich herumlaufen würde, wie ich’s immer getan hab, würde mein Herz bald nicht mehr mitmachen. Sie sind mir ein schlechter Tröster, hab ich ihm gesagt, was hilft mir ein Herz, das wie ’ne Uhr geht, die keine Zeit mehr ansagt, nicht mehr die Zeit zum Aufstehn oder zum Kochen. Sind Sie auch ein Doktor, junger Mann?«

Die dunklen Augen glühten mich an, und die blauen Lippen lächelten. Ich hasse Lügen, wenn mir jemand menschlich kommt. Aber ich log. »Wir machen eine Befragung unter Radiohörern in Südkalifornien. Ich sehe, Sie haben auch ein Radio.«

Zwischen ihrem Bett und der Wand stand ein kleines Gerät aus imitiertem Elfenbein.

»’türlich hab ich eins.« Man hörte ihrer Stimme die Enttäuschung an.

»Geht es?«

»Was meinen Sie denn?« Diese Frage weckte ihre Lebensgeister, weil sie Gesprächsstoff bot. »Ich hab’s beinah den ganzen Tag an, nur eben hab ich’s abgestellt, in der Minute, als Sie reinkamen. Und wenn Sie gehen, dreh ich’s wieder an. Aber bleiben Sie ruhig noch und setzen Sie sich. Ich freu mich über neue Bekanntschaften.«

Ich setzte mich auf den einzigen Stuhl, den es in dem Zimmer gab, einen Schaukelstuhl am Bettende. Von hier aus konnte ich das Nachbarhaus, den weißen Bungalow, sehen. Dort stand das Küchenfenster auf, das auf den hinteren Hof hinausging.

»Wie heißen Sie, junger Mann?«

»Lew Archer.«

»Lew Archer«, wiederholte sie langsam. »Na, das ist ein feiner Name, sehr feiner Name. Ich heiße Jones, nach meinem letzten Mann. Aber man nennt mich hier nur Aunty. Ich {18}hab drei verheiratete Töchter und vier Söhne in Philadelphia und Chicago. Zwölf Enkelkinder, sechs Urenkel, und mehrere sind gerade unterwegs. Wollen Sie die Fotos sehen?« Die Wand über dem Radio war gespickt voll mit abgegriffenen Amateurfotos. »Muß doch eine Erholung für Sie sein, die Füße mal ein bißchen ausstrecken zu können. Bringt dieser Umfragejob viel ein, junger Mann?«

»Nicht besonders viel.«

»Sie haben aber gute Sachen an, das ist Luxus.«

»Die hab ich noch von früher. Wissen Sie wohl, ob Ihre Nachbarn auch Radios haben? Der Mann nebenan hat mich gar nicht erst reingelassen.«

»Toby? Doch, der hat eins, und sogar noch einen Fernseher.« Neid sprach aus dem Seufzer, mit dem sie ihre Worte begleitete. »Dem gehört ein halber Häuserblock unten an der Hidalgo Street.«

Ich machte eine bedeutungslose Notiz in mein Büchlein. »Und die Leute auf der anderen Seite?«

»Annie Norris? Die nicht. Ich war genauso fromm wie Annie und ging auch sonntags immer in die Kirche, solange ich noch meine gesunden Glieder hatte, aber ich hab’s nie so übertrieben wie Annie. Was ist schon Schlimmes an ein bißchen Radiomusik? Annie läßt ihren Jungen nicht einmal ins Kino gehen, aber ich sagte ihr, sie soll dem Jungen doch die unschuldige Unterhaltung gönnen. Da, hören Sie, das hat sie nun davon.«

Sie drehte den Kopf zum Fenster. Aus dem Nachbarhaus konnte ich zwei streitende weibliche Stimmen hören.

»Jetzt hat sie’s wieder mit ihrer Untermieterin.«

Der gewaltige Alt war unschwer als die Stimme der dicken schwarzen Frau zu erkennen. Ich fing ein paar Brocken auf. »Ein starkes Stück … in meinem eigenen Haus … meinen Sohn zu verleiten … verschwinden Sie … mein Sohn …«

Die andere Stimme, ein Sopran, war schrill vor Angst und Empörung. »Das ist nicht wahr … Das hab ich nicht getan. {19}Ich hab das Zimmer für einen Monat gemietet …«

Die gewaltige Stimme war wie eine Sturzwelle: »Verschwinden Sie. Das Geld kriegen Sie zurück, Miss Champion … meinetwegen kaufen Sie sich Schnaps dafür.«

Eine Tür fiel ins Schloß, und jetzt wurde von drinnen auch noch die Stimme des Jungen hörbar. »Was ist denn hier los? Mama, du läßt Lucy in Frieden.«

»Misch du dich nicht ein. Miss Champion zieht aus.«

»Du kannst sie doch nicht auf die Straße setzen!« Die Stimme des Jungen klang hoch und gequält. »Wo soll sie denn hin?«

»Alex, du gehst jetzt auf dein Zimmer. Was würde dein Vater sagen, wenn er wüßte, wie du zu deiner Mutter sprichst?«

»Tu nur, was deine Mutter sagt«, fiel das Mädchen ein. »Und ich würde sowieso nicht länger bleiben wollen, wo sie mich so beleidigt hat.«

»Beleidigt?« Das Wort klang höhnisch. »Ich erwähne hier nur Tatsachen, und längst nicht alle. In Gegenwart von Alex brächte ich diese Dinge gar nicht über die Lippen.«

»Was …«

»Sie wissen genau, was ich meine. Ich habe Ihnen mein gutes, sauberes Zimmer vermietet, aber nicht für solche Zwecke, zu denen Sie es benutzt haben. Haben Sie in der letzten Nacht einen Mann mit heraufgebracht – ja oder nein?«

Wenn Lucy irgend etwas darauf antwortete, dann nur so leise, daß ich es nicht verstehen konnte. In der Sekunde erschien Mrs. Norris am Küchenfenster. Ihr Gesicht war wie aus Stein. Sie schlug das Fenster zu und zog die Vorhänge vor.

Schwer atmend, aber lächelnd, rollte sich die Alte auf ihre Kissen zurück. »Na, sieht so aus, als wäre sie ihre Untermieterin los. Hätt ich ihr gleich sagen können. Mit einem erwachsenen Sohn im Haus darf man nicht an junge Dinger {20}vermieten, da hat man nichts wie Ärger von.« Und mit der Offenheit sehr alter Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben als ihr Leben, setzte sie hinzu: »Schade, hat mir immer Spaß gemacht, denen zuzuhören.«

Ich stand auf und klopfte ihr leicht auf die Schulter. »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Aunty.«

»Mich ebenfalls, mein Sohn. Hoffentlich bekommen Sie bald einen besseren Job. Dieses Herumgerenne ist schlimm für die Füße. Ich kenne das. Hab mein Leben lang in feinen Häusern gekocht. Passen Sie nur auf Ihre Füße auf …«

Ich ging zu meinem Wagen zurück und fuhr ein Stück vor, so daß ich das Haus der Norris’ gut im Auge behalten konnte. Mein Job hatte tatsächlich etwas mit Herumgerenne zu tun, hauptsächlich aber mit Warten. Es war heiß im geschlossenen Wagen, aber ich brauchte das Dach als Tarnung. Die Sekunden häuften sich langsam zu Minuten wie ein Stapel heißer, glänzender Münzen.

Als die Uhr am Armaturenbrett zwei zeigte, bog vom Ende der Mason Street ein gelbes Taxi in die Straße. Es hielt vor dem Haus der Norris’, hupte und wendete dann. Kurz darauf kam Lucy Champion mit Tasche und Hut aus dem Haus. Alex Norris, der sich jetzt richtig angezogen hatte, trug ihr zwei Koffer hinterher. Der Fahrer verstaute sie im Kofferraum, und Lucy kletterte unbeholfen auf den Rücksitz. Alex sah dem Taxi nach, bis es verschwunden war, während seine Mutter ihn aus dem Fenster heraus beobachtete.

Ich fuhr mit abgewandtem Kopf an ihm vorbei und folgte dem Taxi über die Hidalgo Street in die Main Street und von da weiter in südlicher Richtung. Hier ging es zum Bahnhof. Und richtig, der Wagen bog in das Rondell vor dem Bahnhofsgebäude ein. Lucy zahlte, stieg aus und ging in die Schalterhalle. Ich parkte und stürzte durch die rückwärtige Tür des Wartesaals. Im selben Moment trat Lucy wieder auf den Platz. Sie war stark gepudert. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, ging sie zum Taxistand auf der anderen Seite {21}des Gebäudes und stieg in ein schwarz-weißes Taxi. Während der Fahrer ihr Gepäck holte, wendete ich meinen Wagen.

Das schwarz-weiße Taxi brauste ab in Richtung Highway und von da weiter, bis es schließlich unter einem zwischen zwei Pfählen aufgespannten Segeltuch mit der Aufschrift MOUNTVIEW MOTEL und PLATZ FÜR WOHNWAGEN einbog. Ich fuhr weiter, in einer Schleife über die Kreuzung und kam gerade rechtzeitig zurück, um zu sehen, wie das schwarz-weiße Taxi wieder auf die Straße hinausrollte. Der Rücksitz war leer.

Ich hielt an und rutschte auf den Nebensitz. Das Mountview Motel mit Platz für Wohnwagen lag in einer ärmlichen Gegend, zwischen dem Highway und den Bahngleisen. Durch den Drahtzaun, an dem sich einige kümmerliche Pflanzen emporrankten, sah ich zwanzig bis dreißig Wohnwagen stehen. Um sie und unter ihnen spielten Kinder und Hunde. Mitten im Hof lag ein L-förmiges Gebäude. Zwölf Fenster und zwölf Türen. Über der ersten Tür stand: BÜRO. Lucys Koffer waren auf der untersten Stufe davor abgestellt.

Jetzt öffnete sich die Tür; Lucy kam heraus, hinter ihr ein fetter Mann im Unterhemd. Er nahm ihre Koffer und brachte sie zur siebten Tür, die genau im Winkel des Gebäudes lag. Selbst aus der Ferne konnte ich sehen, wie nervös sie war. Der fette Mann sperrte die Tür auf, und sie gingen hinein.

Ich fuhr in den Hof und parkte vor dem Büro. Durch die Glasscheibe konnte ich ein durchgescheuertes Wachstuchsofa erkennen, dahinter einen Schreibtisch, auf dem sich Papiere häuften, eine Liege, mit ungemachtem Bettzeug, und eine elektrische Kaffeemaschine. Eine handgeschriebene Karte war mit Heftzwecken an die Wand geheftet. Darauf stand: Wir behalten uns das Recht vor, unsere Gäste auszuwählen.

{22}4

Der fette Mann kam ins Büro zurück, sein Bauch hob und senkte sich unter dem Hemd. Seine Oberarme waren blau tätowiert. Auf dem rechten Arm stand: Ich liebe Ethel. In seinen Augen stand: Ich liebe niemand.

»Haben Sie was frei?«

»Machen Sie Witze? Hier ist immer was frei. Wolln Sie ’n Zimmer?«

»Nummer sechs, wenn möglich.«

»Is nicht.«

»Wie wär’s mit Nummer acht?«

»Acht können Sie haben.« Er wühlte in seinem Schreibtisch nach einem Anmeldeformular. »Sind Sie auf der Durchreise?«

»Hm.« Ich unterschrieb unleserlich, meine Lizenznummer ließ ich aus und meine Anschrift auch. »Heiß heute.«

»Das ist noch gar nichts. Da hätten Sie erst mal letzte Woche hier sein sollen, da hatten wir beinahe 45 Grad. Das hält die Leute vom Reisen ab. Das Zimmer macht zweieinhalb pro Nacht.«

Ich gab ihm das Geld und bat, telefonieren zu dürfen.

»Ferngespräch?« fragte er mißtrauisch.

»Ortsgespräch. Privat, wenn Sie gestatten.«

Er zog das Telefon heran und verließ den Raum. Ich wählte die Nummer des Missions Hotels. Una meldete sich sofort, als ich mit ihrem Zimmer verbunden war.

»Hier Archer, Mountview Motel. Vor ein paar Minuten ist Lucy Champion hier abgestiegen. Ihre Wirtin hat sie rausgeworfen.«

»Wo liegt dieses Motel?«

»Am Highway. Zwei Blocks westlich der Main Street. Sie hat Zimmer sieben.«

»Gut. Behalten Sie sie scharf im Auge. Ich komme sofort.«

Sie hängte ein. Ich ging auf Zimmer acht und hängte meine {23}Jacke auf den einzigen Kleiderbügel. Das Bett war mit einer schmutzigen grünen Tagesdecke zugedeckt, die nicht verbergen konnte, wie eingelegen es in der Mitte war. Da ich dem Bett nicht traute, setzte ich mich auf den unbequemen Stuhl, den ich neben das vordere Fenster zog, und zündete mir eine Zigarette an.

Von hier aus hatte ich einen guten Blick auf Lucys Tür und Fenster. Die Tür war geschlossen, und sie hatte das grüne Rollo heruntergezogen. Hinter der dünnen Trennwand zu Zimmer neun stöhnte eine Frau.

»Is was?« fragte eine Männerstimme.

»Sei ruhig.«

»Ich dachte schon, ich hätte dir weh getan.«

»Ach, halt den Mund.«

Meine Zigarette schmeckte wie Heu. Ich drückte sie auf dem Deckel einer Kaffeekanne aus, den man als Aschenbecher hergestellt hatte, und dachte an die vielen Leute, die allein oder zu zweit auf dem Eisenbett gelegen und zu der gelben Zimmerdecke hinaufgestarrt hatten. Ihr Dreck hing noch in den Ecken und ihr Geruch an den Wänden.

Ich ging zu der Wand hinüber, die mein Zimmer von Lucy trennte. Sie schluchzte. Und dann sagte sie etwas vor sich hin, das so ähnlich klang wie »Ich will nicht!« Und etwas später: »Ich weiß nicht mehr aus noch ein.«

Daß jemand schluchzt und nicht mehr aus noch ein weiß, hat es schon häufiger gegeben, trotzdem fiel es mir schwer, das mitanzuhören. Ich setzte mich wieder ans Fenster, schaute auf die Tür und versuchte mir einzureden, ich wüßte nicht, was im Nebenraum vor sich ging.

Plötzlich trat Una in mein Blickfeld. In engen, leopardenfellgemusterten Hosen und gelbem Seidenhemd lehnte sie kampflustig an der Tür und schlug zweimal mit der Faust dagegen.

Lucy machte auf. Bei Unas Anblick fuhren ihre braunen Hände an den Mund und hakten sich in die Unterlippe. Una {24}schob sie beiseite und stürmte in den Raum. Lucy folgte ihr zögernd nach. Ich stellte mich wieder an die Zwischenwand.

»Setz dich«, hörte ich Una munter sagen. »Nein, setz dich aufs Bett, ich nehm den Stuhl. Na, Lucy, was hast du denn so allein getrieben?«

»Ich will nicht mit Ihnen sprechen.« Lucys Stimme klang schrill.

»Was regst du dich denn so auf?«

»Ich reg mich nicht auf. Aber es geht Sie nichts an, was ich mache.«

»Das weiß ich nicht so genau. Los, was hast du gemacht in der Zwischenzeit?«

»Ich hab Arbeit gesucht. Anständige Arbeit. Wenn ich genügend Geld gespart habe, fahr ich nach Hause zurück.«

»Nach Detroit? Das würde ich an deiner Stelle aber nicht tun.«

»Wollen Sie mich daran hindern?«

Schweigen.

Dann Unas Stimme: »Das kann ich nicht. Aber ich kann dafür sorgen, daß du dort in Empfang genommen wirst. Ich telefoniere täglich mit Detroit, wie du wohl weißt …«

Wieder eine Pause, eine längere diesmal.

»Du siehst also, Lucy, Detroit ist nichts für dich. Weißt du, was du tun solltest? Es war ein Fehler, daß du von uns weg bist. Du solltest zurückkommen.«

Lucy seufzte tief auf. »Ausgeschlossen.«